Gegen die Strömung

Seit fast 16 Jahren kämpft Christophe Didillon mit Anträgen, Widersprüchen und Klagen um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Vor Gericht in Aurich, Ostfriesland, will er endlich einen Schlussstrich ziehen.

Opferentschädigung: Der unendliche Kampf des Herrn Didillon gegen den Staat. Gezeichnete Grafik

An dem Tag, an dem im Sozialgericht Aurich, Sitzungssaal I, alles enden soll für ihn, bleibt Christophe Didillon lieber zu Hause. Er hat sich mit einem Freund verabredet, sie wollen Kaffee trinken und vor allem: „Über was anderes reden“.

„Kläger/in Christophe Didillon, Beklagte/r Land Niedersachsen“, so steht es in Aurich draußen angeschlagen neben der Saaltür. Drinnen klebt auf Blech das Niedersachsenross an der Wand, hinten hat auf harten Stühlen die Öffentlichkeit Platz genommen: zwei Zuschauer, zwei Reporter. „Wir haben heute etwas Zuwachs“, stellt  der Vorsitzende Richter fest, er klingt ein bisschen beeindruckt. Sozialrecht ist kein Publikumsmagnet.

Der Richter spricht in eine drehbare Kamera, an den Wänden gibt es zudem zwei große Flachbildschirme. Das Gericht hat der Anwältin von Christophe Didillon die  Teilnahme per Video aus Hamburg erlaubt. Auch Didillon hätte sich von zu Hause aus dem 30 Kilometer entfernten Städtchen Norden zuschalten können. Er hat aus  gesundheitlichen Gründen abgelehnt, „mir würde das zu viel werden“.

Vor dem Richter liegen das rote Sozialgesetzbuch und ein 30 Zentimeter hoher Stapel mit Didillon-Akten, neben ihm sitzen zwei Schöffen. Die beiden ehrenamtlichen Richter hören heute zum ersten Mal von dem Fall, der Vorsitzende fasst den Sachverhalt für sie zusammen, „ich hoffe mal gerafft aufs Wesentliche“. Es ist eine  anspruchsvolle Aufgabe: Christophe Didillon gegen das Land Niedersachsen, das geht nun schon fast 16 Jahre. Es gab Hunderte Schreiben, Anträge auf Leistungen nach  dem Opferentschädigungsgesetz, Ablehnungen und Widersprüche, ärztliche Gutachten, Klagen und Gerichtsverfahren, erste Instanzen und zweite.

Didillon, 53 Jahre alt, hat angegeben, seit früher Kindheit physische und psychische Gewalt durch den Vater erlebt zu haben, sexualisierte Gewalt durch die Tante, weitere Gewalt durch Dritte: Mitschüler wie Fremde. Er machte Abitur, absolvierte eine Lehre (Industriekaufmann) und ein Studium (Sinologie), „mit Auszeichnung“, betont der  Richter. Didillon versuchte sich als Kunstmaler. Doch dann kam er beruflich nicht mehr voran. „Die Strömung wurde immer stärker“, so beschreibt er es selbst in einem  Lebenslauf, aus dem der Richter zitiert.

Wer infolge von Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat

Christophe Didillon lebt von Sozialhilfe und wohnt im Haus seiner alten Mutter. Das Haus nennt er „meinen Rückzugsort“, er kann von hier an die Nordsee laufen. Er hat  Angst, diesen Ort nach dem Tod der Mutter zu verlieren. Der Gerichtstag heute soll ihm Sicherheit geben, sagt er am Tag vorher im Telefonat mit dem WEISSER RING  Magazin: „Ich hoffe, dass endlich anerkannt wird, dass das, was mit mir damals passiert ist, nicht rechtmäßig war. Dass ich aus der Sozialhilfe rauskomme. Dass ich keine  Anträge mehr stellen muss. Dass ich endlich einen Schlussstrich unter all dem ziehen kann!“

Wer infolge von tätlicher Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat. Das verspricht seit 1976 das Opferentschädigungsgesetz (OEG), das zum 1. Januar 2024 durch das Sozialgesetzbuch XIV abgelöst wurde. So weit jedenfalls die Theorie – in der Praxis kommt die staatliche Entschädigung eher  selten bei den Opfern an, wie Recherchen des WEISSEN RINGS belegen.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis

Das liegt zum einen daran, dass nur wenige Gewaltopfer überhaupt einen Entschädigungsantrag stellen: Im Jahr 2023 gingen nur 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein; das entspricht sieben Prozent der 214.099 Gewalttaten, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts verzeichnet sind. Zum  anderen wird von diesen wenigen Anträgen nur ein kleiner Teil als entschädigungsberechtigt anerkannt: 23 Prozent im Jahr 2023, also nicht einmal ein Viertel. 48  Prozent der Anträge lehnten die Ämter ab, 29 Prozent erhielten den Stempel „Erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe, das können zum Beispiel Wegzug oder Tod sein, aber auch die Rücknahme des Antrags.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis. Der Antragsteller muss erstens eine Gewalttat erlebt haben. Er muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung aufweisen. Drittens muss diese Schädigung eine Folge der Gewalttat sein. Häufig ist bereits die Gewalttat schwer nachweisbar: zum Beispiel in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch oder von häuslicher Gewalt, nach denen es keine Strafanzeigen gab. Noch schwerer fällt oft der Nachweis des Zusammenhangs von Tat und Schädigung, zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Belegen müssen das dann medizinische Gutachten. Für die OEG-Recherchen sprach das WEISSER RING Magazin mit zahlreichen Betroffenen und Therapeuten. Einige nannten die Begutachtung „die Hölle“, „eine Katastrophe“, „Körperverletzung“.

Bei seinem ersten Gutachtertermin bekam Christophe Didillon eine so schwere Panikattacke, „dass der Notarzt mich aus der Praxis holen musste“, wie er berichtet. Eine  zweite Gutachterin schickte ihm vorab einen Fragebogen zu mit 283 Fragen. Darin ging es unter anderem um Sex mit Tieren, um Nekrophilie (sexuelle Erregung durch  Leichen), um Koprophilie (Lustgewinn durch menschlichen Kot). „Wie ein Täter habe ich mich gefühlt“, sagt Didillon. Er beantwortete die Fragen trotzdem.

2011 bewilligte das Land Niedersachsen eine Anerkennung nach dem OEG, „GdS 30“. GdS, das ist der Grad der Schädigungsfolgen; ab GdS 30 zahlt der Staat eine kleine  Rente, damals waren es 127 Euro monatlich. Didillon blieb von Sozialhilfe abhängig.

In Sitzungssaal I geht es heute um einen möglichen Berufsschadensausgleich. Dieser soll berufliche Nachteile ausgleichen, die durch die gesundheitliche Schädigung  entstanden sind, die wiederum durch eine Gewalttat entstanden ist. Didillon hat einen entsprechenden Antrag gestellt, das Land lehnte ab, Didillon klagte. Mit dem  Ausgleich wäre er nicht länger auf Sozialhilfe angewiesen, so Didillon, er könnte seinen Rückzugsort erhalten.

„Didillons berufliche Karriere hat ja gar nicht erst begonnen wegen der gesundheitlichen Belastung“

Der Richter will nun wissen, welchen beruflichen Nachteil der Kläger denn erlitten habe. „Es muss ein beruflicher Karriereknick feststellbar sein“, sagt er, „und der muss schädigungsbedingt sein.“ Er sehe „Schwierigkeiten in beiden Punkten“.

Er befragt die Anwältin von Didillon. An welcher Stelle mache sie den Berufsschaden fest? Ab wann habe Herr Didillon die berufliche Karriere nicht weiterverfolgt? Welchen Beruf habe er überhaupt angestrebt? Sinologe? Freischaffender Künstler? „Da auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist ohnehin schwierig“, sagt der Richter. Die  Anwältin muss passen: „Ich kann nicht den genauen ökonomischen Ablauf wiedergeben.“ Didillons berufliche Karriere habe ja gar nicht erst begonnen wegen der  gesundheitlichen Belastung.

In Sitzungssaal I sitzen zwei Vertreter der Beklagten, des Landes Niedersachsen, genauer: zwei Mitarbeiter des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie. Einer der  beiden weist darauf hin, dass die nicht gestartete Karriere als Sinologe oder als Künstler ja auch von ganz anderen Faktoren als einer gesundheitlichen Schädigung  abhängig gewesen sein könne: „Vom Arbeitsmarkt zu der Zeit oder vom Geschmack der Bilderkäufer.“

Nach eineinhalb Stunden, um 10:30 Uhr, schließt der Vorsitzende Richter die Didillon-Akten. Er kündigt an, dass er die Entscheidung des Gerichts spätestens am  nächsten Tag mitteilen werde.

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Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat die Klage von Didillon abgewiesen

Um 11:09 Uhr schickt Christophe Didillon die erste E-Mail an die Reporter. Er habe eben mit seiner Anwältin gesprochen, „es sieht nicht gut aus“. In den nächsten  Stunden und Tagen folgen viele weitere E-Mails. An seine Anwältin. An den WEISSEN RING. An das Landesamt. Einige der E-Mails sind sehr, sehr lang. Didillon ist  enttäuscht.

Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat seine Klage abgewiesen, Didillon erhält keinen Berufsschadensausgleich. Er ist wütend. Diese Gutachterin! Dieses  Gericht! Ja, kündigt er an, er werde Berufung einlegen! Das sei er sich schuldig, „sonst würde ich mir doch eingestehen müssen, von Anfang an falschgelegen zu haben“.  Er sagt: „Ich kämpfe weiter!“

Nichts endete an diesem Tag für Christophe Didillon.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING hat Christophe Didillon in den vergangenen Jahren wiederholt unterstützt, unter anderem mit der Übernahme von Anwalts- und Gutachterkosten. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins sprach zudem seit 2021 mehrfach mit ihm im Zuge ihrer Recherchen für den 2022 veröffentlichten OEG-Report.