Tödliche Übergriffe in Psychiatrien: Mindestens 21 Opfer seit 2021
Mindestens 21 Patientinnen und Patienten sind seit 2021 in deutschen psychiatrischen Kliniken oder im Maßregelvollzug von Mitpatienten getötet worden. Das ergab eine bundesweite Abfrage des WEISSER RING Magazins in allen 16 Ländern sowie die Auswertung von Medienberichten, Gerichtsurteilen und Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden.

Nach den jüngsten Daten des Statistischen Bundesamts wurden 2023 in der Allgemeinpsychiatrie rund 688.891 Menschen stationär behandelt. Tödliche Übergriffe sind also sehr selten, aber sie passieren – und zwar mit wiederkehrenden Mustern. In Niedersachsen etwa gab es in den vergangenen fünf Jahren sechs Tötungsdelikte in der Allgemeinpsychiatrie. „Bis auf ein Delikt ereigneten sie sich alle in geschlossenen Akutstationen“, teilte das dortige Gesundheitsministerium mit. Die Autorinnen Anke Bramesfeld und Gesa Schirrmacher schildern in einem Fachbeitrag zu Fällen in Niedersachsen typische Abläufe: „In der Mehrzahl drang die Täterin/der Täter in ein fremdes Patientenzimmer ein. Unter den Opfern waren mehrere mit erhöhtem Pflegebedarf aufgrund körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen.“ Ihre Analyse liefert Ansatzpunkte für einen besseren Opferschutz.
Die Abfrage und weitere Recherchen des WEISSER RING Magazins ergaben: In Nordrhein-Westfalen gab es seit 2021 mindestens vier Tötungsdelikte, in Hessen drei. In Bayern meldete das für den Maßregelvollzug zuständige Zentrum Bayern Familie und Soziales zwei Fälle. In Baden-Württemberg sind zwei Todesopfer durch Medienberichte dokumentiert – in Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein jeweils ein Tötungsdelikt. Doch die Übersicht bleibt lückenhaft, denn nicht über alle Fälle wird öffentlich berichtet und nicht alle Ministerien beantworten Anfragen. So teilte das Sozialministerium Baden-Württemberg mit: Tötungsdelikte in der Forensischen Psychiatrie seien „so selten, dass durch entsprechende Angaben Rückschlüsse auf untergebrachte Personen möglich sind“, weshalb aus Datenschutzgründen keine Informationen herausgegeben würden. Ähnlich argumentierte die Hamburger Sozialbehörde: Angaben unterhalb von vier Fällen würden nicht gemacht, um Betroffene nicht identifizierbar zu machen. Auch Bundeskriminalamt und Landeskriminalämter können nicht helfen: In der Polizeilichen Kriminalstatistik wird die Tatörtlichkeit „Psychiatrie“ nicht gesondert erfasst.
„Das beste Mittel der Gewaltprävention ist die konsequente Therapie psychischer Erkrankungen."
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Eine bundesweite Erhebung tödlicher Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen gibt es nicht – das bestätigt auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Deren Präsidentin, Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, sagte dem WEISSER RING Magazin, man würde „eine einheitliche Erfassung und Veröffentlichung anonymisiert und auf Landes- und Bundesebene begrüßen“. In psychiatrischen Kliniken würden besonders vulnerable Menschen behandelt; eine hundertprozentige Sicherheit lasse sich gleichwohl nicht erreichen. Die überwiegende Mehrheit psychisch kranker Menschen ist nicht gewalttätig. Gleichzeitig verweist die Fachgesellschaft auf aktuelle Studien: Für Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen ist das Risiko für Gewalttaten statistisch erhöht – gesichert ist das bei Schizophrenien und anderen Psychosen, bei Substanzkonsumstörungen sowie bei schweren Persönlichkeitsstörungen. Daraus folge jedoch kein Automatismus. „Das beste Mittel der Gewaltprävention ist die konsequente Therapie psychischer Erkrankungen“, so Gouzoulis-Mayfrank.
Auf psychiatrischen Akutstationen gehöre die Einschätzung des Aggressions- und Gewaltrisikos zum Alltag. Neben der klinischen Beurteilung kommen dort teils standardisierte Instrumente zum Einsatz, etwa die Brøset-Gewalt-Checkliste zur Einschätzung des aktuellen Aggressionspotenzials. Ergeben sich Hinweise auf erhöhtes Risiko, greifen abgestufte Maßnahmen wie deeskalierende Gespräche, medikamentöse Hilfen oder eine engmaschige Eins-zu-eins-Betreuung. „Reicht das nicht, kann eine vorübergehende Isolierung mit Überwachung nötig werden“, schildert Gouzoulis-Mayfrank, die seit 2008 als Ärztliche Direktorin die LVR-Klinik Köln leitet, eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Abwägung über Zwangsmaßnahmen müsse in jedem Einzelfall „sorgsam und verantwortungsvoll“ erfolgen. Auch für Zwangsmaßnahmen gibt es bislang keine bundesweit einheitliche Erfassung.

Kein Schutz. Nirgends
David S. wird in einer Psychiatrie erwürgt. Seine Angehörigen fühlen sich alleingelassen. Was ist damals passiert?
Ein heikler Befund aus Niedersachsen: Tötungsdelikte auf Akutstationen werden „in der Regel nicht von Personen verübt, die als akut fremdgefährlich gelten“, schreiben Bramesfeld und Schirrmacher. Prävention müsse deshalb nicht nur potenzielle Täter im Blick behalten, sondern ebenso den Schutz potenzieller Opfer. Ziel ist nicht Stigmatisierung, sondern Schutz, zumal zahlreiche Studien belegen, dass psychisch kranke Menschen selbst ein erhöhtes Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden. Die Autorinnen nennen konkrete Stellschrauben für einen besseren Opferschutz in psychiatrischen Einrichtungen: von außen abschließbare Patientenzimmertüren, keine Unterbringung von Personen mit hohem Pflegebedarf auf geschlossenen Akutstationen, wo viele akut erkrankte und häufig wechselnde Patientinnen und Patienten zusammenkommen. Diskutiert werden sollten außerdem Einzelzimmer sowie Notfallsender für Patientinnen und Patienten, um schnell Hilfe zu rufen.
Nachtrag:
Während dieser Artikel geschrieben wurde, ist am 20. September 2025 im niedersächsischen Hildesheim ein 63-jähriger Patient auf einer geschlossenen Station getötet worden. Dringend tatverdächtig ist ein 32-jähriger Mitpatient.
Ähnliche Beiträge

Ungefragt ausgenutzt
True Crime boomt – das Publikum ist fasziniert, doch für Hinterbliebene wird der Hype oft zum Albtraum.

Kein Schutz. Nirgends
David S. wird in einer Psychiatrie erwürgt. Seine Angehörigen fühlen sich alleingelassen. Was ist damals passiert?

„Ich glaube an das Gute im Menschen“
Serpil Temiz Unvars Sohn wurde in Hanau von einem Rassisten ermordet. Danach wurde sie vom Täter-Vater gestalkt.
Teile diesen Beitrag per: