Die Visionärin
Noch gehört Lea Gärtner mit ihren 34 Jahren zu den Jungen Mitarbeitenden des WEISSEN RINGS, ist aber schon seit mehr als zehn Jahren im Verein aktiv und mittlerweile stellvertretende Landesvorsitzende in Hessen. Gärtner hat in der Zeit viel bewegt.
Lea Gärtner (34) in ihrem Haus in Offenbach. In ihrer Freizeit liest sie gerne, um mit den Gedanken in eine andere Welt zu tauchen.
Es ist einer dieser wechselhaften Sommertage. Noch scheint die Sonne durch die großen Fenster von Lea Gärtners Haus in Offenbach, bald werden jedoch dunkle Wolken aufziehen. Die Temperatur wird
drastisch fallen und literweise Wasser vom Himmel stürzen. Das strahlende Lächeln von Gärtner hingegen wird nicht verschwinden. Sie ist eine fröhliche Person.
Ihr erster Berufswunsch war Springreiterin. „Wie jedes Mädchen, das reitet“, sagt Lea Gärtner und lacht. Bei diesem Berufswunsch blieb es nicht, es kamen weitere hinzu: Ärztin, Anwältin … Heute hat die 34-Jährige einen Doktor in Politikwissenschaft und arbeitet im Bereich generative künstliche Intelligenz (KI). Dass sie einen eher wissenschaftlichen und technischen Weg einschlagen würde, war jedoch zunächst nicht zu erkennen.
„Als ich 14 Jahre alt war, fing ich an, in der Kanzlei meines Nachbarn zu jobben. Später, als es nicht mehr unseriös war, durfte ich sogar ans Telefon gehen“, sagt Gärtner. Lange ging sie diesen Weg weiter, wollte Anwältin werden, im ersten Jura-Semester kam dann aber die Erkenntnis: Es langweilte sie. Also studierte die Offenbacherin Politikwissenschaften.
Unergiebig war die Zeit in der Juristerei aber nicht, da sie dadurch zum WEISSEN RING kam. „Die Kanzlei war auf Familienrecht spezialisiert und da wird es schnell hässlich: Scheidung, Vorwürfe der häuslichen Gewalt und Sorgerechtsstreit. Rechtsanwälte können in ihrem Gebiet helfen, aber Betroffene haben viele Baustellen und da braucht es ebenfalls Leute, die helfen“, sagt Gärtner. Es gab nicht den einen Fall, dessentwegen sie beschloss, zum WEISSEN RING zu gehen. Es war die Masse an Fällen, bei denen sie sich dachte: „Es muss doch was passieren.“
Unvergessliche Fälle
Angefangen hat sie in der Opferbetreuung. Aus dieser Zeit sind ihr vor allem zwei Fälle in Erinnerung geblieben. „Es war zur Weihnachtszeit, wir waren knapp besetzt. Da kam eine Frau auf uns zu, die in der Vergangenheit sexualisierte Gewalt durch ihren Expartner erlebt hatte“, erzählt Gärtner. Nachdem Jahre vergangen waren, stand er wieder in ihrem Treppenhaus. Nicht weil er sie verfolgte, sondern weil er in die Wohnung über ihr zog. „Er konnte sich an die Tat nicht erinnern, es war wohl Alkohol im Spiel. Es gab kein Verfahren und wir hatten nichts gegen ihn in der Hand“, so Gärtner. Sie kontaktieren die Hausverwaltung. „Am Ende zog er nach einem Gespräch mit der Polizei freiwillig aus – das bestärkte mich darin, dass er wirklich nicht wusste, dass das, was er getan hat, sexualisierte
Gewalt war“, sagt Gärtner. Sie selbst habe es sehr ermutigt zu sehen, wie die Betroffene sich in der Zeit entwickelte, Erleichterung verspürte und ihr Leben weiterlebte.
Weniger glücklich denkt Gärtner an den zweiten Fall zurück. Es ging um sexualisierte Gewalt durch einen Zwölfjährigen an seiner fünfjährigen Schwester. Sie erlebte eine enorme Belastung zwischen dem Leid des Opfers, der Verzweiflung der Mutter und ihrer eigenen Hilflosigkeit. Die pragmatische Haltung des Kollegen half kurzfristig. „Ich konnte kurz durchatmen, und wir konnten auf der Sachebene helfen, aber nicht mehr tun. Da wird es niemals ein Happy End geben“, erinnert sich Gärtner, noch heute sichtlich berührt. Trotz Supervision und Gesprächen im Team betreute sie danach keine Fälle mehr, bei denen Kinder die Opfer waren.
„Für uns Junge Mitarbeitende ist das eine Herzensangelegenheit und ein superwichtiges Thema“
Lea Gärtner
Lea Gärtner ist nach mehr als zehn Jahren nicht mehr aus dem Verein wegzudenken. Sie engagiert sich in der Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie hält Vorträge an Schulen, gibt Medien Interviews und beteiligt sich auch an Social-Media-Formaten wie Instagram-Reels. Mittlerweile ist sie stellvertretende Landesvorsitzende in Hessen. In dieser Funktion bildet sie neue ehrenamtliche Mitarbeitende aus, außerdem ist sie Jugendbeauftragte und betreut die Jungen Mitarbeitenden.
Auch trifft man sie an Infoständen auf großen Veranstaltungen wie dem Christopher Street Day (CSD). Die jährlich stattfindende Demonstration kämpft für die Rechte von Homosexuellen, trans Personen
und queeren Menschen. „Für uns Junge Mitarbeitende ist das eine Herzensangelegenheit und ein superwichtiges Thema“, sagt Gärtner. Der WEISSE RING schreibe sich auf die Fahne, Opfern von Straftaten zu helfen, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder Orientierung. „Dadurch gehört für mich dazu, dass wir auf Menschen, die beispielsweise aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Opfer einer Straftat werden, anders eingehen“, sagt sie. Wird eine homosexuelle oder trans Person angegriffen, dann sei dies ein Angriff auf ihre Identität. „Der WEISSE RING sollte daher geschlechtergerechte Materialien anbieten, bei der Betreuung von Betroffenen auf die richtigen Pronomen achten, unabhängig von unserer persönlichen Meinung. Das ist unsere Aufgabe, und wer das nicht kann, sollte nicht helfen“, macht Lea Gärtner deutlich.
Ihre starken Meinungen und ihr damit einhergehendes Selbstbewusstsein kommen im Gespräch immer wieder durch. Sie muss nicht lange überlegen, um die richtigen Worte zu finden. Man merkt ihr an, wie viel Erfahrung sie im Opferschutz hat und wie lange sie den Werdegang des WEISSEN RINGS begleitet.
Kein Stehenbleiben
„Wir sollten uns als Verein weiterentwickeln, neue und junge Mitarbeitende gewinnen und dürfen nicht stehenbleiben“, fordert Gärtner. Sowohl auf politischer als auch auf technischer Ebene gelte es, eine Balance zu finden zwischen finanziellen Möglichkeiten und dem, was man Ehrenamtlichen an Veränderungen zumuten könne. „Das ist ein spannendes Feld, in dem sich viel bewegen wird“, sagt Gärtner. Ab 35 Jahren darf sie die Jungen Mitarbeitenden nicht mehr betreuen. „Was mich aber weiter im Verein halten wird, ist sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die Möglichkeit, mich dort weiterzuentwickeln“, sagt Gärtner. So werde es nie langweilig. Sie blickt positiv in die Vereinszukunft, mit vielen neuen Mitarbeitern. Ihr Ziel: Neue Antworten auf alte Fragen zu finden, um Opfern weiterhin effektiv helfen zu können.
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