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Die Ausweichschule
park x ullstein Verlag, 304 Seiten, 22 Euro
Wie lässt sich über Gewalt schreiben? Was ist erlaubt, was angemessen, was schlicht nicht zu dulden? Der Schriftsteller Kaleb Erdmann befasst sich in seinem Buch „Die Ausweichschule“ inhaltlich mit dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im Jahr 2002. Und widmet sich dabei explizit auch den Fragen nach den Grenzen des künstlerischen Vorgehens. „Ein Text über eine kollektiv traumatisierte Schule, ein Text über das Gutenberg-Gymnasium in den Jahren nach dem Amoklauf, über Gewalt und Verarbeitung“, heißt es im ersten Kapitel.
Kaleb Erdmann selbst, 1991 geboren, war Schüler im Gutenberg-Gymnasium und befand sich mitten im Unterricht seiner fünften Klasse, als der Täter das Gebäude betrat und in der Folge das Leben von 16 Menschen und schließlich sein eigenes auslöschte. „Roman“ steht auf dem Titel des rund 300-seitigen Buchs, und doch ist so vieles überaus real, überprüfbar und der in diesem Fall unfassbar brutalen Wirklichkeit mit all den schrecklichen Folgen entnommen.
Der Autor wählt erzählerisch einen ungewöhnlichen Weg und schildert eher den Versuch, ein Buch zu schreiben. Der Protagonist trifft unter anderem einen Theaterregisseur, der ein Stück über Amokläufe plant. Und er begegnet einem ehemaligen Mitschüler, der sich über die Vergangenheit verblüffend wenig Gedanken zu machen scheint.
Seine stärksten Momente hat das Buch, wenn es sich offensiv den möglichen Schwächen stellt. Wenn der Ich-Erzähler über seine Zweifel spricht, sich tastend vorwärtsbewegt und dabei immer wieder rätselt, welchen Fakten aus seiner Erinnerung er tatsächlich trauen kann und welche sich über die vielen Jahre in diese hineingeschlichen, nahezu hineingedrängt haben. Stets hat er die Opfer im Blick und bedauert gleichzeitig, dass sich der Täter immer wieder ins Bild drängt.
„Die Ausweichschule“ war 2025 für den Deutschen Buchpreis nominiert und landete nach der ersten Auswahlrunde auf der Shortlist. Den Platz unter den letzten sechs Titeln hat sich das Werk absolut verdient, und auch der Hauptpreis in diesem renommierten Wettbewerb, wäre verdienter Lohn für ein außergewöhnliches Buch gewesen. Denn neben dem feinfühligen inhaltlichen Vorgehen und den vielen klugen Überlegungen darüber, was Literatur bei einem solchen Thema überhaupt darf, überzeugt es auch mit einem hervorragenden Sprachgefühl.
Von Torben Rosenbohm
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