Kein Schutz. Nirgends
David S. ist psychisch krank, ein Gericht weist ihn zu seiner Sicherheit in eine Klinik ein. Aber die Klinik schützt ihn nicht, im Gegenteil: David stirbt auf Station 10, er wird erwürgt. Seine Angehörigen fühlen sich von der Krankenhausleitung und den Ermittlungsbehörden alleingelassen. Reporter des WEISSER RING Magazins haben den Fall rekonstruiert.

Am Zaun der Klinik hat Davids Mutter eine kleine Gedenkstätte für ihn errichtet, auf dem Gelände wurde es untersagt.
An der Landstraße 3077, den Berg hoch Richtung Löhlbach, hängt in einer Rechtskurve das Foto eines jungen Mannes an einem Maschendrahtzaun: David S., verstorben am 9. März 2021 auf Station 10 der Vitos-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im nordhessischen Haina. Davids Mutter Galina hat sein Bild mit Kabelbindern am Draht befestigt, ebenso wie das schmale Holzkreuz daneben. Rundherum hat sie langstielige Blumen in die Maschen gesteckt.
Einen Fußweg gibt es nicht an dieser Stelle; wenn Galina S. die kleine Gedenkstätte besuchen will, muss sie auf der Straße gehen, dicht an die Leitplanke gedrängt. Die Autos nehmen die Kurve hier mit Tempo, die Straße steigt steil an.
Hinter dem Zaun liegt Station 10, Davids Sterbeort. Anfangs hatte Galina S. Fotos ihres Sohnes und frische Blumen mehrfach direkt auf das Klinikgelände getragen. Die Verwaltung ließ sie jedes Mal entfernen. Begründung: Ein solcher Ort „würde Patientinnen und Patienten zu sehr aufwühlen bzw. verstören“. David war 22 Jahre alt, als er in der Klinik erwürgt wurde.
Kapitel I: Der Fall David S
Kliniken sind Schutzräume. Insbesondere psychiatrische Kliniken sollen Menschen schützen, die sich selbst oder andere gefährden könnten. Das gelingt nicht immer: Mindestens 21 Patienten sind nach Recherchen des WEISSER RING Magazins in den vergangenen fünf Jahren in psychiatrischen Krankenhäusern und im Maßregelvollzug von Mitpatienten getötet worden.
Wie sicher sind diese Kliniken für Patienten? Wie groß ist der Aufklärungswille nach Tötungsfällen? Wie gehen Behörden und Krankenhäuser mit Hinterbliebenen um? Es ist schwierig, an Informationen zu kommen, die Datenlage ist dünn. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hat sich den Fall David S. genau angeschaut. Unsere Reporter konnten Akten einsehen, Angehörige treffen, Mitpatienten, Ermittler und Behörden sprechen.
Am 9. März 2021 meldet sich gegen 20.30 Uhr der Patient Abdullah B. im Übergaberaum von Station 10 und teilt den beiden diensthabenden Pflegekräften – einem Pfleger und einer Pflegerin – mit: „My friend lays in my restroom“, sein Freund liege in seinem Badezimmer. So gibt es später der Pfleger gegenüber der Polizei zu Protokoll.
2021
Lüneburg/ Niedersachsen. Ein 21-Jähriger tötete am 19. Februar 2021 im Psychiatrischen Klinikum Lüneburg zwei Mitpatienten und verletzte zwei Krankenpflegerinnen sowie einen Polizisten. Das Landgericht Lüneburg ordnete seine dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an.
Der Mitarbeiter läuft los, in der Nasszelle von Zimmer 25 findet er den leblosen David S. Er löst Alarm aus. Das kurze Zeit später eintreffende Rettungsteam kann den Patienten nicht ins Leben zurückholen.
Station 10 ist die Akutstation der Klinik, sie nimmt Patienten auf, die aufgrund einer psychischen Erkrankung als akut selbst- oder fremdgefährdend gelten. David ist hier seit etwa 50 Tagen untergebracht, Abdullah B. seit wenigen Stunden. David soll in zwei Tagen entlassen werden, den syrischen Geflüchteten B. hat die Polizei erst am Nachmittag in die Klinik gebracht, gefesselt mit Handschellen. B. wurde zwangseingewiesen, weil er zuvor in einer Asylbewerberunterkunft einen Dolmetscher unvermittelt angegriffen und verletzt hatte. Er bezieht das leerstehende Zimmer 25, eigentlich ein Doppelzimmer.
2022
München/Bayern. Ein 32-Jähriger tötete am 31. Mai 2022 die 40-jährige Künstlerin Kamilla Nagy in der Psychiatrie des Isar-Amper-Klinikums. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein, da kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Klinikums vorgelegen habe.
David war tagsüber unterwegs, seine Mutter durfte ihn für einige Stunden mitnehmen. Er wollte einen neuen Haarschnitt für seine bevorstehende Entlassung, und er wollte seine Familie sehen: Großmutter Nelli, bei der er zuletzt lebte, und seinen krebskranken Bruder Daniel. Als Galina S. ihren Sohn gegen 18 Uhr zurückbringt, sieht sie den Polizeiwagen vor dem Stationsgebäude stehen. „Schau mal“, sagt sie zu David, „da ist bestimmt ein Neuer angekommen.“
Gegen 19 Uhr betritt David S. das Zimmer von B. In der Klinik ist David bekannt für solche „Besuche“, der Krankenpfleger beschreibt ihn bei seiner Vernehmung als distanzlos. Mit seinem Verhalten bringe er die anderen Patienten „zur Weißglut“. Als der Pfleger nun zufällig sieht, wie David über den Flur zu Zimmer 25 geht, eilt er ihm nach. Er findet ihn auf dem zweiten Bett sitzend und schickt ihn verärgert zurück in sein eigenes Zimmer.
2022
Neuss/Nordrhein-Westfalen. Ein 22-Jähriger tötete im Juni 2022 im Krankenhaus Alexius/Josef in Neuss mutmaßlich zwei Mitpatienten innerhalb von zwei Tagen, in einem Fall konnte ihm die Tat jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Das Landgericht Düsseldorf ordnete seine dauerhafte Unterbringung im Maßregelvollzug an.
Etwa eineinhalb Stunden später liegt David tot in der Nasszelle von Zimmer 25, vor dem zweiten Bett stehen seine Schuhe. Um 20.48 Uhr informiert die Klinik die Polizei. Die Beamten finden auf Station 10 eine Situation vor, die an ein Kriminalstück erinnert: Es gibt einen Toten – und einen begrenzten Kreis von Personen, die als Täter infrage kommen. Die Akutstation ist eine geschlossene Station, niemand kann die Schleuse ungesehen passieren. Kaum mehr als ein Dutzend Patienten und Pflegekräfte befanden sich zu Davids Todeszeitpunkt auf der Station.
Der Verdacht der Ermittler richtet sich gegen Abdullah B.
Der Verdacht der Ermittler richtet sich gegen Abdullah B. Knapp drei Jahre später steht der Syrer wegen des Vorwurfs der Tötung von David S. vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Marburg wirft ihm vor, David „getötet zu haben, ohne ein Mörder zu sein“: B. soll die Tat im Zustand der krankheitsbedingten Schuldunfähigkeit begangen haben. Deshalb gibt es kein Strafverfahren gegen B., sondern ein sogenanntes Sicherungsverfahren; das Landgericht soll über die zwangsweise Unterbringung von B. in einem psychiatrischen Krankenhaus nach dem Strafgesetzbuch-Paragrafen 63 entscheiden. Am 22. März urteilt die Strafkammer, dass die Beweise gegen Abdullah B. dafür nicht ausreichen.
Es gibt einen Toten, aber keinen Täter. Für die Ermittler, für die Justiz, für die Klinik endet der Fall damit. Für die Angehörigen von David tut er das nicht.

Der Türbereich der Patientenzimmer sind für das Pflegepersonal nicht einsehbar, wie Pläne der Akutstation zeigen.
Kapitel II: Die Angehörigen, Teil 1
Galina S. wirft einen schnellen Blick über die Schulter, kommt auch kein Auto? Sie drückt sich an die Leitplanke und läuft die Landstraße 3077 hinauf. Es ist ein heißer Sommertag.
„Traurig und wütend“ fühle sie sich, sagt sie, so wie immer an diesem Ort. Sie zeigt durch den Zaun in Richtung des Klinikbaus und sagt: „Da, das dritte Fenster von rechts, das war Davids Fenster.“
Manchmal, wenn ihre Gefühle sie überwältigten und sie die Verantwortlichen „ärgern“ wollte, sei sie auf das Klinikgelände gegangen, habe geklingelt und gesagt: „Schöne Grüße von David!“
Schräg gegenüber dem Stationsgebäude befindet sich die frühgotische Klosterkirche. „David saß manchmal da drin, er durfte ja die Station verlassen“, erinnert sich Galina S. Nach seinem Tod habe die Klinikseelsorgerin dort ein Gedenken für die Familie organisiert, „weil sie den Eindruck hatte, wir brauchen das“.
„Schöne Grüße von David!“
Galina S. macht auch sich selbst Vorwürfe. Am 9. März 2021 habe David nach dem gemeinsamen Ausflug nicht zurückgewollt in die Klinik. Er habe sie regelrecht angefleht, bei der Familie bleiben zu dürfen. Sie brachte ihn zurück nach Haina. S. hatte gewichtige Gründe dafür: In der Hochzeit der Corona-Pandemie konnte sie nicht riskieren, dass David seinen todkranken Bruder womöglich ansteckt und schwächt. Und zwei Tage später sollte er doch schon aus der Psychiatrie entlassen werden. „Wir sind schuld!“, sagt die Mutter trotzdem, sie wiederholt es, stößt es heraus: „Wir sind schuld!“ Sie lässt sich nicht abbringen von ihrer Selbstanklage.
Kapitel III: Zwei Patienten
David, geboren 1998 im hessischen Bad Wildungen. Ein kleiner Mann, ein schmaler Mann. Zart, weich, vielleicht zu lieb für die Welt da draußen. So beschreibt ihn seine Mutter, sie nennt ihn einen „Opfertypen“. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb war er ihr Lieblingssohn, Galina S. gibt das offen zu. David sei klug, kreativ, gepflegt gewesen. Früh verlor er den Vater, später erkrankte sein Bruder an Krebs. Daniel stirbt im Dezember 2021, wenige Monate vor Beginn des Prozesses um Davids Tod. Er wollte als Nebenkläger teilnehmen.
In der Welt da draußen kommt David tatsächlich nicht klar, berichtet die Mutter. Er wird ausgenutzt und ausgelacht, gerät immer wieder in Schwierigkeiten, wird geschlagen. Er wird krank, hört Stimmen. Ärzte diagnostizieren eine paranoide Schizophrenie.
Im Januar 2021 beschließt das Amtsgericht Frankenberg (Eder), dass David zu seinem eigenen Schutz in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden muss. Es sei damit zu rechnen, dass David „außerhalb der Einrichtung akut selbst- und fremdgefährdendes Verhalten an den Tag legt, indem er sich in Konfrontationen begibt“, heißt es in dem Beschluss. David laufe außerhalb einer Klinik Gefahr, „in Konflikte“ zu geraten.
2023
Regensburg/Bayern. Ein 14-Jähriger erstach am 26. Oktober 2023 im Bezirkskrankenhaus Regensburg einen siebenjährigen Jungen und verletzte einen Lehrer sowie einen Pfleger. Das Landgericht Weiden verurteilte ihn zu acht Jahren und sechs Monaten Haft und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Abdullah B.*, geboren 1995 in Damaskus. Ein sportlicher Mann, gut in der Schule, beliebt, heißt es. Er beginnt ein Studium. Das Assad-Regime soll ihn verhaftet und für ein paar Monate ins Gefängnis gesteckt haben, vermutlich verriet ihn ein Freund. B. sagt später, er habe im Gefängnis Folter erlebt und Drohungen. Nach der Haft bekommt er psychische Probleme, sucht sich Hilfe. 2016 flüchtet er aus Syrien. Über den Sudan, Ägypten, Libyen, Italien und die Schweiz kommt er 2019 nach Deutschland.
Zuletzt ist er in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Bad Arolsen untergebracht, im „Haus Dresden“ auf einem ehemaligen Kasernengelände: Holzbaracken hinter Gittertoren, Sicherheitsleute in gelben Westen und mit raschelnden Funkgeräten am Gürtel. Seinem psychiatrischen Gutachter sagt B., er habe dort einen „normalen Tagesablauf“ gehabt: Sport, Beten, Handy.

Geflüchtet & traumatisiert
Nach der tödlichen Messerattacke eines Geflüchteten in Aschaffenburg flammt erneut die Debatte über Asylsuchende auf.

Im Zimmer des Verdächtigen findet die Polizei Davids Schuhe und Becher. Andere Patienten werden nicht befragt.
Nicht normal ist B.s Akte. 19 Vorfälle sind ab 2020 aufgelistet, darunter sechs Gewaltangriffe gegen Personen, der Rest fällt unter Bedrohung, Beleidigung, Sachbeschädigung. Im polizeilichen Auskunftssystem findet sich zu B. der Personeneintrag „gewalttätig“. In einer Strafanzeige schreibt ein Mitarbeiter des Regierungspräsidiums, es lägen mehrere Vorfälle vor, die „das Gewaltpotenzial des Herrn B. untermauern“.
Anfang März 2021 mehren sich die aggressiven Ausbrüche in kurzer Folge. Am 4. März greift er im „Haus Dresden“ einen Mitbewohner an, der Mann muss im Krankenhaus behandelt werden. Am 8. März verfolgt er zwei Frauen in der Innenstadt, beleidigt sie schwer. Am 9. März attackiert er im „Haus Dresden“ den Dolmetscher. Laute Schreie sind zu hören, vier Sicherheitsleute greifen ein. B. habe „Kampfhaltung“ eingenommen und sei bewaffnet gewesen, er werde mit einem Stuhl in Schach gehalten, so meldet es der Schichtleiter des Sicherheitsdienstes. Die Polizei notiert am selben Nachmittag: B. stehe in der Erstaufnahmestelle „wegen seines permanent sozialschädlichen Verhaltens unter Einzelbewachung bzw. -schutz‘“. Und: „Offenbar sind alle Bewohner ihm gegenüber feindselig gestimmt, sodass er sich zum Schutz in seinem ,Einzelzimmer‘ verbarrikadieren muss.“
Auch B. ist offenbar krank, hört Stimmen, auch bei ihm diagnostizieren Ärzte eine paranoide Schizophrenie. Nach dem Angriff auf den Dolmetscher ordnet ein Gericht B.s Unterbringung in der Psychiatrie an, die Polizei bringt ihn nach Haina auf die Akutstation. In der Klinik kennt man den Patienten schon, B. war bereits zweimal dort.
Kapitel IV: Schutz und Sicherheit
An dieser Stelle möchten wir zunächst an die für B. geltende Unschuldsvermutung erinnern. Der Prozess gegen ihn endet mit der Ablehnung des Antrags der Staatsanwaltschaft, denn das Landgericht Marburg meldete „vernünftige und ernstliche Zweifel“ daran an, dass Abdullah B. die Tat begangen hat. Eine solche Entscheidung in einem Sicherungsverfahren ist mit einem Freispruch in einem Strafverfahren gleichzusetzen. Die Staatsanwaltschaft teilt auf Nachfrage des WEISSER RING Magazins mit: „An der Einschätzung der Staatsanwaltschaft, dass der Beschuldigte die Tat begangen hat, ändert dies (…) nichts.“
David wurde von hinten erwürgt, das hat die Obduktion zweifelsfrei ergeben. Auch wenn für Abdullah B. weiter die Unschuldsvermutung gilt, steht dennoch die Frage im Raum: Hätte die Klinik David besser schützen können und müssen?
2024
Wiesloch/Baden-Württemberg. Ein 23-Jähriger tötete am 18. April 2024 in der Psychiatrie in Wiesloch seinen 65-jährigen Zimmergenossen mit massiver Gewalt. Das Heidelberger Landgericht ordnete seine langfristige Unterbringung in der Psychiatrie an.
Warum durfte sich ein Patient wie Abdullah B., der den Akteneintrag „gewalttätig“ hat und nach einem akuten Gewaltausbruch eingeliefert wurde, frei auf der Station bewegen? Auf einer Station, auf der es mit David S. mindestens einen Mitpatienten gab, der als „distanzlos“ galt und schnell „in Konflikte“ geriet?
Der diensthabende Assistenzarzt sagte bei der Polizei aus, dass B. beim Aufnahmegespräch „ruhig und besonnen“ gewesen sei. Der Patient habe sich kooperativ gezeigt und Aggressivität oder Suizidgedanken verneint. Die Verantwortlichen verzichteten deshalb auf die Unterbringung in einem Wachzimmer, wo Patienten unter permanenter Beobachtung bleiben können. B. bezog ein offenes Patientenzimmer: Zimmer 25. Das Aufnahmegespräch dauerte laut Arzt etwa 15 bis 20 Minuten.
2024
Bad Zwischenahn/Niedersachsen. Ein 39-Jähriger tötete am 9. Mai 2024 in der Karl-Jaspers-Klinik in Bad Zwischenahn eine 88-jährige demente Mitpatientin. Das Landgericht Oldenburg ordnete seine dauerhafte Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus an.
Aber auch wenn sich B. ruhig zeigte – hätte die Klinik nicht spätestens nach Davids unerlaubtem Betreten des Zimmers von B. eine Trennung der beiden sicherstellen müssen?
Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt die Klinik dazu mit: „Weder dafür, dass einer der beiden Patienten eines besonderen Schutzes bedarf, noch dafür, dass andere Personen vor einem von beiden hätten geschützt werden müssen, gab es Anzeichen.“ Der Klinik sei nicht bekannt gewesen, dass einer der Patienten „sehr aggressiv“ gewesen sei. Ebenfalls unbekannt sei der Klinik die Polizeiakte von B. gewesen. Der Patient sei in vorherigen Aufenthalten nicht als aggressiv aufgefallen.
Kurz: „Mit Blick auf beide Patienten wären freiheitsentziehende Maßnahmen bzw. Zwangsmaßnahmen rechtlich nicht begründbar gewesen.“
„Fünf Jahre ist es her, aber es ist nicht besser geworden. Antidepressiva helfen mir nicht.“
Nelli S.
Gegen die Einschätzung der Klinikleitung sprechen Aussagen des Pflegepersonals gegenüber der Polizei. So sagte die Pflegerin, die am 9. März 2021 im Dienst war: „Aus einem vorausgegangenen Aufenthalt auf unserer Station wusste ich, dass Herr B. sehr aggressiv ist.“ Auch die Polizei spricht auf Nachfrage von „einer erheblichen Gefahr, akuter Eigen- und Fremdgefahr, und einer psychischen Erkrankung“ als Grund für B.s Einweisung in die Klinik. Es ist unwahrscheinlich, dass dem Klinikpersonal dies nicht bewusst war, als die Beamten B. die Handschellen abnahmen.
Eigene Fehler erkennt die Klinikleitung keine
Eigene Fehler erkennt die Klinikleitung keine. Die Station sei personell „regelhaft und adäquat“ besetzt gewesen, die Mitarbeitenden hätten „fachlich fundierte und bestmögliche Entscheidungen unter Berücksichtigung aller zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Fakten“ getroffen. Das Hessische Gesundheitsministerium bestätigt die Einschätzung auf Nachfrage: Der Fall sei „fachaufsichtlich“ aufgearbeitet worden, ein „Fehlverhalten“ der Klinik habe nicht festgestellt werden können.
Eine weitere Frage betrifft gebäudeseitige Sicherheitsschwächen. Die Ermittlungen der Polizei haben ergeben, dass die Zimmertüren auf der Station nicht einsehbar sind. Das diensthabende Personal konnte nicht sehen, ob jemand Zimmer 25 betritt oder verlässt. Hinzu kommt, dass die Zimmertüren nicht abschließbar sind. Letzteres wird immer wieder von Fachleuten als mögliche Maßnahme empfohlen, wenn es um die Verhinderung von Tötungsdelikten in psychiatrischen Kliniken geht.
2025 haben Prof. Dr. Anke Bramesfeld und Dr. Gesa Schirrmacher ihre Arbeit „Tötungsdelikte in Kliniken für Psychiatrie aus der Metaperspektive eines Bundeslandes“ veröffentlicht. Die beiden Forscherinnen haben Patiententötungen in niedersächsischen Kliniken für Psychiatrie in den Jahren 2016 bis 2024 untersucht und sich dafür acht vollendete und fünf versuchte Tötungen angeschaut. Bis auf einen Fall ereigneten sich alle Fälle auf Akutstationen. Bramesfeld und Schirrmacher mahnen deshalb einen besseren Opferschutz auf diesen Stationen an und schlagen folgende Maßnahmen zur Diskussion vor: Gefährdete Personen mit einem „Opferprofil“ sollten besondere Aufmerksamkeit erfahren und Patiententüren abschließbar sein, außerdem könnten Patienten mit Notfallsendern ausgestattet werden.

Am Landgericht Marburg dauert der Indizienprozess lediglich sechs Tage.
Welche Konsequenzen hat die Klinik in Haina aus dem Tod von David S. gezogen? In einer Stellungnahme heißt es: Die „umfassende Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt war Grundlage für die Ableitung von Maßnahmen – wie es bei Vitos im Sinne der kontinuierlichen Verbesserung stets Standard ist“. Laut Informanten soll ein neues Schließsystem installiert und die Videoüberwachung außerhalb der Zimmer ausgebaut worden sein.
Nach einer erneuten Anfrage teilt das Krankenhaus mit, es nutze auf einigen Stationen ein „besonderes Schließsystem für die Patientenzimmer“, um „einen störungsfreien Rückzugsraum anzubieten“. Dieses sei zeitlich nach dem „traurigen Todesfall“ eingeführt worden. Mit einer Zutrittskarte könnten die Patientinnen und Patienten nun ihr Zimmer betreten, ebenso
Mitarbeitende der Klinik. Ein System zur Videoüberwachung hingegen setze sie nicht ein. Das wäre, so ein Sprecher, weder unter ethischen Gesichtspunkten zu verantworten noch therapeutisch hilfreich.
Kapitel IV: Die Angehörigen, Teil 2
Nelli S. bückt sich und zupft etwas Unkraut aus der Erde, dann gießt sie die Blumen auf den Gräbern von David und Daniel. Sie weint. Auf dem über Bad Wildungen gelegenen Friedhof sind ihre Enkel nebeneinander bestattet, links David, rechts Daniel. „Wir haben lange überlegt, welcher Platz der beste ist“, sagt die Großmutter, „hier hat es uns wegen der schönen Birke gefallen.“ Immer wieder kommt sie zum Trauern hierher und pflegt die mit weißen Engelsstatuen geschmückten Gräber.
Vor seinem Klinikaufenthalt hat David bei ihr gewohnt. In seiner Ecke im Wohnzimmer hat sie kaum etwas verändert. Die neuen Kopfhörer, der Computer, die Lautsprecher, sein Stuhl, alles liegt und steht noch so, wie er es verlassen hat. David wollte Youtuber werden und hatte sich entsprechend ausgestattet. Er schrieb auch Gedichte, die Großmutter hat sie aufgehoben. In einem steht: „Schreib meine Gefühle / Auf das Blatt / Es ist unglaublich / Was es mit einem Macht“.
Für Nelli S.s Schmerz gibt es keine Worte, immer wieder kommen ihr die Tränen. „Fünf Jahre ist es her, aber es ist nicht besser geworden. Antidepressiva helfen mir nicht“, sagt sie. „Ich liege nachts wach, denke über die Jungs nach. Manchmal ist es so, als würde David vor mir stehen. Er war so ein intelligenter, guter Junge, hat anderen ständig Geschenke gemacht, wurde aber gehänselt, auch geschlagen.“ Einmal habe er zu ihr gesagt: „Oma, warum habe ich so ein Leben? Warum?“
Nelli S. ist erkennbar traumatisiert, doch ihr Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wurde abgelehnt.

Psyche & Gewalt
Sind psychisch kranke Menschen gefährlicher als andere? Das WEISSER RING Magazin hat nach Antworten gesucht.
Kapitel V: Die Ermittlungen
Den Ermittlern liegt schnell eine Liste mit den Namen der Patientinnen und Patienten vor, die sich zum Zeitpunkt von Davids Tod auf der geschlossenen Station 10 aufgehalten haben. Die Pflegedirektorin gibt gegenüber der Polizei zu Protokoll, es habe „ein absolutes Besuchsverbot aufgrund der Corona-Pandemie bestanden“ und „keine Möglichkeit, dass dort eine dritte Person befugt oder unbefugt) Zutritt hatte“. Die Klinikleitung erklärt zudem, dass es unmöglich sei zu sagen, wo sich die einzelnen Patienten zur Tatzeit aufgehalten hätten. Im Urteil des Landgerichts Marburg findet sich später dieser interessante Satz: „Mindestens mehrere Mitpatienten, möglicherweise auch Mitarbeiter der Station, hätten wegen des übergriffigen und nervigen Verhaltens des Geschädigten überdies selbst ein Motiv haben können.“
In einem Kriminalstück mit einem Toten, einer begrenzten Zahl möglicher Täter mit einem Motiv und einer spezifischen Tötungsart beginnt der Detektiv normalerweise, die Verdächtigen zu befragen. Nicht so im Fall David. Es wird nur ein Patient befragt: Abdullah B., der den Tatvorwurf entschieden zurückweist. Er habe geschlafen. Von den anderen Patienten fordern die Ermittler lediglich eine DNA-Probe an.
2024
Bremen. Eine 42-jährige Patientin erwürgte an Heiligabend 2024 ihre 62-jährige Zimmermitbewohnerin in der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Bremen Ost. Das Landgericht Bremen ordnete ihre dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an.
Möglicherweise hätten Davids Mitpatienten, je nach Gesundheitszustand, Auskunft darüber geben können, wo sie sich selbst zur Tatzeit und danach aufgehalten haben, wo sich andere Verdächtige befanden, ob sie Abdullah B. oder David S. gesehen haben, ob sie überhaupt etwas gesehen oder gehört haben.
Das WEISSER RING Magazin hat Kontakt zu einem von ihnen aufgebaut. Er war wegen einer Lebenskrise in der Klinik, dachte an Suizid. Heute geht es ihm deutlich besser. Der Mann empfindet es als „Unverschämtheit“, dass die Patienten damals ihre DNA abgeben sollten, sich aber niemand für ihre Zeugenaussage interessiert habe. Er hat seine Mitarbeit ausdrücklich angeboten und „relevante Informationen“ in Aussicht gestellt, aber die Staatsanwaltschaft nahm das Angebot nicht an. Dabei hätten Patienten-Beobachtungen zumindest einem Großteil von ihnen ein Alibi geben können, sagt er.
Im Tatzeitraum, so erinnert sich der Zeuge, hätten sich fast alle Patienten im Gemeinschaftsraum versammelt, ferngesehen oder sich mit Brettspielen die Zeit vertrieben und Pizza von einem Lieferdienst gegessen. Er selbst habe B. kurz auf dem Gang gesehen, der junge Mann sei zum Stationszimmer gegangen und habe dort offenbar vom auf dem Boden liegenden David berichtet. Dann sei der spätere Verdächtige zu den anderen Patienten gekommen, während es auf dem Gang unruhig geworden sei, Schritte und Stimmen zu hören gewesen seien. B. habe ganz ruhig, gefasst gewirkt.
Auskünfte, warum weder die Polizei am Tatort noch später die Staatsanwaltschaft oder das Gericht Zeugen anhören wollten sind nicht zu bekommen. Die Polizeidirektion Waldeck-Frankenberg verweist an die Staatsanwaltschaft Marburg, auch das Landgericht Marburg verweist an die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft wiederum hat wegen des „Umfangs der gestellten Fragen“, „zahlreicher Termine“ und Urlaubsabwesenheiten keine Zeit, die Anfrage des WEISSER RING Magazins bis zum Redaktionsschluss zu beantworten, der zum Zeitpunkt der Anfrage knapp dreieinhalb Wochen in der Zukunft liegt.
Auskünfte, warum weder Polizei noch Staatsanwaltschaft oder das Gericht Mitpatienten anhören wollten, sind nicht zu bekommen
Immerhin teilt der Pressesprecher mit, dass sich an der Einschätzung der Behörde, dass der Beschuldigte die Tat begangen hat, nichts geändert habe. „Konkrete Anhaltspunkte – und nur auf solche kommt es an – dafür, dass ein anderer die Tat begangen haben könnte, liegen aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht vor“, schreibt er.
Man darf den Satz so deuten: Befragungen weiterer Zeugen oder Verdächtiger seien nicht notwendig gewesen.
Wäre nicht dennoch eine Zeugenbefragung nach dem Ausschlussverfahren und zur Erlangung eventueller weiterer belastender Hinweise angezeigt gewesen? Die Staatsanwaltschaft verweist abermals auf die Zeitknappheit und die Abwesenheiten. „Eine Antwort ,ins Blaue‘ wäre unseriös.“
Alles hängt also an den DNA-Untersuchungen. Spuren von Abdullah B. finden sich keine an Davids Leichnam. Aber auch nicht von den Rettungssanitätern, die versucht haben, den Patienten zu reanimieren.
An Davids Hals sind Abdrücke, die darauf hindeuten, dass er mit dem Kragen seines Pullovers gewürgt wurde. Das kriminalwissenschaftliche Institut weist in seinen Analysen immer wieder darauf hin, dass weder der Nachweis von Spuren noch das Fehlen von Spuren ein sicherer Beleg für das Begehen oder Nichtbegehen einer Tat seien.

Davids Mutter und seine Großmutter leiden unter dem unfassbaren Verlust und der mangelhaften Aufklärung.
Kapitel VI: Der Prozess
Das Landgericht hat nur sechs Sitzungstage terminiert. Der Fall scheint überschaubar: Der Tote fand sich im Zimmer des Beschuldigten, der Beschuldigte hat eine Vorgeschichte mit Gewalttaten, sogar ein Geständnis des Beschuldigten gibt es – Abdullah B. hatte die Tat später in einer anderen Klinik recht detailreich einem Mitpatienten und Landsmann geschildert. Das Gericht zweifelt an der Glaubhaftigkeit des Geständnisses und gibt dem fehlenden DNA-Beweis viel Raum. Auffällig ist die für ein Sicherungsverfahren sehr ausführliche Urteilsbegründung, erkennbar mit Blick auf eine mögliche Überprüfung durch den Bundesgerichtshof geschrieben. Nachdem die Nebenklage Revision beantragt, hält das Urteil der Überprüfung auch stand.
Alles rechtens, aber ist auch alles richtig? Für die Angehörigen bleiben quälende Fragen offen: Haben die Klinik, haben die Ermittlungsbehörden und die Justiz genug getan, um den Tod von David im Schutzraum Klinik aufzuklären? Wie wichtig ist es der Gesellschaft, den Tod eines kranken Menschen aufzuklären, getötet mutmaßlich von einem anderen kranken Menschen?
Während seines Klinikaufenthalts sagte David einmal zu seiner Mutter: „Mama, das sind doch alles kranke Menschen hier. Niemand braucht uns, niemand interessiert sich für uns.“ Nach Prozessende gibt es keinen Täter, es sucht auch niemand mehr nach einem. Über Bad Wildungen gibt es ein Grab mit Engelsstatuen.
Wenige Tage nach unserem Treffen an der Landstraße meldet sich Davids Mutter erneut in der Redaktion und sagt, sie schäme sich für den Zustand der Gedenkstätte während unseres Besuchs. Davids Foto sei wegen der vielen Sonnenstunden so ausgeblichen. Sie schickt ein Foto, auf dem neue Blumen und ein frisch gedrucktes Bild von David zu sehen sind. Geblieben ist die Aufschrift unter dem Bild: „David S. ist im Alter von 22 Jahren am 9.3.2021 verstorben.“ Eine schlichte Information, keine Anklage.
Aus der Verantwortung entlässt Galina S. die Klinik nicht. Sie fordert Aufklärung und Entschädigung. Der Medizinrechtler Dr. Hans-Berndt Ziegler vertritt die Mutter im Zivilrechtsstreit mit der Klinik und kritisiert diese. Nachdem David getötet worden war, habe der Vitos-Konzern unter anderem die Patientenzimmer mit einem neuen Schließsystem ausstatten lassen. Das passe nicht zu der Behauptung, das Krankenhaus habe sich nichts vorzuwerfen.
Die juristische Kälte in den Briefen der Klinik schmerzt die Mutter. An einer Stelle heißt es, David habe ja nur einen kurzen Todeskampf gehabt. Die Klinik argumentiert mit Verweis auf ein Urteil des Landgerichts Bremen, man könne für ein „etwa 90-sekündiges Leiden“ keine 40.000 Euro Schmerzensgeld fordern.
Seit 2021: mindestens 21 Menschen von Mitpatienten getötet
In psychiatrischen Kliniken und im Maßregelvollzug sind in Deutschland seit 2021 mindestens 21 Patienten von Mitpatienten getötet worden. Das ergab eine Umfrage des WEISSER RING Magazins in allen Bundesländern sowie die Auswertung von Medienberichten, Gerichtsurteilen und Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden. Allein in Niedersachsen gab es in den vergangenen fünf Jahren sechs Tötungsdelikte in der Allgemeinpsychiatrie. „Bis auf ein Delikt ereigneten sie sich alle in geschlossenen Akutstationen“, teilte das niedersächsische Gesundheitsministerium auf Anfrage mit. In Nordrhein-Westfalen gab es mindestens vier Tötungsdelikte, in Hessen drei, in Bayern nach Angaben der Landesbehörde Zentrum Familie und Soziales zwei, in Baden-Württemberg ebenfalls zwei. In Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz und Schleswig wurde seit 2021 nach unseren Recherchen jeweils ein Mensch getötet. Nicht alle Bundesländer waren mit Verweis auf den Datenschutz bereit, Auskunft zu erteilen. Eine offizielle bundesweite Erhebung zu tödlicher Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen gibt es nicht, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bestätigt. „Die DGPPN würde eine solche einheitliche Erfassung und Veröffentlichung anonymisiert und auf Landes- und Bundesebene begrüßen“, sagte die Präsidentin der Fachgesellschaft, Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank dem WEISSER RING Magazin. „In einer psychiatrischen Klinik werden besonders vulnerable Patientinnen und Patienten behandelt. Umso schwerer wiegt die Tatsache, dass auch hier eine hundertprozentige Sicherheit leider nicht erreicht werden kann.“ Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2023 in Deutschland 688.891 Patientinnen und Patienten in der Allgemeinpsychiatrie stationär behandelt.
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