Aus dem Schatten ins Licht

Drei Jahre soll Stephane als Kind von einem Mann aus dem Umfeld seiner Familie missbraucht worden sein, im Sommer, auf demselben Campingplatz. Er zog viele Jahre später vor Gericht und gewann. Warum Stephane öffentlich darüber sprechen möchte und welche Rolle die Französin Gisèle Pelicot dabei spielt, erzählt er im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin.

Kindesmissbrauch vor Gericht
Kindesmissbrauch vor Gericht

Ein gewöhnlicher Sommertag. Stephane war zwölf Jahre alt und verbrachte seine Zeit auf dem Campingplatz, bei dem seine Eltern und auch ein Freund von ihnen, Michael Michels (Name geändert), Parzellen gemietet hatten. Michels ging mit dem Jungen zu einem nahe gelegenen Badesee, sie legten sich auf Handtücher an einem abgelegenen Strandabschnitt, und der Zwölfjährige las einen Kinderkrimi. So erinnert Stephane sich. Kurz darauf sei es zum ersten sexuellen Missbrauch gekommen.

Michels soll den Jungen mit Sätzen wie „Das ist vollkommen normal!“ manipuliert und zu sexuellen Handlungen gebracht haben. Was genau geschehen sein soll, ist der Redaktion aus Gerichtsunterlagen bekannt, aufgrund der Privatsphäre des Betroffenen werden keine Details genannt.

„Meine Geschichte zeigt, wie Täter arbeiten – als würden sie einem IKEA-Bauplan folgen“, sagt der heute 25-Jährige. Deshalb sei es ihm wichtig, sich öffentlich zu äußern. Er brauche sich nicht zu verstecken, möchte mit seinem Gesicht dafür stehen, dass man als Betroffener über den Missbrauch sprechen muss. „Egal ob während eines Missbrauchs oder Jahre danach. Man muss reden, sich jemandem anvertrauen“, sagt Stephane.

Für das Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin hat er ein Waldstück ausgewählt. In der Natur fühle er sich wohler als in einem Raum. Er zündet sich eine Zigarette an und beginnt, seine Geschichte zu schildern: Er sei ein aufgebrachtes Kind mit ADHS gewesen, habe Ärger in der Schule und daheim gehabt, sei nicht gut sozialisiert gewesen. Michels habe sich um ihn gekümmert.

Drei Sommer, unzählige Übergriffe

Es sei nicht bei einem sexuellen Übergriff geblieben, sondern insgesamt drei Jahre gelaufen, immer wenn Stephane auf dem Campingplatz gewesen sei. Die Eltern hätten ihren Sohn Michels anvertraut, sagt Stephane. Vorwürfe mache er ihnen nicht, sie hätten es nicht besser gewusst.

In der Zeit sei Michels seine Bezugsperson gewesen. „Ich fing an, mich unwohl zu fühlen, ohne zu wissen warum“, blickt Stephane zurück. Als er älter wurde, habe er angefangen nachzudenken: „Mir wurde ab einem Zeitpunkt klar: Wenn das jemand mitbekommt, dann wirft das ein schlechtes Bild auf den Täter. Außerdem ging es nicht nur um mich und ihn, sondern auch um die Beziehung, die er zu meiner Familie hatte – da hing so viel mit hintendran“, sagt Stephane.

Heute sei für ihn klar, dass es an Aufklärung gefehlt habe: „Wir haben in der vierten Klasse ein Kondom über einen Holzpenis gezogen, aber wussten nicht, was mit unserem eigenen Körper ist.“ Eine frühe Sensibilisierung für Körper und Sexualität hätte sicher dazu beitragen können, ihn damals seinen eigenen Wert erkennen zu lassen.

„Egal ob während eines Missbrauchs oder Jahre danach. Man muss reden, sich jemandem anvertrauen.“

Täter nutzen ihre Macht aus

Jährlich kommt es zu Tausenden Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch. Im vergangenen Jahr registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) 16.354 Fälle bei Kindern sowie 1.191 Fälle bei Jugendlichen. Nach Angaben der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, wird in etwa 90 Prozent der Fälle der sexuelle Missbrauch durch Männer oder männliche Jugendliche ausgeübt. Es sei aber davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt werde, weil ihnen solche Taten weniger zugetraut würden.

Den Angaben zufolge nutzen Täter ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten Minderjähriger zu befriedigen, die sexuellen Handlungen nicht zustimmen könnten. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geschieht meistens im familiären oder sozialen Umfeld.

Es sei keine Vergewaltigung gewesen

Stephane legt Wert darauf, dass nicht von einer Vergewaltigung die Rede ist. „Ich wünschte, ich wäre vergewaltigt worden, dann wären die Schuldgefühle vielleicht nicht gewesen“, sagt er. Der 25-Jährige ist homosexuell, was ihm als Kind noch nicht bewusst gewesen sei, aber dazu geführt habe, dass ihm der sexuelle Kontakt nicht gänzlich missfallen habe. Er habe lange gebraucht, den sexuellen Missbrauch auch als einen solchen anzuerkennen.

 

Kindesmissbrauch vor Gericht
Kindesmissbrauch vor Gericht

Stephane muss sich nicht verstecken, er spricht offen über seine Geschichte.,

Stephane ist überzeugt: Ein weiterer Grund, warum er erst spät realisiert habe, was damals geschehen sei und welche psychischen Auswirkungen das auf ihn gehabt habe, sei seine ADHS-Erkrankung gewesen. Sein Verhalten habe sich in der Zeit des Missbrauchs geändert, er sei aggressiver, gereizt gewesen. Sein Umfeld und auch er hätten das auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung geschoben. Aber, so Stephane: „Es ist auch ein strukturelles Problem. Bei mir war es ADHS, was ist aber bei Menschen mit Behinderung? Durch Vorerkrankungen wird schnell etwas übersehen.“ Am Ende habe ihm eine Therapie geholfen, seine „Schuld“ abzulegen und zu verstehen, welche Symptome auf welche Ursachen zurückgingen.

Die beschriebenen Verhaltensänderungen kommen nach Einschätzung der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und  Jugendlichen häufig vor: Aggressivität, Leistungsabfall, Rückzugstendenzen, Konzentrationsschwäche oder sexualisiertes Verhalten.

Die Scham muss die Seite wechseln

Die psychologische Hilfe trug dazu bei, dass Stephane sich entschloss, Michels anzuzeigen. Unterstützt wurde er dabei auch vom WEISSEN RING. Thomas Franz, der stellvertretende Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, war sowohl sein betreuender ehrenamtlicher Mitarbeiter als auch sein Rechtsanwalt und half ihm, den Prozess durchzustehen.

Zuvor sei es zu einem Konflikt zwischen Stephane und Michels gekommen. „Ich war der Meinung, er soll für meinen Aufenthalt in der Psychiatrie zahlen, schließlich war es seine Schuld, also warf ich die Rechnung mit meiner Diagnose vom Arzt in seinen Briefkasten“, so Stephane. Michels reagierte darauf mit einem achtseitigen Brief. Er bestritt darin den sexuellen Kontakt nicht komplett, gab aber Stephane, der damals der Initiator gewesen sein soll, die Schuld. Der Brief liegt der Redaktion des WEISSER RING Magazins vor.

Während der Verhandlung hielt der Angeklagte an dieser Version fest und wies die Tatvorwürfe zurück: Stephane habe sich ihm genähert, was er abgewehrt habe. Außerdem soll Stephane ihm gedroht haben zu behaupten, er werde von ihm missbraucht.

Kindesmissbrauch Tatort: Ein Campingplatz in Deutschland
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Strandabschnitt an einem See
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Wohnwagen auf einem Campingplatz
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Waldweg
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Wohnwagen
Kindesmissbrauch Tatort: ein abgelegener Badesee
Missbrauch: Drei Jahre, drei Sommer, immer auf einem Campingplatz und an einem See.

Das Gericht kam zu einem klaren Schluss: Ein Kind besitze nicht die Fähigkeit der sexuellen Selbstbestimmung. Die Aussage von Michels wird im Urteil als Schutzbehauptung gewertet: „Sie wird widerlegt durch die glaubhaften Angaben des Nebenklägers, die nicht nur in sich stimmig sind, sondern auch durch die anderen Zeugenaussagen gestützt werden.“ Auch das aussagepsychologische Gutachten über Stephane stützt seine Glaubwürdigkeit. Darin heißt es: „Alles in allem finden sich also eine Vielzahl an Qualitätsmerkmalen, die eher für einen Erlebnisbezug sprechen, vor allem im Hinblick auf Schemaabweichungen und dem Fehlen strategischer Selbstpräsentation.“

Das Gericht verurteilte Michels zu sechs Jahren Haft. Stephane freut sich darüber, dass das Gericht verstanden habe, was ihm passiert sei. Befriedigt habe ihn das Urteil dennoch nicht: „Ich möchte eine Entschuldigung und Einsicht von ihm – das kann mir kein Gericht geben“, sagt er.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, Michels hat Revision beantragt. Der Generalbundesanwalt hat im November beantragt, die Revision zu verwerfen, da sie unbegründet sei. Noch steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den Vorwürfen antwortete der Verteidiger: „Wir werden uns zu dem nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht weiter äußern.“

Das Gerichtsverfahren war öffentlich, so wie auch der berühmte Vergewaltigungsprozess von Avignon. Gisèle Pelicot, das Vergewaltigungsopfer, hatte damals den Satz gesagt: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Dieser Satz prägte Stephane: „Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an diesen Spruch denke“, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Pelicot habe ihm damals die notwendige Kraft gegeben. „Wofür soll ich mich schämen? Für gar nichts!“

Nach zwei Stunden sind die Zigaretten aufgeraucht, die Sonne geht allmählich unter, Kälte steigt auf. Zeit für den Weg zurück. Er sieht sich nicht als Opfer, betont Stephane. Er sei ein Überlebender.

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ sagt Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot. Aber geht das überhaupt?