Nichtstun ist schlimmer

Seine Karriere bis an die Spitze der Bremer Polizei sei ihm „eher so passiert“, sagt Jürgen Osmers. Umso strategischer plante er seinen Ruhestand – und kam so zum WEISSEN RING.

Jürgen Osmers

Jürgen Osmers im Bürgerpark Bremen. Der 64-jährige pensionierte Polizist kam erst zur Rente zum WEISSEN RING.

„Komm“, sagt er, „wir gehen ein Stück.“ Bürgerpark Bremen, Jürgen Osmers läuft los: in der Hand den Drogeriemarkt-Regenschirm, wir sind hier in Norddeutschland, auf dem Kopf die Werder-Kappe, wir sind in Bremen. Auf den Bürgerparkwegen gehen lächelnde Menschen mit angeleinten Alpakas spazieren, etwas später kommt uns eine Gruppe mit Eseln entgegen. Osmers wohnt hier ganz in der Nähe, im Park geht er joggen, und manchmal dreht er abends noch eine Extrarunde, jetzt lächelt er auch: „Ich muss ja gucken, ob alle Tiere wieder an ihrem Platz sind.“ Er nimmt Kurs auf ein kleines Gehege in der Parkmitte, neben Alpakas und Eseln leben dort Ziegen, Schafe und Bentheimer Schweine.

Osmers, ein drahtiger Mann von 64 Jahren, ist immer in Bewegung. Laufen, Schwimmen, Inlineskaten, früher außerdem Turmspringen und Squash. Vielleicht ist er auch deshalb zur Polizei gekommen damals, ganz genau weiß er es nicht, geplant hatte er nichts. „Das ist mir eher alles so passiert“, sagt er, er meint das Leben und die Karriere. Eigentlich habe er „etwas Kaufmännisches“ machen wollen, wie man das eben so macht in der alten Kaufmannsstadt Bremen. Aber dann seien die Kaufmannslehrstellen knapp gewesen, die Polizei bot Abwechslung und Sport und die Möglichkeit, mit der Ausbildung den anstehenden Wehrdienst gleich mit zu erledigen. So kam Jürgen Osmers zur Polizei, genauer: in den Streifendienst nach Osterholz-Tenever. Hochhaussiedlung, sozialer Brennpunkt, oder wie Osmers es nennt: „Klein-Manhattan“.

Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann

Er verlangsamt den Schritt, wird kurz nachdenklich. „Man taucht ins pralle Leben ab“, erinnert er sich an seine Einsätze dort. Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, überhaupt die Gewalt. Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann. Und dass nach einem Verbrechen, wenn die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hat, für die betroffenen Menschen trotzdem eine Lücke bleibt. An den WEISSEN RING dachte er damals noch nicht.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst. Kriminalpolizei. Höherer Dienst. Osmers zog die Uniform aus, übernahm Leitungsposten. Staatsschutz. Ausbildung beim FBI in Quantico, USA. Organisierte Drogenkriminalität. Landeskriminalamt (LKA), am Ende war er dessen Chef. „Es klingt platt“, sagt er, „aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

2022 stand der Pensionseintritt an, und so ungeplant ihm das Berufsleben passiert ist, so planvoll ging er den Ruhestand an, sozusagen mit Polizeimethoden. Er ermittelte, recherchierte. Surfte im Internet, las Broschüren. Er ging zu Veranstaltungen, sprach mit Menschen. So kam er zum WEISSEN RING, Landesverband Bremen. 60 Ehrenamtliche, darunter zwei aus dem Polizeidienst, Osmers nun als einer der beiden.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst

Als Jürgen Osmers sein Ehrenamt plante, wandte er auch das Ausschlussprinzip an. Ein Vorstandsamt wollte er erst mal nicht, Verantwortung hatte er lange genug getragen. In die Betreuung der Opfer wollte er auch nicht unbedingt, solche Gespräche hatte der Familienvater zu häufig geführt. „Da nimmt man so einiges Belastendes mit nach Hause“, erinnert er sich.

Der Bremer Landesvorsitzende, Hans-Jürgen Zacharias, schlug ihm die Öffentlichkeitsarbeit vor. Medienarbeit, Journalistengespräche, das kannte er ja als LKA-Chef. Und die Idee, gleich die komplette  Bandbreite des WEISSEN RINGS vertreten zu sollen, reizte ihn.

„Es klingt platt, aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

Jürgen Osmers

Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“

„Guten Morgen!“ Zwei Wochen später steht Osmers an einem Wochenende in einer Sporthalle an der Weser, von hier sind es nur wenige Gehminuten zum gewaltigen U-Boot-Bunker „Valentin“ im Bremer Norden. Osmers trägt seine Ruhestands-Uniform: ein weißes Poloshirt mit dem blauen Aufdruck „WEISSER RING“. Vor ihm sitzen 25 Seniorinnen und Senioren auf Turnbänken, sie wollen heute Selbstbehauptung lernen. Osmers setzt sich in Bewegung, er steuert auf Jörg zu, einen Schauspieler und Trainer, bedrängt ihn, rempelt ihn an, berührt ihn. Jetzt mal alle, wie wehrt ihr euch da?

Die Teilnehmer rauschen und drängen durcheinander. „Ich sage Nein!“, ruft jemand. „Stopp!“, empfiehlt ein anderer. „Fassen Sie mich nicht an!“, schlägt eine Dritte vor.

Osmers gibt Tipps. „Sprecht die bedrohte Person an“, rät er. „Brauchen Sie Hilfe?“ Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“. „So erkennen Außenstehende, man ist sich fremd“, sagt er. Es ist das dritte Selbstbehauptungsseminar des WEISSEN RINGS in Bremen, die Warteliste ist lang. Zum zweiten hatte Osmers Radio Bremen eingeladen, der Beitrag lief vor Kurzem im Fernsehen.

„Öffentlichkeitsarbeit ist das Vehikel für die eigentliche Arbeit: für die Opferhilfe“, sagt er. „Die Opferhelfer stehen ja aus gutem Grund nicht in der Öffentlichkeit.“ Er sieht es als seinen Job an, den WEISSEN RING sichtbar zu halten, ebenso die Kriminalitätsopfer. „Es ist eine wichtige Funktion, völlig unabhängig den Betroffenen eine Stimme zu geben. Das macht keine Partei.“

Workshop Selbstbehauptungskurs

In einer Turnhalle gibt Jürgen Osmers einen Workshop und zeigt den Teilnehmenden, was sie gegen Belästigung in der Bahn oder im Zug machen können.

In der Turnhalle stehen zehn Stühle, dazwischen ein schmaler Gang. „Unsere Straßenbahn“, sagt Osmers. „Wer macht mit?“ Zögern bei den Teilnehmern. „Für so wenige Leute fährt die Bahn nicht…“ Beate, eine Kollegin vom WEISSEN RING, setzt sich. Jörg fläzt sich neben sie, streicht ihr durchs Haar. Jetzt wieder alle, was kann sie tun, was können andere Fahrgäste tun? „Fassen Sie mich nicht an!“ Leute  direkt ansprechen, mahnt Osmers, die Stimme einsetzen, „dann weiß der ganze Zug: Da braucht jemand Hilfe!“

„Viele haben Angst, etwas Falsches zu tun. Aber Nichtstun, das ist schlimm.“ Es klingt ein bisschen doppelsinnig, wenn er das sagt.

Ihm sei immer klar gewesen, dass sein Ruhestand kein ruhiger werden würde, sagte er vorher beim Gang durch den Bürgerpark. Geschickt greift Osmers die politischen Vereinsthemen auf und übersetzt sie für Bremen: Er tritt im regionalen Fernsehen auf und spricht mit dem „Weser-Kurier“, der Zeitung vor Ort: über die elektronische Fußfessel als Schutz für Frauen vor gewalttätigen Partnern, über die Belastungen durch True-Crime-Filme für Opferangehörige.

Im Bürgerpark ziehen dunkle Wolken auf. Osmers lässt den Schirm zu und steuert die nahe „Meierei“ an, dort gibt es ein Dach und eine gute Marzipantorte. Er ist zufrieden mit seinem Ruhestandsleben
als Medienmann des WEISSEN RINGS in Bremen. „Damals musste ich immer bei kritischen Themen Rede und Antwort stehen“, sagt der ehemalige LKA-Chef. Er lächelt: „Jetzt darf ich eine richtig gute Sache verkaufen.“