Helfer in extremen Lagen
Die Messerattacke am Hauptbahnhof, die Schüsse bei den Zeugen Jehovas – der Hamburger Landesverband war zuletzt mehrfach besonders intensiv gefordert, aber mit Kristina Erichsen-Kruse, Werner Springer und ihrem Team gut vorbereitet.
Nach den Gewalttaten am Hauptbahnhof hat Hamburg die Videoüberwachung ausgebaut.
An Gleis 13 und 14 des Hamburger Hauptbahnhofs herrscht an einem späten Freitagabend im Sommer, an dem es immer noch schwülwarm ist, wie so oft Gedränge. Kurz bevor der Zug einfährt, wollen die Wartenden sich gute Plätze am Bahnsteig sichern. Im Bahnhof und um ihn herum erinnert fast nichts an die Attacke im Mai. Auffällig sind aber doch die neuen, KI-gestützten Überwachungskameras
und die Sicherheitskräfte, die präsenter sind als sonst und wieder einen Kontrollgang machen. Und dann ist da noch dieses mulmige Gefühl: „Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass
so etwas wieder passieren könnte“, sagt ein Reisender. Am 23. Mai dieses Jahres stach hier eine 39-Jährige, die kurz zuvor aus einer Psychiatrie entlassen worden war, auf 15 Menschen ein. Vier von ihnen
schwebten zeitweise in Lebensgefahr.
Es braucht mehr Psychologen mit Kassenzulassung
Kristina Erichsen-Kruse setzt sich seit Jahrzehnten für den WEISSEN RING ein, sie ist Vize-Landesvorsitzende, Koordinatorin für sogenannte Großereignisse und in Hamburg bestens vernetzt. An jenem Abend bekam sie früh die ersten Informationen. „Im ersten Moment dachte ich: Wieder eine Tat durch einen psychisch erkrankten Menschen, der offenbar in eine Klinik gehört hätte“, erinnert sie sich. Als frühere langjährige Leiterin des Maßregelvollzugs der Stadt weiß sie aber, wie komplex solche Fälle sind. Erichsen-Kruse konzentrierte sich darauf, die ersten helfenden Schritte einzuleiten: „Wir haben einen sehr guten Hamburger Leitfaden erarbeitet, der für die dann einzusetzenden Kolleginnen und Kollegen sehr hilfreich ist. Ich habe die wichtigsten Schritte verinnerlicht. Dann geht das sehr schnell.“ So benachrichtigte sie die Landesvorsitzende Monika Schorn, bereitete die Außenstellen auf Opferanfragen vor, blieb mit allen Beteiligten in ständigem Austausch, etwa mit dem Büro des Opferbeauftragten und der Polizei.
Als einstige Leiterin des Hamburger Maßregelvollzugs musste Erichsen- Kruse oft in kurzer Zeit schwierige Entscheidungen treffen.
Erichsen-Kruse hat an einem Tisch im Landesbüro Platz genommen, bietet Kaffee und Kekse an. Hinter ihr hängt ein zweiteiliges Kunstwerk, gestaltet von einer Mutter, die ihre Tochter durch eine
Gewalttat verloren hat. Links steht: „O – Ohnmacht, P – Pein, F – Furcht, E – Einsamkeit, R – Ratlosigkeit“. Rechts: „O – Optimismus, P – Präsenz, F – Freunde, E – Engagement, R – Regeneration“.
Zu dieser Entwicklung möchten Erichsen-Kruse und die anderen Ehrenamtlichen beitragen – auch nach besonders schweren Verbrechen, von denen viele Menschen betroffen sind. Die Hamburgerin
mit dem scharfen Verstand scheint kaum etwas aus der Ruhe zu bringen. Das hängt auch mit ihrem Berufsleben zusammen, wo sie mit Menschen zu tun hatte, die schwerste Gewalttaten begangen
hatten, und sie innerhalb kurzer Zeit Entscheidungen treffen musste.
Nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 hat der WEISSE RING ein Konzept für sogenannte Großereignisse entwickelt. Darin wird beispielsweise festgelegt, wann es sich um ein solches Ereignis handelt und was zu tun ist. Ein Großereignis wird unter anderem als Situation definiert, „die durch eine große Anzahl von Verletzten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen einen Betreuungsbedarf verursacht, der die Kapazität der zugehörigen Außenstelle übersteigt“. Eine Konsequenz ist eine größere Unterstützung durch die Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Das Opferreferat kann dann zum Beispiel Unterlagen zentral bearbeiten, das Team Medien & Recherche die Öffentlichkeitsarbeit koordinieren. Außerdem wird öffentlich kommuniziert, dass der WEISSE RING für die Opfer da ist und wie man ihn erreichen kann.
"Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“
Kristina Erichsen-Kruse
Kristina Erichsen-Kruse legt großen Wert auf die persönliche Begegnung; die aufsuchende Arbeit sei die Seele des WEISSEN RINGS. Als Koordinatorin in Extremlagen ist jedoch in erster Linie Telefonieren angesagt, was sie auch gerne tut: „Die ständige Erreichbarkeit empfinde ich nicht als Problem. Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“
Nach der Messerattacke sorgte sie mit ihrem Team etwa dafür, dass Opfer eine Traumatherapie, Geld für Fahrten und nicht zuletzt im Gespräch das Gefühl bekamen, „dass sie nicht alleine sind, nichts alleine bewältigen müssen, sondern uns jederzeit anrufen und Rat bekommen können.“ Im direkten Kontakt sei ihr bewusst geworden, dass es Angehörigen emotional manchmal schlechter gehe als unmittelbar Betroffenen – so wie einer Frau, die mitansehen musste, wie ihre Mutter niedergestochen wurde.
Erichsen-Kruse hebt hervor, dass der WEISSE RING in Hamburg ein sehr gutes Team habe, natürlich auch für Großereignisse. Das sei in diesen Fällen entscheidend: „Wir haben hier einen Pool von kompetenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die viel Erfahrung gesammelt haben.“ Sie fügt hinzu, dass man aus Großereignissen Erkenntnisse für die Opferhilfe ziehen könne. Lücken könnten dadurch sichtbar werden. Der Stadtstaat Hamburg sei insgesamt gut aufgestellt, es brauche aber mehr Psychologen mit Kassenzulassung, zumindest in den etwas abgelegenen Stadtteilen.
Werner Springer schätzt die Möglichkeit der Supervision, um seine Einsätze als Opferbetreuer zu reflektieren.
Der Landesverband Hamburg war in den vergangenen Jahren mehrfach besonders stark gefordert. Am Abend des 9. März 2023 eröffnete ein 35-Jähriger im Königreichssaal der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf das Feuer. Bevor das frühere Mitglied der Gemeinde sich selbst erschoss, ermordete er sieben Menschen, darunter ein ungeborenes Kind. Am Tatort, einem schmucklosen Gebäude mit
Flachdach an einer viel befahrenen Straße, sieht heute alles so aus wie vor den tödlichen Schüssen. Keine Gedenkstätte, kein Schild, keine Bilder, keine Blumen. Die Zeugen Jehovas sind umgezogen.
Ein Jahr vor der Amoktat bei den Zeugen Jehovas hatte der Landesverband, als Ergänzung zum bundesweiten Konzept, einen Hamburger Leitfaden für Großereignisse formuliert. Auch hier sind Aufgaben geregelt und die zuständigen Leute beim WEISSEN RING sowie bei den Netzwerkpartnern mit Kontaktmöglichkeiten benannt. Wer zuerst von dem Ereignis erfährt, „informiert unverzüglich alle anderen Ansprechpartner/innen innerhalb des Landesverbandes“, steht darin. Oder: Die bestmögliche Versorgung der Betroffenen erfordere eine „einvernehmliche, ressourcenorientierte und
vernetzte Kooperation“ aller Beteiligten in der Opferhilfe. Zur Nachsorge heißt es, dazu zähle „die proaktive Frage nach Therapiebedarf sowie Unterstützung bei Vermittlung an eine/n Therapeut/in“.
„Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen.“
Werner Springer
Werner Springer, der seit 2010 für den WEISSEN RING aktiv ist, engagiert sich ebenfalls als Koordinator für Großereignisse und hat nach der Tat bei den Zeugen Jehovas auch Betroffene betreut. Wie Erichsen-Kruse hat er die Besonnenheit, die es dafür braucht. Von der Amoktat erfuhr er beim Fernsehen. „Da blieb einem natürlich erst mal das Herz stehen“, blickt er zurück und spricht dabei ruhig, mit Bedacht und leichtem Hamburger Einschlag. Springer war jahrzehntelang Polizist und unter anderem auf St. Pauli und als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft.
Springer war jahrzehntelang Polizist und auf St. Pauli sowie als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft
Kurz nach dem Tatabend saß er an einem Runden Tisch, mit Polizei, Versorgungsamt, Staatsanwaltschaft, Psychotherapeutenkammer, einem Pressesprecher der Zeugen Jehovas und anderen. „Die Kernfragen waren: Wie ist die Lage? Welche Opfer sind bekannt, was brauchen sie jetzt? Ich habe unsere Hilfsmöglichkeiten vorgestellt. Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen, hauptsächlich durch meine Kollegin Cornelia Haverkampf und mich“, sagt der Leiter zweier Außenstellen. Vor den Treffen erkundigten sie sich über die Anschauungen und Rituale der Zeugen Jehovas.
Am Tatort in Alsterdorf erinnert heute nichts an das tödliche Attentat auf die Zeugen Jehovas.
Manches irritierte sie dennoch. Etwa, dass Vertreter der Glaubensgruppe ihre Beratungsgespräche genau protokollierten, oder dass die Betroffenen sehr sachlich über das Attentat sprachen. Doch Springer und Haverkampf hatten ein wichtiges Prinzip des WEISSEN RINGS im Blick: „Wir helfen allen Betroffenen, individuell, unabhängig von Herkunft, Religion und anderen Dingen, und akzeptieren ihre Bedürfnisse“, so Springer.
Eine Hilfe sei der Leitfaden für Großereignisse gewesen: „Man weiß vorher nicht, ob so etwas wirklich funktioniert. Aber das tat es. Die Hinweise und Informationen gaben uns Sicherheit.“
Die Ehrenamtlichen kümmerten sich bei den Zeugen Jehovas etwa darum, dass die Opfer finanzielle Unterstützung bekamen, erklärten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Weil in der Rechtsmedizin nicht genug Platz war, organisierten und finanzierten sie das Abschiednehmen im Großhamburger Bestattungsinstitut. Später finanzierte der WEISSE RING an Silvester einen Kurzurlaub in Dänemark, wo kein Knall zu hören ist. Solche Geräusche hätten die Betroffenen retraumatisiert. Insgesamt wurden 35 Menschen betreut.
Wichtig ist den Hamburger Ehrenamtlichen die Möglichkeit zur Supervision, die auch Werner Springer genutzt hat: „Das hat mir geholfen, alles besser zu verarbeiten, auch weil ich den Umgang der Zeugen Jehovas mit dem Tod besser verstand. Ihrer Ansicht nach wird Jehova irgendwann die Macht übernehmen und es kommt zur Auferstehung.“
Erichsen-Kruse und Springer werden Betroffenen weiter zur Seite stehen. Sie hoffen, dass die jüngsten „großen Ereignisse“ die letzten bleiben. Sollte es anders kommen, sind sie vorbereitet. Für den Fall appelliert Springer an Medien und Öffentlichkeit: „Nach solchen Taten geht es oft nur um den Täter. Schaut auf die Betroffenen. Schaut auf die Betroffenen!“
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