Der kühle Kopf
Als Fachanwalt für Strafrecht ist Hagen Karisch Opferanwalt, aber er vertritt auch Mörder und Betrüger. Diese gegensätzlichen Perspektiven helfen ihm bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING.

Hagen Karisch in Grimma. Der Familienvater wechselt zwischen Strafverteidiger und Opferbetreuer hin und her.
Für das Interview ist Hagen Karisch schnell aus Leipzig nach Grimma gekommen. Die 40 Kilometer lange Strecke schafft er in 30 Minuten. Nach dem Interview fährt er nach Leipzig zurück, denn dort hat er seine Anwaltskanzlei, die im Zentrum unweit vom Landgericht und der Staatsanwaltschaft liegt. Aber auch in Grimma hatte er Verhandlungen am Amtsgericht. Seit einiger Zeit befindet sich hier eine weitere Niederlassung seiner Kanzlei. Außerdem ist er seit Juli der neue Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS im Landkreis Leipzig mit Grimma als bevölkerungsreichster Stadt.
Die Altstadt von Grimma ist sehr schön, sagt Karisch. Auf seinem Weg ins Büro kommt er immer am Marktplatz vorbei. „Nur abends ist hier tote Hose.“ Das ist in Leipzig natürlich anders. Dort hat er viele spektakuläre Fälle verhandelt, über die sogar verschiedene Medien berichtet haben. Er selbst kann sich nicht mehr an alle Details erinnern. In den 32 Jahren als Anwalt hat er einfach zu viele Fälle betreut.
Einen kühlen Kopf bewahren
Einer dieser spektakulären Fälle war der Messerangriff von Chemnitz im August 2018, bei dem ein 35-Jähriger getötet und zwei Menschen schwer verletzt wurden. Karisch vertrat eines der Opfer, das lebensbedrohliche Stichwunden erlitt. Einer der Täter, ein Syrer, wurde zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der andere mutmaßliche Täter aus dem Irak ist weiter auf freiem Fuß und wird mit Haftbefehl gesucht. Der Fall sorgte auch deshalb lange für Aufsehen, weil es gewalttätige Demonstrationen von rechten Gruppen in der Stadt gab.
Als Opferanwalt musste Karisch trotz der explosiven Stimmung einen kühlen Kopf bewahren. Ihm ging es um die Aufklärung eines Verbrechens und nicht um Politik. Das Opfer, sein Mandant, sollte nicht beeinflusst oder instrumentalisiert werden.
Aus seiner langjährigen Erfahrung weiß er, dass die Opfer zu wenig repräsentiert sind und oft zu kurz kommen – für ihn ein Grund, sich neben seiner Arbeit beim WEISSEN RING zu engagieren. Auch in dem Chemnitzer Fall wurden die Aussagen des Opfers vor Gericht angezweifelt, was dem Betroffenen psychisch schwer zu schaffen machte.
Den Wunsch, Jura zu studieren, hatte Hagen Karisch bereits mit 18 Jahren, nach einem Praktikum am Bautzener Gericht. Danach stand für ihn fest, dass er mit diesem Beruf Menschen helfen kann und will.
„Ich kenne alle Seiten, und das hilft mir bei meiner Arbeit für den WEISSEN RING ungemein.“
Hagen Karisch
Von 1986 bis 1990 studierte er Rechtswissenschaft in Jena. Direkt nach der Wende gehörte er zu den ersten Studenten der ehemaligen DDR, die nach Bamberg gingen, wo die Sächsische Justiz sie neu ausbilden ließ. Dort machte er sein zweites Staatsexamen und blieb. „Das war eine tolle Zeit“, erinnert er sich, „ich bin mit dem Flugzeug ständig deutschlandweit unterwegs gewesen und hatte spannende Fälle.“
Auf seiner Kanzlei-Website sieht man einen Geigenspieler in einem Orchester. Darauf angesprochen, ob er selbst das Instrument spielt, sagt er lächelnd: „Nein, aber ich spiele die erste Geige.“ Im Jahr 1995 wird er von einer Leipziger Kanzlei abgeworben. „In Leipzig gab es zu der Zeit nur eine Handvoll Anwälte, die sich im Strafrecht auskannten“, sagt er. Durch seine Arbeit als Anwalt im Strafrecht kennt er den WEISSEN RING schon lange. Seit 2012 ist der 60-Jährige als Einzelanwalt selbstständig. So hat er auch schon einen Frauenmörder oder einen älteren Mann verteidigt, der zur Beihilfe wegen Drogenhandels verurteilt wurde und den die Presse „Drogen-Opa“ nannte. „Ich kenne alle Seiten, und das hilft mir bei meiner Arbeit für den WEISSEN RING ungemein“, sagt Karisch. Denn die meisten Fragen der Opfer beziehen sich auf das Strafverfahren, die Ermittlungsarbeit und die Opferrechte.
Im Oktober 2023 kam er als ehrenamtlicher Mitarbeiter zum Opferschutzverein. Nicht einmal zwei Jahre später ist Karisch Außenstellenleiter. Neben der umfangreichen Betreuung der Opfer sieht er seine Hauptaufgabe auch darin, den WEISSEN RING im Landkreis bekannter zu machen. Und dafür braucht es mehr Ehrenamtliche, denn im Moment ist er allein. „Interessenten können sich gern bei mir über die Website vom WEISSEN RING melden“, sagt er.
Ideen und Pläne für die Zukunft hat er: zum Beispiel eine Sprechstunde im Rathaus zweimal im Monat, Präventionskurse an Schulen zu Gefahren wie K.-o.-Tropfen oder in Altenheimen zum Thema Schock-Anrufe.
Bisher hat er etwa 20 Opferfälle betreut. Meist melden sich Frauen, die Opfer von Sexualstraftaten, Raub, Stalking oder Körperverletzung wurden. Manchmal geht es darum, Menschen wieder aufzurichten und ihnen Lebensmut zu geben, ein anderes Mal muss er mit Wut umgehen. „Ich glaube aber, dass ich das gut kann“, sagt Karisch, „ich mag es, Menschen zu führen und zu beraten.“
Aktuell betreut er ein vierjähriges Mädchen, das von seinem Vater sexuell missbraucht wurde. Die Mutter hatte sich Hilfe suchend im Landesbüro gemeldet und wurde an ihn vermittelt. „Ihre Tochter habe ihr erzählt, dass der Papa sie angefasst hätte“, erzählt Karisch. „Bei sexuellem Missbrauch geht es dann schnell darum, dass der Vater kein Umgangsrecht mehr hat, und schon sind wir im rechtlichen Bereich.“
Das vierjährige Mädchen, wurde von der Polizei vernommen. Es wurde eine Videovernehmung gemacht, damit das Kind nur einmal aussagen muss. Seine Arbeit geht jetzt über die für den WEISSEN RING hinaus, denn Karisch vertritt das Mädchen auch im Strafverfahren.
Er selbst hat eine 20-jährige Tochter, die Medizin in Magdeburg studiert. Seine Arbeit als Anwalt im Strafrecht hat ihn geprägt. „Ich weiß einfach, was alles passieren kann, und ich habe meiner Tochter zum Teil brutale Wahrheiten erzählt.“ Trotzdem kann ihn kein Opferfall so leicht aus der Ruhe bringen.
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