Hass aus dem Handy vor Gericht
Vor mehr als zwei Jahren wurde Jugendamtsmitarbeiter Said in einem TikTok-Video massiv beleidigt. Es gelang nicht, den Clip von der Plattform zu entfernen. Jetzt musste sich der Angreifer vor Gericht verantworten – und Said war als Zeuge geladen.
9.30 Uhr: Noch zwei Stunden bis zur Hauptverhandlung
Said sitzt in einem Café im rheinland-pfälzischen Kusel und trinkt einen doppelten Espresso. Draußen nieselt es, der Himmel ist schaurig grau. „Der Prozess wühlt zwar alles wieder auf, aber es ist auch ein gutes Gefühl, dass ich heute hier als Zeuge aus Sicht eines Betroffenen aussagen darf“, sagt Said. Am Abend zuvor war er mit der Bahn in Frankfurt am Main gestrandet. Erst am frühen Morgen fuhr wieder ein Zug. Er wirkt müde, spricht leise und erzählt, er hätte jetzt gern seinen Hund an seiner Seite. Said ist nicht sein richtiger Name. Er möchte anonym bleiben und hat sogar überlegt, sich für den Prozess zu verkleiden. „Ich möchte nicht von dem Mann erkannt werden. Er weiß nicht, wer ich bin. Oder vielleicht doch? Kennt der mich? Wie wird die Begegnung im Gericht?“ Diese Fragen kehren immer wieder in seinen Kopf zurück.
Said ist kein Einzelfall, wie eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Ende September 2025 ergab. Demnach haben 38 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits unmittelbar oder mittelbar digitale Gewalt in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen oder Bedrohungen erlebt.
Der Prozess ist das Finale einer Odyssee, die für Said im Mai 2023 begann. Ein ihm unbekannter Mann beleidigte den Jugendamtsmitarbeiter auf TikTok, wie das WEISSER RING Magazin berichtete.
Hass aus dem Handy
Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Wieso löscht TikTok es nicht?
„Schwein“ nannte er ihn auf Arabisch, was auch Saids Muttersprache ist, und „Sohn eines Schweins“. Er erwähnte ihn nicht namentlich, aber durch Details aus einem Betreuungsfall war Said eindeutig identifizierbar. Saids Geschichte zeigt: TikTok ist kein rechtsfreier Raum. Wer dort beleidigt, kann strafrechtlich verfolgt werden. Erst recht, wenn Beschäftigte von Behörden angegriffen werden. Der Fall zeigt aber auch, wie Betroffene im Strafprozess zu Statisten werden.
Die Forsa-Umfrage offenbarte, dass 59 Prozent der Mitarbeitenden im öffentlichen Dienst nicht wissen, wie sie bei digitaler Gewalt vorgehen sollen. Auch werden bislang nur sehr wenige Vorfälle angezeigt – lediglich 14 Prozent der Opfer wandten sich an die Polizei.
Saids Arbeitgeber stellte im Juli 2023 wegen des TikTok-Videos einen Strafantrag bei der örtlichen Staatsanwaltschaft wegen Beleidigung. Dann hörte Said lange nichts. Umso größer die Überraschung, als er im Juli 2025 vom Amtsgericht Kusel eine Vorladung als Zeuge erhielt. „Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass dieses Video noch mal Konsequenzen für den Urheber hat“, erinnert sich Said auf dem Weg zum Amtsgericht.
10.30 Uhr: Noch eine Stunde bis zur Hauptverhandlung
Im Wartezimmer des Amtsgerichts hängen historische Aufnahmen des Gerichtsgebäudes, gegenüber zwei moderne Bilder mit geometrischen Formen, in einer Ecke am Fenster steht eine Palme, ein Ast lehnt sich an eine Steckdosenleiste. Said steht am Fenster, nippt an einem Energydrink, geht zu einem Tisch und schaut immer wieder auf sein Tablet, weil er auf eine dienstliche Mail wartet. In wenigen Momenten hat er seine Sachen auf Fensterbank und Tisch verteilt: die Dose, das Smartphone, das Tablet, einen gefalteten Zettelstapel. Said ist nervös. Da übertönt im Flur eine krächzende Stimme das Surren der Neonröhren. Said sagt: „Das ist er.“ Die Stimme aus dem Video würde er immer und überall erkennen.
Verletzende Kommentare auf Social Media und anonyme Drohungen per E-Mail oder Messenger haben für die Betroffenen und den öffentlichen Dienst verheerende Folgen. 67 Prozent der von digitaler Gewalt betroffenen Beschäftigten gaben in der Forsa-Umfrage an, im Umgang mit bestimmten Personengruppen vorsichtiger oder distanzierter geworden zu sein.
Warum der Mann aus dem Video sich überhaupt vor Gericht in Kusel verantworten und Said dafür quer durch Deutschland reisen muss, erklärt Oberamtsanwalt Timo Harth dem WEISSER RING Magazin so: „Bei Straftaten im Internet ist der Wohnort des Beschuldigten maßgeblich. Das hat auch praktische Gründe, denn vielfach handelt es sich um Wiederholungstäter. Da ist es sinnvoll, wenn das eine Staatsanwaltschaft bearbeitet.“ Dass Saids Fall überhaupt vor Gericht kam, lag daran, dass der Beschuldigte Einspruch gegen den Strafbefehl in Höhe von 750 Euro eingelegt hatte.
11.30 Uhr: Die Hauptverhandlung beginnt
Die Gerichtsschreiberin ruft Said mit seinem Vornamen auf, den sie für seinen Nachnamen hält. Kaum betritt er Sitzungssaal 1, schaltet sich der Dolmetscher dazwischen und übersetzt ungefragt die Worte des Richters für ihn ins Arabische. „Ich brauche keinen Dolmetscher“, sagt Said leise und wirkt verloren in dem Stimmengewirr aus Dolmetscher, Staatsanwalt und Richter. Keine drei Meter neben ihm sitzt der Beschuldigte. Es ist die erste leibhaftige Begegnung mit dem Mann, den er nur aus dem TikTok-Video kennt. Der Angeklagte ist kaum wiederzukennen, hat sich für den Prozess in Schale geworfen, trägt einen dunklen Anzug. Said trägt sein T-Shirt locker über der Hose mit der Aufschrift „Habibi“, das arabische Wort für Freund. Er wird als Zeuge wieder in den Warteraum geschickt.
Der Beschuldigte erklärt auf Arabisch, er habe nichts falsch gemacht. Er habe keinen konkreten Namen genannt. Internationales Recht auf freie Meinungsäußerung beinhalte das Recht, andere zu beleidigen – so sieht er das. Der Dolmetscher übersetzt. Richter Klaus Wirbel erklärt ihm ruhig, aber deutlich, dass er sich irrt. Man müsse niemanden namentlich nennen, wenn dieser durch die Umstände klar zu identifizieren sei, und der Betroffene, wenn er es sehe, wisse, dass er gemeint sei. Said ist Sozialarbeiter und holt schutzbedürftige Kinder aus gewalttätigen Familien. Der Mann nannte im Video einige Details über Said und einen seiner Fälle, die ihm offenbar eingeflüstert worden waren. Vermutlich von einem Vater, dessen Kinder Said im Auftrag des Staates in Obhut genommen hatte.
Oberamtsanwalt Timo Harth baut dem Verdächtigen eine goldene Brücke, kündigt seine Zustimmung an, wenn er den Strafbefehl akzeptiert. Bis zum Termin kann der Angeklagte seinen Einspruch zurücknehmen. Hat die Sitzung begonnen, braucht es die Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Bleibt diese aus, kann die Strafe am Ende höher ausfallen. Der Dolmetscher übersetzt. Der Mann protestiert. Der Dolmetscher erklärt noch einmal. Da lenkt der Mann ein und nimmt seinen Einspruch zurück. Er akzeptiert 50 Tagessätze à 15 Euro. Damit ist er rechtskräftig wegen Beleidigung verurteilt. Im Führungszeugnis wird der Fall nicht auftauchen, weil es die erste Verurteilung ist. Die Sitzung ist geschlossen.
38 %
der Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben bereits digitale Gewalt erlebt.
59 %
der Mitarbeitenden im öffentlichen Dienst wissen nicht, wie sie bei digitaler Gewalt vorgehen sollen.
14 %
der Opfer wandten sich an die Polizei.
Und Said?
Er bekommt als Zeuge im Warteraum von alledem nichts mit. Für seine Aussage hat er sich das T-Shirt doch noch ordentlich in die Hose gesteckt. Der Anzug des Angeklagten hat ihn verunsichert. Als er erneut aufgerufen wird, ist schon alles vorbei. Beim Betreten des Sitzungssaals prallt er im Türrahmen fast mit dem nun rechtskräftig verurteilten Mann zusammen, der gerade den Saal verlässt. Kaum eine halbe Stunde dauerte die strafrechtliche Würdigung der Online-Beleidigung. Die Folgen für Said spielen keine Rolle. Er blickt irritiert zum Richter und zum Oberamtsanwalt. Und verlässt den Saal.
„Dabei hätte ich dem Mann vor Gericht gern etwas gesagt, auch wenn fraglich ist, ob das etwas gebracht hätte“, sagt Said.
Er hätte ihm gesagt, dass so ein Video die Fronten verhärtet zwischen Betroffenen in schwierigen Lebensumständen und Behörden. Er hätte ihn gefragt: Woher nehmen Sie sich das Recht, so über mich zu reden?
Er hätte ihm erklärt, welchen negativen Einfluss das Video eine Zeit lang auf sein Leben hatte. Wie er tagelang nicht schlafen konnte. Wie er, der früher in der Flüchtlingshilfe aktiv und als Interviewpartner in Medien gefragt war, sich mehr und mehr zurückzog – erst aus den sozialen Netzwerken, dann auch aus dem öffentlichen Leben. Aus Sorge, dass aus dem digitalen Hass auch ein Mob im echten Leben werden könnte. „Ich hatte das Gefühl, mich schützen zu müssen“, sagt Said.
61 Prozent der Betroffenen berichteten in der Forsa-Umfrage von emotionalen Belastungen durch die Vorfälle. Bei 40 Prozent wirkten sich die Angriffe negativ auf Arbeitsleistung und Konzentration aus. Bei mehr als einem Viertel (28 Prozent) sei das Vertrauen in digitale Kommunikation erodiert. 13 Prozent hätten darüber nachgedacht, aufgrund des Vorfalls die Arbeitsstelle zu wechseln.
Retter in Not
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Said hat zwar den im Video angesprochenen Fall an einen Kollegen abgegeben, aber seinen Job nicht aufgegeben. Mittlerweile ist er verbeamtet. Er spaziert noch eine Weile durch Kusel, doch um diese Zeit hält die Stadt Mittagsruhe, alle Geschäfte sind geschlossen. Er sagt, er wolle jetzt nur noch nach Hause und verabschiedet sich am Bahnhof.
Einige Tage später ruft Said an. Er hat den Tag sacken lassen. „Ich bin wirklich froh, dass der Täter vor Gericht gekommen ist. Aber ich hätte gern als Zeuge gesprochen.“ So habe der Täter eine Bühne erhalten, während er selbst nichts sagen konnte. „Es fühlt sich nicht gut an, ich hätte mir etwas mehr Wertschätzung erhofft“, sagt Said. Über eins aber freut er sich sehr: Das TikTok-Video ist endlich offline.
Transparenzhinweis:
Der Kontakt zu Said kam über den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zustande. Der DGB macht seit 2020 mit seiner Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch!“ bundesweit auf das Thema Gewalt gegen Beschäftigte aufmerksam und arbeitet dabei auch mit dem WEISSEN RING zusammen. Im September 2023 haben WEISSER RING und DGB ein neues Hilfetelefon für Betroffene gestartet (Rufnummer 0800 116 0060), sie kooperieren mittlerweile mit HateAid für Angebote zur Prävention, Beratung und Unterstützung bei digitaler Gewalt.
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