Die Fädenspinner mit dem Zeitumkehrer

Sebastian und Sandra Gillmeister schaffen es, ihre Klinik-Jobs zu stemmen, sich in der Außenstelle Ulm/Alb-Donau-Kreis für den WEISSEN RING zu engagieren, ihren Hobbys nachzugehen und ganz nebenbei noch ein Haus zu renovieren. Wie geht das?

Ein Powerpaar: Sandra und Sebastian Gillmeister

Manchmal, während man Sebastian und Sandra Gillmeister zuhört, fragt man sich verwundert, ob sie vielleicht irgendwo ­einen Zeitumkehrer versteckt haben. Das kleine magische Gerät, das wie eine Sanduhr an einer Kette aussieht, kennt man aus den Harry-Potter-Büchern. Seinen Besitzern ermöglicht es, in der Zeit zurückzureisen. So können sie mehr Aufgaben erledigen, als der Tag es eigentlich zulässt. Wie sonst schaffen es die Gillmeisters, ihre Klinik-Jobs zu stemmen, sich in der Außenstelle Ulm/Alb-Donau-Kreis für den WEISSEN RING zu engagieren, ihren Hobbys nachzugehen und ganz nebenbei noch ein Haus zu renovieren?

Im Moment aber sitzen die beiden ganz entspannt auf der Couch ihrer Ulmer Wohnung, die Schultern an­einandergeschmiegt. Zu ihren Füßen liegt Hundedame Mila, ein Chihuahua-Terrier-Mix. Es ist Montagabend, vor sich haben sie den Laptop aufgeklappt. Das Licht des Bildschirms spiegelt sich in ihren Brillengläsern. Per Videochat erzählen die Vielbeschäftigten, warum ihnen die ehrenamtliche Arbeit für den Verein in der Außenstelle in Baden-Württemberg so wichtig ist.

Sandra Gillmeister kennt den WEISSEN RING schon lange. Die 33-Jährige stammt aus dem Zollernalbkreis. Ihre Mutter Heike Dachs arbeitet seit Jahren für die dortige Außenstelle und wird zum Jahresende sogar deren Leitung übernehmen. „Durch sie habe ich mitbekommen, was der WEISSE RING alles leistet“, sagt Sandra Gillmeister. „Das hat mich sehr beeindruckt.“ Und noch etwas ist ihr im Kopf geblieben: „Wie er­füllend diese Aufgabe für meine Mutter ist.“

Zunächst aber wollte Sandra Gillmeister beruflich Fuß fassen. In Tübingen machte sie eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Dabei lernte sie ihren späteren Mann kennen. Sebastian Gillmeister, in Sachsen geboren und aufgewachsen im Schwarzwald, ließ sich dort zum Anästhesietechnischen Assistenten ausbilden. Später setzte er ein Medizinstudium obendrauf. 2016 heirateten die beiden. Sandra Gillmeister folgte ihrem Mann nach Ulm, wo er sein Studium abschloss. Sie selbst begann berufsbegleitend ein Stu­dium in Gesundheitsmanagement.

Die Gillmeisters möchten Menschen helfen, aus einer schwierigen Situation herauszukommen.

Inzwischen arbeiten sie beide für das RKU, die Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm. Er macht dort seinen Facharzt für Anästhesie. Sie arbeitet im Case Management, kümmert sich zum Beispiel um die ­Bettenbelegung und die nachstationäre Versorgung der Patientinnen und Patienten. Sebastian Gillmeister arbeitet hundert Prozent, seine Frau 85 Prozent. Ihre Arbeitstage sind voll, der Klinikalltag ist oft auf­reibend. Man könnte meinen, sie seien froh, wenn sie sich nach Feierabend endlich auf dem Sofa ausstrecken können. Doch Stillstand mögen beide nicht. Sie brauchen die Abwechslung so dringend wie ein Profisportler das tägliche Training.

„Betroffene sollen wissen, dass sie nicht allein sind.“

Sandra Gillmeister

Parallel zu ihrer beruflichen Entwicklung ist ihr ehrenamtliches Engagement mit den Jahren gewachsen. 2018 wurde das Paar zunächst Mitglied im Verein. 2020 meldete sich Sandra Gillmeister als ehrenamtliche Mitarbeiterin. Zu diesem Zeitpunkt stand sie kurz vor dem Ende ihres Bachelorstudiums. „Ich habe neben dem Studium immer hundert Prozent gearbeitet“, sagt sie. „Da habe ich mich gefragt, was ich nach dem Abschluss plötzlich mit der ganzen freien Zeit anfangen soll.“ Sie muss schmunzeln, als sie davon erzählt. Jede freie Minute einer Aufgabe zu widmen, die Sinn stiftet oder Freude bereitet, diese sympathische Rastlosigkeit hat sie mit ihrem Mann gemeinsam.

Ihre Motivation, sich für den WEISSEN RING einzu­setzen? „Ich möchte Menschen helfen, aus einer schwierigen Situation herauszukommen“, sagt sie. „Betroffene sollen wissen, dass sie nicht allein sind.“

Sebastian Gillmeister hat zeitweise im Rettungsdienst gearbeitet. Dabei gab es immer wieder Berührungspunkte mit dem WEISSEN RING. Wirkliches Interesse für die Arbeit des Vereins weckte dann aber erst seine Schwiegermutter: „Sie erzählte von ihren Fällen und ich bekam immer größere Ohren“, erinnert sich der 34-Jährige. Ein Jahr nach seiner Frau, 2021, wurde auch er ehrenamtlicher Mitarbeiter. Er sagt: „Jemandem wieder auf die Beine zu helfen, ihn auf seinem Weg zu begleiten, der Starke an seiner Seite zu sein, das gibt einem ein unglaublich gutes Gefühl.“

Sie teilen sich ein Telefon des WEISSEN RINGS, auf dem sie Hilfsanrufe entgegennehmen. „Das ist ein Herzens­projekt von uns, da nimmt man sich die Zeit“, sagt Sandra Gillmeister. „Dann telefoniert man eben auch mal abends um 21 Uhr mit einer Betroffenen.“ Manchmal können Kriminalitätsopfer nur tagsüber sprechen. Dann nehmen die Gillmeisters das Telefon mit in die Klinik. „Meine Chefin ist sehr tolerant“, sagt Sandra Gillmeister. „Wenn ich ihr sage, dass ich mit einem Opfer von häuslicher Gewalt telefonieren muss, sagt sie nie nein.“

Die Gillmeisters unterstützen sich gegenseitig. Wenn einer bei einem Fall nicht weiterweiß, fragt er den ­anderen um Rat: Wie am besten vorgehen? Welche ­Hilfe wird jetzt am dringendsten benötigt? Wenn eine Geschichte eine der beiden emotional stark mitnimmt, hilft es, mit dem Partner darüber zu sprechen. „Ich hatte schon gestandene Männer, die vor mir in Tränen ausgebrochen sind, weil in ihrer Familie etwas passiert ist“, sagt Sandra Gillmeister. „Da muss auch ich als Beraterin kräftig schlucken.“ Sebastian Gillmeister schöpft in solchen Situationen Kraft aus einem Gedanken: „Wenn ich aufzähle, was wir vom WEISSEN RING alles für einen Betroffenen tun können, verwandelt sich die Schwäche in Stärke.“

Und natürlich sind die Gillmeisters nicht allein. Sie haben­­­ in ihrer Außenstelle ein starkes Team von Ehrenamt­lichen, die wie sie alle noch im Berufsleben stehen. Große Themen besprechen sie gemeinsam. Mindestens einmal im Quartal treffen sie sich persönlich, zwischendurch wird bei Bedarf telefoniert oder gemailt.

Sebastian Gillmeister hat 2023 ein wichtiges Amt ­übernommen: Er ist Jugendbeauftragter für Baden-Württemberg. Damit ist er Ansprechpartner für die Gruppe der Jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und auch bei den Treffen der Außenstellenleiter mit dabei. In dieser Funktion koordiniert er zum Beispiel landesweite Aktionen, an denen die jungen Ehrenamtlichen unter 35 Jahren beteiligt sind. Spricht man mit Sebastian Gillmeister über seine neue Aufgabe, kristallisieren sich schnell zwei Herausforderungen heraus, denen er sich stellen möchte. Zum einen möchte er mehr junge Menschen für das Ehrenamt begeistern, zum anderen ihrer Stimme innerhalb des Vereins mehr Gewicht verschaffen. „Da ist noch Luft nach oben, ­dabei ist die Jugendarbeit enorm wichtig“, sagt er. „Ich habe oft das Gefühl, dass junge Menschen nicht so viel gefordert und gefördert werden, wie sie es eigentlich verdient hätten.“ Im WEISSEN RING engagierten sich vor allem lebenserfahrene Menschen, viele davon sind bereits im Ruhestand. „Deren Erfahrung ist natürlich wichtig“, sagt Sebastian Gillmeister. „Trotzdem kann man auf einen jungen Mitarbeiter zugehen und fragen: Was denkst du darüber?“ Seine Frau ergänzt: „Eine gute Mischung aus allen Altersgruppen, das wäre ­wünschenswert.“

„Jemandem wieder auf die Beine zu helfen, ihn auf seinem Weg zu begleiten, der Starke an seiner Seite zu sein, das gibt einem ein unglaublich gutes Gefühl.“

Sebastian Gillmeister

Das junge Paar will noch weitere Dinge anstoßen. In Ulm hat der WEISSE RING keine eigenen Räume, in ­denen man sich mit den Opfern in einer sicheren und ruhigen Umgebung treffen kann. „Wir sind auf unsere Netzwerkpartner angewiesen: Altenheime, Polizei, Bibliotheken, Cafés mit einem separaten Bereich“, zählt Sandra Gillmeister auf. Derzeit suchen sie nach einem Raum in Zentrumsnähe, der kostenfrei nutzbar ist.

Netzwerk ist ein Wort, das im Gespräch immer wieder fällt. Die Gillmeisters sammeln Kontakte wie emsige Bienen Nektar. Sie wollen sich mit möglichst vielen Akteuren aus den unterschiedlichsten Bereichen verbinden. Als zum Beispiel in Ulm eine Ambulanz für ­Gewaltopfer öffnete, besorgten sie sich sofort Flyer, um sie bei Bedarf an Betroffene zu verteilen. „Umgekehrt sollen uns auch die Mitarbeiter der Ambulanz kennen, damit sie Menschen auf unsere Beratung aufmerksam machen können“, erklärt Sandra Gillmeister.

Kein Wunder, dass sie auch in anderen Organisationen mitmischen wollen. Beide sind für die SPD im Orts­verein Ulm Süd aktiv. Sebastian Gillmeister bringt sich in medizinischen Gewerkschaften ein. Er möchte die Ausbildung junger Ärzte verbessern. In der Gewerkschaft Verdi haben sich die Gillmeisters ebenfalls schon eingesetzt. Doch im Moment ruht ihr Engagement dort – zu viel anderes zu tun. „Wenn man in ein Netzwerk eintritt, muss man sich auch engagieren, um die Fäden weiterspinnen zu können“, sagt Sebastian Gillmeister. Und erklärt gleich, was er sich davon verspricht: „Einem Opfer von häuslicher Gewalt kann man vielleicht schneller zu einer Wohnung verhelfen, unabhängig vom Frauenhaus. Dem Vergewaltigungsopfer eine konkrete Anlaufstelle in einer Klinik nennen.“

Anspruchsvolle Jobs, ausfüllende Ämter – bleibt da überhaupt Zeit fürs Privatleben? Tatsächlich haben die Gillmeisters ein Haus gekauft, das sie gerade reno­vieren lassen. Sebastian Gillmeister träumt von einem Musikzimmer. Er spielt Gitarre und Dudelsack, möchte aber gerne noch Schlagzeug und ein Blasinstrument lernen. Sandra Gillmeister strickt und näht. Und dann ist da noch Mila, die sich über Aufmerksamkeit freut und ihren täglichen Auslauf braucht.

Wird ihnen das alles manchmal zu viel? Sebastian Gillmeister lacht: „Durch unseren medizinischen Background sind wir einiges an Stress gewohnt.“ Seine Frau und er haben ein Ritual etabliert: Wenn sie von der ­Arbeit nach Hause kommen, setzen sie sich erst einmal auf die Couch. Sie kuscheln mit Mila und reflektieren den Tag. So meistern sie die täglichen Herausforderungen bisher gut – auch ohne Zeitumkehrer.