„Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun“
Sie steigt trotz Flugangst in eine Linienmaschine und arbeitet sich bis tief in die Nacht in Fälle ein: Karin Skib aus Gießen engagiert sich seit 2001 für den WEISSEN RING. Das erste Jahr hatte es direkt in sich.

Karin Skib gehört zu den Menschen, denen man nicht lange erklären muss, was sie zu tun haben.
Zwei Leitz-Ordner voll mit Zeitungsartikeln über die Aktivitäten der Gießener Außenstelle des WEISSEN RINGS und eine Ehrennadel – das ist die vorläufige Bilanz eines ehrenamtlichen Dienstes, der nun beinahe ein Vierteljahrhundert andauert. Karin Skib, schulterlanges braunes Haar, roter Pullover, Brille, schicke Kordelkette, ist schon ein bisschen stolz auf das, was sie bisher als Leiterin erreicht hat. Aber zu stolz will die 64-Jährige auch nicht wirken, denn irgendwie ist der Einsatz für das Ehrenamt für sie auch selbstverständlich, hört man heraus: „Mein erster Berufswunsch in früher Jugend war es, Richterin zu werden, ich hatte schon früh einen großen Gerechtigkeitssinn“, erzählt sie.
,,Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun"
Karin Skib
Skib absolvierte schließlich eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Später arbeitete sie bei einer Wäschereitechnik-Firma in der Auftragsabwicklung und erwarb dabei eine Fähigkeit, die ihr auch für ihre Tätigkeit im Verein hilft: Multitasking, also die Fähigkeit, viele Dinge zu erfassen und gleichzeitig zu tun. Ende der 90er-Jahre erblindete ein Kollege von Karin Skib, der sehr viel Kundenwissen hatte und auf den das Unternehmen nicht verzichten wollte. Karin Skib wurde sozusagen sein Auge und seine Hand: „Damit er möglichst lange bei uns bleiben konnte, habe ich ihm die Post vorgelesen und die Hand bei Unterschriften geführt“, erzählt sie. Durch ihren eigenen Job und die zusätzliche Betreuung des Kollegen hatte Skib keine andere Wahl als sich gut zu organisieren. Denn neben ihrem „Zweitjob“ musste sie auch den kleinen Sohn versorgen und den Haushalt gebacken kriegen.
Die Anpackerin
Karin Skib gehört zu den Menschen, denen man nicht lange erklären muss, was sie zu tun haben oder wo Arbeit anfällt. Als Außenstellenleiterin beim WEISSEN RING ist sie seit dem Jahr 2001 Seelsorgerin, Antragsbearbeiterin und Eventmanagerin in Personalunion. Eine Anpackerin. „Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun“, ist Skibs Motto.
Als sie das erste Mal ein Treffen der Opferhilfe in Gießen besuchte, waren die etwa sechs ehrenamtlichen Mitarbeitenden alle schon deutlich älter, als dann der Leiter aus gesundheitlichen Gründen seinen Dienst quittierte, ergriff Karin Skib die Initiative. „Ich wollte nicht, dass das Angebot in Gießen verschwindet.“ Sie übernahm das Amt. Nicht nur reden, machen. Und das, obwohl Skib damals noch gar nicht so recht wusste, was alles auf sie zukommen würde, sagt sie heute rückblickend.

Seit 2001 engagiert sich Karin Skib für den WEISSEN RING.
Nachdem Karin Skib ihren Beruf aufgegeben hatte, entwickelte sich das Ehrenamt schnell zu einem neuen Vollzeitjob. In der ersten Zeit las sich Skib manchmal bis nachts in die Fälle ein. Wenn es sein musste, stand sie mitten in der Nacht auf, um die Frau eines amerikanischen Soldaten zur damaligen Rhein-Main Air Base der US Air Force in Frankfurt zu fahren. Dort nahmen sie ein vom Vater entführte Kind in Empfang. Und wenn es sein musste, setzte sie sich in ein Flugzeug, um eine anderes Opfer zu einer TV-Aufzeichnung nach München zu begleiten, wo es über seinen Fall sprechen wollte, – obwohl sie Flugangst hat.
Hohe Belastbarkeit wichtig
Skib weiß, was sie zu tun hat und warum: „Es bringt ja nichts ‚Oh Gott, oh Gott, das ist ja schlimm‘ zu sagen.“ Man müsse den Opfern helfen und dazu brauche es eine hohe Belastbarkeit. Und ob: Das erste volle Jahr ihrer neuen Leitungsfunktion war gleich ein besonderes: Niemals vor und nach 2001 hatte es in Gießen drei Mordfälle in einem Jahr gegeben. Skib hörte den betroffenen Eltern und Angehörigen stundenlang zu, begleitete sie zu Gerichtsprozessen und half auch sonst, wo sie konnte.
Ihre Kontakte in die hessische Politik nutzt Skib im Sinne des Vereins. Sie erzählt, wie sie zum Beispiel einmal mit hochrangigen Amtsträgen über das Opferentschädigungsgesetz (OEG), das die staatliche Entschädigung von Gewaltopfern regelt, gesprochen habe und wie dabei eine Lücke im Gesetz auffiel. „Zunächst hatten Angehörige von Tötungsopfern oder auch Augenzeugen noch keinen Anspruch auf OEG-Leistungen“, erklärt Skib. Später gab es eine Anpassung, nach der sogenannte Schockschäden heute anerkannt werden.
Mehr Fälle während Corona
Neben Empathie, Belastbarkeit und Zeit nennt Skib auch Koordinierungsfähigkeit und ein geordnetes Privatleben als weitere Voraussetzungen für ihre Aufgaben. Überhaupt: vorausschauende Planung, Struktur und Effizienz, diese Begriffe passen gut zu ihr. Sie gehe nie mit leeren Händen in den Keller, sondern nehme immer gleich etwas mit runter, um den Gang optimal zu nutzen. „Durch Multitasking habe ich erst Zeit für andere Dinge“, sagt Skib und klingt dabei schon fast wie eine Unternehmensberaterin.
Die Außenstelle in Gießen bearbeitet rund 150 Opferfälle im Jahr. Während der Corona-Pandemie schnellten vor allem die Fälle von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt nach oben, was die Arbeitsbelastung von Skib und ihrem Team noch einmal erhöhte. Um sich nicht zu verzetteln, bewertet die Außenstellenleiterin alle Abläufe und Einsatzpläne klar und pragmatisch.
Schlimme Gewalttaten, Mord oder Stalking beschäftigen sie oft über einen längeren Zeitraum. Aber eigentlich hört die Verantwortung nie so richtig auf, wenn man es genau nimmt. Denn wenn Karin Skib etwas verspricht, gibt es kein Verfallsdatum. Noch heute ist die Gießenerin sehr irritiert über ein Interview mit ihr in einer Lokalzeitung, das mit einer allzu reißerischen Überschrift in Bezug auf einen Mordfall erschien. Skib hatte den Fall nur am Rande erwähnt und sich damit an den Wunsch der Angehörigen gehalten, die Sache nicht immer wieder neu aufzuwärmen. „Und jetzt stellen Sie sich mal vor, die Leute schlagen die Zeitung auf, und lesen diese Überschrift!“ Für die Annahme, dass die Opfer mit ihrer Betreuung und Arbeit unzufrieden sind, gibt es jedoch keinen Hinweis. 2022 erhielt Karin Skib sogar den Ehrenbrief des Landes Hessen mit Ehrennadel. Mit der Auszeichnung würdigt das Bundesland soziales, ehrenamtliches Engagement in einem Verein. Mehr geht nicht.
,,Es bringt ja nichts, Oh Gott, oh Gott, das ist ja schlimm' zu sagen."
Karin Skib
In den vergangenen Jahren überließ die 64-Jährige die Opferarbeit immer mehr ihren Mitarbeitern, aber die Organisation der Außenstelle und Öffentlichkeitsarbeit für den Verein lassen bei ihr bis heute keine Langeweile aufkommen. Obwohl Skib einen Gang runtergeschaltet hat – so richtig loslassen, fällt ihr schwer. Mittendrin ist sie auch deswegen, weil die Teamsitzungen seit Corona in einem ausgebauten Kellerraum ihres Hauses stattfinden, das Büro ist dafür zu klein. Die nächsten Spendenübergaben, Statistiken und Infostände wollen auch geplant sein.
Ende in Sicht?
Seitdem sie kleine gesundheitliche Einschränkungen spürt, erlaubt sich Skib nun schon das ein oder andere Mal, vorsichtig ans Aufhören zu denken. Derzeit baut sie eine Stellvertreterin auf. Wie lange sie selbst noch an Bord sein wird, ist unsicher.
Sicher ist hingegen, dass die Noch-Außenstellenleiterin alle Unterlagen der bearbeiteten Opferfälle in ihrem Büro vernichten oder nach Mainz schicken muss, wenn sie irgendwann dem WEISSEN RING den Rücken kehrt. Ihre beiden Leitz-Ordner, die zuhause auf dem Wohnzimmertisch liegen, müssen dem Datenschutz aber nicht gehorchen. Deshalb lag Karin Skib die Öffentlichkeitsarbeit von Anfang an so am Herzen: In den Ordnern sind rund 100 Zeitungsbeiträge – viele davon selbst verfasst – zusammengetragen, jeder einzelne fein säuberlich in einer Prospekthülle abgeheftet. „Die Artikel dokumentieren später, was wir in den ganzen Jahren alles gemacht haben“, erklärt Skib stolz. „Das ist dann mein ganz persönliches Archiv.“
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