Ein Anruf bei… Björn Süfke

Der Psychologe Björn Süfke berät seit mehr als 25 Jahren Männer. Als er das erste Männerhilfetelefon aufbaute, um Gewaltbetroffene zu unterstützen, stieß er nicht nur auf Begeisterung, sondern auch auf Bedenken. Seit fünf Jahren ist das Angebot erreichbar. Ein Zwischenfazit.

Björn Süfke ist Jahrgang 1972 und Psychologe, Autor und Geschäftsführer der Bielefelder Männerberatungsstelle „man-o-mann“. Er gehört zu den Initiatoren des 2020 eingerichteten Männerhilfetelefons. Das anonyme, kostenfreie Angebot ist unter der Telefonnummer 0800/1239900, im Chat und per Mail erreichbar. Weitere Infos gibt es auf maennerhilfetelefon.de.

Herr Süfke, die meisten Opfer von häuslicher Gewalt – laut BKA 73 Prozent – waren im vergangenen Jahr wieder weiblich. Männer und Jungen sind seltener, aber ebenfalls betroffen. Viele von ihnen suchten keine Hilfe, sagen Experten. Wie viel haben Sie und Ihre Kollegen vom Männerhilfetelefon zu tun?

Als wir unser Angebot vor sechs, sieben Jahren konzipiert haben, habe ich der Politik, die es finanziert, gesagt, sie müsse Geduld mitbringen, bis sich das Hilfetelefon etabliert – da Männer aufgrund unserer gesellschaftlichen Stereotype tatsächlich große Schwierigkeiten haben, sich helfen zu lassen. Wenn sie Opfer geworden sind, besonders durch eine Frau, ist das Stigma noch größer. Mit meiner damaligen Einschätzung lag ich jedoch völlig daneben: Es haben vom ersten Tag an Leute angerufen, sofort. Weil der Bedarf groß ist. Expertinnen und Experten sagen ja seit Jahrzehnten, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik nicht alle Fälle von Gewalt abbildet und das Dunkelfeld groß ist.

Von welchem Stigma sprechen Sie?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der eine patriarchale Vorstellung von Männlichkeit – in letzter Zeit zunehmend – propagiert wird: Ein Mann ist stark, weiß immer weiter, zeigt keine Schwäche, hat keine Schwäche. Das haben die meisten Männer meiner Generation verinnerlicht, und viele Jugendliche kriegen das heute wieder eingeimpft, in erster Linie über Social Media. Zugespitzt formuliert: Männer gehen lieber in den Knast als zum Psychologen. Es kostet viel Überwindung, sich verletzlich, hilfsbedürftig zu zeigen. Deswegen ist ein niedrigschwelliges Angebot wie das Männerhilfetelefon so wichtig. Hinzu kommt, dass Männer sich aus Scham oft nicht eingestehen, Opfer geworden zu sein. Oder sie haben während ihres Aufwachsens Gewalt als normal kennengelernt. Wir wissen aus Studien: Wenn man Männer allgemein fragt, ob sie in einer heterosexuellen Partnerschaft Gewalt erfahren haben, sagen die meisten erst mal Nein. Erst wenn man konkret nachhakt, ob sie beispielsweise mal gestoßen worden sind, sagen sie Ja. Frauen sind deutlich stärker von körperlicher häuslicher Gewalt betroffen, aber es gibt auch viele männliche Opfer.

Wie hat sich die Nachfrage nach Ihrem Hilfsangebot entwickelt?

Die Zahlen sind in den ersten drei, vier Jahren massiv angestiegen, haben sich verdreifacht gegenüber dem ersten Jahr. Jetzt können sie nicht mehr weiter steigen, weil wir am Ende unserer Kapazitäten angelangt sind. Das Telefon ist in einer Stunde nur 60 Minuten besetzt. Parallele Leitungen haben wir nicht – weil die finanziellen Mittel begrenzt sind.

Welche Männer rufen aus welchen Gründen bei Ihnen an?

Es sind, ebenso wie bei anderen Beratungsstellen, vor allem mittelalte Männer. Die meisten, um die 60 bis 65 Prozent, erleben häusliche Gewalt in der Partnerschaft, etwa 15 Prozent durch Eltern, Geschwister oder Kinder. Knapp zehn Prozent sind Opfer sexualisierter Gewalt. Seltener geht es um Stalking, Mobbing oder Zwangsarbeit. Gewalt im öffentlichen Raum ist auch ein Thema, aber stark unterrepräsentiert im Vergleich dazu, wie oft sie ausgeübt wird. Weil uns die Kapazitäten fehlen, um mehr Kontakte in den Communitys zu knüpfen, erreichen wir auch kaum trans oder migrantische Männer, die häufig betroffen sind.

Im Rahmen einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zu Partnerschaftsgewalt haben 40 Prozent der männlichen Opfer von psychischer Gewalt und 30 Prozent von erheblicher körperlicher Gewalt gesprochen. Wovon berichten Ihre Anrufer?

Psychische Gewalt ist der häufigste Beratungsgrund. Sie kann zum Beispiel mit einem Eifersuchtsproblem der Partnerin beginnen und sich hochschaukeln, über Vorwürfe, Gaslighting, Beleidigung, Erpressung bis hin zu physischer Gewalt. Es kommt dazu, dass ins Handy des Partners geschaut, er gestoßen oder ein Gegenstand nach ihm geworfen wird. In manchen Fällen geht es um extreme soziale Kontrolle. Einige Männer sagten, sie könnten kaum telefonieren oder Mails schreiben, weil ihre Partnerin sie überwache. Andere berichten, dass sie geschlagen wurden, Platzwunden davongetragen haben oder ihre Partnerin sie mit dem Messer bedroht hat – klassische Affekttaten. Danach heißt es manchmal: Wieso lassen Männer, die in der Regel körperlich überlegen sind, so etwas mit sich machen? Wer so etwas fragt, verkennt, dass eben nicht alle Männer gewalttätig sind und sich deshalb nicht wehren, zumal dies nicht zu einer Deeskalation führen würde.

Die Illustration zeigt sehr vereinfacht einen Mann mit einer Träne unter einem Auge.

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Meistens trifft Partnerschaftsgewalt Frauen – aber auch Männer werden Opfer. Was wissen wir über dieses Thema, über das eher selten und nur ungern gesprochen wird? Ein Lagebild.

Gab es Anrufe, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Dazu gehört ein Fall von sexualisierter Gewalt, die ein erwachsener Mann durch mehrere Männer erlitt. Im Detail kann und will ich das nicht erzählen. Außerdem hat mich ein Anruf, der gleich am ersten Tag einging, besonders berührt. Der ältere Herr war in den 1950er Jahren aufgewachsen. Er wurde in einem Kohlenkeller eingesperrt und in der Dunkelheit immer wieder geschlagen, von beiden Eltern. Er hatte nie davon erzählt, bis er vom Männerhilfetelefon las. Wir haben eine Stunde lang gesprochen und er sagte mir, dass er in seinem ganzen Leben keine Beziehung aufbauen konnte, keine Freundschaft, keine Partnerschaft, weil die Vertrauensbasis fehlte. Damals gab es keinerlei Hilfsangebote.

Wie versuchen Sie und Ihre Leute, die Menschen zu unterstützen?

Zunächst einmal damit, indem wir ihnen zuhören und glauben. Das ist für viele Männer psychologisch besonders wichtig. Sie haben sich teilweise schon jemandem anvertraut, einem Freund oder der Polizei, und wurden nicht ernst genommen oder sogar ausgelacht. Weil wir für sie zuständig sind, uns auskennen und Erfahrung im Umgang mit betroffenen Männern haben, fällt es uns nicht schwer, ihnen zu glauben. Und das strahlen wir auch aus. Darüber hinaus versuchen wir, den Mann in die richtigen Bahnen zu lenken, zu weitergehenden Hilfen, etwa zu einer Männerberatung – wo oft nur eine Person sitzt – oder einer Beratungsstelle mit dem Fokus sexualisierte Gewalt. Das ist eine schwierige Aufgabe, weil es bundesweit wenige spezialisierte Angebote für Männer gibt. Sie müssen in vielen Ländern weit fahren. In NRW, Bayern und Baden-Württemberg ist die Situation noch „am wenigsten schlecht“. Ein Beispiel sind Männerschutzeinrichtungen: Nordrhein-Westfalen hat innerhalb von vier Jahren fünf Einrichtungen gegründet und ist in der bundesweiten Rangliste damit von null auf eins gesprungen, weil es bundesweit nur 15 gibt. Häufig läuft es nur über persönliche Kontakte. Ich sage dann zu den Betroffenen: „Für Ihr Anliegen gibt es in Ihrer Nähe definitiv keine Anlaufstelle. Aber 50 Kilometer entfernt von Ihnen kenne ich jemanden, der sich damit auskennt.“ Deswegen ist Vernetzung ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Zum einen versuchen wir, unser Angebot bekannt zu machen, zum anderen müssen wir jede Institution, die auf irgendeine Art hilfreich für gewaltbetroffene Männer ist, kennen.

„Gerade bei Tabuthemen setzt den Opfern zusätzlich zu, dass sie denken: „Ich bin der Einzige mit diesem Problem. Ich bin schuld daran.“

Sie betonen, dass es wichtig ist, den Hilfesuchenden Vertrauen entgegenzubringen. Gibt es weitere Prinzipien, auf die Sie besonderen Wert legen?

Ich beschäftige mich intensiv mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Männlichkeit und erlebe in Gesprächen, dass es für viele Männer hilfreich ist, wenn man ihre Probleme „entindividualisiert“. Gerade bei Tabuthemen setzt den Opfern zusätzlich zu, dass sie denken: „Ich bin der Einzige mit diesem Problem. Ich bin schuld daran.“ Ich versuche, Betroffenen im direkten Kontakt das Gegenteil zu vermitteln, aber auch indirekt, indem ich in Interviews deutlich mache: Schuld sind immer die Täterinnen und Täter. Das ist mir ganz wichtig, weil viele Opfer – weibliche wie männliche – denken, sie hätten die Gewalt provoziert. Und nicht die strukturellen Probleme sehen, etwa eine nicht funktionierende, patriarchale Gesellschaft mit „traditionellen“ Männlichkeitsvorstellungen.

Welche Folgen hat die Tatsache, dass viele gewaltbetroffene Männer sich keine Hilfe holen?

Eine Harvard-Langzeitstudie untersucht seit mehr als 80 Jahren, was ein glückliches, gesundes Leben ausmacht. Gute soziale und partnerschaftliche Beziehungen sind das A und O. Wenn Beziehungen, insbesondere enge, von Gewalt geprägt sind, kann das neben körperlichen massive psychische Konsequenzen haben, bis hin zu einer Zerstörung des Selbstwerts: Die Menschen sind der Überzeugung, falsch zu sein, es falsch zu machen. Sie denken etwa, sie hätten der Partnerin oder dem Partner einen Grund gegeben für Eifersucht, obwohl sie nur mit der Kollegin über die Arbeit gesprochen haben. Ebenso wie bei Frauen, die an langwieriger Gewalt leiden, kann dies bei Männern die Identität prägen und zu gravierenden psychischen Störungen führen: Depressionen, Ängsten, einem völligen sozialen Rückzug.

Das Gewalthilfegesetz wurde erneuert. Sind Sie im Hinblick auf betroffene Männer zufrieden?

Da der Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für Männer herausgenommen wurde, betrachte ich das Gesetz mit einem weinenden Auge. Aber niemand hätte etwas davon gehabt, wenn das Gesetz deswegen gescheitert wäre. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir und Fachkräfte, die im Gewaltschutz für Frauen arbeiten, uns gegeneinander ausspielen lassen. Ich bin froh, dass wir bei diesem Thema weitergekommen sind. Jedes Opfer ist eins zu viel. Darüber hinaus hoffe ich und gehe davon aus, dass in einigen Jahren auch gewaltbetroffene Männer eine Schutzgarantie bekommen und die Ausstattung besser wird. Der Bedarf ist groß. Wenn wir deutlich mehr Ressourcen hätten, könnten wir beispielsweise Angebote für die arabischsprachige Community schaffen – und wären vermutlich bald wieder am Anschlag. Gleichzeitig gilt, dass wir zu wenig Frauenhausplätze haben. Deshalb kommt es darauf an, die Prävention zu verbessern. Auch der volkswirtschaftliche Schaden, den Gewalt anrichtet, ist enorm.

Wie soll diese Prävention konkret aussehen?

Wir müssen möglichst früh für gute Bildung sorgen, idealerweise an Schulen. England geht mit gutem Beispiel voran. Dort gab es bereits ein Fach zu Beziehungen, Gesundheit und Sexualerziehung, mittlerweile geht es darin auch um toxische Männlichkeit und Frauenfeindlichkeit. Ich plädiere dafür, dass deutsche Schüler und Schülerinnen sich kritisch mit Geschlechter-Stereotypen auseinandersetzen. Auch mit gefährlichen Einflüssen von Andrew Tate und anderen Influencern der „Manosphere“, die in den vergangenen Jahren u reaktionären Tendenzen beigetragen haben. Wir dürfen vor allem die verunsicherten, unterprivilegierten männlichen Jugendlichen und jungen Männer nicht solchen Leuten überlassen, sondern müssen ihnen erklären, weshalb das Bild von einer aggressiven Männlichkeit falsch und alles andere als attraktiv ist. Dafür brauchen wir neben Bildungsangeboten Beratungsstellen für Jungen. Es ist wichtig, dass sie nicht alles in sich hineinfressen, wenn sie Gewalt erfahren, oder selbst gewalttätig werden.

Der Weg ist noch weit. Was gibt Ihnen Zuversicht?

Es gibt Fortschritte, zum Beispiel seit 15 Jahren einen Männergesundheitsbericht. Reichlich spät, wenn man bedenkt, dass die Suizidrate bei Männern dreimal so hoch ist wie bei Frauen. Es gibt das Männerhilfetelefon und 13 Schutzeinrichtungen, immerhin. Und im Gegensatz zu früher renne ich heute bei mehr Menschen offene Türen ein, wenn ich erkläre, wie wertvoll präventive Männer- und Jungendarbeit ist. Ich hoffe, dass spätestens in zwanzig bis dreißig Jahren viel mehr Männer und Frauen progressiv denken.