Sie lassen Zeugen im Gericht nicht allein

Die Zeugenbetreuungszimmer sind ein besonderes Hilfsangebot des WEISSEN RINGS im Norden Deutschlands: Ehrenamtliche in Bremen und Bremerhaven wie Marion Schild und Doris Meyer unterstützen gezielt Opfer, die vor Gericht aussagen müssen.

Marion Schild (rechts) und Doris Meyer (links) stehen Zeuginnen und Zeugen im Gericht zur Seite.

Der Parkettboden knarzt, der Geruch im Flur erinnert an den in alten Gemäuern, vielleicht auch ein bisschen an Weihrauch: Das „Alte Gerichtshaus“ in Bremen, in dem das Landgericht untergebracht ist, wurde 1895 fertiggestellt und steht unter Denkmalschutz. Das Gebäude ist nicht einfach nur alt, es ist vor allem Ehrfurcht gebietend für diejenigen, die es betreten. Für die, die der Buntglas-Justitia über dem Treppenaufgang entgegenschreiten und die schwere Eichenholztür zum Schwurgerichtssaal aufwuchten müssen. Für die, die unter einem imposanten Kronleuchter und zwischen den aufwändig vertäfelten Wänden im Zeugenstand Platz nehmen müssen und sich dort allein schon wegen der imposanten Raumgestaltung klein und ziemlich verloren fühlen dürften.

Es sei denn, der Zeuge oder die Zeugin hat zuvor die Post vom Gericht mit der Ladung zur Aussage aufmerksam durchgeschaut – denn der Umschlag enthält in Bremen und Bremerhaven immer auch den Hinweis auf die Zeugenbetreuung des WEISSEN RINGS: eine Besonderheit in der Struktur des Vereins, die es nur im Land Bremen gibt. Denn die Einheiten der „Zeugenbetreuungszimmer“, kurz ZBZ, haben einen anderen Aufgabenzuschnitt als die Außenstellen vor Ort: Diese sind hier im Norden nur für die Opferfallbearbeitung zuständig, während in den ZBZ ausschließlich Zeugen betreut werden, die in einem Prozess erscheinen müssen. Dazu gehört auch, auf Wunsch im Gerichtssaal zwischen Zeuge und Angeklagtem zu sitzen – wie eine Art Puffer: „Vielen Zeugen hilft schon zu wissen, dass sie nicht alleingelassen sind“, sagt Marion Schild.

Seit 1998 eine Institution

Sie kennt sich im Bremer Landgerichtsgebäude bestens aus. Schnell schreitet Schild beim Rundgang die langen Flure entlang, weist hierhin und dorthin, organisiert kurzerhand eine Besichtigung des riesigen Sitzungssaals 218. Während ihres Referendariats war sie hier ein und aus gegangen, und so kehrte die verrentete Juristin 2018, als der Verein via Internet Mitarbeiter für die Zeugenbetreuung suchte, gern an diesen Ort zurück.

1998 schuf das Land Bremen die besonderen Voraussetzungen für die ZBZ, eine bisher einzigartige Einrichtung in Deutschland: Der Gesetzbegeber beschloss, dass Opfer sexueller Gewalt einen besonders sensiblen Umgang benötigen. Deshalb stellen in Bremen und Bremerhaven die Gerichte seit 2002 je einen Raum in ihren Gebäuden zur Verfügung und der WEISSE RING wiederum das Personal, um dort Opferzeugen, aber auch alle sonstigen Zeugen zu beraten und zu begleiten.

Nicht immer muss es ein persönliches Gespräch sein, vieles lasse sich telefonisch klären, berichtet Doris Meyer, denn die meisten Menschen riefen zuerst einmal bei den ZBZ an. In Bremerhaven landen sie dann bei Meyer und ihren Kolleginnen und Kollegen im Amtsgericht. Wer vorbeikommt, tritt in ein rotes Backsteinhaus, zwischen 1913 und 1916 errichtet als preußischer Staatsbau, innen schlichter gestaltet, trotz der Stuckdecken.

Keine Fragen über die Tat

Anders als die Außenstellen vermitteln die ZBZ-Mitarbeitenden keine finanziellen Hilfen, ansonsten haben aber auch sie eine Lotsenfunktion, verweisen an Trauma-Ambulanzen oder Selbsthilfegruppen. Auch hier, im geschützten Rahmen der Zeugenbetreuung, fragten die Ehrenamtlichen nicht nach der Tat, betonen die beiden Frauen. „Wir glauben den Opfern und Zeugen. Sie werden hier wahrgenommen als Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen“, so die Rentnerin Meyer, die in ihrem Berufsleben unter anderem in der Sozialberatung tätig war und seit 2014, als sie in der Zeitung ein Mitarbeiter-Gesuch entdeckte, beim ZBZ mitarbeitet.

Wissen, Empathie, zuhören können: Das braucht es laut Schild, um Zeugenbetreuerin zu werden. Aktuell hat sie am Standort Bremen 14 Kollegen und Kolleginnen, die ihre Aufgabe „sehr ernst nehmen“, lobt Schild. Auf sie kommen pro Jahr rund 150 Anfragen von Zeugen und Zeuginnen, die beraten oder betreut werden möchten. In Bremerhaven sind es insgesamt zwölf Mitarbeitende und um die 120 Beratungen, coronabedingt ging die Zahl etwas zurück, es wäre aktuell „viel mehr Betreuung möglich“, sagt Meyer.

„Wir glauben den Opfern und Zeugen. Sie werden hier wahrgenommen als Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen."

Doris Meyer

Die Arbeit für die ZBZ sei einfacher als die in den Außenstellen, sagen die ZBZ-Koordinatorinnen Meyer und Schild übereinstimmend. Die Kollegen und Kolleginnen, die Opferfälle bearbeiten, müssten sich sehr viel mehr mit den Schicksalen der Menschen beschäftigen als sie. Für Schild ist es denkbar, etwa Telefonate für ihr Ehrenamt auch von zu Hause zu erledigen. Für Meyer – an der Schleuse scherzt sie mit dem Justizpersonal, man kennt sich – kommt das nicht infrage: Durch die Tätigkeit im Büro im Gerichtsgebäude gelinge es ihr besser, sich abzugrenzen, die professionelle Distanz zu halten. Ihr Zuhause soll ihr Rückzugsort bleiben.

Ihr Ziel: stabilisieren

Im Zusammenhang mit den Vorgängen am Gericht geht es oft darum, den geladenen Zeugen zu erklären, dass sie eine Aussagepflicht haben und wer wo im Sitzungssaal sitzt. Dazu liegen in beiden Büros Schaubilder bereit, mitunter wird der Saal auch vorab besichtigt. Nicht immer finden die Verhandlungen in großen Sälen statt, aber wer die Räumlichkeiten schon mal gesehen hat, gewinnt an Ruhe, meint Marion Schild. Ihre Kollegin Meyer ergänzt, dass es darum geht zu stabilisieren, Begleitung für den Termin anzubieten und Ängste abzubauen, etwa vor dem Zusammentreffen mit den Angeklagten.

„Viele Opfer fragen sich, warum sie als Zeugen geladen sind, und sind aufgeregt, weil sie nichts Falsches sagen wollen“, sagt Meyer. Beim gemeinsamen Warten darauf, dass das Gericht jemanden in den Zeugenstand ruft, steht daher die Beruhigung im Vordergrund: Einmal musste eine junge Frau zu einer Missbrauchstat aussagen, während der Wartezeit sprang sie auf, wollte nicht mehr aussagen. „Es war schwierig, sie wieder einzufangen und ihr die Situation zu erklären“, aber es gelang, schildert Meyer. Durch das Informieren und Betreuen nehme man den Gerichten Arbeit ab, meint Meyer. Auch Schild sagt: „Ich frage mich, wieso andere große Städte nicht nachziehen und Zeugenbetreuungszimmer einrichten.“

Augenkontakt mit dem Richter

Wenn Zeugen in den Gerichtssaal gerufen werden, in der Mitte Platz nehmen und alle Augen auf sie gerichtet sind – was tun? Marion Schilds Tipp: „Blickkontakt halten mit dem Vorsitzenden Richter, auch wenn der Verteidiger Fragen stellt“, das bringe Ruhe rein. „Oft sagen die Zeugen nachher, dass es gar nicht so schlimm und das Gericht sehr freundlich war.“

,,Vielen Zeugen hilft schon zu wissen, dass sie nicht allein – gelassen sind."

Marion Schild

Eines machen die zwei Ehrenamtlichen deutlich: Für die Betreuer und Betreuerinnen besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht – das bedeutet, in der Theorie könnten auch sie in den Zeugenstand gerufen und gefragt werden, was der Zeuge ihnen erzählt hat. In der Praxis kam das allerdings noch nicht vor. Genauso wenig wurden die ZBZ-Mitarbeitenden bisher von einer Verhandlung ausgeschlossen, was Schild als Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements durch die Gerichte interpretiert: „Die anderen Beteiligten – Richter, Staatsanwälte, Anwälte – haben sich an uns gewöhnt.“ Meyer bestätigt: „Wir erfahren viel Wertschätzung, auch von Polizei und Politik“, das sei immens wichtig, denn „wir arbeiten hier alle ehrenamtlich, woher sonst sollen wir unsere Motivation ziehen?“

Zum Engagement für die Opfer hat Schild noch eine Anekdote parat: Einmal fragte ein Anwalt eine ZBZ-Mitarbeiterin, auf welcher rechtlichen Grundlage sie eigentlich im Saal anwesend sei. „Die Kollegin konterte schlagfertig, dass er als Jurist das doch wissen müsse – damit war das Thema erledigt.“ Die Betreuer und Betreuerinnen sind aber nicht nur vor und während des Prozesses an der Seite der Zeugen: „Manche Menschen müssen nach dem Urteilsspruch aufgefangen werden“, sagt Meyer und betont wie ihre Kollegin in Bremen: „Wir lassen die Zeugen auch dann nicht allein.“