“Wir sind wieder da!“

Jahrelang gab es keine Außenstelle des WEISSEN RINGS im Kreis Ludwigsburg. Bis Sonja Beurer und Tanja Leonhard kamen. Sie bauten hier wieder ein starkes Team an Helfenden auf.

Sonja Breuer (links) und Tanja Leonhard leiten die neue Außenstelle des WEISSEN RINGS in Ludwigsburg bei Stuttgart.

„Wir haben uns nicht gesucht, aber wirklich gefunden“, sagt Tanja Leonhard und schaut mit einem warmen Lächeln zu Sonja Beurer hinüber. Diese sitzt am Besprechungstisch neben ihr und stimmt gleich zu: „Ich sage immer, wir sind wie eine kleine Familie. Es passt einfach menschlich unheimlich gut.“ Das sei auch wichtig,  wenn man so etwas zusammen mache, fügt sie hinzu, „denn das kann schon sehr intensiv sein.“

Beurer leitet seit Mai 2025 die Außenstelle des WEISSEN RINGS in Ludwigsburg, Leonhard ist ihre Stellvertreterin. Die Stadt liegt rund 15 Kilometer nördlich
von Stuttgart. Der von der Stelle betreute dazugehörige Landkreis zählt mehr als eine halbe Million Einwohnerinnen und Einwohner. Wer den beiden zuhört, wie sie von ihrer Opferarbeit berichten, kann sich kaum vorstellen, dass es hier über zwei Jahre lang keine eigene Außenstelle gab. „Im Schnitt kommen pro Woche drei Fälle bei uns an“, erklärt Beurer, „zu Stoßzeiten wie nach Weihnachten deutlich mehr.”

Mehr als zwei Jahre ohne direkte Anlaufstelle

„Etwa 75 Prozent unserer Fälle sind häusliche oder partnerschaftliche Gewalt – körperlich, psychisch, sexuell oder auch finanziell“, fügt Leonhard hinzu. In letzter Zeit hätten sie es auch vermehrt mit Cyberkriminalität oder Anlagebetrug zu tun. „Da geht es teilweise um richtig hohe Summen. Ansonsten ist alles dabei – Körperverletzung, Stalking, Bedrohung … im Grunde das ganze Spektrum.“ Nachdem die Außenstelle einige Jahre nicht mehr besetzt war, hatte der Stuttgarter WEISSE RING die  Ludwigsburger Fälle mitbetreut. „Das haben die Stuttgarter Kollegen gut gemacht, allen voran Stefan Kulle als unser Mentor“, sagt Beurer. „Aber Stuttgart hat ja selbst
viele Fälle. So intensiv, wie wir das jetzt machen, konnten sie das nicht leisten.“

Leiterin Beurer ist 70 Jahre alt, wohnt selbst im Kreis Ludwigsburg und war fünfzig Jahre bei der Stadt Stuttgart in der Verwaltung beschäftigt. Sie stieß im Frühjahr 2024 zum WEISSEN RING. „Ich habe eigentlich mein ganzes Leben lang ehrenamtlich etwas gemacht“, erzählt sie. Sie engagierte sich in Vereinen, führte mit ihrem ersten Mann
eine Künstlerkneipe und half später im Hospiz. Mit ihrem zweiten Mann hatte sie vier Kinder – und nahm noch sieben Pflegekinder auf. „Als die Kinder aus dem Haus waren und die Rentenzeit kam, wollte ich wieder etwas tun.“

In der Zeitung las sie vom WEISSEN RING. „Ich habe mich beworben, und schon nach der ersten Hospitation dachte ich: Das ist meins“, erinnert sie sich. „Ich habe gemerkt, wie traumatisiert die Opfer sind, wie sehr sie Hilfe suchen, wie dankbar sie sind, dass man ihnen zuhört und glaubt.“

Sonja Breuer wohnt selbst im Kreis Ludwigsburg, arbeitete 50 Jahre bei der Stadtverwaltung und hat sich schon immer ehrenamtlich engagiert.

Zeitungsartikel weckt Interesse

Auch Tanja Leonhard ist seit dem Frühjahr 2024 beim WEISSEN RING aktiv. „Ich glaube, wir alle beim WEISSEN RING haben ein gepflegtes Helfersyndrom – im positiven Sinne“, sagt die 56-Jährige. Zuvor war sie 25 Jahre bei Mercedes-Benz im Marketing und auch ehrenamtlich aktiv – etwa, als 2015 in ihrem kleinen Wohnort über 200 Geflüchtete untergebracht wurden. Da habe sie dort den Sprachunterricht mit aufgebaut und selbst unterrichtet. Später half sie bei der Tafel – bis sie durch einen Zeitungsartikel zum WEISSEN RING fand.

Beide starteten zunächst in Stuttgart. Dort durchliefen sie Schulungen an der Akademie des WEISSEN RINGS und Hospitationen – also erste Einsätze an der Seite erfahrener Helfender, bei denen sie die Arbeit mit Betroffenen unmittelbar miterlebten. „Ich hatte gleich bei der ersten Hospitation so einen Hammerfall mit sieben Betroffenen nach einer Messerstecherei“, erinnert sich Beurer. „Aber das hat mich eher bestärkt, und ich wusste: Das ist mein Thema.“

Obwohl beide ungefähr zur selben Zeit beim WEISSEN RING anfingen, begegneten sie sich zunächst nicht. Erst im Herbst 2024 lernten sie sich kennen – nachdem sie ernannt worden waren, also nach abgeschlossenen Grundkursen und Hospitationen offiziell als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen bestätigt wurden. Damals lud der Stuttgarter Mitarbeiter Stefan Kulle, der beide ausgebildet hatte, sie zu einem Treffen der Stuttgarter Außenstelle ein, bei dem man das dortige Polizeipräsidium und Polizeimuseum besuchte. „Da haben wir uns kennengelernt – dass es zwischen uns beiden so gut matcht, wurde aber erst später klar“, erinnert sich Leonhard. Schon kurz darauf stimmten sie sich immer häufiger ab, denn im Stuttgarter Team übernahmen beide nach und nach erste eigene Fälle im Kreis Ludwigsburg.

„Das ist genau das, was ich die nächsten zehn Jahre noch machen möchte.“

Sonja Beurer

Das Landesbüro hatte zuvor mehrfach erfolglos versucht, eine neue Leitung für die Außenstelle in Ludwigsburg zu finden. Ehrenamtliche vor Ort wollten zwar helfen, scheuten jedoch die administrative Verantwortung. So ging es auch Leonhard, als das Landesbüro sie nach ihrer Ernennung wegen ihres großen Engagements fragte, ob sie sich die Übernahme der brachliegenden Außenstelle vorstellen könne. „Ich habe das verneint, ich will Opferarbeit machen“, erzählt sie augenzwinkernd. Beurer  hingegen war für die Rolle offen. Als auch sie gefragt wurde, entschied sie sich, die Leitung zu übernehmen – hoffte jedoch auf Unterstützung. Schließlich fragte sie Leonhard, ob sie ihre Stellvertreterin werden wolle. Um die Büroarbeit müsse sie sich keine Sorgen machen: „Nach fünfzig Jahren beim Amt mache ich das mit links“, habe Beurer ihr gesagt. „Wenn das so ist, dachte ich, dann ja“, erzählt Leonhard. Damit war die Teamleitung komplett. Ab Mai 2025 ging es offiziell los.

Mitstreitende gewinnen, auf sich aufmerksam machen

„Ich habe es bis jetzt nicht bereut“, sagt Beurer über ihre Rolle als Leiterin. „Ich sage mal: Das ist genau das, was ich die nächsten zehn Jahre noch machen möchte.“ Leonhard ergänzt: „Ich fand’s beeindruckend, wie strukturiert Sonja das anging.“ Die beiden passten nicht nur menschlich hervorragend zusammen, sondern auch in ihrer Arbeitsteilung und Organisation. Unterstützung erhielten sie dabei fortlaufend von der Zentrale in Mainz und vom Landesbüro in Stuttgart, das sie eng dabei  begleitete, die Außenstelle neu aufzubauen. Von Beginn an ging es etwa darum, auf sich aufmerksam zu machen. „Wir haben uns gesagt: Wir müssen uns vernetzen – sonst wissen die relevanten Stellen gar nicht, dass es uns gibt“, erzählt Leonhard weiter. „Wir waren bei der Traumaambulanz, wohin wir oft Opfer schicken, beim Versorgungsamt, bei der Polizei, beim Jugendamt – und überall haben wir gesagt: ‚Wir sind wieder da!‘“ Sie hätten bei solchen Terminen schnell gemerkt, wie dankbar
man ist, dass es die Außenstelle wieder gibt. „Viele sagten: ‚Wir haben gar nicht gewusst, an wen wir uns wenden können‘“, berichtet Leonhard. Die Mühe zu Beginn hat sich gelohnt. „Inzwischen kommen auch Anfragen, ob wir Vorträge halten oder bei Präventionsveranstaltungen mitmachen – das zeigt, dass wir im Kreis angekommen sind“, sagt sie.

Auch Tanja Leonhard war ehrenamtliches Arbeiten immer wichtig. Bevor sie zum WEISSEN RING kam, war sie in der Flüchtlingshilfe und bei der Tafel aktiv.

So seien sie Schritt für Schritt in die Rolle der Außenstellenleiterinnen hineingewachsen. „Am Anfang war’s ein Sprung ins kalte Wasser, aber das hat uns zusammengeschweißt“, sagt Leonhard. „Ich weiß noch genau, wie es war, als das Telefon klingelte und die ersten richtigen Fälle kamen – da war klar: Der Bedarf ist groß“, erinnert sie sich. Das war in den ersten Wochen, kurz nachdem die offizielle neue Hilfenummer für den Landkreis freigeschaltet worden war. Den Telefondienst teilen sich beide im 14-Tage-Rhythmus.

Wie viele Ehrenamtliche mussten sie, wie sie erzählen, sich manchmal selbst bremsen. Gerade in der Anfangszeit seien sie schnell an ihre Grenzen gekommen. „Wir waren voller Elan und haben gemerkt, dass wir uns zu sehr hineinziehen lassen“, erzählt Leonhard. „Da mussten wir irgendwann die Reißleine ziehen“, sagt sie.

Mit dem Fundament wächst auch das Team

Auch Beurer hat in den ersten Wochen und Monaten manchmal mit sich, der Opferarbeit und der Verantwortung einer Außenstelle gehadert: „Am Anfang habe ich mir oft gedacht: Habe ich das jetzt richtig gemacht?“, erinnert sie sich. „Irgendwann habe ich mir gesagt: Wir machen nichts falsch. Wir machen es so, wie wir können – und das ist gut so. Wir sind keine Therapeuten, keine Juristen. Wir hören zu, wir begleiten, wir helfen, soweit es in unserer Möglichkeit liegt.“ Diese Einstellung vermittelt Beurer auch dem Team, das es mittlerweile in der Außenstelle gibt. Sie verteilt die anstehenden Fälle behutsam. Helfen soll die Ehrenamtlichen auf keinen Fall überfordern.

Mit der Zeit wurden beide in ihrer Aufgabe sicherer und fanden ab einem bestimmten Punkt auch Zeit, sich um Öffentlichkeitsarbeit zu kümmern: „Wir gehen auf Gesundheitstage, Seniorennachmittage, Gemeindefeste und erzählen dort, was der WEISSE RING macht. Viele wissen das gar nicht“, sagt Beurer. Nach und nach seien so auch neue Interessierte dazugekommen, die bei der Außenstelle mitarbeiten wollten. Besonders nach einem Bericht über die beiden in der Lokalzeitung. Alle  Interessierten kommen erst mal zum Kennenlerngespräch, dann zu Hospitationen mit, um zu sehen, ob die Aufgabe auch passt, so Beurer. „Mittlerweile sind wir sechs
Aktive, zwei ,in Hospitation‘ und aktuell dazu noch drei weitere Interessierte. Das ist für eine neue Außenstelle richtig gut.“ Das Team sei vom Alter her bunt gemischt – von 19 bis 70. „Das ist total spannend“, schwärmt sie weiter, „wir haben alles dabei: Polizei, Therapeutin, Studentin, jemanden vom Jobcenter. Diese Mischung ist Gold wert.“

Das Team treffe sich regelmäßig – das ist den beiden wichtig. „Es geht nicht nur um Fallbesprechungen, sondern auch um Austausch, damit man nicht allein bleibt mit schwierigen Themen“, unterstreicht Leiterin Beurer. Sie organisiere die Treffen, die stets in einem Restaurant stattfinden, das einen Nebenraum hat, damit sie Vertrauliches besprechen können. „Da herrscht immer eine gute Stimmung, irgendwie passen wir alle wirklich gut zusammen“, betont auch Leonhard. Manchmal lade Beurer auch Gäste ein – vom Versorgungsamt oder von Frauenorganisationen etwa – „damit das Team auch fachlich etwas mitnimmt“.

„Wir haben alles dabei: Polizei, Therapeutin, Studentin, jemanden vom Jobcenter. Diese Mischung ist Gold wert.“

Tanja Leonhard

Auch wenn es an Fällen und engagierten Mitarbeitenden nicht mangelt, hat die Außenstelle noch mit ein paar Startschwierigkeiten zu kämpfen. Vor allem fehlt es an eigenen Räumen. Die früher genutzten Büros gibt es nicht mehr, derzeit dürfen sie für Gespräche und Treffen die Räume einer sozialen Einrichtung nutzen, die Menschen mit Behinderung beim Einstieg ins Arbeitsleben unterstützt. Wenn dort kein Platz frei ist, weichen sie aus. „Manchmal stellt uns die Stadt kurzfristig etwas zur Verfügung“, sagt Beurer. Flexibilität sei kein Problem, doch ein fester, neutraler Ort „wäre auf Dauer besser – vor allem für vertrauliche Gespräche“. Vielleicht klappe es mit einem Raum im Rathaus dauerhaft. Da seien sie gerade dran. Wer die beiden trifft, hat keinen Zweifel: Nach allem, was sie in nur wenigen Monaten in Ludwigsburg aufgebaut und wie viele Menschen sie schon zur Mitwirkung motiviert haben, werden sie auch das schaffen.