“Opfer hatten früher keine Rechte“
Lothar Pohle war 40 Jahre Kriminalkommissar und hat in vielen Fällen von sexualisierter Gewalt ermittelt. Seit 33 Jahren engagiert er sich beim WEISSEN RING und hat für den Verein in der Lausitz Pionierarbeit geleistet.

Lothar Pohle und seine Frau Monika engagieren sich beide intensiv für den Verein.
An diesem kalten Wintertag sieht das Leben von Lothar Pohle gemütlich und beschaulich aus. Er öffnet die Tür zu seinem Haus in der Siedlung Gallinchen, einem Ortsteil von Cottbus. Drinnen brennt das Holz im Kaminofen, es gibt Kaffee und Kekse, Katze Emmi liegt auf dem Kratzbaum und schaut in den Garten. Hier lebt Pohle seit 1997 mit seiner Frau Monika. Lothar Pohle hat eine Maurerlehre gemacht und viel an dem Haus selbst gebaut. Ein Ort, an den man sich zurückziehen und Kraft tanken kann.
Pohles Berufsleben als Kriminalkommissar war alles andere als beschaulich: „Ich habe mich um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen und um Kinderpornografie gekümmert“, sagt er. Der Beruf war am Anfang mehr ein Zufall als ein Wunsch. Als studierter Bauingenieur hatte er in der DDR schlechte Konditionen. „Ich habe weniger verdient als die Bauarbeiter und wollte als Brandursachenermittler zur Feuerwehr“, erinnert er sich. Damals rauchte er noch und bekam die Stelle aus gesundheitlichen Gründen nicht, aber bei der Kripo wurde ihm eine angeboten.
Also beginnt er Ende der 1970er-Jahre das Polizeistudium und arbeitet danach 40 Jahre bei der Polizei Cottbus und Land. Über diese Arbeit kam er zum WEISSEN RING. Ein Kollege aus Nordrhein-Westfalen, wo es den Opferhilfeverein schon gab, „hat angeregt, so etwas auch in Cottbus aufzubauen“. Die hier zuständige Staatsanwältin, Martina Eberhart, wurde Außenstellenleiterin in Cottbus-Stadt und holte Pohle ins Team. „Sie ist heute die Dienstälteste, ich komme direkt nach ihr“, sagt er und lacht.
Weshalb Pohle sich für Betroffene engagieren wollte? „Die Verfahren, die ich bearbeitet habe, waren für die Opfer eine Katastrophe.“ Die Frauen hätten bei der Polizei aussagen müssen, bei der Staatsanwaltschaft und noch einmal vor Gericht. Hinzu kamen Verteidiger, die es als ihren Job angesehen hätten, alles, was die Frauen sagen, anzuzweifeln. Die Opfer seien zur damaligen Zeit nur Zeugen gewesen, erklärt Pohle. “Sie hatten keine Rechte, und ich wollte einfach etwas für die Opfer tun, ohne damals zu wissen, wie man das am besten machen kann.“
Im Jahr 1992 wird er Mitglied im WEISSEN RING. Mit Eberhart baut er im Süden Brandenburgs das Netz des Vereins auf. “Wir waren nur wenige Leute und haben trotzdem in zwei Jahren mehrere Außenstellen eröffnet.“ Seit 1997 leitet Pohle auch die Außenstelle Spree-Neiße mit heute neun Mitarbeitenden, vier davon sind Frauen. Seit 2022 ist er Vize-Landesvorsitzender. Der WEISSE RING hat in Brandenburg 19 Außenstellen, was auch ein Verdienst von Lothar Pohle ist.
„Ich bin ein positiver Mensch geblieben. Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Guten tun.“
Lothar Pohle
Als Kommissar saß er oft im Gerichtssaal. Deshalb weiß er, wie wichtig die Reformgesetze sind. Sie geben den Opfern mehr Rechte: zum Beispiel der Verletztenbeistand vor Gericht. Oder das Recht auf Informationen: Wann wird der Täter verurteilt, wann wird er entlassen? Pohles Frau Monika ist ebenfalls im Verein aktiv. Sie war Lehrerin und betreut vor allem Fälle aus dem Frauenhaus.
Pohles frühere Arbeit und jene für den WEISSEN RING überschneiden sich oft. Sexualstraftaten machen bis zu 40 Prozent der Fälle aus, mit denen sich der Verein beschäftigt. Nur häusliche Gewalt kommt noch häufiger vor, dahinter folgen Stalking und Mobbing.
Als Kommissar sah Pohle Menschen sterben
Wenn man Lothar Pohle nach den Fällen befragt, in denen er früher als Kommissar ermittelte, blockt er erst mal ab. “Ich mag es nicht, wenn Gewalt- oder Sexualstraftaten heute zur Unterhaltung verwendet werden.“ Er meint damit vor allem die vielen True-Crime-Formate.
Doch natürlich erinnert Pohle sich noch an vieles. Als Kommissar hat er drei Menschen nach Tötungsdelikten sterben sehen. In einem anderen Fall wurde eine Frau im Fahrstuhl vergewaltigt, später konnten Lothar Pohle und seine Kollegen den Täter verhaften. “Das war immer ein befriedigendes Gefühl, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, dem Täter persönlich die Handschellen anzulegen.“ Neben einer gewissen Härte brauche man als Kommissar auch Einfühlungsvermögen. Eine Eigenschaft, die ihm bei seiner ehrenamtlichen Arbeit hilft.
Ein Fall von sexuellem Kindesmissbrauch ließ ihm über Jahre keine Ruhe. Eine 17-Jährige hatte versucht, Suizid zu begehen. Sie erzählte Pohle, ihre Mutter habe sie als Kleinkind an Männer verkauft, die sie missbrauchten. “Aber was kann ein Kind von damals drei bis vier Jahren heute noch wissen?“, fragt er. “Ich konnte keine Täter ermitteln.“ Doch er konnte der Frau dann trotzdem helfen, als Ehrenamtlicher des WEISSEN RINGS. Auch danach hielt sie Kontakt zu ihm, mehr als 20 Jahre lang. “ich war ihr Gesprächspartner am Telefon und habe sie in der psychiatrischen Klinik besucht, wo sie lange Zeit lebte“, erzählt er. Später erfuhr er von ihrer schweren Krankheit, an der sie mit Anfang 40 verstarb. Pohle ging zu ihrer Beerdigung.

Kornelia Fröde will „Menschen wie meiner Mutti helfen“
Beim Sport haben sich Kornelia Fröde und Thomas Karius kennengelernt, heute betreibt das Paar eine Kampfkunstschule und leitet seit Kurzem die Außenstelle im Burgenlandkreis.
Wie geht er mit all den Erfahrungen um? Er sei ein positiver Mensch geblieben, sagt Pohle. “Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Gutes tun.“ Bis heute ist ihm wichtig, sich in seinem Privatleben nicht mit den Fällen zu beschäftigen. “Man muss aus dem Gespräch rausgehen und es abhaken, sonst wird man irre.“ Lange Zeit hat er nach dem richtigen Ausgleich gesucht. Dass es dafür mehr als ein Hobby braucht, beweist seine lange Liste: Mit dem Motorrad durch die Wälder fahren, Angeln, Fußball, Badminton, Volleyball.
Nicht alle Fälle sind so belastend wie der Fall der jungen Frau, und er hat die Möglichkeit, den Opfern zu helfen. Sein Telefon für den WEISSEN RING hat Pohle immer bei sich. Er arbeitet mit der Polizei und der kommunalen Verwaltung zusammen, die Hilfsbedürftige an ihn verweisen. Seine erste Frage laute immer: “Wie kann ich Ihnen helfen?“
Oft fragen Betroffene nach ganz pragmatischer Hilfe, etwa nach einem Einbruch. Dann kann der WEISSE RING zum Beispiel unbürokratisch eine Soforthilfe von 300 Euro auszahlen. Oder Lothar Pohle hilft bei der Suche nach einem Therapieplatz. “Wir haben auch schon mehrmals die Kosten für eine Tatortreinigung übernommen“, sagt er, “auch so kleine Hilfen sind wichtig für die Menschen.“ Entscheidend sei, dass er sie unterstützt, aus ihrer Ratlosigkeit zu kommen. Wenn ihm da gelingt, hat er ein gutes Gefühl. Damals wie heute.
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