Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Das Spektrum reicht von Propaganda über spontane körperliche Attacken bis zu rechtsterroristischen Brandanschlägen – und die Täter werden jünger. Sie verfolgen und greifen Angehörige von Minderheiten an. Opferberatungsstellen schlagen Alarm und fordern den Staat auf, endlich entschlossener zu handeln.

Rechte Gewalt: "Rechts Land" Julius Schien

18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.

Monatelang haben sie sich vorbereitet, die Vorfreude war groß. Zum fünften Mal baute ein breites Bündnis auf dem Marktplatz in Brandenburg Stände, Bänke und eine Bühne auf, um im Juni ein Fest der Vielfalt zu feiern. Darunter eine Trommelschule, der DanceClub vom Jugendzentrum Offi, „Schülis“ und Omas gegen
Rechts. Das Motto: „Bad Freienwalde ist bunt.“ Was dann geschah, hat Tom Kurz beobachtet, der bei der ehrenamtlichen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch Oderland arbeitet: Maskiert mit Sturmhauben, bewaffnet mit Schlagstöcken stürmte eine Gruppe junger Gewalttäter auf den Platz. „Die Neonazis waren erst im Moment des Angriffs sichtbar“, erinnert sich Kurz. „Ich habe sie auf mich zu rennen sehen. Alles ging sehr schnell.“

Vier Personen seien durch Schläge verletzt worden. In einem Video des RBB ist zu sehen, wie ein Angreifer einem Mann gezielt mit der Faust ins Gesicht schlägt. „Mehrere Leute sind dazwischengegangen und haben Schlimmeres verhindert“, sagt Kurz. „Die Neonazis haben wohl nicht mit Gegenwehr gerechnet und mussten
ihren Angriff abbrechen.“ Der orchestrierte Gewaltakt habe viele derjenigen, die unbeschwert feiern wollten, schockiert. „Es waren ja auch Familien da. Viele haben zum ersten Mal so massive rechte Gewalt erfahren.“ Das Fest fand trotzdem statt, aber der brutale Überfall habe den ganzen Tag überschattet.

Der Flächenbrand

Rechtsextreme Straftaten nehmen zu – von Propaganda bis zu Gewaltdelikten. Opferberatungsstellen fordern stärkeres staatliches Gegensteuern.

Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort

Nach der Tat kam Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos) nach Bad Freienwalde. Er sprach von einem „Angriff auf die Art unseres Zusammenlebens“ – ein seltenes Signal der Solidarität mit der queeren Community. Die Veranstalter haben jedoch in einer Stellungnahme klargemacht, dass Betroffenheit nicht ausreicht: „Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort. Die Gefahr, der unsere Veranstaltung ausgesetzt war, wurde falsch eingeschätzt. Das muss sich ändern!“ Tom Kurz kritisiert, dass die Polizei auch gegen diejenigen ermittle, die sich gegen die militanten Neonazis wehrten, um sich und andere zu verteidigen.

Das WEISSER RING Magazin hat die Brandenburger Polizei nach den Gründen dafür gefragt und weshalb trotz Warnungen im Vorfeld keine Beamten vor Ort waren. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung wies ein Polizeisprecher Kritik zurück. Er sagte, die bei der Veranstaltung eingesetzten Beamten seien während des Angriffs nicht am Tatort gewesen, weil sie im Umfeld des Festgeländes unter anderem „Fahrzeugbewegungen“ überprüft hätten Einige Tage nach dem Überfall hat die Polizei die Wohnräume eines mutmaßlichen Angreifers durchsucht.

Für Tom Kurz hat der Angriff eine lange Vorgeschichte. Er beschreibt gefestigte rechtsextreme Strukturen in der Region, mit alten Neonazis aus den 1990er-Jahren, einer stark verankerten AfD und aktionistischen Jugendorganisationen wie der vom III. Weg, einer neonazistischen Kleinstpartei. Nicht rechte Jugendliche würden in Bad Freienwalde zur Zielscheibe der jungen Rechtsextremen. Mitglieder des Bündnisses würden im Ort regelmäßig bepöbelt und bedroht.

Kurz betont, wie wichtig prominente Persönlichkeiten wären, die sich klar positionieren: „Denn die Neonazis sehen sich als ausführende Gewalt eines Volkswillens.“ Stattdessen gab Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) dem RBB nach dem brutalen Überfall ein verstörendes Interview. Der Täter habe zwar „nicht hauen dürfen“, so das Stadtoberhaupt, das Opfer „hätte ihn aber auch nicht festhalten dürfen“. Wie unter einem Brennglas zeigt der Fall die Enthemmung rechter Gewalt – und die Missstände im Umgang damit, wenn Verantwortliche eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben.

2024

haben politisch motivierte Straftaten laut der jährlichen Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht.

84.172

Delikte waren es insgesamt.

42%

als im Jahr zuvor.

42.788

der Delikte waren rechtsextremistisch motiviert.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.

„Rechtes Land“

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch ein Aufhören kommt für ihn nicht infrage, wie er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin erzählt.

Rekordniveau rechter Straftaten

Politisch motivierte Kriminalität ist im vergangenen Jahr so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten, die bereits in den vergangenen Jahren beunruhigende Rekorde erreicht haben, am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488. „Ein Beleg für die hohe und weiterhin zunehmende Gewaltbereitschaft“, erklärt ein BKA-Sprecher.

Noch dramatischer sind die Zahlen, die der Verband der auf rechte Gewalt spezialisierten Opferberatungsstellen (VBRG) erhoben hat. In zwölf von 16 Bundesländern kam es demnach zu 3.453 rechten, rassistischen und antisemitisch motivierten Angriffen mit 4.681 direkt Betroffenen – ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Ländervergleich liegt Berlin mit 9,99 Taten pro 100.000 Einwohner vorn, gefolgt von Sachsen-Anhalt (8,3) und Mecklenburg-Vorpommern (6,59). Bei den absoluten Zahlen steht ebenfalls Berlin mit 366 Angriffen vor Nordrhein-Westfalen mit 294 (1,63 pro 100.000 Einwohner) auf dem ersten Platz. Mehr als die Hälfte aller Taten seien rassistisch motiviert. Gleichwohl hätten die Angriffe auf „politische Gegner“ um zwei Drittel und queerfeindliche um 40 Prozent zugenommen.

2024

Magdeburg. Am Abend des Terroranschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wird ein Student auf dem Nachhauseweg von einer Männergruppe rassistisch beleidigt. „Ihr gehört hier nicht her“, rufen die Männer. Der Student wird mit dem Tod bedroht und geschlagen. Der Terroranschlag des Angreifers saudi-arabischer Herkunft löst in der Stadt eine Welle rassistischer Gewalt aus. So wird ein 13-Jähriger im Fahrstuhl seines Wohnhauses von einem Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt.

Im Gegensatz zum BKA erfassen die Opferberatungen auch Fälle von Nötigung und Bedrohung, was die höheren Fallzahlen teilweise erklärt. Der VBRG notierte 1.212 Bedrohungen/Nötigungen sowie 1.143 einfache und 681 gefährliche Körperverletzungen. Sowohl die Zahlen des VBRG als auch die des Bundeskriminalamtes spiegeln jedoch „nur einen Ausschnitt aus einer sehr bedrohlichen und gewaltvollen Realität für sehr viele Menschen in diesem Land“ wider, betont die Geschäftsführerin des Verbandes, Heike Kleffner. „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Man gehe nicht mehr auf Stadtfeste, verlasse Veranstaltungen früher und bewege sich in Angsträumen und nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Gruppen.

„Das Gewaltpotenzial ist stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern“,
sagt Heike Kleffner. Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, bezogen auf die Einwohnerzahl weiterhin vorn, aber der Westen holt auf. Täter, so Kleffner, griffen dabei auch zu Messern und Schlagwerkzeugen und schlügen auf ihre Opfer ein, selbst wenn diese schon am Boden lägen. Gelegenheitstäter schreckten auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche zu verletzen.

Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, weiterhin vorn, aber der Westen holt auf

In Brandenburg wurde im Dezember ein Schüler auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe junger Rechter so schwer verletzt, dass er unter Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen litt. Diese Täter seien oft in einem Umfeld sozialisiert, in dem Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit mehrheitsfähig seien, sagt Kleffner. Sie nennt Gründe für die gesellschaftliche Klimaverschärfung: „Mit den Wahlerfolgen der AfD geht nicht nur eine Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus einher, sondern auch eine beunruhigende NS-Verherrlichung.“

Kleffner erinnert daran, dass der AfD-Politiker Björn Höcke für den Gebrauch einer SA-Parole verurteilt wurde. Aus diversen Strafverfahren sei bekannt, dass
rechte Täterinnen und Täter „ganz oft nationalsozialistische Propaganda, Hitler-Bilder und SS-Runen konsumieren, liken und teilen“. Man dürfe auch nicht unterschätzen, welche Wirkung ein migrationsfeindlicher gesellschaftlicher Diskurs habe. Eine Studie der Uni Bielefeld belegt zudem, dass Wählerschaft und Sympathisanten der AfD im Vergleich zu anderen Parteianhängern überdurchschnittlich oft Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele befürworten. „Die Wähler*innen radikalisieren die AfD, aber die Partei radikalisiert auch ihre Wählerinnen und Wähler“, so Kleffner.

12

Bundesländer hatten in diesem Jahr ein Rekord an registrierten Fällen bei der Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

3.400

Fälle wurden circa aufgenommen.

20%

als im Vorjahr.

Darüber hinaus greifen AfD-Politiker immer wieder selbst zu Gewalt. So wurde der Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation in NRW, Felix Alexander Cassel, dafür verurteilt, am Rande eines „AfD-Bürgerdialogs“ in Köln einen Gegendemonstranten mit dem Pkw angefahren zu haben. In Berlin wurde der AfD-Bezirksverordnete Kai Borrmann für eine Beiß-Attacke gegen die schwarze Musikjournalistin Steph Karl verurteilt, die er zuvor rassistisch beleidigt hatte. Im November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft drei AfD-Mitglieder festnehmen, die verdächtigt werden, der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Sächsische Separatisten“ angehört zu haben.

Ein BKA-Sprecher verweist darauf, dass rechte Straftaten nicht in jedem Fall tief verinnerlichte rechtsextreme Denkmuster voraussetzen. Nicht selten würden nur „Versatzstücke aus Ideologien“ übernommen: „Rechtsextreme Ideologien und gezielte Mobilisierung durch rechte Akteure schaffen und fördern jedoch Rahmenbedingungen, die an der Motivation zu solchen Straftaten andocken.“ Etwa, indem bestimmten Personengruppen eine Sündenbockfunktion zugeschrieben wird oder sie durch Täter-Opfer-Umkehr als bedrohlich markiert werden.

Immer stärker ins Visier rechter Straftäter geraten queere Menschen, etwa in Sachsen, beobachtet Michel Röhricht vom Bürgerrechtsverband Queere Vielfalt (LSVD): „Die gestiegene Bedrohung ist auf alle Fälle spürbar. Die Lage ist erheblich unsicherer geworden.“ Zwar gibt es auch in kleineren sächsischen Orten wie Döbeln oder Riesa CSD-Veranstaltungen, aber Ankunft und Rückfahrt seien gefährlich, weil Rechtsextremisten die Veranstaltungen systematisch anfeindeten. „Teilnehmende müssen in Gruppen anreisen“, sagt Röhricht. Immer wieder meldeten sich Personen, die berichten, sie seien in ihrem Alltag angegriffen worden. Oftmals scheuten sie sich aber, Straftaten anzuzeigen. Betroffene würden ausgelacht, beleidigt und ausgegrenzt. Auch Schulen seien häufig Tatorte. „Die meisten, die sich an uns wenden, sind voller Angst und fressen das in sich rein“, so Röhricht.

Das Leben der queeren Community werde durch eine feindliche Grundstimmung in der Gesellschaft stark eingeschränkt. Viele täten alles, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. „Die Sichtbarkeit nimmt ab“, so Röhricht. Zwar sei die Lage in ländlichen Regionen noch schwieriger, vor allem für queere migrantische Personen. Dort liege  ein „Mantel des Schweigens“ über Diskriminierung und Gewalt; Hilfsangebote gebe es oftmals nicht. Selbst Großstädte wie Chemnitz bieten Röhricht zufolge keinen Schutz, weil viele Treffpunkte aufgrund mangelnder Förderung weggebrochen seien. „Es gibt queere Menschen, die eine Serie von Angriffen und Beeinträchtigungen erlitten haben“, berichtet er. „Da gibt es ganz viel Hoffnungslosigkeit und Resignation.“

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.

Während sich Opfer zurückziehen, fühlen sich Täter ermutigt. Eine entscheidende Rolle im Radikalisierungsprozess spielen nach Erkenntnissen des BKA die sozialen Medien: mit einer ungefilterten Flut von Hetze, Desinformation und Propaganda. In den digitalen Hasskammern verbreiten Rechtsextremisten toxische Erzählungen über eine angebliche „Umvolkung“, „Gender-Wahn“, „Frühsexualisierung“, „Globalisten“ und „linksgrüne Ökofaschisten“. Menschen werden aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung als Hassobjekte angefeindet.

Ins Visier geraten alle, die nicht der homogenen Norm einer völkisch-deutschen Ideologie entsprechen. Die sozialen Medien bieten Rechtsextremisten und Rassisten dabei nicht nur eine Plattform für niedrigschwellige Kontaktaufnahme, Rekrutierung und Vernetzung, sondern werden auch als Tatort und Labor für politisch motivierte Straftaten genutzt. Hasskriminalität ist im vergangenen Jahr um 28 Prozent auf 21.773 Fälle angestiegen. Mehr als zwei Drittel aller Hassdelikte sind rechts motiviert.

2025

Cottbus. Eine Gruppe greift am 28. März das Hausprojekt „Zelle79“ in Cottbus (Brandenburg) an. Die Täter brüllen rechte Parolen und werfen mit Pflastersteinen. Wenige Stunden später attackieren vermummte Täter das Haus erneut mit Steinen. Im Mai informiert die Polizei über einen weiteren Angriff von fünf Personen mit Böllern und Leuchtfackeln. Dabei werden verfassungsfeindliche Parolen gerufen, Eingangstür und Fassade beschädigt.

Seit Mitte 2024 beobachten die Sicherheitsbehörden einen beunruhigenden Trend. In der Neonazi-Szene treten viele neue Jugendgruppen in Erscheinung, die „Jung und Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ heißen. Rechtsextreme Straftäter werden immer jünger. Nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke im vergangenen Jahr in Dresden wurden vier Minderjährige aus dem Umfeld der rechtsextremen „Elblandrevolte“ als Verdächtige ermittelt.

In einem anderen Fall verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin kürzlich vier mutmaßliche Neonazis aus Sachsen-Anhalt, die im Ortsteil Lichterfelde zwei SPD-Wahlkämpfer brutal attackiert hatten. Die Täter, die auf dem Weg zu einer rechten Demo waren, hatten einen 50-Jährigen mit Springerstiefeln gegen den Kopf getreten. Der Vorsitzende Richter hatte keinen Zweifel an dem politischen Tatmotiv und verurteilte die jungen Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten. Ein Sprecher des BKA warnt angesichts solcher Taten vor der Gewaltbereitschaft der neuen Gruppierungen: Aufgrund permanenter neonazistischer Propaganda bestehe „die Gefahr, dass diese Gruppen weitere Anhänger rekrutieren und sich das Phänomen ausweitet“.

In der Nacht auf den 23. Oktober 2024 brennt in Altdöbern (Brandenburg) das ehemalige Schützenhaus nieder. Durch einen glücklichen Zufall bleibt die Betreiber- Familie des zugehörigen Kulturhauses, die im Gebäude nebenan schläft, unverletzt. Die Polizei teilt wenige Tage später mit, sie gehe nicht von Brandstiftung aus, sondern von einem technischen Defekt. Dies hält sich fortan hartnäckig in der Region und wird Anfang des Jahres korrigiert. Allerdings nicht auf Initiative der Behörden, sondern im Landtag. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der SPD taucht der Brand in Altdöbern überraschend als politisch motivierte Kriminalität von rechts auf, die sich gegen ein angeblich linkes Kulturobjekt richtete. „Links“ war der „Kultberg“ in Altdöbern nicht: Auf der offenen Bühne der Bar konnten alle, die wollten, spontan zur Gitarre greifen. Im Festsaal wurde auch Karneval gefeiert. Im Mai 2025 nimmt der Generalbundesanwalt (GBA) schließlich vier mutmaßliche Mitglieder der selbsternannten „Letzten Verteidigungswelle“ fest.

Der Vorwurf: Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung. Der jüngste der minderjährigen Beschuldigten soll erst 14 Jahre alt sein. Deren Ziel laut Ermittlern: durch Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Migranten und politische Gegner den Zusammenbruch des politischen Systems der Bundesrepublik herbeizuführen.

10.732

Straftaten wurden vom BKA im Bereich Hasspostings registriert. Laut BKA spielt der digitale Raum eine immer größere Rolle in der Politisch Motivierten Kriminalität.

34%

mehr als im Vorjahr. Die meisten Taten sind rechtsmotiviert.

4.760

Fälle wurden insgesamt registriert.

Die Bundesanwaltschaft wirft den Tatverdächtigen vor, einen Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Schmölln (Thüringen) verübt zu haben. Obwohl aus einer Feuerwerksbatterie Pyrotechnik entzündet wurde, kam es dort glücklicherweise nicht zur Katastrophe. Die Beschuldigten sollen während der Tat einschlägige Parolen an die Unterkunft gesprüht haben: „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „NS-Gebiet“, dazu Hakenkreuze und Sieg-Runen. Der Generalbundesanwalt ist zudem davon überzeugt, dass zwei der Verdächtigen den Brand in Altdöbern gelegt haben. Einer von ihnen soll laut GBA ein führendes Mitglied der mutmaßlichen rechtsterroristischen Vereinigung gewesen sein.

Der Jugendliche habe die Tat in einem Video angekündigt, um andere Mitglieder zu ähnlichen Aktionen zu animieren. Bemerkenswert: Ein Terrorverdächtiger lebt mit seiner Familie selbst in Altdöbern. Der Fall schreckte das Land kurz auf, doch viele Medien stürzen sich allein auf das Alter der mutmaßlichen „Teenie-Terroristen“. Hintergrund, Folgen und Konsequenzen? Fehlanzeige.

Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen, schickte die Gemeinde der Familie eine Kündigung

In Altdöbern haben die Täter die Existenz der Betreiber-Familie zerstört. Zwar blieb die Kneipe bei dem Brandanschlag verschont, während das frühere Schützenhaus, das seit 100 Jahren als Mittelpunkt des Dorflebens genutzt wurde, bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dennoch stehen die Brandopfer nach der Tat vor dem Ruin. Im Ort ist die Familie isoliert. Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen und die Kultureinrichtung zu erhalten, schickte die Amtsverwaltung der Gemeinde der Familie eine Kündigung. Obwohl das Feuer nur Teile des Areals zerstört hat, gibt es offenbar Pläne, alles abzureißen. Im Ort kursieren böse Gerüchte über die Gastronomen. Sie hätten ja schon in Berlin eine Kneipe in den Sand gesetzt und seien längst auf dem Absprung in eine andere Stadt. Es hat den Anschein, als wolle man die Opfer des mutmaßlichen Rechtsterrors loswerden.

Das WEISSER RING Magazin hat die Amtsverwaltung von Altdöbern nach den Gründen für die Kündigung und etwaige Abrisspläne gefragt. Die Anfrage blieb unbeantwortet.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Muster der Eskalation

Rechte Gewalt ist kein Zufall. Sie braucht einen Rahmen und einen Nährboden, der sie legitimiert. In den vergangenen Jahren haben sich Vorurteile wie ein Gift auch in gesellschaftlichen Milieus verbreitet, die zuvor aufgrund ihrer Bildung und ihres Einkommens als kaum anfällig galten. Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit oder die Entmenschlichung geflüchteter Menschen sind mittlerweile auch bei jenen anschlussfähig, die sich selbst in der gesellschaftlichen Mitte verorten. Dafür sprechen etwa die Ergebnisse der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Autoritarismus-Studien der Universität Leipzig, die seit Jahren Anstiege der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit messen.

2025

Chemnitz. Am 28. Mai wird eine 56-Jährige in Chemnitz von einem Unbekannten bedrängt, rassistisch beleidigt und attackiert. Die Frau erleidet leichte Verletzungen. Nach Eingreifen einer Zeugin kann der Täter unerkannt flüchten.

In der Vergangenheit folgten die Wellen rechter Gewalt einem auffälligen Muster: In den 1990er-Jahren wurden Geflüchtete von Politik und Medien als „Schein-Asylanten“ dämonisiert, die das Land angeblich wie eine Naturkatastrophe fluteten. In der Folge brannten Asylbewerberheime. Die rassistische Eskalation führte von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bis Mölln und Solingen, von Pogromen bis zu mörderischen Terroranschlägen. In der sogenannten Flüchtlingskrise der Jahre 2015 wiederholten sich unheilvolle Muster einer politisch motivierten Gewaltspirale. Infolge der massiven Mobilisierung der extremen Rechten gegen Geflüchtete, die erneut von rassistischen Diskursen begleitet wurde, stieg die Zahl der Angriffe auf Asylsuchende und deren Unterkünfte drastisch an.

Laut Bundeskriminalamt verfünffachte sie sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr. Öffentliche Entmenschlichung sowie rechtsextreme und rassistische Mobilisierung führen zu rechter Gewalt. Militante Überzeugungstäter lassen radikalen Worten lebensgefährliche Taten folgen. Nach dem Motto: Alle reden nur. Wir handeln.

„Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben entsprechende Gruppierungen im Blick und begegnen der Szene mit hohem Kontrolldruck“, sagt ein BKA-Sprecher. Ein gemeinsamer Maßnahmenplan mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz soll potenzielle Täter schneller erkennen, Netzwerke besser aufklären und Hasskriminalität im Internet effektiver bekämpfen. Dazu sei beim Polizeilichen Staatsschutz die Fachgruppe Internet eingerichtet worden, so der Sprecher.

3.061

rechts motivierte Fälle erfasste die Polizei, bei antisemitischen Straftaten.

1.940

Fälle waren ausländisch motiviert.

Gleichwohl kritisieren die Beratungsgruppen des VBRG seit Jahren: Politische Tatmotive würden bei Ermittlungen weiterhin häufig ignoriert, Betroffene allzu oft nicht ernst genommen oder gar wie Täter behandelt. Strafverfahren wie die gegen jene Neonazis, die bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 gezielt migrantische Menschen und politische Gegner angriffen und verletzt
haben, würden von der Justiz jahrelang verschleppt, bis Angeklagte untertauchen oder aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mit milden Strafen davonkommen. So begann in Chemnitz erst sechs Jahre nach der Tat der erste große Prozess wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Nur drei von ursprünglich neun Angeklagten erhielten überhaupt eine Geldbuße, woraufhin das Verfahren gegen sie eingestellt wurde. Ein weiterer Prozess begann erst im Mai 2025, sieben Jahre nach den Angriffen. Drei Männer wurden vom Vorwurf des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Das Verfahren gegen einen vierten Angeklagten wurde eingestellt.

Schluss mit Sonntagsreden

Seit Jahren wiederholen Innenminister wie Nancy Faeser (SPD) und nun auch Alexander Dobrindt (CSU), Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie. Doch in der Praxis werden Opfer alleingelassen und Täter verschont. Die Gefahr von rechts wird immer noch unterschätzt. Hinzu kommt, dass die Prävention durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine von Politik und Medien infrage gestellt und sogar delegitimiert wird. Anstatt diese Vereine und Bündnisse dauerhaft durch ein Demokratiefördergesetz abzusichern, wird die AfD Erzählung von einem angeblich schädlichen, linken Komplex von Nichtregierungsorganisationen (NGO) befeuert. „Die gefährliche Macht der angeblichen NGOs“, kommentierte etwa die Tageszeitung „Die Welt“. CDU/CSU haben im Bundestag mit 551 teils absurden Fragen zu NGOs Misstrauen gesät. 1.700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Kleine Anfrage der Union in einem offenen Brief scharf kritisiert und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie betont.

 

Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht

Regelmäßig stehen Beratungsstellen für Opfer rechter oder antisemitischer Gewalt sowie mobile Beratungsteams wegen ungeklärter Finanzierung vor dem Aus. Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht. Im Gegenteil sollen Fördermittel für zivilgesellschaftliche Projekte in Hotspots wie Sachsen sogar massiv gekürzt werden, so die Pläne der CDU/SPD-Minderheitsregierung.

 

Nach dem mörderischen NSU-Terror haben Untersuchungsausschüsse wichtige Reformen angemahnt, von denen einige dann auch umgesetzt wurden. So wurde zum Beispiel die Strafzumessung in der Strafprozessordnung so geändert, dass etwa rassistische Tatmotive strafverschärfend berücksichtigt werden können. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios gibt es keinen Grund zur Entwarnung. „Wir sehen einen föderalen Flickenteppich. Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, sagt Heike Kleffner vom VBRG. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. „Da werden Ermittlungsverfahren zügig zu Ende geführt, angeklagt und dann
auch vor Gericht terminiert.“ Auch die Berliner Justiz handelt bei den aktuellen Angriffen junger Neonazi-Gruppen entschlossen und stellt, wie in dem Fall des Angriffs auf die SPD-Wahlhelfer in Lichtenberg, vor Gericht ausdrücklich rechtsextreme Tatmotive fest.

„Andererseits ist in Sachsen seit dem NSU-Komplex gar nichts passiert“, kritisiert Kleffner. So würden Strafverfahren wie jene in Chemnitz weiterhin verschleppt. Auch in NRW seien „jahrelang keine Konsequenzen aus den Versäumnissen und Fehlern im NSU-Komplex gezogen worden“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor Jahren bei einer Gedenkveranstaltung mit den Angehörigen des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau von einer „Bringschuld des Staates“ gegenüber den Angehörigen der Opfer rechter Gewalt gesprochen. Dieses Versprechen ist nicht eingelöst. Der VBRG fordert angesichts der dramatischen Lage einen nationalen Aktionsplan
zur effektiveren Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Wie notwendig das ist, zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen.

Im März 2024 stirbt bei einem verheerenden Brandanschlag in einem Solinger Mehrfamilienhaus eine vierköpfige Familie: die 28-jährige Mutter, der 29-jährige Vater, die fast dreijährige Tochter und ein fünf Monate alter Säugling. Die Opfer, die einer türkischen Minderheit in Bulgarien angehören, waren erst seit einigen Monaten in Deutschland. Insgesamt werden bei dem Anschlag 21 Menschen teils schwer verletzt, darunter ein junges Paar, das mit seinem Baby in Panik aus dem dritten Stock springt, um sich zu retten. Die Familie überlebt mit schweren Brand- und Bruchverletzungen. Vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Wuppertal hat der zur Tatzeit 39-jährige Angeklagte Daniel S. von seinen Anwälten ein Geständnis verlesen lassen. Die Täterschaft scheint also geklärt. Aber was war das Motiv? Schnell teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit, es gebe keine Hinweise auf ein rechtsextremes Tatmotiv. Die Behörden gehen von persönlichen Beweggründen aus.

2025

Chemnitz. Ebenfalls in Chemnitz skandieren Jugendliche und junge Erwachsene am 29. Mai rechte Parolen und zeigen den „Hitlergruß“. Ein junger Mann feuert einen Schuss aus einer Schreckschusspistole ab.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die in dem Mordprozess als Nebenklagevertreterin auftritt, erhebt schwere Vorwürfe. Ihr zufolge wurden eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv von den Ermittlern weder gesichtet noch gesichert. So sei erst ein Jahr nach dem Brand bekannt geworden, dass bei der Durchsuchung des Wohnhauses des Angeklagten eindeutiges politisches Material gefunden wurde, darunter Adolf Hitlers Schrift „Mein Kampf“ und Tonaufnahmen von Hitler-Reden. Die umfangreiche Nazi-Propaganda landete nicht in der Ermittlungsakte. Bei der Hausdurchsuchung hatte die Lebensgefährtin des Beschuldigten behauptet, das Material gehöre dessen Vater. Damit gaben sich die Ermittler offenbar zufrieden. Im Prozess erklärte der Richter, dass plötzlich ein Aktenvermerk der Polizei aufgetaucht sei, wonach der Brandanschlag kurz nach der Tat sehr wohl als rechts motivierte Straftat eingestuft worden war. Die Einstufung sei jedoch nachträglich von einem Beamten gestrichen worden.

Die Nebenklage erwirkte vor Gericht umfangreiche Nachermittlungen, auf ihr Drängen wurden zahlreiche Datenträger ausgewertet. Auf einer Festplatte waren 166 Dateien, „die eindeutig antisemitisch, rassistisch und menschenverachtend sind“, so die Anwältin. Den Ermittlern zufolge gehört die Festplatte der Lebensgefährtin. Başay-Yıldız kritisiert: „Es gab keine Ermittlungen zum Umfeld des Täters.“ Auch belastendes Material aus der Garage des Angeklagten wurde nicht ausgewertet. „An der Wand befand sich ein Gedicht über einen Asylsuchenden, welches den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt“, sagt Başay-Yıldız. Das sei jedoch erst im Prozess durch Vergrößerung eines Fotos entdeckt worden.

Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt

Vor über 30 Jahren, im Mai 1993, wurden bei einem rechten Brandanschlag in Solingen fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen ermordet. Der Anschlag erschütterte das Land. Die Ermittlungen in dem aktuellen Fall erwecken den Anschein, als solle Solingen nicht erneut zum Synonym für einen mörderischen rechtsradikalen Anschlag werden. Im August wurde der Angeklagte wegen vierfachen Mordes und vielfachen Mordversuchs zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest, jedoch kein rassistisches Motiv, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft. Diese begründete ihre Sicht unter anderem damit, dass der Täter keinen Kontakt zu rechten Gruppen gehabt habe.

Der Fall ist alarmierend. Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch – und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt – trotz NSU-Komplex, immer neuen Fällen von Rechtsterrorismus und Rekordzahlen rechter Straf- und Gewalttaten. Alles steht und fällt mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme.

Transparenzhinweis:
Auch der WEISSE RING ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Der Verein erhält keine staatlichen Mittel. Der WEISSE RING finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen.