Der Kommentar
„Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen.“
Kerstin Claus ist Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Journalistin und Systemische Organisationsberaterin engagiert sich seit vielen Jahren hauptund ehrenamtlich gegen sexualisierte Gewalt.
Selten gelingt es der Politik, so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu schaffen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war eine solche Erfolgsgeschichte. Jetzt ist es an den Abgeordneten, das endgültige Aus dieses niedrigschwelligen Hilfesystems zu verhindern.
Seit 2013 ermöglicht der Fonds Betroffenen, die in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, unkompliziert Sachleistungen. Er hat Belastungen im Alltag verringert und Perspektiven möglich gemacht, wo vergangene Gewalt oft das Leben prägt. Damit war er ein starkes Zeichen staatlicher Verantwortungsübernahme und letztlich auch Anerkennung, auch das elementar für Betroffene.
Deswegen war es ein verheerendes Signal für Betroffene, als die Ampelregierung letztes Jahr stillschweigend das Aus des Fonds Sexueller Missbrauch zum 31. August 2025 beschloss. Doch selbst dieses knappe Zeitfenster kippte die aktuelle Bundesregierung mit einem rückwirkenden Antragsstopp ab dem 19. März. Selbst bereits eingereichte Anträge bleiben unbearbeitet. Das ist ein Akt der Entsolidarisierung. Eine Regierung, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlichen verschreibt, darf so nicht handeln.
Sexualisierte Gewalt zerstört Biografien. Viele Betroffene ringen ein Leben lang mit den Folgen: Schulabbrüche, psychische Erkrankungen, zerbrechende Beziehungen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war für viele die einzige Option auf niedrigschwellige Hilfe. Hilfe, wo das staatliche Entschädigungsrecht versagt. Denn trotz Reform 2019 bleiben die Hürden dort unerreichbar hoch: Weil Zeugen fehlen, Taten nicht belegt oder gesundheitliche Schäden nicht nachgewiesen werden können.
Der Fonds Sexueller Missbrauch war 2013 eine gute Antwort auf diese Leerstelle. Und er hat funktioniert für die Betroffenen. Hilfe und Unterstützung wurden möglich. All dies jetzt preiszugeben – nur weil eine Bundesregierung nach der anderen daran scheitert, dieses Hilfesystem verlässlich finanziell und strukturell abzusichern –, ist ein Armutszeugnis.
Hilfesystem muss gesetzlich verankert werden
Kraftlos waren die Bemühungen der früheren Familienministerin Lisa Paus (Grüne), den Fonds über das neue „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ abzusichern. Das Veto der FDP akzeptierte sie stillschweigend, vermied jede öffentliche Debatte. Ihre Nachfolgerin Karin Prien (CDU) forderte zwar unlängst eine gesetzliche Verankerung des Hilfesystems, ohne aber einen konkreten Vorschlag einzubringen. Und auch im Haushalt 2026 sind die nötigen Mittel bisher nicht hinterlegt.
Jetzt liegt die Verantwortung beim Bundestag und damit bei den Abgeordneten: Ab 2026 müssen die nötigen Mittel dauerhaft gesichert und perspektivisch der Fonds endlich gesetzlich verankert werden. Denn: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen. Nachholende Gerechtigkeit bedeutet: zuhören, unterstützen, handeln. Nur so erfahren Betroffene nachträglich ein Stück Gerechtigkeit – spät, aber eben nicht zu spät.
Ähnliche Beiträge
Versperrter Ausweg
Die Flucht in ein Frauenhaus ist für Betroffene manchmal die einzige Möglichkeit, sich häuslicher Gewalt zu entziehen. Doch es mangelt bundesweit an freien Plätzen für Frauen und deren Kinder. Das bedeutet: In einer Notsituation gibt es für sie oft keinen Zufluchtsort.
Der lange Kampf des Andreas S.
Als Kind wurde er mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht, als Erwachsener kämpft er für Aufklärung.
Polen vor dem Rückschritt
Zwei Drittel der polnischen Frauen haben schon häusliche Gewalt erlebt. Die Regierung erwägt nun, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten. Menschenrechtler fürchten Rückschritte im Kampf gegen Gewalt.
Teile diesen Beitrag per: