Chronik eines angekündigten Todes

Alle drei Tage tötet in Deutschland ein Mann seine (Ex-)Frau. Tut der Staat genug, um diese Frauen zu schützen? Der Fall von Anne, die 2017 gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Noah getötet wurde, zeigt: Nein, tut er nicht.

Anne und ihr kleiner Sohn Noah sind auf einem schwarz-weiß Foto. Der Ex-Mann tötete beide in ihrem Auto, mit einem Messer. In Deutschland kommt es alle drei Tage zu einem Femizid.

Anne. Das leise Kind in dieser oft eher lauten Familie. Eines, das lieber zuhörte, wenn die anderen wieder einmal diskutierten. Harmoniebedürftig. Vermittelnd. Liebenswert. „Still-klug“ nennt ihre Mutter sie, „so normal und gleichzeitig besonders.“

Noah. Der Junge, der so schwer ins Leben fand. Ein Frühchen, 32. Schwangerschaftswoche, 1.600 Gramm leicht. So klein, so zart, so viele Komplikationen. Alle paar Stunden pumpte Anne, Noahs Mutter, Milch ab, milliliterweise flößte sie ihm sie ein. „Sie haben es geschafft“, sagt Noahs Großmutter. Als Noah vier war, sollte er zum ersten Mal zu ihr in den Norden kommen, vorher hatte es der Vater nie erlaubt.

„Jetzt ist er hier“, sagt Marianne Harms-Metzger, Noahs Großmutter und Annes Mutter. Sie zupft ein paar vertrocknete Sonnenblumen aus der Friedhofserde. Am Grabstein lehnt ein kleines Schiffchen, darüber stehen ihre Namen: Anne Metzger, geboren am 13. Juli 1978, gestorben am 28. Juli 2017. Noah Metzger, geboren am 19. Juni 2013, gestorben am 28. Juli 2017.

Chronik eines angekündigten Todes

Der Mord an Anne und Noah

https://weisser-ring.podigee.io/1-der_mord_an_anne_und_noah

Zwei Tage, bevor Anne und Noah in den Norden reisen konnten, stoppte Annes Ex-Partner, Noahs Vater, mit einem Carsharing-Wagen Annes Dienst-Peugeot in Teningen, Baden-Württemberg, auf offener Straße. Er hatte ihr aufgelauert. Er stieg aus, in der Tasche zwei große Messer, schlug die Scheibe des Peugeot ein und kletterte in das Auto. Dort stach er mit einem Küchenmesser auf Anne ein, 15 Mal. Anschließend wandte er sich Noah auf der Rückbank zu und versetzte ihm zwei wuchtige Stiche. Er stieg aus und fuhr davon, das Messer ließ er in seinem Kind stecken.

Der kleine Friedhof an der Ostsee leuchtet in sattem Grün, die Sonne scheint. Marianne Harms-Metzger kneift die Augen zusammen, als sie sagt: „Dieser Mord wäre verhinderbar gewesen. Der Staat hat meine Tochter und ihren Sohn nicht geschützt.“

Vermutlich hat sie recht.

Kapitel 1

An jedem dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine Frau, Freundin oder Ex-Partnerin. Zwar nimmt seit Jahren die Zahl der polizeilich erfassten Gewalttaten in Deutschland ab, gleich hoch bleibt aber die Gewalt von Männern an ihren Frauen: häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Mord und Totschlag. Im Jahr 2020 starben 139 Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner, in den Jahren davor war die Zahl mal ein wenig höher und mal ein wenig niedriger, der Mittelwert der vergangenen zehn Jahre liegt bei 140,5. Im Jahr 2017, als Anne und ihr Kind starben, waren es 147 tote Frauen. Manchmal starben bei diesen Taten auch ihre Kinder. Manchmal tötete der Täter sich anschließend selbst. Jedes Mal starb die Frau.

Lässt sich das verhindern? Folgen diese Taten, die in den Medien häufig als Leidenschaftsverbrechen, Liebesdramen oder Familientragödien individualisiert und trivialisiert werden, ja: erklärt und sogar entschuldigt werden, einem Muster? Kann der Staat diese Frauen retten?

Er kann. Nicht immer, aber manchmal.

„Was wir zum Beispiel wissen aus unseren Forschungen: Alle diese Morde werden angekündigt. Es gibt Drohungen und Ankündigungen. Nicht nur gegenüber der betroffenen Frau, sondern auch gegenüber Dritten im engeren Familien- und Bekanntenkreis. Es gibt eigentlich immer ausreichend Warnsignale, dass es jetzt ernst werden könnte. In 95 Prozent der Fälle passiert es aber eben nicht. Da ist die Gefahr groß, dass diese Warnungen ignoriert werden.“

Prof. Dr. Dietrich Oberwittler, Leiter der Forschungsgruppe „Space, Contexts, and Crime – Abteilung Kriminologie“ am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, Mitautor des Buches „Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005“

Drohungen, Ankündigungen, Warnsignale: Wer die Akten des Mordfalls Anne und Noah liest, liest die Chronik eines angekündigten Todes.

Anne lernt ihren späteren Mörder 2009 kennen, einen gebürtigen Algerier mit deutscher Staatsbürgerschaft, er arbeitet wie sie in der Krankenpflege. Die Beziehung ist nicht einfach, als Anne ungeplant schwanger wird, wird sie noch schwieriger. Er verliert häufig den Job, irgendwann arbeitet er gar nicht mehr, er steckt nun seine Erwartungen ganz in seinen Sohn. Einmischungen in Noahs Erziehung duldet er nicht, Annes Eltern steht er von Beginn an feindselig gegenüber.

Am 10. Juni 2013 schickt er Annes Mutter um 18:04 Uhr eine SMS:

„Der Krieg wirdest haben, du kannst dich drauf verlassen, dich kann nur der Tod ändern, von dein Fehlern hast nichts gelernt und werdest du nie lernen dafür bist du blood, zu krank, dich kann man nur mit ein Hammer oder ein Kugel in Kopf hilfen und alles was du über mich wissen willst du kannst mir aus den Arsch lecken. Du magst mich nicht und ich hasse dich. (…) bei mir möchte ich dich nie wieder sehen.“

Eine zweite SMS folgt am 15. April 2014 um 10:43 Uhr:

„… mir und mein Sohn kommst du ein Schritt nahr, schwere ich bei Gott schlachte ich dich wie ein Hase aus.“

Auch Anne gegenüber stößt er Drohungen aus, sie notiert sie:

Das nächste Mal werde er mir mit dem Hammer auf den Kopf hauen.“

„Am liebsten würde er eine Atombombe auf meine gesamte Familie werfen.“

„Auf sein Drängen hin“, so berichtet sie später, bricht Anne den Kontakt zu allen männlichen Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen ab. Sie versucht, wenigstens zu Müttern von Noahs Krippenfreunden die Verbindung zu halten. Wenn Anne und Noah zu einer Geburtstagsfeier eingeladen werden, kommt ihr späterer Mörder teilweise mit, „wenn Väter anwesend waren, um mich zu kontrollieren, damit ich mich nicht mit Männern unterhalte, und um aufzupassen, was Noah isst“.

Die verbleibenden Freunde und Arbeitskollegen wissen davon. Nach dem Mord sagt eine Kollegin bei ihrer Vernehmung durch die Polizei über Anne: „In etlichen Gesprächen hat sie mir immer erzählt, dass ihr Lebensgefährte sie regelrecht ,unterbuttern‘ würde. Er hat ihr wohl immer gesagt, dass sie alles falsch machen würde, und hat sie total kontrolliert.“ Eine zweite Kollegin berichtet: „Sie hat auch mal erzählt, dass er kontrolliert hat, was sie in ihrer Tasche mit sich führt.“ Ein Kollege erinnert sich, „dass er ihr verboten hat oder verbieten wollte, hier zu einer Weihnachtsfeier zu kommen, die auf dem Betriebsgelände stattgefunden hat“. Annes Bruder meint, der spätere Mörder habe „auch Protokoll geführt, was sie gemacht hat den ganzen Tag“. Eine Freundin weiß noch, dass Anne zwei Handys hatte. „Ein altes, bei dem hatte sie Angst, dass (er) ihr da irgendwas draufgespielt hat, dass er sie verfolgt.“

„Täter äußern häufig einen regelrechten Besitzanspruch: Du gehörst mir. Die Partnerin wird dominiert, isoliert und kontrolliert.“

Uwe Stürmer, Polizeipräsident von Ravensburg, bearbeitete zahlreiche Fälle von Partnerinnentötungen

„Alles was in Richtung Kontrollverhalten geht, ist Ausdruck von Besitzansprüchen des Mannes gegenüber der Frau. Dazu gehört das Kontrollieren des Handys oder die Kontrolle darüber, zu wem die Frau Kontakt hat. Wenn Männer Frauen umbringen, geht es um die Aufrechterhaltung des Besitzes. Diese Männer glauben, die Frau gehört ihnen.“

Prof. Dr. Dietrich Oberwittler

Der Leiter von Noahs Kindertagesstätte berichtet über Annes späteren Mörder: „Er hat seine Frau ganz klar als Eigentum betrachtet. Ich weiß jetzt nicht, ob ich das kulturell begründen möchte, aber er hat sie auf jeden Fall stark als sein Eigentum gesehen, das er zu kontrollieren gedenkt.“ Noahs Vater will auch die Arbeit der Kita kontrollieren, den Erzieherinnen traut er nichts zu. Sie haben zunehmend Angst vor ihm. Eine Erzieherin berichtet von einem Erlebnis nach dem Mittagessen: „Als ich zurückkam, lief mir eine Praktikantin entgegen und meinte, ich solle mich verstecken. Sie berichtete, dass (er) wutentbrannt nach mir suche … Verunsichert versteckte ich mich hinter Regalen, bis die Leitung den Gruppenraum betrat und mir versicherte, er sei nicht mehr im Haus.“ Die Kita erteilt Noahs Vater schließlich Hausverbot.

Eine ehemalige Vorgesetzte, die Probleme mit ihm hat und ihm kündigt, berichtet, dass er sie „in der akuten Phase“ verfolgt habe. „Das war sehr häufig. Ich würde sagen, jeden zweiten Tag im Spätdienst über eine Zeitspanne von circa vier Wochen.“

„Das Auflauern und Abpassen beispielsweise bei der Arbeit oder am Wohnort und das Mitführen von Waffen dabei ist brandgefährlich. Wichtig ist hier, dass die potenziellen Opfer ihr persönliches Umfeld informieren und so Transparenz schaffen.“

Uwe Stürmer

Als Anne sich endlich endgültig von ihrem Partner getrennt hat, fühlt sie sich verfolgt. Abends traut sie sich nach der Arbeit nicht allein zu ihrem Auto. Eine Kollegin oder ein Kollege, manchmal auch zwei, begleiten sie zum Parkplatz und gehen erst wieder, wenn Anne sicher eingestiegen ist.

Kapitel II

Am 27. Februar 2017 kündigt Anne den Mietvertrag der gemeinsamen Wohnung in Freiburg, schon lange zahlt sie die Miete allein. Heimlich bereitet sie ihren Auszug mit Noah vor.

Ab April sucht sie zunehmend Unterstützung bei Behörden. Ihre Angst wird nun aktenkundig. Die Sachbearbeiterin im Jugendamt notiert: Der Kindervater habe der Mutter angedroht, dass wenn sie „einen Krieg mit ihm führen will, dass dieser dann blutig enden wird“. Und: „Frau Metzger wirkt sichtlich belastet und verängstigt. Sie weint stark während des gesamten Gespräches, und ihre Angst ist ihr deutlich anzumerken.“

Am 5. Mai ruft Anne per Notruf die Polizei. Ihr Ex-Partner bedrohe sie, er wolle ihren geplanten Auszug nicht akzeptieren. Er habe eine Tasche gefunden und durchsucht, in der sich Sachen von ihr und Noah befanden. Im Polizeibericht ist der Wortlaut der Drohung notiert:

„Das Ganze wird für dich blutig enden. Ich werde dich schlagen und umbringen. Du wirst dein Kind nie wiedersehen. Ich werde deiner Familie schaden.“

Anne berichtet der Polizei, dass sie bereits eine neue Wohnung habe und dass sie nicht möchte, dass ihr Ex-Partner davon erfährt, „da sie erhebliche Angst um ihr Leben und das Leben ihres Sohnes hätte“. Sie habe bereits ein neues Handy und eine SIM-Karte, ihr altes Telefon werde sie im Lauf des Tages ausschalten. Sie werde darauf achten, dass es keinerlei Ortungsmöglichkeiten geben werde. Die Polizei sagt zu, ihren Auszug aus der Wohnung mit einer Streife abzusichern. Am 6. Mai zieht Anne mit Polizeibegleitung aus. Noah hat sie bei Bekannten untergebracht, sie wird ihn später holen.

„Wenn eine Frau diese Beziehung beenden will, wird das vom potenziellen Täter oft nicht akzeptiert. (…) Oft gibt es einen besonders risikobehafteten Zeitpunkt: Der Möbelwagen fährt vor, die Sorgerechtsentscheidung fällt… “

Uwe Stürmer

Annes Vater ist beim Auszug dabei. Am nächsten Tag schickt ihm Annes späterer Mörder eine E-Mail:

„Am Ende muss ich dir und jeder andre mitteilen dass NOAH mein Sohn ist und kein Menschen auf diese Erde mir wegnehmen kann.“

Am 11. Mai beantragt Annes Anwalt ein Kontaktverbot für Annes Partner nach dem Gewaltschutzgesetz. Dem Antrag liegt eine eidesstattliche Versicherung bei. „Mit der einstweiligen Anordnung möchte ich erreichen, dass ich an meinem Arbeitsplatz und auch meine Eltern und mein Bruder vor ihm sicher sind“, schreibt Anne. „Ich möchte nicht, dass er erfährt, wo ich aktuell wohne. Ich müsste sonst befürchten, dass er auch dort auftaucht und mich bedroht.“ Das Amtsgericht Freiburg im Breisgau glaubt ihr und erlässt „wegen der Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ noch am selben Tag einen Beschluss, der Annes Ex-Partner jeden Kontakt zur ihr und eine Annäherung auf weniger als 50 Meter untersagt.

Ein Gericht stellt also fest: Der Mann ist gefährlich, er muss von der Frau ferngehalten werden, die Sache ist dringlich.

Eine Gerichtsvollzieherin stellt den Beschluss zu, „durch Einlegen in den Briefkasten“, wie es in der Zustellurkunde vermerkt ist.

Und nun?

Kapitel III

Der Vermittler von Annes neuer Wohnung erinnert sich bei der Polizei an einen „absolut“ ungewöhnlichen Termin. Annes Vater habe ihm klargemacht, „dass seine Tochter so schnell wie möglich aus der bisherigen Wohnung und von dem Lebensgefährten weg muss“.

„Man bat uns darum, dass absolut keine Informationen rausgehen dürften, alle Unterlagen nur an den Vater, nichts nach Hause zu Frau Metzger.“

„Frau Metzger war absolut verängstigt.“

Auf dem Foto sitzt ein kleiner junge und lacht. Er spielt mit einem Bagger und trägt eine Kinderbrille.

Noah, geboren am 19. Juni 2013, getötet am 28. Juli 2017. Foto: privat

„Während des Termins fanden mehrere sehr aufgeregte Telefonate statt, in dessen Verlauf auch mal die Äußerung fiel, dass das Kind in Sicherheit sei.“

„Frau Metzger war es absolut wichtig, dass der Schlüsselübergabetermin direkt nach dem Notartermin stattfand. Obwohl das mit den Finanzen noch gar nicht geregelt war. Aber alle gemeinsam haben daran gearbeitet, dass das klappt. Und so fuhr man anschließend zur Wohnung, wo dann Frau Metzger wohl auch noch direkt am gleichen Tag einzog.“

„Frau Metzger äußerte mehrfach, dass sie Angst um ihr Leben habe, da ihr Lebenspartner ja gesagt habe, dass es Krieg gebe, wenn sie auszieht.“

Eine Frau, mit dem Tode bedroht, versucht sich selbst zu schützen.

Ein besonders risikobehafteter Zeitpunkt ist es, wenn der Möbelwagen vorfährt? Mit Annes Auszug am 6. Mai erlebt ihr späterer Mörder den totalen Kontrollverlust. Seine Frau ist weg. Sein Kind ist weg. Die Wohnung in Freiburg wird auch bald weg sein. Er hat keinen Job und kein Geld, seine Frau hat ja alles bezahlt.

An der Ostsee sagt Marianne Harms-Metzger: „Das war für ihn Kontrollverlust hoch zehn.“

Es wäre falsch, den Behörden vorzuwerfen, dass sie Anne nicht zugehört hätten oder ihr nicht geglaubt hätten. Aber nichts von dem, was sie berichtet und zu den Akten gibt, hat Konsequenzen für ihren späteren Mörder. Außer, dass in seinem Briefkasten ein Stück Papier liegt, ein Gerichtsbeschluss.

Bei der Polizei bekam Anne eine Broschüre ausgehändigt: „Opferschutz – Tipps und Hinweise Ihrer Polizei“.

Sie hat ein neues Handy und eine neue SIM-Karte. Sie fährt täglich andere Wege, damit sie nicht so einfach zu verfolgen ist. Sie zeigt ihren Nachbarn und der Tagesmutter Fotos von ihrem späteren Mörder: Meldet euch, wenn ihr ihn hier seht!

Während Anne versucht, sich selbst zu schützen, geht es im Jugendamt darum, den Umgang ihres späteren Mörders mit seinem Kind zu regeln. Es gibt ein gemeinsames Sorgerecht. Auch Anne hat immer wieder betont, dass der Vater sein Kind sehen können soll; vermutlich ahnt sie, dass ein Umgangsverbot die höchste Eskalationsstufe bedeuten würde. Hatte ihr späterer Mörder nicht ihrem Vater geschrieben, dass kein Mensch auf Erden ihm Noah wegnehmen könne? Im Jugendamt geht es um „begleiteten Umgang“. Es gibt ja eine Gewaltschutzanordnung, Noahs Vater gilt als so gefährlich, dass er seine Frau auf keinen Fall treffen darf, wenn er sein Kind sieht. Auch sein Kind soll er nicht allein treffen. Aber treffen können soll er es, der Kinderschutzbund wird hinzugezogen, eine Familienhelferin.

„Warum schützt der Staat einen solchen Mann so?“, fragt Marianne Harms-Metzger, Annes Mutter.

„Das sind häufig keine Taten, die sich völlig überraschend ereignen. Bei vielen zeichnet sich die Tatbegehung ab. Es ist erstaunlich, so individuell alle Taten sind, so sind sich die Fälle doch sehr ähnlich. Natürlich gibt es immer einen Fall, der ganz anders ist. Allerdings ist die große Masse dieser Delikte sehr ähnlich, und sie beinhalten immer wieder die gleichen Elemente. Die Androhung der Tat gegenüber den Opfern selbst und auch gegenüber Dritten beispielsweise. Diese Androhungen stellen teilweise eine Vorwegnahme der Taten dar und sollten als Warnsignal wahrgenommen werden, beispielsweise durch die Polizei. Zu denken, diese Androhungen seien nur so dahergesagt, kann eine Fehlannahme sein; solche Ankündigungen müssen sehr ernstgenommen werden.“

Julia Habermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Ruhr-Universität in Bochum. Sie promoviert mit einer Forschungsarbeit über die Sanktionierung von Partnerinnentötungen im Vergleich zu anderen Tötungsdelikten.

In 95 Prozent der Fälle passiert nichts, sagt der Ehrenmord-Forscher Professor Oberwittler. Das heißt aber, in fünf Prozent der Fälle passiert eben doch etwas. Wenn niemand etwas tut, um das zu verhindern.

Kapitel IV

Seit 20 Jahren gibt es RIGG, das rheinland-pfälzische Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Als erstes Bundesland in Deutschland hat Rheinland-Pfalz ein Hochrisikomanagement geschaffen, zunächst in einigen Modellregionen, mittlerweile im ganzen Land. Immer, wenn die Polizei in einem Fall von häuslicher Gewalt zu einem Einsatz gerufen wird, muss die betroffene Frau einen Fragebogen ausfüllen. Es gibt zwei verschiedene Bögen: ODARA, in Kanada entwickelt, versucht die Rückfallwahrscheinlichkeit des Täters zu ermitteln. DA, das „Danger Assessment“ nach Jacquelyn Campbell, entwickelt in den USA, zielt auf das Tötungsrisiko.

Der Campbell-Fragebogen stellt Fragen wie: „Ist er arbeitslos?“, „Kontrolliert er die meisten oder alle Ihrer täglichen Aktivitäten (z.B. schreibt er Ihnen vor, mit wem Sie befreundet sein können, wann Sie Ihre Familie sehen können, über wie viel Geld Sie verfügen können oder wann sie das Auto benutzen dürfen?)“ oder „Verfolgt er Sie oder spioniert er Ihnen nach, hinterlässt er bedrohliche Nachrichten, beschädigt er Dinge von Ihnen oder ruft Sie an, obwohl Sie das nicht möchten?“ Für jedes „Ja“ gibt es Punkte. Wer 18 Punkte erreicht, gilt als Hochrisikofall. Ein schneller Blick zeigt: Anne hätte vermutlich  20 Punkte oder mehr erreicht.

Polizeioberkommissar Wladimir Karlin arbeitet als „Koordinator für Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ bei der Polizeiinspektion Neustadt an der Weinstraße seit Jahren mit dem Campbell-Bogen. Er sagt, wenn ein Hochrisikofall identifiziert wird, wird die Polizei sofort aktiv: Sie vernimmt die Betroffene, um mehr über den Mann zu erfahren. Und sie nimmt Kontakt zum Mann auf.

Das Herzstück des Hochrisikomanagements sind aber die Fallkonferenzen. Das ist keine feste Runde, berichtet Karlin: Es nimmt teil, wer etwas zum jeweiligen Einzelfall beizutragen hat. Das ist die Polizei. Die Opferschutzbeauftragte. Vielleicht das Frauenhaus. Das Jugendamt. Manchmal die Ausländerbehörde.

Im Fall Anne wäre in einer Fallkonferenz alles auf den Tisch gekommen: die Drohungen, die Kontrolle, das Frauenbild ihres späteren Mörders.

In Baden-Württemberg haben die Akten nach ihrem Umzug von Freiburg ins nahe Teningen aber plötzlich häufig einen anderen Inhalt: „Die Zuständigkeit hat gewechselt“, heißt es nun auf zahlreichen Papieren; ein anderes Jugendamt und ein anderes Familiengericht müssen nun den Fall bearbeiten.

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, eine Gewalttat zu verhindern: Entweder man schützt das Opfer, oder man überwacht den Täter.

Möglichkeit 1, Opferschutz:

Die radikalste und erfolgversprechendste Methode ist es, die gefährdete Frau in ein Zeugenschutzprogramm zu nehmen. Neue Identität, neue Stadt, neue Sicherheit.

„Da wird dann wirklich der Reset-Knopf gedrückt“, sagt ein erfahrener Kripo-Beamter aus Süddeutschland, der solche Zeugenschutzfälle betreut hat. „Das ist von einem Tag auf den anderen ein neues Leben.“

Die Frauen fragten dann oft: Meine Angehörigen darf ich aber noch sehen, oder? Nein. Kontakt zu den alten Schulfreundinnen halten? Nein. Wenigstens das Handy darf ich doch behalten? Nein. „Wir arbeiten dann eine lange Liste ab“, sagt der Kripo-Beamte: Die Steuernummer muss gelöscht werden, die Daten in Melderegister, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Schufa, Vereinsmitgliedschaften, ob Naturschutzbund oder WEISSER RING. „Das wird immer komplexer wegen der vielen Datenverknüpfungen“, sagt der Beamte.

Meistens, sagt er, scheitert diese Möglichkeit aber nicht an der Komplexität, sondern an den betroffenen Frauen. „Wenn sie mit allen brechen sollen, sind die meisten Frauen wieder raus.“

Mitunter hilft aber auch schon  die schnelle temporäre Herausnahme der Frau. Zum Beispiel bei den „typischen Eskalationsereignissen“, wie Karlin sie nennt: bevorstehender Scheidungstermin, Bekanntwerden eines neuen Lebenspartners, Verkauf des Hauses nach der Trennung, Zwangsversteigerung. Man bringt die Frau vorübergehend in einem Frauenhaus unter, vielleicht weit genug entfernt in einem anderen Bundesland – wenn es denn einen Platz für sie gibt, es gibt ja viel zu wenige Frauenhausplätze in Deutschland. Vielleicht kann auch eine Ferienwohnung angemietet werden. Möglich ist das, es gibt ein Zeugenschutzkoordinierungsprogramm zwischen den Bundesländern. „Manchmal glätten sich in dieser Zeit die Wogen“, sagt der Beamte aus Süddeutschland: Die Lebenssituation ändert sich, der Mann lässt sich vielleicht in einer Klinik behandeln, er hat eine neue Freundin.

Möglichkeit 2, Täterüberwachung:

Rechtlich gibt es da enge Grenzen, in Deutschland darf die Polizei aus gutem historischen Grund niemanden einfach so auf Verdacht einsperren.

„Ein vielfach leider noch unterschätztes Mittel ist die Gefährderansprache, eine sehr konfrontative Gefährderansprache. Diese Leute denken nur bis zur Tat und haben oft einen Tunnelblick. Die haben überhaupt keinen Anschlussplan. Ähnlich wie Gefängnisausbrecher, die nur bis zum Gefängnistor denken. Manche rudern nach einer Gefährderansprache total zurück und kommen in die Defensive.“

Uwe Stürmer

Polizist Wladimir Karlin hält ebenfalls viel von der Gefährderansprache. Dem Mann wird deutlich klargemacht, welche Konsequenzen sein Tun haben kann – wenn er sich zum Beispiel nicht an ein  Annäherungsverbot hält. „Diese Trennung der beiden  ist wichtig“, sagt Karlin, „sonst zieht die Frau oft unter Druck des Mannes ihre Aussage wieder zurück.“

Er wirbt aber auch dafür, „flexibel“ auf den Mann einzuwirken. So könne es zum Beispiel in manchen Fällen helfen, den Iman hinzuzuziehen, wenn der Mann ein religiöser Moslem sei.

In Spanien gibt es seit vielen Jahren elektronische Armbänder, mit denen gewalttätige Männer überwacht werden können. Nähern sie sich der Frau, geht ein Signal bei der Frau und bei der Polizei ein.

Sarah Rahe ist im Frauenministerium in Mainz die zuständige Referatsleiterin für Gewaltprävention und Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Sie sagt: „Wir machen so viele Fallkonferenzen wie möglich. Aber eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.“

Hessens Justizminister Professor Roman Poseck (CDU) in einem blauen Anzug.

„Wir dürfen den Datenschutz nicht über den Opferschutz stellen“

Hessens Justizminister Professor Roman Poseck (CDU) hält die elektronische Fußfessel für ein wirksames Mittel, um Frauen besser vor Männergewalt zu schützen. Ein Interview.

2019 gab es in Rheinland-Pfalz 519 Fallkonferenzen in 448 Fällen. Das Land hat das Projekt durch die Universität Koblenz-Landau evaluieren lassen. Ergebnis: Durch die Fallkonferenzen konnte das Risiko, dass eine Frau erneut Gewalt durch ihren Mann erleidet, knapp halbiert werden. Auch Polizist Karlin ist überzeugt von dem Konzept: „Sicherlich können wir nicht alles verhindern. Aber wir können die Gewalt reduzieren.“ Sarah Rahe sagt, natürlich gebe es immer wieder Enttäuschungen: „Man denkt, die Frau ist raus aus der Gewaltbeziehung – und dann geht sie doch wieder zum Partner zurück.“ Klar ist: Ohne das Einverständnis der Frau geht gar nichts.

Ob Annes späterer Mörder eine Gefährderansprache erhielt, kann die Polizei in Freiburg heute nicht mehr mit Gewissheit nachvollziehen. Einen Risikoanalyse-Fragebogen gab es für Anne nicht, in Baden-Württemberg arbeitet die Polizei erst seit 2021 flächendeckend mit ODARA.

„Mir fehlten irgendwann die Worte, und ich konnte nur noch weinen oder wütend sein“, notiert Anne vor ihrem Tod.

 

Kapitel V

Gefährlich für Frauen sind Männer. Ihre eigenen Männer. Ex-Männer. Gibt es darunter Männer, die gefährlicher sind als andere? Diese Frage zielt auf eine dritte Möglichkeit, Frauen zu schützen: Gibt es Männer, die man präventiv in den Blick nehmen kann? Aufgrund besonderer Merkmale? Rechte Kreise, etwa die AfD, denken dabei vor allem an ein Merkmal: die Herkunft des Mannes.

„Warum Männer ihre Frauen umbringen: Der Migrationshintergrund ist ein Faktor – aber nicht der einzige“, titelte erst in diesen Tagen das Schweizer „Tagblatt“. Im Fall Anne und Noah verweisen mehrere Zeugen bei den Berichten über das Kontrollverhalten des Mörders auf seinen Migrationshintergrund. Marianne Harms-Metzger, Annes Mutter, meint, die Behörden hätten entsprechende Warnsignale ignoriert: das Aufwachsen des späteren Mörders in einer gewalterfahrenen Region, seine Religion, seine zunehmende Religiosität. Nicht lange vor der Tat hatte er sich eine Gebets-App auf sein Handy geladen.

Auf dem Bild ist eine Wiese mit Bäumen. Darauf steht eine circa 60-jährige junge Frau. Sie ist die Mutter der getöteten Frau. In Deutschland kommt es wöchentlich zu mehreren Femiziden.

Marianne Harms-Metzger, Noahs Großmutter und Annes Mutter. Foto: Karsten Krogmann

Als das evangelische Magazin „Chrismon“ 2019 über den Fall Anne und Noah berichtete und dabei vorsichtig auch die Frage nach der Herkunft des Mörders bewegte, gingen zahlreiche Leserbriefe in der Redaktion ein. Leser empörten sich über „Hetze“ und „Fremdenfeindlichkeit“. Marianne Harms-Metzger empört sich wiederum über die Briefe: „Da ist ein Mord passiert!“, sagt sie. „Darüber sollten sich die Menschen empören!“

Was sagen die Fachleute?

„Zwei Drittel der Tatverdächtigen bei Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge innerhalb von Partnerschaften haben die deutsche Staatsangehörigkeit, ein Drittel nicht. Wobei nicht erfasst wird, ob unter den Deutschen noch Menschen mit Migrationshintergrund sind. Richtig ist, dass der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger bei der Partnerschaftsgewalt gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil höher ist als der Anteil der Deutschen.“

Dr. Christian Walburg, Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster, Rechtswissenschaftler

In absoluten Zahlen relativiert sich die statistische Auffälligkeit. Zwei Beispiele: Neun Afghanen waren laut Polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2020 tatverdächtig, ihre (Ex-)Frauen in Deutschland getötet zu haben, von rund 297.000 Afghanen, die hier leben. Vier Syrer zählten zu den Verdächtigen, von rund 770.000 Syrern, die hier leben.

Wie soll ein Staat mit dieser Information Frauen besser schützen?  Und welche vorbeugenden Maßnahmen soll er aus der Information ableiten, dass die meisten Tatverdächtigen, nämlich 98, Deutsche sind?

„Natürlich ist das Rollenbild der Frau und des Mädchens, sind die Menschenrechte insgesamt in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt. Aber ich möchte auch davor warnen, das Problem alleine auf bestimmte Kulturkreise zu reduzieren. Wenn ich in kommunale Gremien komme, fragen bestimmte Vertreter oft, ob der Täter ein Deutscher war. Und wenn es dann ein Deutscher war, dann interessiert die Nationalität plötzlich nicht mehr. Wenn es aber ein Ausländer war, dann kommt die „bekannte Platte“. Deshalb warne ich davor, nur zu schauen: Was für einen Pass hat der Täter? Viel wichtiger sind Fragen wie: In welchen sozialen Verhältnissen lebt er? Mit welchen Wertvorstellungen ist er aufgewachsen? Das können Sie aber nicht aus der Kriminalstatistik herauslesen, die ja nur die Nationalität ausweist.“

Uwe Stürmer

„Es ist zu einfach: Ein soziodemografisches Merkmal allein soll uns jetzt erklären, warum ein Täter diese Tat begangen hat. Das führt zu nichts. Es steht doch auch im Deutschen Pressekodex: Hat die Nationalität eine Bedeutung für die Tat? Ich würde das verneinen. Bedeutend für die Tatbegehung ist das patriarchale Denken des Täters und sein Wunsch, Macht und Kontrolle über die Frau auszuüben; ihr Verhalten zu kontrollieren. Femizide werden auch von Deutschen ohne Migrationshintergrund begangen.“

Julia Habermann

„Tötungsdelikte auf dem Hintergrund von Paarkonflikten ereignen sich in allen Bildungs-, Einkommens- und Erwerbsgruppen. Es lassen sich weder Zusammenhänge zu Nationalität bzw. Migrationshintergrund noch zu psychosozialen Auffälligkeiten der Tatbeteiligten wie beispielsweise Alkohol- und/ oder Drogenkonsum, psychischen Krankheiten oder krimineller Vorbelastung identifizieren. Entsprechend tragen derart statische Risikofaktoren auch nicht zur Vorhersage eines Tötungsdeliktes bei.“

Prof. Dr. Luise Greuel, Psychologin, Rektorin der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen, Leiterin Forschungsprojekt „Gewalteskalationen in Paarbeziehungen“ für das Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung

„Es gibt immer mal wieder die Forderung, den Migrationshintergrund in die Kriminalstatistik mit aufzunehmen. Nach der Innenministerkonferenz 2008 hat man Pilotprojekte gestartet, unter anderem in Berlin. Am Ende hat man sich dagegen entschieden. Das hat auch ganz praktische Gründe, nämlich die Frage: Wie definiert man den Migrationshintergrund? Reden wir über einen Afghanen, der gerade nach Deutschland gekommen ist, oder über die vierte Generation der Gastarbeiter? Wie weit geht man da zurück – bis in die dritte oder die vierte Generation? Was ist bei binationalen Elternschaften?“

Dr. Christian Walburg

Letztlich, da sind sich die Wissenschaftler einig, fehlt es an Forschung. Das Wissen über die Täter und über ihre jeweilige Vorgeschichte ist schlicht nicht ausreichend. Die Kriminalstatistik erfasst allein ihre Nationalität. Annes Mörder wird dort als Deutscher geführt.

Bei RIGG gehen die Verantwortlichen pragmatisch mit der Herkunftsfrage um, sie schauen auf den Einzelfall. „Wenn der Täter aus einem gewaltbereiten Umfeld kommt oder Zugang zu Waffen hat, ist das natürlich wichtig für die Fallbesprechung“, sagt Sarah Rahe im Mainzer Ministerium. Polizeioberkommissar Wladimir Karlin hat „ein anderes Verständnis von Ehre und ein anderes Frauenbild“ bei manchen Männern zum Beispiel aus dem arabischen Raum beobachtet. Danach fragt keine Frage im Campbell-Fragebogen, aber, so Karlin: Bei der Zuweisung zu einer  Hochrisiko-Fallkonferenz werde auch der Punkt „Extreme Vorstellung von Ehre“ berücksichtigt. „Und für uns spielt das  natürlich eine  Rolle bei der Frage, wie wir an die Männer herantreten. Wir wollen sie schließlich erreichen.“

Kapitel VI

Als Annes und Noahs Mörder nach den Messerstichen aus dem Auto ausstieg, verzog er keine Miene. Unbeteiligt sah er aus, emotionslos, sagten Zeugen übereinstimmend. Widerstandslos ließ er sich wenig später von der Polizei festnehmen. Emotionslos nahm er auch die Nachricht auf, dass Frau und Kind im Krankenhaus verstorben seien.

Das Landgericht Freiburg verurteilte ihn im Juni 2018 wegen Mordes an Anne und wegen Totschlags an Noah zu einer lebenslangen Haftstrafe, die besondere Schwere der Schuld erkannte es an. Das Urteil ist 40 Seiten lang. Es sind 40 Seiten, die sich allein mit dem Täter beschäftigen: die nach Erklärungen suchen, warum er die Tat begangen hat, ja, nach Entschuldigungen. Das Gericht kommt auf den 40 Seiten zu Ergebnissen:

  • Der Mörder wollte gar nicht morden, er wollte eigentlich sein Kind entführen. (Ermittlungsbehörden und der psychiatrische Gutachter schätzten das anders ein als das Gericht, sie  gingen von einer Tötungsabsicht aus).
  • Seine Hemmschwelle, Anne zu töten, war „dadurch herabgesetzt, dass er durch das Scheitern der Beziehung narzisstisch gekränkt war“.
  • Das Kind tötete er, weil durch den Befreiungsversuch eines Zeugen sein Entführungsplan gescheitert war.

Anne, „still-klug“ und liebenswert. Noah, der so schwer ins Leben fand und dann einfach so wieder herausgerissen wurde. „Niemand hat sich vor Gericht dafür interessiert, wer die beiden waren“, sagt Marianne Harms-Metzger, Annes Mutter und Noahs Großmutter. „Es ging nur um diesen Mörder.“

Die letzte Ruhestätte von Anne und Noah. Foto: Karsten Krogmann

Kapitel VII

In ihrem Haus oben im Norden hängen etliche Fotos an der Wand. Sie zeigen die junge Anne mit Kätzchen, Pferd und Freundin, die ältere Anne mit Noah. Sie zeigen Anne fröhlich, ernsthaft, ausgelassen, nachdenklich. Sie zeigen Noah lachend, spielend, schlafend, neugierig. Anne wäre jetzt 43. Noah wäre acht.

Angenommen, Anne wäre als Hochrisikofall bewertet worden und die Behörden hätten sie „rausnehmen“ wollen, wie die Fachleute es nennen: neue Identität, neue Stadt, neues Leben, natürlich mit Noah. Hätte Anne das mitgemacht?

Marianne Harms-Metzger ist sich sicher: „Anne wollte leben!“