Mein Vater, die Trickanrufer und ich
Jedes Jahr erbeuten Kriminelle mit Fake-Anrufen Millionen. Ihre Ziele: leicht zu überzeugende Senioren, die sich fürs Alter Geld zurückgelegt haben. Hört oder sieht man davon in den Medien, schüttelt man oft den Kopf über so viel Gutgläubigkeit dieser Menschen, die bereitwillig Tausende Euro an wildfremde Personen aushändigen. Etwas überheblich verdreht man beim Lesen der Berichterstattung vielleicht die Augen. Bis es in der eigenen Familie passiert – so wie bei B.U.D. unserer Autorin.
Der Vater von der Journalistin Julia Zipfel wurde von Betrügern angerufen, um Geld zu erschleichen.
Zitternde Hände, Atemnot und die feste Überzeugung, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen – so hat mein Vater mir seinen Zustand beschrieben, nachdem er vor zwei Jahren einen Schockanruf erhalten hatte. Am Telefon: eine gewisse Frau Müller vom Amtsgericht. Sie eröffnete ihm, ich, seine Tochter, hätte vor zwei Stunden ein Kind totgefahren und käme in Untersuchungshaft. Gegen eine Kaution könnte man mir die U-Haft ersparen. Die Kaution müsse aber in den nächsten 90 Minuten in bar beim Gericht abgegeben werden, danach sei nichts mehr zu machen.
Natürlich war es ein Fake-Anruf, um 50.000 Euro zu erbeuten. So hoch war die angebliche Kaution. Natürlich hat mein Vater sogar noch versucht, das Geld bei der Bank zu holen, wo ihm dann gesagt wurde, er bekäme nur einen bestimmten Betrag und müsse den Rest bestellen. Natürlich nahm unter der angegebenen Nummer niemand mehr ab, als er viel später versuchte, dort anzurufen. Glücklicherweise hat meine Mutter noch rechtzeitig interveniert, sodass mein Vater auf die Idee kam, mich anzurufen, bevor er sich mit dem Bargeld auf den Weg machte. Sonst wäre dieser Betrugsversuch sehr erfolgreich zu Ende gegangen.
Ich selbst erfahre von der ganzen Sache erst, als alles schon vorbei ist. Ich arbeite als Journalistin und bin gerade beim Dreh für einen Fernsehbeitrag. Mittendrin vibriert mein Handy. Kurzer Blick aufs Display. Mein Vater. Wahrscheinlich wieder Probleme mit dem Computer, denke ich und drücke den Anruf weg. Sofort klingelt es noch mal. Dann ein dritter Anruf von ihm. Ich entschuldige mich und nehme den Anruf an. Es entwickelt sich folgendes Gespräch:
Mein Vater (mit ruhiger Stimme): „Wo bist du gerade?“
Ich: „In Marburg, auf Dreh.“
Schweigen. Dann mein Vater: „Und da bist du gestern
Abend schon hingefahren?“
Ich: „Nein, heute Morgen.“
Wieder Schweigen.
Ich (ungeduldig): „Was ist denn? Ich habe hier einen
sehr engen Zeitplan!“
Mein Vater: „Und als du heute Morgen losgefahren bist,
ist dir da irgendetwas Seltsames aufgefallen?“
Ich: „Wie, seltsam?“
Mein Vater: „Als du aus der Ausfahrt auf die Straße
gefahren bist, war da irgendetwas Besonderes?“
Ich (genervt, mein Team im Augenwinkel, das auf mich
wartet): „Nein ich bin ganz normal aus der Ausfahrt
raus, auf die Autobahn gefahren, dann nach Marburg,
und dort habe ich mich mit dem Team getroffen und
angefangen ZU ARBEITEN. Was ist denn los?“
Mein Vater: „Kann ich jetzt gerade nicht sagen, ich
melde mich später noch mal.“ Er legt auf.
Julia Zipfel möchte mit dem Fall-Beispiel andere vor Trickanrufern warnen.
Jetzt bin ich alarmiert. Zuerst gehe ich zurück zum Dreh und beende das Interview. Bei nächster Gelegenheit rufe ich sofort meinen Vater zurück und erfahre die ganze Geschichte.
Der Anruf war der Schilderung meines Vaters zufolge perfekt inszeniert. Er kam von einer Festnetznummer mit der Vorwahl seines Wohnortes. Die Anruferin war souverän, professionell und empathisch. Im Hintergrund schrie und weinte eine Frau, von der Stimme her hätte ich es durchaus sein können. Nachdem die Anruferin gefragt hatte, ob er der Vater von Julia Zipfel sei (was mein Vater bejahte), erzählte sie von dem angeblichen Unfall, dem toten Kind und der drohenden Untersuchungshaft. Ich stünde unter Schock, und man habe einen Arzt gerufen, der sich jetzt um mich kümmere. Die Täter kannten meinen vollen Namen. Sie kannten den Namen meines Vaters und seine Adresse. Sie wussten, dass wir miteinander verwandt sind. Gut, der Name ist nicht so häufig, aber allein im sozialen Netzwerk LinkedIn gibt es mindestens drei deutsche Frauen mit meinem Vor- und Nachnamen.
Als ich die Details des Anrufs erfahre, schießt mein Blutdruck in ungeahnte Höhen. Zum einen aus Wut, dass sie meinen über 80 Jahre alten, herzkranken Vater in eine solche Panik versetzt haben. Zum anderen darüber, dass sie ihn durch geschickte Gesprächsführung dazu gebracht haben, private Dinge über sich und mich preiszugeben. Welche Medikamente ich regelmäßig nehme. Wie viel Bargeld er zur Verfügung hat. Meine Adresse.
Am selben Abend, nach Ende der Dreharbeiten, lasse ich mir von meinem Vater die Anrufernummer geben und beginne zu googeln. Ich finde nichts, noch nicht einmal Warnungen, die man im Internet meist zu dubiosen Handynummern findet. Ich finde heraus, dass sich diese Art von Betrug „Telefon-Spoofing“ oder „Anruf-Spoofing“ nennt. Spoofing bedeutet so viel wie Täuschung oder Manipulation. In einem „Hackerforum für Anfänger“ finde ich eine einfache Anleitung, wie man sich mithilfe von Internettelefonie hinter einer falschen, willkürlich erstellten Telefonnummer verstecken kann, die dem Angerufenen Seriosität vorgaukelt. Ich lese von Anrufen, bei denen die Hacker die Nummer von Banken verwendet haben. Wer würde da misstrauisch werden?
In den nächsten Wochen recherchiere ich mich in Rage und bin fest entschlossen, diese Anrufer zu finden, zur Rede zu stellen und am besten in einem großen Artikel vorzuführen.
Schnell kommt die Ernüchterung. Ein Bekannter, IT-Sicherheitsexperte, erklärt mir, dass es fast unmöglich ist, die Täter aufzuspüren. Sie sind schnell, technisch versiert und erfahren. Meist sind sie zwei Tage nach einem Beutezug Hunderte Kilometer weiter wieder aktiv, ohne dass man sie fassen kann. Mein Bekannter redet sehr lange über Rerouting, Spiegelserver und den Handel mit vertraulichen Daten. Meine Rachepläne lösen sich in Luft auf. Wenigstens kann ich meinen Vater davon überzeugen, die Sache bei der Polizei anzuzeigen. Natürlich ohne Ergebnis, die Täter sind bis heute nicht gefasst.
Was mich seit damals sehr beschäftigt: Mein Vater macht sich große Vorwürfe. Es ist ihm peinlich, überhaupt auf diesen Anruf hereingefallen zu sein. Dass alle Bekannten, Kollegen und Freunde, denen ich davon erzähle, sofort zum Telefon greifen, um ihre Eltern und Großeltern zu warnen, weil sie Potenzial sehen, dass diese auf so etwas hereinfallen könnten, tröstet ihn nicht. Heute, zwei Jahre später, will er am liebsten gar nicht mehr über die ganze Sache reden. Ich merke, dass bei ihm viele Emotionen wieder hochkommen: die Panik, der blinde Aktionismus, Geld bei der Bank zu holen. Vor allem aber die Scham, als sich der Anruf als Trick herausstellt.
Inzwischen habe ich selbst ein paar Spoofing-Versuche erlebt. Immer wieder bekomme ich SMS von meinem (nicht existenten) Sohn oder meiner (ebenfalls nicht existenten) Tochter mit der Bitte, mich über WhatsApp zu melden, man habe das Handy verloren, Geld bräuchte man übrigens auch dringend. Ab und zu beglückwünscht man mich per E-Mail zu meinem Lottogewinn von mehreren Millionen Euro (ich spiele kein Lotto). Nach Angabe meiner Bankdaten will man mir sofort das Geld überweisen. Diese Versuche sind natürlich plump und für mich leicht zu durchschauen. Aber wir alle sind auf eine gewisse Weise für Manipulation empfänglich. Man muss nur den richtigen Angriffspunkt finden. Ich weiß nicht, welcher das bei mir ist, sonst könnte ich mich vorbereiten. So bleibt mir nur die Hoffnung, nicht ins Visier dieser Cyberkriminellen zu geraten. Denn sollten sie anrufen und überzeugend genug sein, würde auch ich alle Hebel in Bewegung setzen, um meinen Lieben, die angeblich in Not sind, so schnell wie möglich zu helfen.
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