„Zu sehen, wie unsere Tochter läuft, spielt und lacht, hilft uns“
Der Vater des Kleinkindes, das bei der Messerattacke von Aschaffenburg schwer verletzt wurde, spricht im Exklusiv-Interview mit dem WEISSER RING Magazin über die schwere Zeit nach der Tat, die Debatte darüber und Lichtblicke, die ihm Zuversicht geben.

Messerattacke von Aschaffenburg: Dutzende Kuscheltiere wurden zum Gedenken an die Opfer am Tatort niedergelegt.
Das zweijährige Mädchen saß in einem Bollerwagen im Aschaffenburger Park Schöntal, als der Angreifer, ein Geflüchteter aus Afghanistan, kam. Es überlebte schwerverletzt. Ein zweijähriger Junge und ein 41-jähriger Mann, der helfend eingeschritten war, wurden getötet. Vier Monate nach der Tat hat sich der Vater des Mädchens, der 2013 aus Syrien nach Deutschland flüchtete, zu einem Interview bereiterklärt. Er antwortet ruhig und reflektiert, ohne Wut.
Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie heute, fast vier Monate nach dem Attentat von Aschaffenburg?
Was passiert ist, kommt immer wieder hoch. Als wir an dem Tag erfahren hatten, dass unsere Tochter attackiert wurde, war das ein Schock. Wir haben nur noch an sie gedacht und eine unfassbare Angst gehabt. Zu erfahren, dass sie überlebt, war eine riesige Erleichterung. Ich bin psychisch relativ stabil, während es meiner Frau nicht so gut geht. Sie ist schwanger und macht sich Sorgen. Es geht emotional hoch und runter, aber wir werden medizinisch und psychologisch sehr gut betreut.
Wie geht es der Kleinen?
Kinder können solche Ereignisse manchmal schneller verarbeiten als Erwachsene. Unsere Tochter hatte am Anfang Angst und konnte nicht schlafen. Jetzt ist sie manchmal etwas zornig, was mit dem Angriff zusammenhängen könnte. Aber insgesamt geht es ihr gut, auch körperlich ist sie fit. Sie hat Energie, spielt wieder, auch mit anderen Kindern, und geht in die Krippe, allerdings in eine andere, damit sie weniger an die Tat erinnert wird. Bei dem Wechsel hat uns Oberbürgermeister Jürgen Herzing geholfen. Wir gehen alle regelmäßig zur Therapie in die Trauma-Ambulanz, was uns hilft.
Was gibt Ihnen Kraft?
Es hilft uns, unsere Tochter anzuschauen. Zu sehen, wie sie läuft, wie sie spielt, wie sie lacht. Sie ist ein sehr aufgewecktes, lebhaftes Mädchen. Ich bin häufiger zu Hause und für meine Frau da. Um zu entspannen, gehen wir zum Beispiel spazieren, in der Stadt oder im Wald. Uns hilft auch die große Solidarität, die wir nach wie vor erleben. Nachbarn, Freunde, Bekannte und viele andere Menschen helfen uns. Sehr viele Leute sind nach der Tat zum stillen Gedenken gekommen, haben gespendet und viel Mitgefühl gezeigt. Wir fühlen uns sehr gut aufgehoben.
Wie versuchen Sie, mit dem Ereignis umzugehen?
Im Leben passiert viel Schönes, aber auch Schreckliches. Wir versuchen, nach vorne zu schauen, und sagen uns: Wenn wir nichts machen, uns zu Hause einsperren würden und Angst hätten, hätte der Täter gewonnen.
Den Kontakt zum Vater hat Rainer Buss, Vize-Leiter der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Aschaffenburg, hergestellt. Er unterstützt die Familie seit der Tat und hat für das Gespräch sein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt.
Ein 41-Jähriger hat sich dem Täter entgegengestellt und wurde ermordet. Was denken Sie über ihn?
Er ist immer in meinem Kopf. Der Mann kannte die Kinder nicht und hat trotzdem mutig eingegriffen und sie geschützt. Auch an den zweijährigen Jungen, der ermordet wurde, denke ich. Wenn ich meine Tochter in die Krippe gebracht oder dort abgeholt habe, habe ich ihn oft gesehen. Es tut mir sehr leid für alle Angehörigen. Für das, was sie durchmachen, gibt es keine Worte.
Schon kurz nach der Tat haben vor allem rechte Akteure und Parteien versucht, die Tat für ihre Zwecke zu benutzen und Ressentiments gegen Geflüchtete geschürt. Die AfD und ihr faschistischer Landeschef aus Thüringen, Björn Höcke, riefen zu einem Gedenken in Aschaffenburg auf. Was halten Sie davon?
Das war schrecklich. Ich bin in der Zeit im Krankenhaus geblieben und habe am Bett meiner Tochter um sie gebangt. Alles andere hat mich nicht interessiert, aber ich habe die Debatte mitbekommen. Dass Leute wie Höcke versuchen würden, die Tat auszunutzen, ihr „Geschäft“ damit zu machen, war zu erwarten. Es ist ganz einfach: Selbstverständlich gibt es Menschen unter Geflüchteten, die Gutes tun, und solche, die Schlechtes tun, genauso wie zum Beispiel unter Deutschen oder Afrikanern. Tragisch ist: Wir sind vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet, und dann werden wir hier Opfer einer grausamen Attacke. Doch so ein Verbrechen hätte uns auch woanders treffen können.
Kritiker sagen, die Tat hätte verhindert werden können. Der Attentäter war vorher schon oft auffällig und gewalttätig geworden.
Man ärgert sich natürlich darüber, auch weil der Täter als gefährlich bekannt war und Deutschland eigentlich hätte verlassen sollen. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Ich hoffe, dass der Angreifer nicht mehr freikommt.
„Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.“
Vater des angegriffenen Mädchens

Der Park Schöntal liegt mitten in Aschaffenburg. Nach dem Messerangriff entstand am Tatort eine provisorische Gedenkstätte.
Wurde Ihre Familie nach der Messerattacke immer gut unterstützt? Oder gab es auch Fehler oder Versäumnisse?
Nein, wir haben keine schlechten Erfahrungen gemacht. Von der Polizei über die Ärzte, den Oberbürgermeister bis zum WEISSEN RING – alle haben sich sehr gut um uns gekümmert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Markus Söder haben uns Briefe geschrieben. Wir können nur Danke sagen.
Sie haben Ihre eigene Fluchtgeschichte bereits angesprochen. Weshalb und wie sind Sie nach Deutschland gekommen?
Nachdem ich angefangen hatte, Literatur zu studieren, wurde die Lage in Syrien immer schlimmer. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Krieg und Armee oder Flucht. Ich war ein Jahr unterwegs, bin über die Türkei, Griechenland und Italien geflüchtet. Es war eine schwierige Zeit. In Deutschland, wo ich Ende 2013 ankam, habe ich erst in Baden-Württemberg gelebt und bin vor acht Jahren nach Aschaffenburg gezogen. Ich habe die Sprache gelernt, eine Ausbildung gemacht und schon in verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem als Dolmetscher für das Landratsamt. Mittlerweile habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit.
Warum haben Sie sich entschieden, in Aschaffenburg zu bleiben?
Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.
Was wünschen Sie sich für Ihre Familie für die Zukunft?
Wir wollen hier friedlich, sicher und gesund leben. Das ist das Wichtigste.

Ein Besuch in Magdeburg
Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?
Ähnliche Beiträge

Hass aus dem Handy
Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Wieso löscht TikTok es nicht?

„Übernehmt endlich Verantwortung!“
Christina Feist hat den antisemitischen Anschlag in Halle überlebt. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Opfer dürfen nicht nur „Beweismittel“ sein
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht spricht im Interview mit dem WEISSEN RING über die Strafverschärfungen bei Missbrauchstaten und über den Kampf gegen Hass im Netz.
Teile diesen Beitrag per: