Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

“Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Erstellt am: Dienstag, 14. Januar 2025 von Sabine

Foto: Helmut Fricke/dpa

Datum: 14.01.2025

“Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Die neue Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Barbara Richstein, fordert ein klares Eintreten gegen Antisemitismus.

Mainz – Jüdisches Leben befindet sich nach Einschätzung des WEISSEN RINGS in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit der Menschen im Land. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza sei die Zahl der antisemitischen Straftaten sprunghaft gestiegen, teilte der WEISSE RING der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Mainz mit.

„Dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen, empört mich und stimmt mich tieftraurig“, sagte die neue Bundesvorsitzende von Deutschlands größter Opferschutzorganisation, Barbara Richstein.

WEISSER RING fordert Eintreten gegen Antisemitismus 

Viele Angehörige der jüdischen Gemeinschaft dächten darüber nach, auszuwandern – aus Angst vor Gewalt. „Im Kampf gegen die zunehmende gesellschaftliche Verrohung muss das Eintreten gegen jeden Antisemitismus an erster Stelle stehen, ganz egal, ob der von rechts, von links oder aus dem islamistischen Spektrum kommt.“

Die CDU-Politikerin aus Brandenburg hat mehrere Jahre in Israel gelebt und ist seit November dieses Jahres auch stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg.

Deutlich mehr antisemitische Straftaten 

Die Polizei stellt von Jahr zu Jahr mehr rechtsextreme Straftaten fest. 2024 waren dem Bundesinnenministerium zufolge mehr als 33.000 rechtsextreme Straftaten verübt worden, mehr als jemals seit Beginn der Erhebungen 2001.

Die Polizei habe 2024 bis September mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum, berichtete der WEISSE RING. Das Spektrum reiche von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zu Terror.

Dem Bundeskriminalamt seien im Kontext des aktuellen Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 rund 10.770 Straftaten (Stand 8. Januar 2025) über die Länder gemeldet worden, teilte ein Sprecher in Wiesbaden mit. Davon seien 4.300 Straftaten als antisemitisch motiviert eingestuft worden. Schwerpunkte waren Sachbeschädigungen, Propagandadelikte und Volksverhetzungen.

„Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik“

Erstellt am: Freitag, 29. November 2024 von Torben

„Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik“

Vor einem Jahr veröffentlichte der WEISSE RING an dieser Stelle unter der Überschrift „Hass von allen Seiten“ seinen ersten Antisemitismus-Report – als Reaktion auf den wachsenden offenen Judenhass in Deutschland nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023. Weil der antisemitische Flächenbrand weiter wütet, hat unser Autor Michael Kraske jetzt einen zweiten Antisemitismus-Report geschrieben. Sein erschreckender Befund: Jüdisches Leben befindet sich in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit im Land.

Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor ihrer ersten Vorlesung im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastprofessur bei einer Pressekonferenz. Foto: dpa

Als sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel mit seinen Massakern zum ersten Mal jährt, meldet sich Charlotte Knobloch (Foto oben), 92 Jahre alt, mit einem bemerkenswerten Statement zu Wort. Knobloch war vor einigen Jahren Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie ist mit ihren Reden und Mahnungen bis heute eine der profiliertesten jüdischen Stimmen im Land. Der 7. Oktober 2023 habe „die jüdische Geschichte in ein Davor und Danach geteilt“, schrieb sie auf der Internet- Plattform X. „Wir leben seither in einem Dazwischen, in dem das Leben zwar weiterläuft, aber ohne Sicherheit und ohne einen festen Rahmen.“ Charlotte Knobloch verleiht in ihrer digitalen Botschaft einer Erschütterung Ausdruck, die aufhorchen lässt: „Wir haben noch unsere Synagogen und Gemeindezentren, unsere Wohnungen und Rückzugsorte. Aber das Grundvertrauen, auf dem sie einst standen, haben viele verloren.“ Zwar habe sie seither durchaus Beistand erfahren, doch dränge sich ihr der Eindruck auf, „dass allen Freunden ein noch größerer Block von Indifferenten und Hassern gegenübersteht“.

Und dann räumt diese Grande Dame, die mit ihren Einwürfen und Einlassungen immer wieder wichtige Orientierung in deutschen Debatten bietet, ein, dass sie angesichts der herrschenden Zustände nicht weiterwisse: „Wie dieses Zusammenleben aber aussehen soll mit denen, die unser Leben fundamental ablehnen, darauf weiß ich keine Antwort.“

Viel ist passiert, seit Hamas-Terroristen vor einem Jahr geplant und systematisch jüdische und israelische Opfer vergewaltigten, Kinder und Alte massakrierten, insgesamt etwa 1.200 Menschen ermordeten und über 200 Zivilisten als Geiseln nach Gaza verschleppten. Videoclips haben die Botschaft antisemitisch motivierter Vernichtung über den Erdball verteilt und damit den Hass auf Juden befeuert. Ein Jahr später befanden sich Medienangaben zufolge noch immer 97 Geiseln in der Gewalt der Terrororganisation. Israel ist weiterhin Ziel von massiven Raketenangriffen, zuletzt auch aus dem Iran.

Menschen nehmen im Oktober an einer Pro-Palästina-Demonstration am Alexanderplatz in Berlin teil. Foto: Fabian Sommer/dpa

Seit dem Terrorangriff führt die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu einen erbarmungslosen Krieg gegen den Terror der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon, der bereits Tausende Todesopfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat. Die israelische Armee hat mit ihren Bombardements im Gaza-Streifen schwere Verwüstungen angerichtet. Beobachter berichten von einer humanitären Katastrophe für die Zivilbevölkerung durch massenhafte Flucht und Hunger. Südafrika warf Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vor, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen, was Israel mit dem Hinweis auf die Terrororganisation Hamas, die ihre Bürger als menschliche Schutzschilde benutze, zurückweist. Bis zu einem Urteil könnten Jahre vergehen. Der Chefankläger am IStGH, Karim Khan, erkennt derweil auf beiden Seiten Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Brite beantragte nicht nur gegen drei Hamas-Köpfe, sondern auch gegen Israels Premier Netanjahu und dessen mittlerweile entlassenen Verteidigungsminister Yoav Gallant Haftbefehle, die sich auf die Art der israelischen Kriegsführung beziehen.

Die Eskalation im Nahen Osten hält die Welt in Atem – und sie ist auch auf deutschen Straßen spürbar. Mit propalästinensischen und israelsolidarischen Demos. Mit maximaler Polarisierung und wenig Raum für eine Differenzierung, die sowohl den islamistischen Terror gegen Juden geißelt als auch das palästinensische Leid durch den Krieg anerkennt. Nicht zuletzt sind die Folgen des Terrors und der darauffolgenden Kriege in Deutschland mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen für die terroristische Hamas und einem enthemmten Antisemitismus spürbar, der sowohl auf Straßen als auch in digitalen Räumen befeuert wird.

Hass von allen Seiten

Jüdisches Leben wird in Deutschland bedroht. Ein Antisemitismus-Report von Michael Kraske.

Vor einem Jahr hat der Terrorangriff der Hamas auf Israel hierzulande einen antisemitischen Flächenbrand ausgelöst, der weiter wütet. Innerhalb eines Jahres registrierten die Polizeibehörden seit dem 7. Oktober 2023 rund 8.500 politische Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Mehr als 3.400 wurden als antisemitisch eingestuft. In diesem Jahr hat die Polizei bis September schon mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten (also auch solche ohne Bezug zum Nahostkonflikt) gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Dieses Jahr könnte somit das Jahr mit den zweithöchsten Delikt-Raten seit Beginn der Erfassung werden. Das Spektrum reicht dabei von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zum Terror. Auch zivilgesellschaftliche Monitoring-Stellen wie der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) oder die Amadeu-Antonio-Stiftung beobachten ein besorgniserregend hohes Niveau antisemitischer Vorfälle in allen Lebensbereichen.

Einige Beispiele:

Im Januar sehen Schülerinnen und Schüler einer Berufsschule in Wiesbaden den Film „Die Wannseekonferenz“. Als im Film die Zahl von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden genannt wird, klatscht ein Teil der Klasse Applaus.

Im April wird eine Frau in einer S-Bahn im Berlin-Moabit, die am Telefon über die Gewaltakte gegen jüdische und israelische Frauen beim Terrorangriff am 7. Oktober spricht, antisemitisch und sexistisch mit den Worten beleidigt: „Fick dich und deine Rasse, fette jüdische israelische Schlampe!“

Im Mai wird ein jüdischer Mann, der an seinem Gebetsmantel als Jude zu erkennen ist, in Berlin-Gesundbrunnen von einem Unbekannten beleidigt. Auf die Parole „Free Palestine“ folgt ein Stoß. Das Opfer geht zu Boden, wird an der Hand verletzt und erleidet einen Knochenbruch.

Im Mai wird in Jülich das dortige Mahnmal für die ermordeten Juden mit dem Schriftzug „Gaza?“ geschändet.

Im Juni 2024 werden rote Dreiecke an eine Hauswand im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg geschmiert. Dazu Hinweise auf Bundeskanzler Olaf Scholz und Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner. Die Terrororganisation Hamas markiert mit roten Dreiecken ihre Ziele.

Im September wird in Heidelberg eine israelische Touristin, die ein T-Shirt mit einem Davidstern und der Forderung „Bring them home now“ nach Rückkehr der Hamas-Geiseln trägt, von einem Mann angegriffen. Der Täter versucht, seinem Opfer das T-Shirt vom Leib zu reißen, und schlägt dem eingreifenden Ehemann der Angegriffenen ins Gesicht.

Im Oktober lässt die Bundesanwaltschaft im brandenburgischen Bernau einen Mann festnehmen, der verdächtigt wird, einen Anschlag auf die israelische Botschaft in Berlin geplant zu haben. Der Libyer soll nach Erkenntnissen der Anklagebehörde Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ sein.

„Für Jüdinnen und Juden gibt es seit der Zäsur des Oktober 2023 keine Atempause“: Benjamin Steinitz vom Bundesverband RIAS. Foto: Juliane Sonntag/dpa

Benjamin Steinitz, RIAS-Geschäftsführer, stellt fest: „Für Jüdinnen und Juden gibt es seit der Zäsur des 7. Oktober keine Atempause. Der sprunghafte Anstieg antisemitischer Vorfälle prägt bis heute den Alltag jüdischer Communities und schränkt ein offenes Leben weiter ein.“ Antisemitischer Hass sei am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld, in Schulen und Universitäten, aber auch auf Social-Media-Plattformen seither „sichtbarer denn je“. Auch in Deutschland werde die genozidale Gewalt der Massaker vom 7. Oktober 2023 „geleugnet, bagatellisiert oder als legitimer Widerstand verherrlicht“, so Steinitz.

Wie die unvollständige Chronik zeigt, bleibt es nicht bei Propagandadelikten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnt: „Die Bedrohungslage durch islamistische, antisemitische und israelfeindliche Gewalt ist hoch.“ Noch immer müssen rund um die Uhr Polizeibeamte vor jüdischen Einrichtungen Wache halten, um diese zu schützen. Ein Ende dieser notwendigen Schutzmaßnahmen ist nicht in Sicht.

Die offiziellen und zivilgesellschaftlichen Lagebilder sind alarmierend. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die systematisch den hiesigen Antisemitismus analysiert, warnt: „Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober katastrophal, auch in der Diaspora.“ Die Stiftung beobachtet beunruhigende Entwicklungen. So erneuere die antiimperialistische Linke im Kampf gegen den Staat Israel „ihre altbewährte Allianz mit Islamist*innen“. Insbesondere Gruppen aus dem antiimperialistischen Spektrum fungierten als Steigbügelhalter für Islamismus und Terrorverherrlichung. Israelhass wirke lagerübergreifend identitätsstiftend. Rechtsextremisten wiederum instrumentalisierten den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass, um ihrerseits Rassismus zu schüren. „Die sicheren Räume werden weniger, und die Bedrohungslage ist dramatisch“, so die Stiftung.

Verfolgt die aktuellen Vorgänge so genau wie kaum ein anderer: Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland. Foto: dpa/photothek/Florian Gaertner

Kaum jemand verfolgt die Vorgänge so genau wie Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben. Er zeigt sich angesichts der aktuellen Entwicklung tief besorgt: „Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik.“ In viel zu großen Teilen der Gesellschaft sei Antisemitismus hoffähig. Die multiplen Krisen von der Corona-Pandemie bis zum russischen Angriff auf die Ukraine und aktuell der Gaza-Krieg wirkten für antisemitischen Hass geradezu wie ein Brandbeschleuniger. Klein betont, dass Antisemitismus nicht nur von den gesellschaftlichen Rändern ausgehe, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft reiche. „Unverändert kommt die weitaus größte Bedrohung aus dem rechtsextremistischen Milieu“, sagt Klein. „Allerdings zeigen sich nach dem barbarischen Terrorüberfall der Hamas auf Israel Formen und Ausmaß eines sogenannten israelbezogenen Antisemitismus, wie wir ihn in dieser Form noch nicht erlebt haben.“

Immer wieder ist in Debatten der Vorwurf zu hören, jegliche Kritik an Israel werde als Antisemitismus diffamiert. Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes verweist auf die sogenannte 3D-Regel des ehemaligen israelischen Politikers Nathan Sharansky zur kategorischen Unterscheidung. Demnach sei die Grenze zum Antisemitismus dann überschritten, wenn bezogen auf Israel Delegitimierung, Dämonisierung und/oder Doppelstandards im Spiel sind. Israel das Existenzrecht abzusprechen ist demnach Antisemitismus. Auch Kritik am staatlichen Handeln Israels auf „die Juden“ zu übertragen, sei antisemitisch, betont Klein. Immer wieder berichten Jüdinnen und Juden in Deutschland, dass sie für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden. In aufgeheizten Zeiten mit immer neuen Eskalationen im Nahost-Konflikt verfangen solche Stigmatisierungen auch bei Menschen, die sich frei von Ressentiments verorten. „Wir sehen, dass die Berührungsängste zwischen islamistischen, antiimperialistischen und selbst den progressiven Milieus seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 immer weiter abnehmen und im gleichen Atemzug Islamismus zunehmend verharmlost wird“, sagt Klein.

„Menschen trauen sich immer weniger, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben.“

Felix Klein

Die Folgen für die Betroffenen durch die verschärfte Bedrohungslage liegen für Felix Klein auf der Hand: „Die Sichtbarkeit von jüdischem Leben in unserer Gesellschaft wird zurückgedrängt. Menschen trauen sich immer weniger, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben.“ Schon vor dem 7. Oktober 2023 haben Jüdinnen und Juden berichtet, dass sie sich gut überlegen, ob und wann sie auf der Straße oder beim Einkaufen eine Kette mit Davidstern oder die Kippa offen zeigen. Die ständige Abwägung zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit bestimmt in der jüdischen Community seit vielen Jahren den Alltag. Aktuell stellt sich die Sicherheitsfrage noch drängender. „Jüdische Studierende berichten mir, dass sie nur noch in Gruppen wagen, über den Campus zu gehen“, so Klein. Bei geplanten Veranstaltungen in Synagogen und jüdischen Einrichtungen komme es vermehrt zu Absagen. Der Antisemitismusbeauftragte berichtet, von der grassierenden Angst seien sowohl jüdische als auch nichtjüdische Menschen betroffen. Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erklärte der Rabbiner Maximilian Feldhake, die Kippa seit dem 7. Oktober auf der Straße nicht mehr offen zu tragen: „Man weiß nicht mehr, aus welcher Ecke ein Angriff kommen könnte – von der AfD, von Neonazis, von irgendwelchen komischen Antizionisten.“

Eine jüdische Mutter, in deren Klingelschild ein Hakenkreuz geritzt wurde, kündigt in dem Magazin-Bericht an, Deutschland mit ihrer Familie verlassen zu wollen: „Wir sitzen auf gepackten Koffern.“ Sie begründet das damit, für ihre drei Kinder in Deutschland keine Zukunft mehr zu sehen, und nennt als einen Grund „das Erstarken der AfD“. Die Partei verharmlost nicht nur die NS-Terrorherrschaft, sondern deren Spitzenpolitiker verwenden mitunter auch antisemitische Codes wie „Globalisten“. Der dämonisierende Begriff wird von der extremen Rechten als Synonym für Juden verwendet. Vor den Landtagswahlen haben die Vorsitzenden der jüdischen Landesverbände in Sachsen und Thüringen eindringlich vor der AfD gewarnt, die in beiden Ländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beobachtet wird. Die Partei sei „eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie“ und: „Wir Juden kennen die Folgen einer Ideologie, wie sie die AfD verkörpert.“ In Thüringen ist die AfD unter dem Rechtsextremisten Björn Höcke, der zuletzt für die Verwendung einer SAParole verurteilt wurde, gleichwohl stärkste politische Kraft geworden. Manche Jüdinnen und Juden fühlen sich in Deutschland, dem Land des Holocaust, wieder so unsicher, dass sie auswandern werden. Das ist der dramatische Befund im Herbst 2024.

Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben, Felix Klein, möchte die Gesellschaft dazu ermutigen, sich stärker gegen Antisemitismus zu engagieren und dafür auch die „eher Schweigenden im Land“ gewinnen, wie er es ausdrückt: „Antisemitische Täter, die eine Minderheit darstellen, müssen wissen, dass sie nicht auf die schweigende Mehrheit in der Bevölkerung setzen können. Sie müssen wissen, dass ihr Handeln geächtet wird und Hass und Hetze gegen Juden eben keine freie Meinungsäußerung ist.“ So verweist Klein auf das Digitale-Dienste-Gesetz, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist. Damit sei die Grundlage geschaffen worden, besser gegen Hassrede im Internet vorgehen zu können. Das Bundeskriminalamt (BKA) prüft bei Verdacht auf Straftaten Hinweise und geht mutmaßlich strafbaren Inhalten nach. Doch Experten etwa von der Organisation HateAid kritisieren seit Langem, dass nur ein Bruchteil der digitalen Hassbotschaften überhaupt geahndet wird, und fordern, die Plattform-Giganten wie X und Meta viel stärker als bisher in die Verantwortung zu nehmen. Digitale Medien fluten ihre Kanäle täglich mit Antisemitismus und Terrorverherrlichung. Ungezählte Clips erreichen auch ungefiltert die Smartphones von Schülerinnen und Schülern. Felix Klein setzt sich derweil für eine bundesweite Meldepflicht für antisemitische Vorfälle an Schulen ein und fordert, Antisemitismus bundesweit zum verpflichtenden Bestandteil der Lehramtsausbildung zu machen. Wobei Schulen nur ein Brandherd von vielen sind.

Erschütternde Studienergebnisse: Marina Chernivsky, Gründerin von OFEK, Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Foto: Jürgen Heinrich/dpa (SZ Photo)

Der Kampf gegen Antisemitismus mit allen notwendigen Maßnahmen der Repression und Prävention steht und fällt allerdings mit der Wahrnehmung. Ob die deutsche Mehrheitsgesellschaft überhaupt zur Kenntnis nimmt, wie es jüdischen Mitmenschen seit einem Jahr in Wohnhäusern, Betrieben, Vereinen, Straßenbahnen und Schulen ergeht. In welcher Lage sich jüdische Nachbarn, Kolleginnen und Mitschüler befinden. Lange vor jenem traumatischen 7. Oktober hat Marina Chernivsky, die in Berlin die Beratungsstelle OFEK gegründet hat und deren Expertise regelmäßig gefragt ist – wie beispielsweise in einem wissenschaftlichen Gremium zur Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals auf der Kunstausstellung „documenta fifteen“ im Jahr 2022 – auf eine folgenschwere Diskrepanz hingewiesen: Auf der einen Seite stehe die deutsche Mehrheitsgesellschaft, für die Antisemitismus keine große Sache ist – auf der anderen Seite die jüdische Community, die täglich damit zu tun hat, deren Alltag der Antisemitismus auf brutale Weise mitbestimmt und durchdringt. Marina Chernivsky, die in Berlin das Kompetenzzentrum Antisemitismuskritische Bildung und Forschung leitet, arbeitet derzeit an einer umfangreichen Studie zu den Wirkungen des Terroranschlags vom 7. Oktober auf die jüdische Community in Deutschland. Dazu wurden bereits 80 Interviews geführt.

„Das ist der absolute Horror (…), wie ein Albtraum, der nicht zu Ende geht.“

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung hat Chernivsky mit ihrer Kollegin Friederike Lorenz-Sinai erste Ergebnisse der Studie veröffentlicht und den 7. Oktober als „Zäsur“ benannt. Die Autorinnen lassen in dem Artikel eine Frau, Mitte 30, zu Wort kommen: „Das ist der absolute Horror (…), wie ein Albtraum, der nicht zu Ende geht. (…) Es ist etwas, was mich jeden Tag beschäftigt.“ Eine weitere Interviewpartnerin, Anfang 40, bezeichnet den Tag des Terrors als „Einschnitt“ in ihrem Leben: „Es war (…) schrecklich, und ich habe das Gefühl, dass wir immer noch im Oktober sind. Die Zeit ist stehengeblieben.“ Sie habe das Gefühl, als jüdische Person „eine andere innere Welt“ als ihre nichtjüdischen Mitmenschen zu erleben. Die Aussagen und Reflexionen aus der jüdischen Community lassen erahnen, wie tief der Terror viele Jüdinnen und Juden hierzulande erschüttert hat. Und wie groß seither das Gefühl der Isolation ist.

Für die allermeisten Menschen ohne jüdische Bezüge ist der 7. Oktober des vergangenen Jahres schon wieder weit weg, lange her. Für jüdische Menschen ist das Trauma allgegenwärtig. Die deutsche Filmemacherin Esther Schapira bezeichnet jenen Tag des Grauens als Beginn eines „globalen antisemitischen Krieges“. Alle Jüdinnen und Juden fühlten sich angegriffen, „weil sie alle angegriffen werden“. Von dieser existenziellen Bedrohung haben jene, die es nicht betrifft, keine Vorstellung. Es scheint, als habe der Terror die Distanz zwischen der nichtjüdischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit im Land eher noch vergrößert. Vor allem anderen wäre es an der Zeit, jenen zuzuhören, für die der Albtraum kein Ende nimmt.

Polizeischutz für die Minderheiten

Erstellt am: Samstag, 12. Oktober 2024 von Torben

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Der Schriftzug «NAKBA» und ein Plakat mit der Aufschrift «Munich Students stand for justice in Palestine» sind an einem propalästinensischen Protestcamp vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zu sehen. Foto: Sven Hoppe/dpa

Das Camp

Auf einem Platz vor der Ludwig-Maximilian-Universität in München stehen Zelte und Pavillons in der Sonne, Menschen sitzen auf Teppichen und diskutieren, um sie herum sind Transparente und Plakate aufgestellt mit Forderungen: „Befreit Palästina“, „Beendet die israelische Apartheid“, „Stoppt den Völkermord“. Im Wind zappeln schwarzweißgrünrot die Palästinaflaggen.

Der Platz vor der Universität heißt Geschwister-Scholl-Platz. Benannt wurde er nach Sophie und Hans Scholl, den beiden Münchner Studenten, die hier mit der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen den Nationalsozialismus protestierten und dafür 1943 hingerichtet wurden.

Bis Kriegsende 1945 töteten die Mörder der Geschwister Scholl, die Nazis, etliche Millionen Menschen, darunter allein sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Jetzt steht auf einem Platz, der an die NS-Gräueltaten erinnern soll, ein Camp, mit dem gegen Israel protestiert wird, den 1948 gegründeten Nationalstaat des jüdischen Volkes.

Im Landeskriminalamt

Im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA), eine halbe U-Bahn-Stunde von dem geschichtsträchtigen Platz entfernt, sagt Michael Weinzierl mit Blick auf das Protestcamp: „Mir macht das große Sorgen. Das wirkt brutal in die jüdische Gemeinschaft hinein.“ Weinzierl, 47 Jahre alt, Kriminaloberrat, ist der erste „Beauftragte der Bayerischen Polizei gegen Hasskriminalität, insbesondere Antisemitismus“, sein Amt gibt es nun seit eineinhalb Jahren. Er muss noch immer viel erklären, deshalb hat er eine Präsentation vorbereitet. Er eilt mit seinen Besuchern durchs verbaute LKA, erste Treppe rauf, Flur rechts, zweite Treppe rauf, Flur links, bis sie schließlich in einem ruhigen Raum vor einer Leinwand sitzen. Auf der Tür neben der Leinwand steht „Waffenmuseum“, darunter die Warnung „Achtung – alarmgesichert“.

Weinzierl ist für Hasskriminalität zuständig, also steht auf seiner Präsentation ganz vorn die Frage: Was ist Hasskriminalität, aus polizeilicher Sicht? „Hasskriminalität ist alles und nichts“, beantwortet Weinzierl die Frage.

Alles und nichts ist Hasskriminalität, weil sie aus polizeilicher Sicht zunächst eine Straftat ist wie Beleidigung, Bedrohung, Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen, Körperverletzung. Zur Hasskriminalität wird diese Straftat, wenn der Täter sie aufgrund von Vorurteilen gegenüber seinem Opfer begeht – zum Beispiel aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Die Polizei nennt solche Taten im Behördenkürzeldeutsch auch „PMK“, politisch motivierte Kriminalität.

Neben dem Motiv des Täters spielt aber noch etwas eine gewichtige Rolle bei der Hasskriminalität: die Sicht der Betroffenen.

Ein Beispiel: Wenn jemand Farbe an eine Haustür schmiert, könnte es sich um eine Sachbeschädigung handeln, laut Paragraf 303 Strafgesetzbuch eine Straftat. Wenn jemand mit Farbe einen Davidstern an eine Haustür schmiert, in dem Juden leben, dann könnte das aber auch Hasskriminalität sein und ein Verstoß gegen Paragraf 130, Volksverhetzung. Jüdische Menschen können sich in ihrer Würde verletzt fühlen, sie können sich verleumdet und verächtlich gemacht fühlen, sie können sich bedroht fühlen.

„Wir müssen diesen Perspektivwechsel vornehmen“, sagt Michael Weinzierl: „Wie geht es diesen marginalisierten Gruppen, die nicht mitten in der Gesellschaft stehen?“

Sie bekämpfen im Auftrag von Polizei und Justiz Hass und Hetze: Kriminaloberrat Michael Weinzierl (rechts) und Staatsanwalt David Beck. Foto: Karsten Krogmann

Damit ist er wieder bei dem Camp am Geschwister-Scholl-Platz und bei den Gefühlen der jüdischen Gemeinschaft. Vordergründig handelt es sich um Protest, um eine politische Demonstration, um freie Meinungsäußerung, jedenfalls solange keine verbotenen Kennzeichen zu sehen und Parolen zu hören sind. Aber Jüdinnen und Juden sehen keinen Protest, sondern eine Bedrohung, sie sagen dem Beauftragten gegen Hasskriminalität: „Wir fühlen uns nicht mehr sicher!“

Die Betroffenen

Wie sehr unterscheiden sich die Erfahrungen, die marginalisierte Gruppen machen, von denen, die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft machen? Was erlebt ein junger Jude in Deutschland anders als jemand wie ich, der Autor dieses Textes: Mitte 50, Mann, weiß, Mittelschichtkind, christlich sozialisiert?

Ein Videoanruf bei Michael Movchin, er ist seit sieben Jahren Vorsitzender des Verbands jüdischer Studenten in Bayern. Movchin, 26 Jahre alt, kein Student, sondern IT-Unternehmer, lächelt nachsichtig bei der Frage nach seinen Erfahrungen und sagt: „Ich habe alles erlebt.“ Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken im Internet. Morddrohungen per E-Mail und per Briefpost. Abgesagte Veranstaltungen, weil das Sicherheitskonzept nicht standhielt. Journalisten, die ihn nach Podiumsdiskussionen zum Auto begleiten mussten, weil wütende Zuhörer ihn nicht gehen lassen wollten. „Mit mir macht das nichts mehr“, sagt er.

Movchin sagt, wenn sein Verband eine Veranstaltung ankündige, sei die häufigste Nachfrage von Vereinsmitgliedern nicht die nach Ort, Uhrzeit oder Verkehrsanbindung. Sondern: Wie steht es um die Sicherheit?

Wenn er sich in München mit jüdischen Freunden verabrede, gehe es immer zuerst um die Frage: Wo gehen wir hin, wo ist es sicher?

Halsketten mit Davidstern oder gar eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden, trage kaum noch ein Vereinsmitglied sichtbar in der Öffentlichkeit.

Synagogen seien, anders als christliche Kirchen, keine offenen Gotteshäuser in Deutschland. Sie hätten verschlossene Türen und Metalldetektoren, seien von Zäunen umgeben und oftmals bewacht.

„Wir leben in einer Zeit“, sagt Movchin, „in der die jüdische Gemeinde jeden Tag Warnungen ausspricht, in welche Straßen oder zu welchen Veranstaltungen man nicht gehen sollte. Stellen Sie sich vor, eine christliche Gemeinde würde ihren Mitgliedern sagen: Geht nicht hierhin, geht nicht dorthin!“

Was löst ein pro-palästinensisches Camp am Geschwister-Scholl-Platz in Menschen aus, die so etwas täglich hören?

Vertritt die jüdischen Studierenden in München: Michael Movchin. Foto: Sachelle Babbar / ZUMAPRESS.com

Erst heute wieder, berichtet Movchin, hätten ihn 15 Menschen angerufen, weil in dem Camp für eine Veranstaltung mit einem Motiv der „Weißen Rose“ geworben worden sei. „Das triggert“, sagt Movchin, „auf diesem geschichtsträchtigen Platz.“ Er berichtet von Angst, von Panik sogar. Wenn sein Verein zu Gegenveranstaltungen einlade, klingle wieder das Telefon, Studierende fragten ihn: Was passiert mir, wenn meine Kommilitonen mein Gesicht sehen? Wenn ich sie in der Stadt treffe? Wenn jemand von ihnen zu mir in die U-Bahn steigt?

Movchin sagt: „Für die Mitglieder unseres Vereins ist das schwer auszuhalten.“

Die Zahlen

Wenn Hasskriminalität alles und nichts ist, ist sie natürlich schwer zu fassen und zu erfassen. Weinzierl listet in seiner Präsentation marginalisierte Gruppen auf, die häufig von Hasskriminalität betroffen sind: Jüdinnen und Juden. Sinti und Roma. Schwarze Menschen. Flüchtlinge. Menschen mit Behinderung. Muslimas und Muslime. Menschen aus der LGBTQ+-Community: homosexuelle Menschen, trans Menschen. Menschen ohne Obdach. Aber auch Frauen. Sie alle erfahren Vorurteilsgewalt, digitale Gewalt, Hassrede, zusammengefasst: PMK, Hasskriminalität.

2022 hat die Polizei in Bayern 1186 Fälle von Hasskriminalität registriert. 2023 waren es 1867. Davon waren 589 Fälle antisemitisch motiviert, 210 allein nach dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. „Die Zahlen und der Anstieg sind besorgniserregend“, sagt Weinzierl.

Und doch weiß er, dass die Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Hasskriminalität abbilden. Betroffene zeigten Straftaten nicht an, weil sie sich schämen, weil sie Angst vor Zurückweisung haben und vor Unverständnis, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. „80 bis 90 Prozent der LGBTQ+-feindlichen Straftaten werden nicht angezeigt“, sagt Weinzierl. Bis 1994 war Homosexualität ein Straftatbestand nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch. Betroffene, die heute 50, 60, 70 Jahre alt sind, erinnern sich daran. Ebenso wie ältere Polizisten.

Michael Weinzierl hat David Beck ins LKA eingeladen. Beck, 36 Jahre alt, Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft München, ist seit Februar 2024 der „Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz“. Er ist ein Mann mit munterem Witz, der einem zunächst seinen gereckten Mittelfinger zeigt mit den Worten, „das ist nicht persönlich gemeint“: Der Finger ist verbunden und geschient, Beck hatte einen Unfall, Sehnenriss.

Beck sagt: „Wir brauchen die Anzeige, wir brauchen aber auch den Paragrafen.“

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Auch dazu ein Beispiel: Wenn Anhänger der Terrororganisation Hamas nach dem 7. Oktober 2023 Plakate aufhängten mit der Parole „from the river to the sea“ („vom Fluss bis zum Meer“, Anspielung auf die Grenzen Israels mit dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, was von Antisemiten als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel verwendet wird), dann konnten Polizei und Justiz zunächst oft nur wegen wilden Plakatierens aktiv werden. Im November 2023 verbot das Bundesinnenministerium die Hamas und auch die Parole „from the river to the sea“ als deren Kennzeichen. „Das stützt unsere Argumentation, dass das Verbreiten und öffentliches Verwenden dieser Parole nach Paragraf 86a StGB strafbar ist“, sagt Beck.

Um die notwendigen Strafanzeigen zu bekommen, seien „niedrigschwellige Anzeigemöglichkeiten“ wichtig, so Beck. Die gebe es inzwischen, über Internetseiten wie www.bayern-gegen-hass.de oder direkt bei www.meldestelle-respect.de.

Um die Betroffenen wiederum zu den Meldeseiten zu bekommen, braucht es erstens Aufklärung und Netzwerkarbeit. Deshalb besuchen Michael Weinzierl und David Beck Veranstaltungen und halten ihre Präsentationen, deshalb wirkt Weinzierl in die 238 bayerischen Polizeiinspektionen hinein, wo es jeweils mindestens einen Ansprechpartner für Hasskriminalität gibt, deshalb wirkt Beck in die 22 bayerischen Staatsanwaltschaften hinein, wo es jeweils mindestens einen Sonderdezernenten gibt.

Zweitens braucht es einen „proaktiven Beratungsansatz“, wie es bei der Polizei etwas sperrig heißt.

Der Modellversuch

Im Foyer des Polizeipräsidiums Mittelfranken in der Nürnberger Altstadt wartet bereits die Kriminaldirektorin Cora Miguletz, 53 Jahre alt, zuständig für den Staatsschutz und damit für die Hasskriminalität. Sie erprobt für Bayern den „proaktiven Beratungsansatz“.

Proaktiver Beratungsansatz, das geht so: Beim ersten Kontakt vermittelt die Polizei den Betroffenen direkt ein passendes Beratungsangebot. Dafür arbeitet das Polizeipräsidium Mittelfranken zurzeit mit drei Partnern zusammen: mit B.U.D., einer Anlaufstelle bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Bayern, mit Strong!, einer Beratungsstelle für Taten gegen die sexuelle Orientierung oder geschlechtsbezogene Diversität, und, falls die beiden erstgenannten Angebote nicht passen, mit dem WEISSEN RING, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.

Das klingt einfacher, als es zunächst war. Cora Miguletz erinnert sich an Misstrauen bei den ersten Netzwerktreffen und Fortbildungen, an einen „schlechten Ruf der Polizei, den sie so nicht verdient hatte“.

Transparenzhinweis:
Beim Modellprojekt zum „proaktiven Beratungsansatz“ in Mittelfranken ist der WEISSE RING, Landesverband Bayern-Nord unter Vorsitz von Wolfgang Schwarz, einer der Partner, die auf Wunsch Betroffenen zur Seite stehen.

Mittlerweile laufen die Beratungen. In den ersten zehn Monaten des Modellprojekts hat die Polizei 122 Fälle registriert, die für eine Beratung ungeeignet waren. Warum ungeeignet? „Weil es zum Beispiel kein Opfer gab, etwa bei einem Hassgraffito auf einer Schulhofmauer. Oder weil das Opfer nicht in Mittelfranken wohnte“, sagt Miguletz. 66 Fälle waren geeignet für ein Beratungsangebot. „16 Betroffene haben es angenommen, die meisten Fälle gingen an B.U.D.“, so Miguletz. „Schwierig ist es im Bereich der LSBTIQ*- Szene. Da gab es 22 potenziell passende Fälle, nur einmal wurde das Beratungsangebot angenommen.“ Die Vorbehalte von Betroffenen gegenüber der Polizei seien nach wie vor hoch.

Proaktiver Beratungsansatz, das heißt auch: In Mittelfranken gibt es 28 Polizeiinspektionen, in jeder Dienststelle muss es einen Beamten geben, der die Kolleginnen und Kollegen für das Thema Hasskriminalität sensibilisiert. Es gibt fünf Kriminalinspektionen, die sich zurzeit die Fälle noch einmal anschauen: Wurde die Hasstat richtig eingeschätzt? Wurde eine Hasstat nicht erkannt?

„Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

David Beck

Besonders wichtig ist für Cora Miguletz aber der Streifenpolizist auf der Straße: „Der muss aktiv werden, der muss den Betroffenen die Scheu nehmen. Nicht jeder sieht die Polizei als Freund Helfer – für die Opfer sind wir das aber zu 100 Prozent.“

Die Zukunft

In München sagt Michael Weinzierl, der Beauftragte der Polizei gegen Hass: „Hass und Hetze ist ganz, ganz viel. Ob es im digitalen Raum auftritt oder im analogen, das ist für mich kein Unterschied.“ Er verweist auf die guten Aufklärungsquoten: knapp 70 Prozent bei politisch motivierter Kriminalität allgemein, bei politisch motivierter Gewaltkriminalität sogar fast 80 Prozent.

David Beck, der Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz, sagt: „Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

Während ich diesen Text schreibe, blinkt eine Eilmeldung auf meinem Monitor auf: „Schüsse am israelischen Konsulat in München“. Mutmaßlicher Täter: ein österreichischer Islamist, sein mutmaßliches Motiv: Antisemitismus. Medienberichten zufolge soll er sich im sozialen Netzwerk TikTok radikalisiert haben.

Hass von allen Seiten

Erstellt am: Dienstag, 7. November 2023 von Torben

Hass von allen Seiten

Offener Judenhass gilt in Deutschland seit dem Ende der NS-Terrorherrschaft eigentlich als geächtet. Trotzdem ist Antisemitismus alltäglich. Seit der Nahostkonflikt infolge des Terrorangriffs auf Israel eskaliert, wird jüdisches Leben so bedroht wie lange nicht. Ein Antisemitismus-Report von Michael Kraske.

Dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel mit unvorstellbaren Gräueltaten und Massakern folgten tödliche militärische Gegenschläge Israels auf Gaza sowie weitere Raketenangriffe auf israelische Städte. Weltweit wächst seither die Furcht vor einem großen Krieg im Nahen Osten und einer humanitären Dauerkatastrophe im Gazastreifen. In Deutschland folgte auf den Terror gegen Israel eine antisemitische Hasswelle. Der 7. Oktober wird Israel als Tag des Grauens und der Erschütterung in kollektiver Erinnerung bleiben – so wie der 11. September den USA.

Rund 1.400 Menschen, darunter Kinder, Familien und Alte, waren von den aus Gaza eingedrungenen Terroristen ermordet worden. Die Terroristen vergewaltigten Frauen, schändeten und verstümmelten Leichen und stellten ihre Opfer öffentlich zur Schau. Mehr als 200 Personen wurden bei dem Angriff verschleppt und fortan als Geiseln gehalten. Zwar gab es daraufhin auch in deutschen Städten Solidaritätskundgebungen für Israel. Aber wie so oft, wenn der Nahost-Konflikt eskaliert, brach sich hierzulande rund um pro-palästinensische, israelfeindliche Demonstrationen und Krawalle offener Antisemitismus Bahn.

1) Mitten unter uns

In Hamburg wurden zwei Frauen mit einer Israel-Flagge nach einer Demo von zwei jungen Männern angegriffen und an Schulter, Arm und Kopf verletzt. In mehreren deutschen Städten wurden Israel-Fahnen angezündet. In den Münchner Stachus-Passagen nahm die Polizei einen Mann fest, der zuvor antisemitische Beleidigungen gebrüllt hatte. In Dortmund und Berlin schmierten Unbekannte Davidsterne auf Wohnhäuser, um Bewohnerinnen und Bewohner zu markieren und an den Pranger zu stellen. Aus der jüdischen Community wird über antisemitische Anfeindungen durch nichtjüdische Nachbarn berichtet. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte informierte über einen versuchten Brandanschlag mit Molotowcocktails.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte unterdessen antisemitische Ausschreitungen und Anschläge gegen jüdische Einrichtungen. In Israel werden Jüdinnen und Juden abgeschlachtet – und in Deutschland, dem Land der Shoah, explodiert der Hass. Max Privorozki, der als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale vor vier Jahren den rechtsextremen Terroranschlag auf die dortige Synagoge überlebt hat, sieht jüdisches Leben seither so in Gefahr, wie er es sich nicht hätte vorstellen können.

Ein Mann betritt hinter Polizeiabsperrband die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte. Auf das Haus in Berlin wurde Mitte Oktober 2023 ein Brandanschlag verübt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) registrierten binnen einer einzigen Woche nach dem Terror-Angriff 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland, ein Anstieg um fast 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die auf Antisemitismus spezialisierte Opferberatung OFEK (hebräisch für neue Horizonte) in Berlin musste aufgrund des großen Bedarfs kurzfristig ihr Angebot für Betroffene erweitern. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählte infolge des Hamas-Terrors binnen weniger Wochen über 2.000 Straftaten, darunter Körperverletzungen, Volksverhetzung, Landfriedensbruch sowie Widerstand gegen die Polizei bei pro-palästinensischen Demos in Berlin.

Grünen-Politikerin Lamya Kaddor warnte vor islamistischen Gewalt-Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren: „Diese schrecklichen Gewaltdarstellungen von Folter und Mord werden ungefiltert und unkommentiert auf Schulhöfen geteilt.“ Es ist kein Zufall, dass sich der Hass auf Juden einmal mehr an einer Eskalation in Israel entzündet. Während der sogenannte klassische Antisemitismus hierzulande nach den NS-Menschheitsverbrechen weitgehend tabuisiert ist, wird israelbezogene Judenfeindschaft nicht nur von pro-palästinensischer Seite, Islamisten und in islamischen Milieus mit judenfeindlicher Sozialisation geteilt, sondern auch politisch von links bis rechts sowie in der bürgerlichen Mitte. Der Hass schlägt Jüdinnen und Juden derzeit bedrohlich von allen Seiten entgegen.

In der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ haben Jüdinnen und Juden beschrieben, wie es ihnen in Deutschland seit dem 7. Oktober ergangen ist: Die 25-jährige Deborah Feinstein erzählt dort etwa, wie ihr eine auf Hebräisch gesprühte Hassparole auf der Straße solche Angst eingejagt habe, dass sie fortan öfter zu Hause blieb. Eskaliere der Nahost-Konflikt, dann sei das in Berlin immer spürbar, aber noch nie so heftig wie jetzt. Michael Movchin (26) aus München berichtet, dass ihn derzeit sehr viele Hasskommentare auf Social Media erreichen. Neu sei, dass im Internet vor gefährlichen Orten gewarnt werde. Der junge Mann gibt an, seither vorsichtiger zu sein und nicht mehr in der Öffentlichkeit zu telefonieren.

Rabbinerin Yael Deusel (63) informiert darüber, dass jemand ein Hakenkreuz in ihr Arztpraxisschild in Bamberg gekratzt habe. Sie sorgt sich vor allem um die Sicherheit ihrer Patienten, Mitarbeiter und Gemeindemitglieder. Max Breslauer (38) schreckt in Süddeutschland jedes Mal hoch, wenn es an der Tür klingelt. Einige Nachbarn haben aufgehört, ihn zu grüßen. Das Stimmungsbild, das die Zeitung in der jüdischen Gemeinschaft eingeholt hat, ist alarmierend. Zwar äußern viele, sich nicht einschüchtern zu lassen. Doch die Angst ist allgegenwärtig.

2) Die Ächtung des Antisemitismus bröckelt

Die neuerliche Hochkonjunktur der Judenfeindschaft hat einen wenig beachteten Vorlauf. Diese Gewöhnungseffekte verschärfen die Lage zusätzlich. Es ist noch nicht lange her, dass bei Corona-Protesten mit sogenannten „Judensternen“ und der Aufschrift „Ungeimpft“ der Holocaust relativiert wurde, indem sich Demonstrierende mit NS-Opfern auf eine Stufe stellten. Seither kursieren auch wieder verstärkt antisemitische Verschwörungserzählungen über eine angeblich strippenziehende Elite. Wie so oft in Krisenzeiten werden Jüdinnen und Juden wieder zu Sündenböcken gemacht. Dieser Hass mündet immer häufiger in Taten. So erreichten antisemitische Delikte vor zwei Jahren laut der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes mit über 3000 Fällen ein Rekordniveau. Obwohl es seither vorübergehend weniger Demos und damit auch seltener Anlässe für Täter gab, gingen die Fallzahlen nur leicht zurück.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, stellt klar, „dass der Antisemitismus aus Deutschland nie weg war“. Doch während dieser phasenweise eher im Verborgenen geäußert worden sei, trete er nunmehr wieder zunehmend unverhohlen zutage: „Verschwörungserzählungen, Verharmlosung der Shoah und als Kritik an Israel getarnter Antisemitismus verbreiten sich längst nicht mehr nur am politischen Rand, sondern reichen in die Mitte der Gesellschaft hinein und sind auch in intellektuellen, akademischen Milieus zu finden.“

Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Foto: Bernd von Jutrczenka

Die Forschung unterscheidet einerseits zwischen einem klassischen Antisemitismus uralter Stereotype und Weltbilder über vermeintlich verschlagene Juden und ihren angeblich übergroßen und schädlichen Einfluss sowie modernen Ausdrucksformen andererseits: Beim Sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus wird der Holocaust entweder geleugnet oder relativiert. Neuerdings eben auch dadurch, dass man auf Demos behauptet, aktuell einer Verfolgung wie seinerzeit die NS-Opfer ausgesetzt zu sein. Der Begriff Schuldabwehr beschreibt, dass diese Relativierungen dazu dienen, die deutsche Schuld am Holocaust herunterzuspielen. Nicht selten kommt es dabei zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Der israelbezogene Antisemitismus benutzt den Staat Israel als Projektionsfläche und Aufhänger für Judenfeindschaft.

Die Forschung registriert seit einigen Jahren, dass in Deutschland die eindeutige Ächtung des Antisemitismus bröckelt. Vor drei Jahren stimmten laut Leipziger Autoritarismus-Studie (LAS) 41,1 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Reparationsforderungen nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten.“ Ein weiteres Drittel stimmte dieser zynischen Unterstellung, wonach Reparationszahlungen dem Profit dienen, immerhin teilweise zu. Der beunruhigende Befund lautet: Wenn Antisemitismus nicht offen, sondern über einen Umweg wie etwa die unterstellte Instrumentalisierung der Shoah durch vermeintlich geldgierige Profiteure geäußert wird, ist er in großen Teilen der deutschen Gesellschaft anschlussfähig.

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Wenn der Staat Israel dämonisiert wird

Häufig tritt diese Form der Judenfeindschaft zusammen mit israelbezogenem Antisemitismus auf. In der besagten Studie der Uni Leipzig befürworteten 30,3 Prozent der Befragten: „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg.“ Hier wird die kritikwürdige israelische Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten mit der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden durch das NS-Terrorregime gleichgesetzt. Der Staat Israel wird damit dämonisiert. Das ist übrigens ein Kriterium zur Unterscheidung. Denn natürlich ist auch harte Kritik an israelischer Politik legitim. Die Grenze zum Antisemitismus gilt etwa da als überschritten, wo der Staat Israel dämonisiert oder ihm das Existenzrecht abgesprochen wird und wenn Juden per se für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden.

Traditionell gehört Judenfeindschaft zum festen Repertoire der radikalen Rechten. Seit Jahren werden die meisten antisemitischen Straftaten laut der Polizeilichen Kriminalstatistik von rechten Tätern verübt. Linker Antisemitismus gegen das vermeintlich imperiale und postkolonialistische Israel ist hingegen weniger bekannt. Sogar im Angesicht des barbarischen Terrors der Hamas wurde der Massenmord auch von Teilen der radikalen Linken relativiert oder gar als palästinensischer Freiheitskampf glorifiziert. Bei einer Demo vor dem Auswärtigen Amt in Berlin skandierten Teilnehmende: „Free Palestine from german guilt“, befreit Palästina von deutscher Schuld. Die deutsche Verpflichtung, für Israel einzustehen, die sich aus der Verantwortung für den Holocaust ergibt, soll demnach beseitigt werden.

3) Antisemitischer Alltag vor dem 7. Oktober

In Berlin hat Maria Kireenko schon lange vor dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel immer wieder Antisemitismus zu spüren bekommen. Kireenko hat in Göttingen Geschichte und Soziologie studiert und macht derzeit ihren Master-Abschluss in Osteuropastudien in Berlin. Neben ihrem Studium engagiert sie sich im Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und organisiert politische Bildungsangebote. Vor zwei Jahren, als es nach einer Eskalation im Nahen Osten ähnlich wie in diesem Herbst zahlreiche pro-palästinensische und israelfeindliche Demos gab, hat sie öffentlich gemacht, wie zwei ihrer Freundinnen in Berlin von mutmaßlich muslimischen Tätern auf der Straße angegriffen wurden, weil sie Halsketten mit einem Davidstern trugen. Andere Freunde seien mitten in Berlin beleidigt, bespuckt und bedroht worden, weil einer von ihnen ein Israel-Fähnchen bei sich trug.

Die Studentin bekannte damals, dass sie zuweilen Angst habe, die sozialen Medien im Internet zu nutzen, weil sie etwa beim Messenger-Dienst Telegram regelmäßig auf „antisemitischen Müll“ und „üble Relativierungen des islamistischen Terrors“ treffe. Diese stillen Rückzüge aus den digitalen Diskursräumen bleiben zumeist unbemerkt, tragen aber zur politischen Klimaverschärfung bei, weil nach und nach leise, besonnene Stimmen verstummen.

Maria Kireenko hängt bei einer Plakataktion des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Plakate zu den Ermordeten und Geiseln der Hamas in Berlin-Friedrichshain auf. Foto: Christoph Soeder/dpa

Maria Kireenko leistet freiberuflich politische Bildungsarbeit in Berlin-Neukölln, wo auch viele Muslime wohnen. Neulich, noch vor dem 7. Oktober, hatte sie eine Informationsveranstaltung über die Gründung des israelischen Staates mitorganisiert. „Schon im Vorfeld gab es viele Anfeindungen“, berichtet sie. „Wir mussten eine jüdische Sicherheitsfirma engagieren.“ Bei der Podiumsdiskussion habe es dann organisierte Störungen aus dem Umfeld der BDS-Bewegung gegeben, die sich als Sprachrohr der palästinensischen Zivilgesellschaft versteht und weltweit zum Boykott Israels und aller Personen aufruft, die mit dem israelischen Staat zusammenarbeiten; darunter Künstlerinnen, Sportler und Wissenschaftlerinnen. Die Störer traten Kireenko zufolge bei der Veranstaltung in Neukölln überaus aggressiv auf: „Zwei Personen sind richtig ausgeflippt.“ Immer wieder bekomme sie bei solchen Gelegenheiten zu hören, man dürfe Israel ja nicht kritisieren – von Personen, die das dann umso lauter und aggressiver täten.

„Juden werden für Israel verantwortlich gemacht“, beklagt Kireenko. Der Hass sei für sie nur schwer auszuhalten. Sie versuche mittlerweile, auf eigene Belastungsgrenzen zu achten. „Ich habe mich zu schützen gelernt“, sagt die Studentin. „Man entscheidet sich bewusst, wo man sich als jüdisch zu erkennen gibt.“ Dazu gehört auch, sichtbare Symbole wie den Davidstern bisweilen zu verbergen. „Verwalten von Sichtbarkeit“ nennt sie das: „In manchen Situationen entscheide ich mich dafür, ihn wegzustecken.“ Sie habe auch schon zu hören bekommen, in Neukölln offen jüdisch aufzutreten sei „eine Provokation“. Die engagierte Studentin formuliert eine Einschätzung, die aufhorchen lässt: „In Deutschland verändert sich etwas.“ Dieses Gefühl wachsender Bedrohung unter Jüdinnen und Juden deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Strafverfolgung und von Sozialforschenden. Antisemitismus wird im Land der Shoah wieder lauter, aggressiver und gefährlich normal – nicht erst seit dem Terror der Hamas.

Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen.

Die Erfahrungen der Berliner Studentin sind weder Einzelfall noch Ausnahme. Antisemitismus prägt den Alltag vieler Jüdinnen und Juden, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft davon kaum Notiz nimmt. Der rechtsextremistische Terroranschlag im Herbst 2019 mit zwei Mordopfern, als ein hasserfüllter Attentäter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte, ein Massaker an betenden Jüdinnen und Juden in der Synagoge in Halle/Saale zu verüben, hat daran nichts geändert. Die Sicherheitsvorkehrungen in jüdischen Einrichtungen wie Gemeindezentren und Kindergärten wurden danach nicht nur in Halle, sondern bundesweit verstärkt, beispielsweise auch an der Synagoge in Dresden.

Betroffene müssen sich seither noch stärker zwischen der Sichtbarkeit ihrer jüdischen Identität und der eigenen Sicherheit entscheiden. Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen. Allen jüdischen Kulturwochen und Gedenktagen zum Trotz ist Antisemitismus in der gesellschaftlichen Praxis nicht nur alltäglich, sondern auch so schmerzhaft spürbar, dass Betroffene gezwungen sind, sich in ihrer Lebensführung massiv einzuschränken.

4) „Eigentlich gehört ihr nicht hierher“

Nora Goldenbogen hat der Antisemitismus ein Leben lang beschäftigt. Wie sehr, das habe sie sich seinerzeit als junge Frau gar nicht vorstellen können, sagt sie. Goldenbogen ist Lehrerin, Historikerin und Autorin. Viele Jahre hat sie die Jüdische Gemeinde in Dresden geleitet. Mittlerweile ist sie im Landesverband für die drei sächsischen Gemeinden in Dresden, Leipzig und Chemnitz zuständig. Mit dem Verein Hatikva hat sie sich für politische Bildung und Aufklärung engagiert. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Synagoge in Dresden zu einem Ort der Begegnung zu machen, mit Podiumsdiskussionen und einer offenen Gesprächskultur. Kürzlich hat Nora Goldenbogen ein berührendes Buch über die Geschichte ihrer Eltern veröffentlicht, in dem sie von der jüdischen Mutter und dem kommunistischen Vater und Widerstandskämpfer erzählt, die nur knapp der nationalsozialistischen Vernichtung entkamen und nach dem Ende des NS-Terrors nach Dresden zurückkehrten, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Für ihr kritisches Engagement wurde die Autorin mit der Ehrenmedaille der Stadt Dresden ausgezeichnet.

Antisemitismus begegnet Nora Goldenbogen immer wieder, in ganz unterschiedlichen Formen. „Bis heute werde ich für die Politik von Israel verantwortlich gemacht, auch wenn ich in Dresden geboren bin“, erzählt sie. Als deutsche Jüdin bekommt sie des Öfteren zu hören: „Was macht denn Ihre Regierung da?“ Gemeint ist dann wohlgemerkt nicht die deutsche, sondern die israelische Regierung. Eine gängige Zuschreibung sei, ihr aufgrund ihrer jüdischen Identität die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft abzusprechen, nach dem Motto: „Eigentlich gehört ihr nicht hierher.“ Nicht selten würden auch Relativierungen des Nationalsozialismus wie diese geäußert: „Die (Anm. der Redaktion: Israel) sind ja auch nicht besser als die Nazis.“ In der Öffentlichkeit entstand zuletzt wieder der Eindruck, dass Antisemitismus vor allem ein Problem zugewanderter Muslime sei, eine Art Import also.

„Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren.“

Nora Goldenbogen

Nora Goldenbogen erlebt das in Dresden und Sachsen ganz anders: Wenn etwa deutsche Besucher in die Synagoge kommen und fragen, ob es denn für den Bau der Synagoge nicht genug jüdisches Geld gegeben habe. Juden und Geld. Juden als Strippenzieher. Solche Stereotype verfolgen sie seit Jahrzehnten. In den vergangenen Jahren ist es nach ihrer Überzeugung schlimmer geworden.

„Antisemitische Klischees gab es damals auch in den Köpfen der DDR-Bürger“, erinnert sie sich. Diese Klischees würden in den Familien weitergegeben. Im Osten ebenso wie im Westen. Sie hat gelernt, damit zu leben. Dennoch beunruhigt es sie, wie viele in der Pandemie bereit waren, sich mit einem gelben Ungeimpft-Stern mit NS-Opfern gleichzusetzen: „Das ist erschreckend.“ Krisen seien immer mit starker Verunsicherung verbunden. „Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren“, sagt Goldenbogen. Und die Krisen nehmen anscheinend kein Ende: Corona, Klima, Krieg.

„Du Jude“ als Schimpfwort

Aus vielen Gesprächen in den sächsischen Gemeinden weiß sie, dass Judenfeindschaft längst nicht nur ein Problem von Ewiggestrigen aus der älteren Generation ist. „Wir haben in den vergangenen Jahren sehr oft darüber gesprochen, dass Antisemitismus in den Schulen normal geworden ist“, berichtet Goldenbogen. Auf Schulhöfen ist die Phrase „Du Jude“ vielerorts eine gängige Schmähung geworden. Viele Lehrer seien nicht in der Lage, mit ihren Schülern darüber zu reden, geschweige denn das Klima in Klassen und Schulen zu verändern, kritisiert Goldenbogen. Seit Langem gibt es Pläne der Kultusministerkonferenz, Antisemitismus stärker als bisher in den Lehrplänen zu verankern. Doch umgesetzt wurden diese bislang nicht.

Vorurteile und Anfeindungen im Alltag kennen auch ihre sächsischen Gemeindemitglieder, berichtet Nora Goldenbogen: „Ein großer Teil lebt sein Judentum ziemlich zurückgezogen.“ Sie weiß aus Gesprächen, dass private Konflikte zwischen Nachbarn mitunter eskalieren, wenn jemand plötzlich äußert: typisch Jude. Dann werden in einem bis dahin alltäglichen Streit um Banalitäten auf einmal antisemitische Klischees verwendet. „Das ist ziemlich schwer auszuhalten“, sagt sie.

5) Spucken, drohen, schlagen

Bianca Loy arbeitet als Referentin für die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Berlin, die mit ihrem Monitoring maßgeblich dazu beitragen, ein genaues Bild vom Ausmaß antisemitischer Anfeindungen und Übergriffe zu gewinnen. Sie weist darauf hin, dass es im vergangenen Jahr durchschnittlich fast sieben antisemitische Vorfälle pro Tag gab. Darunter auch mit neun Fällen einen neuen Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt: „Das ist eine neue qualitative Dimension antisemitischer Vorfälle.“ Wobei von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, weil viele Betroffene antisemitische Erlebnisse erfahrungsgemäß selten melden oder gar anzeigen. Loy betont den alltagsprägenden Charakter der Übergriffe. Sie ereigneten sich „beim Einkaufen oder im eigenen Wohnumfeld“. Das macht es für Betroffene so gefährlich und traumatisierend. Denn man kann Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt nicht aus dem Weg gehen, wenn sie sich in der Nachbarschaft, der Schule oder im Supermarkt um die Ecke ereignen.

Neuer Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt

Loy berichtet von einem jüdischen Mann, der mit einem Freund ein Café in Hamburg besucht hat und eine Kippa trug, woraufhin er von der Bedienung zu hören bekam: „Ja, dass er Geld hat, sieht man schon an der Mütze. Die haben immer genug Geld.“ In einem anderen Fall wurde ein erkennbar jüdisches Paar im Auto bis auf einen Parkplatz verfolgt und von einem anderen Fahrzeug ausgebremst. Dort schlugen dann drei Männer gegen das Auto, bespuckten die Fenster, beleidigten ihre Opfer antisemitisch und drohten ihnen Gewalt an. Das Spektrum von alltäglichem Antisemitismus reicht von Vorurteilen über das Absprechen der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft (sog. „Othering“) und Drohungen bis zu offener Gewalt.

Nach den Angriffen der Hamas auf Israel haben in Deutschland deutlich mehr Betroffene Unterstützung bei OFEK gesucht. (Spiegel, Artikel vom 7. November 2023)

Immer wieder beklagen Betroffene, von den Sicherheitsbehörden nicht ernstgenommen zu werden. Insbesondere wird Antisemitismus im Rahmen einer Strafverfolgung nicht immer als Tatmotiv anerkannt. Bianca Loy bemerkt zwar durchaus Fortschritte. So sei es ein erster wichtiger Schritt, dass einzelne Beamtinnen und Beamte in den zuständigen Staatsschutzabteilungen der Polizei inzwischen im Umgang mit Antisemitismus geschult seien. Darüber hinaus brauche es aber „eine Sensibilisierung in der Breite der Polizeibehörden“. RIAS sehe weiterhin großen Bedarf, „die Betroffenenperspektive ernstzunehmen und einzubeziehen; das gilt im Besonderen für die Strafverfolgungsbehörden.

Dafür ist zentral, dass ein Verständnis für Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen vorhanden ist und den Betroffenen Sensibilität entgegengebracht wird.“ So müsse auf Seiten der Staatsanwaltschaften die Würdigung einer antisemitischen Motivlage in Strafverfahren zu einem zentralen Thema werden. Antisemitismus wird oft nur dann eindeutig erkannt und geahndet, wenn es bei einer Tat einen direkten Bezug zu NS-Symbolen oder Parolen gibt. Die Erfahrungen aus der Praxis sprechen dafür, den Umgang mit modernem Antisemitismus sehr viel stärker und systematischer in Aus- und Fortbildungen zu verankern. Viele Institutionen stehen da erst am Anfang, wie Fachleute aus der Praxis politischer Bildungsarbeit übereinstimmend berichten.

6) Antisemitismus in der politischen Kultur

Politisch leistet die AfD dem Antisemitismus systematisch Vorschub. Nicht nur, indem deren Personal mit antisemitischen Codes über „globalistische Eliten“ raunt. Der Begriff „Globalisten“ gilt als ein Synonym für Juden, die in Verschwörungserzählungen als vermeintlich wurzellose, über die Welt verteilte Zerstörer gewachsener Völker und Kulturen angesehen werden. Darüber hinaus greift die AfD offen die deutsche Erinnerungskultur an. Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke hat das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ genannt und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert. AfD-Politiker verhöhnen das rituelle Gedenken an die Opfer der Shoah als „Schuldkult“. Auschwitz soll als zentraler Fixpunkt deutscher Erinnerungskultur beseitigt werden, um wieder ungestört von deutscher Schuld völkische Ideologie propagieren zu können.

Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, warnt vor einem „erinnerungspolitischen Klimawandel“ im Land. Der politische Geschichtsrevisionismus bleibt derweil nicht folgenlos. Seit einiger Zeit registrieren NS-Gedenkstätten eine Zunahme rechtsextremer Vorfälle. Gedenkorte für Nazi-Opfer werden mit Propaganda-Parolen und Hakenkreuzen geschändet.

Hubert Aiwanger. Foto: Lennart Preiss/dpa

Der Fall Aiwanger

Auftrieb erhalten rechte Täter auch durch öffentliche Debatten wie im Fall des Freie-Wähler-Politikers Hubert Aiwanger, bei dem zu dessen Schulzeiten eine antisemitische Hetzschrift gefunden worden war. Bianca Loy von RIAS kritisiert, dass in der Debatte um den bayerischen Politiker eine „Abwehr der Erinnerung an die Shoah“ erfolgt sei und „jegliche Verantwortung zurückgewiesen wurde“. Im Gegenteil stilisierte sich der Chef der Freien Wähler in Bayern in Bierzelten lautstark als Opfer einer medialen und politischen „Schmutzkampagne“. Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, sagt: „Aus meiner Sicht hat diese Angelegenheit dem Kampf gegen Antisemitismus in diesem Land geschadet.“ Er appelliert, nicht zuzulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus lediglich als Teil des politischen Geschäfts wahrgenommen werde. Die politische Kultur entscheidet maßgeblich darüber, wie wirkmächtig Judenfeindschaft in der Gesellschaft werden kann. Ob diese Menschenverachtung stillschweigend geduldet oder im Gegenteil konsequent tabuisiert und ausgegrenzt wird.

Judenwitze im Abendprogramm

Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, Antisemitismus nur als Problem von Jüdinnen und Juden misszuverstehen. Er ist aber vielmehr Ausdruck eines Demokratieproblems, das alle angeht, weil er die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens zerstört. Darum sind Bianca Loy zufolge auch alle in der Gesellschaft gefragt, „jede Form von Antisemitismus zu ächten“. Damit tut sich die deutsche Gesellschaft allerdings regelmäßig schwer. Das war bei antisemitischer Kunst auf der Kunstschau Documenta so und auch, nachdem die Kabarettistin Lisa Eckhart im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Judenwitze erzählt hat.

Zuletzt fiel Fernsehphilosoph Richard David Precht in einem Podcast mit dem Talkmaster Markus Lanz mit antisemitischen Stereotypen über orthodoxe Juden auf, denen die jüdische Religion angeblich zu arbeiten verbiete, mit Ausnahme von „ein paar Sachen wie Diamanthandel“ und „Finanzgeschäfte“. Nach heftiger öffentlicher Kritik ruderten Precht und das ZDF zurück. Precht räumte später seine falsche Aussage ein. Bezeichnenderweise entschuldigte er sich aber lediglich bei jenen, deren „religiöse Gefühle“ er verletzt habe oder „die das an antisemitische Klischees erinnert hat“. Das ZDF sprach auch nur davon, dass Prechts Darstellung „missverständlich interpretiert werden konnte“.

Wo ist die Solidarität, wenn es drauf ankommt?

Dagegen kritisiert Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg, in einem Faktencheck, in dem Podcast seien „reihenweise Falschbehauptungen“ über das Judentum verbreitet worden. So würden gläubige Juden keineswegs wie behauptet „den ganzen Tag beten“, sondern dreimal am Tag. Blume kritisierte auch die Aussage von Lanz über angebliche „Mächte und Kräfte“, die ein großes Interesse daran haben, einen streng gläubigen Menschen „emotional einzukesseln“ und „fast als Geisel zu nehmen“. Blume erkennt in diesen unbedachten Äußerungen „antisemitische Verschwörungsmythen“. In den deutschen Debatten zum Thema ist derartige, auf Sachkenntnis beruhende Kritik selten.

Ebenso die Erkenntnis, dass sich auch ansonsten aufgeklärte Menschen antisemitisch äußern können. In vielen Medien ist oft nur vom Vorwurf des Antisemitismus die Rede, ohne diesen inhaltlich zu prüfen und zu werten. Die vielbeschworene Solidarität mit Jüdinnen und Juden – im Alltag lässt sie gerade dann zu wünschen übrig, wenn es drauf ankommt. Auch weil es in allen gesellschaftlichen Bereichen an Wissen über Antisemitismus fehlt.

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Der beeindruckende Appell von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) gegen jeden Antisemitismus und für Solidarität mit Israel ist eine seltene Ausnahme im deutschen Diskurs. Dessen Videobotschaft, die lagerübergreifend auf große Resonanz stieß, drückt nicht nur eine unmissverständliche Haltung aus, sondern erklärt auch, dass die mantrahaft beschworene Formel „Nie wieder“, die zur deutschen Staatsräson wurde, mehr sein muss als eine bloße Behauptung: nämlich die konkrete Verpflichtung, im Hier und Jetzt entsprechend zu handeln.

Der Minister blendet dabei nichts aus. Weder das unermessliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung noch die Pflicht von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, auch den gesellschaftlichen Grundkonsens einzuhalten, wonach Antisemitismus unter keinen Umständen geduldet wird. Habeck hat damit an ein deutsches Selbstverständnis erinnert, das an Gedenktagen regelmäßig beschworen wird, bevor das Land dann am nächsten Tag wieder zu einer weit weniger idealen Tagesordnung übergeht.

Am 27. Januar, dem sogenannten Holocaustgedenktag, oder in Reden anlässlich der Reichspogromnacht am 9. November heißt es immer wieder, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Deutschland gehöre. Aber die Realität sieht vielerorts anders aus. Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen müssen permanent vor Gewalt und Terror geschützt werden. Im Alltag wird Antisemitismus zu oft entweder nicht erkannt, ignoriert oder sogar geduldet. Das darf nicht so bleiben.

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Erstellt am: Dienstag, 1. Februar 2022 von Torben

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Christina Feist hat den antisemitischen Anschlag in Halle überlebt. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Foto: Tobias Großekemper

Dieser Text richtet sich an diejenigen, die mich immer wieder fragen, warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen kann.

Im März 2019, sieben Monate vor dem Attentat auf die Synagoge in Halle, zog ich im Rahmen meiner Promotion für einen ursprünglich einjährigen Auslandsaufenthalt von Berlin nach Paris. Ein Jahr später und fünf Monate nach dem Attentat in Halle kämpfte ich in Paris nach wie vor mit Symptomen des erlebten Traumas.

Ich hatte Alb- und Angstträume, erschrak bei jedem plötzlichen, lauten Geräusch und hatte Schwierigkeiten, durch den Tag zu kommen. Das Attentat begleitete mich auf Schritt und Tritt. Ein Umzug – ganz egal wohin – war unvorstellbar.

Auch jetzt, anderthalb Jahre später, wird mir beim Gedanken, nach Deutschland zurückziehen zu müssen, immer noch schlecht. Und das sorgt für Irritationen.

Warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen könne, fragt Ihr mich bestürzt. In Deutschland bewege ich mich in der Angst, antisemitisch angegriffen zu werden. Und gleichzeitig in der Gewissheit, damit gegebenenfalls alleine dazustehen: Werde ich
auf der Straße angegriffen, wie es Freunden und Freundinnen von mir in Deutschland regelmäßig passiert, ist darauf Verlass, dass von den Umstehenden niemand eingreift. Falls überhaupt jemand stehen bleibt.

Eine Tafel an der Mauer der Synagoge erinnert an den Anschlag eines Rechtsradikalen in Halle. Der Mann versuchte, mit selbst gefertigten Waffen die Synagoge zu stürmen und ein Blutbad anzurichten. Als ihm das misslang, erschoss er in der nahegelegenen Innenstadt zwei Menschen und verletzte weitere. Foto: Tobias Großekemper

Das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall

Von der Polizei ist statt Hilfe im besten Fall noch Gleichgültigkeit zu erwarten. Im schlimmsten Fall begegnet Betroffenen dort erneut Antisemitismus, Rassismus, Trans- oder Homofeindlichkeit.

Die Politik bedient derweil beharrlich das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall. Lasst mich Euch also eine Gegenfrage stellen: Wie entbehrlich sind Euer Sicherheitsgefühl und Vertrauen in den Staat, in dem Ihr lebt?

Diese Antwort gefällt vielen von Euch nicht. Trotzdem begegnet Ihr mir ungläubig, ungeduldig und wütend. Das könne ja alles gar nicht sein, Deutschland habe schließlich aus seiner Geschichte gelernt. Ein Problem mit gesellschaftlich tief verankertem Antisemitismus und Rassismus könne es also gar nicht geben. Ich frage Euch: Wo ist diese angeblich solidarische Mehrheit, die Zivilcourage und Menschlichkeit beweist? Wo ist sie, wenn Freunde an Yom Kippur auf der Straße antisemitisch beschimpft werden? Wenn Mitstipendiaten die Kippa vom Kopf gerissen wird und sie körperlich angegriffen werden?

Der Antisemitismus marschiert in Form der Querdenker ungehindert durch Deutschlands Straßen. Während diese die Shoah verharmlosen und antisemitische Parolen skandieren, ist diese angeblich solidarische Mehrheit, als Teil derer Ihr Euch begreift, damit beschäftigt, die Perspektive der Betroffenen infrage zu stellen. Ihr relativiert und bagatellisiert unsere Erfahrungen mit antisemitischen und rassistischen Angriffen. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und an Veränderung zu arbeiten, stellt Ihr infrage, was wir, die Überlebenden und Hinterbliebenen, schon lange wissen: Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem.

Warum wir gegen Hass und Hetze vorgehen müssen

Hass und Hetze im Internet sind zum Alltag geworden. Wir dürfen menschenverachtende Worte einfach nicht ignorieren, sondern müssen ihnen entgegentreten, sagt Hasnain Kazim.

Ohrenbetäubendes Schweigen einer Mehrheit

Antisemitische und rassistische Anfeindungen – online wie offline – sind schon lange Teil unseres Alltags. Gehört werden wir, die Betroffenen, aber erst, wenn es zu Terrorakten wie 2019 in Halle oder 2020 in Hanau kommt. Dann ruft Ihr reflexartig „Nie wieder“ und „Einzeltäter“. Und verliert bald wieder das Interesse. Aber antisemitische und rassistische Angriffe sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines tief verwurzelten Netzwerks rechtsextremer Ideologie.

Auch ich, als Betroffene eines rechtsextrem und neonazistisch motivierten Terroranschlags, bin keine Einzelerscheinung. Ich bin Teil einer ganzen Reihe von Menschen, die allesamt Opfer und Betroffene rechter Gewalt- und Terrorakte sind und deren Zahl stetig und mit erschreckender Geschwindigkeit wächst. Die Menge derer, die auch nach dem ersten „Nie wieder“-Hype noch neben uns, den Betroffenen, stehen, ist hingegen überschaubar gering. Einige davon durfte ich während des Prozesses gegen den Täter von Halle kennenlernen. Jeden Prozesstag standen sie im und vor dem Gerichtsgebäude, gaben mir Kraft und Halt. Diese Menschen sind Teil einer couragierten, solidarischen Minderheit in einer überwiegend schweigenden Mehrheit.

Dieses ohrenbetäubende Schweigen einer Mehrheit, die von sich behauptet, weder antisemitisch noch rassistisch zu sein, übertönt oft die vereinzelten solidarischen Zwischenrufe. Zu einsam und leise sind auch die Stimmen der Betroffenen, die sich nicht abspeisen lassen, sondern unentwegt mahnen, warnen und fordern. Sie versanden in der Gleichgültigkeit ebendieser schweigenden Mehrheit.

„Wenn wir um Hilfe rufen, hört ihr weg“

Was sich denn ändern muss, fragt Ihr mich. Fangen wir damit an, was sich seit Oktober 2019 für mich geändert hat: Ich lebe nach wie vor in Paris. Meine Berufsaussichten mit einer deutschsprachigen Dissertation im nicht deutschsprachigen Ausland sind begrenzt. Und trotzdem werde ich nicht nach Deutschland zurückkehren.

Getrieben von der Angst vor Eurem eigenen schlechten Gewissen, hakt Ihr nach. Ich schaue Euch in die Augen und antworte: Ihr stellt Euch nicht neben uns, wenn Juden und Jüdinnen auf Deutschlands Straßen beschimpft werden. Wenn wir um Hilfe rufen, hört Ihr weg. Stattdessen winkt Ihr mit Israel-Flaggen, weil Ihr jüdische Menschen nicht von Israel unterscheiden könnt, setzt Euch eine Kippa auf und ruft empört „Nie wieder“. Dann suhlt Ihr Euch in Selbstzufriedenheit und nennt das „Solidarität“.

Eure Empathie reicht genau bis zum Ende Eurer Komfortzone. Und Ihr gebt Bestürzung vor und fragt mich, warum ich nicht in Deutschland leben will?

Dieser Text ist ein Abdruck aus dem Buch „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“, das zu der gleichnamigen Ausstellung des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv erschienen ist. Der WEISSE RING unterstützt die Ausstellung.

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Erstellt am: Montag, 8. März 2021 von Sabine

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Maja Metzger ist Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Halle. Nach dem Terroranschlag im November 2019 betreuten sie und ihre Kollegen Opfer und Angehörige. Wie hat sich die Stadt seither verändert?

Maja Metzger, 51 Jahre alt, kam 2017 zum WEISSEN RING.

Es ist nicht der schlechteste Zeitpunkt, als Maja Metzger im Jahr 2017 angesprochen wird. Ob sie sich vorstellen könne, beim WEISSEN RING mitzuarbeiten in Halle an der Saale. 47 Jahre ist sie damals alt. Der Sohn alt genug, es gibt etwas Platz in ihrem Leben, und sie sagt, dass sie sich das mal anschauen werde. Sich sinnvoll einzubringen, Menschen zu helfen, das höre sich alles ja nicht schlecht an.

Es war auch der Grund, warum sie damals, 1988, noch zu DDR-Zeiten, angefangen hatte, Jura zu studieren – in Leipzig, das lag näher an ihrem Elternhaus im Erzgebirge. Es gab damals in der DDR nur zwei Standorte, an denen man Jura studieren konnte, Leipzig und Halle. Dass sie dann später doch nach Halle kam, lag an der Liebe: Sie lernte in Leipzig ihren späteren Mann kennen. 1993 wurde sie in Halle Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Familie und Soziales – dann war erst einmal das eigene Leben dran.

So sind es jetzt auch schon wieder 20 Jahre in dieser Stadt, die laut Frau Metzger „die graue Diva“ genannt wird, was verwundert, wenn man sie durchstreift. Das liege vielleicht daran, dass früher, in der DDR, die Leuna- und die Buna-Werke nicht weit entfernt lagen. Riesige Chemiekombinate zu Zeiten, als „Schadstoffemissionen“ zwar zu riechen und an den Häuserfassaden zu sehen waren, das Wort dafür aber noch nicht existierte. Was einzig und allein zählte, war die Produktion.

Viel Arbeit und viel Verantwortung

Zwanzig Jahre sind eine Zeit, in der man sich gut an die Stadt gewöhnen kann, in der man lebt. Heute ist Metzger Lokalpatriotin, sie geht, nein ging gerne zum Halleschen FC, was mehr mit Liebe zu tun haben muss als mit Fußball. Und sie hat zwei Päckchen Halloren-Kugeln mitgebracht zum Gesprächstermin, eine zuckersüße Spezialität aus Halle. Das verrät auch etwas über den Menschen Maja Metzger.

Sie schaut sich 2017 den WEISSEN RING an, und vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, dass das Grundseminar im Augustinerkloster in Erfurt stattfindet. Eine „tolle Erfahrung“ sei das gewesen. Und wie sie das so erzählt, da strahlen ihre Augen, und die Stimme, die im Gespräch sonst eher zurückhaltend und ruhig, fast vorsichtig klingt, hebt sich um eine Nuance.

Irgendwann während des Gesprächs wird Frau Metzger sagen, dass sie nicht gerne im Mittelpunkt stehe, und so tritt sie auch auf – im positiven Sinn zurückhaltend. Das kommt ihr zugute, speziell bei der Arbeit, die in der ersten Zeit beim WEISSEN RING auf sie wartet. „Ich hatte das nicht erwartet, aber sehr viele der Fälle hatten einen sexuellen Hintergrund.“ Missbrauch, Vergewaltigungen, das werden ihre vorrangigen Beratungsfälle. Letztlich – und das ist ja auch logisch – war schon bei ihrer Anwerbung die Intention: Eine gestandene Frau, lebenserfahren, ist für die meist weiblichen Opfer die angenehmere Ansprechpartnerin. „Es ist viel Arbeit und viel Verantwortung“, sagt sie. „Und es ist eine dankbare Arbeit, in der man sieht, was man bewirken kann.“

Fassungslosigkeit nach den Schüssen

2018 wird sie Außenstellenleiterin in Halle. So hätte es weitergehen können mit dieser wichtigen Arbeit, mit der Verantwortung. Aber dann kommt etwas über Halle, was sich niemand hatte vorstellen können. Am 9. Oktober 2019 in der Mittagszeit. Frau Metzger geht an diesem Tag aus ihrem Büro in der Innenstadt zur Post, ob sie etwas aufgegeben oder abgeholt hat, weiß sie gar nicht mehr. Aber was sie noch weiß, ist, dass, als sie wieder im Büro ist und auf ihr Handy schaut, an die 50 Nachrichten darauf sind. Wo sie sei, ob es ihr gut gehe, solche Sachen. Sie schaut in den Rechner und liest dann etwas von Schüssen in der Hallenser Innenstadt, von einer unklaren Anzahl an Verdächtigen.

Sie ist fassungslos, sucht weiter nach Informationen, irgendwann steht da etwas von einem jungen Mann, der in einem Dönerladen erschossen worden sei. Und ihr Sohn? Der ist doch auch ein junger Mann? Der isst doch auch gerne Döner? Sie lässt die Jalousien herunter und bleibt, wie öffentlich dazu aufgerufen, in ihrem Büro.

Am 9. Oktober 2019 erschießt in Halle ein 27-jähriger Mann einen anderen vor einem Dönerladen: Ein Terroranschlag, der die Stadt veränderte.

Zwei Menschen sterben

Der Terror kommt an diesem Tag nach Halle in Form eines 27-jährigen Mannes, der bei seiner Mutter im Kinderzimmer lebt und der von dort aus eine Revolution starten will – gegen Muslime, Frauen und vor allem gegen Juden. Die Tat ist hinreichend an anderer Stelle beschrieben, ausgeführt mit selbstgebauten Waffen, die Baupläne dazu stammen aus dem Netz. Daher kommen auch sein ganzes kaputtes Weltbild und sein Hass – einen anderen Zugang zur Welt als seinen Computer hatte er nicht.

Zwei Menschen sterben an dem Tag, hätten seine selbstgebauten Waffen nicht so oft geklemmt, wäre die Zahl der Opfer deutlich höher gewesen. In sein eigentliches Ziel, die Hallenser Synagoge, kann er nicht vordringen. Er erschießt eine 40-jährige Frau vor der Synagoge, kurz darauf einen Mann in einem Dönerladen. Ein Ehepaar außerhalb von Halle wird auf der Flucht des Täters von ihm angeschossen. Neun versuchte Morde werden ihm später vor Gericht vorgeworfen, er wird zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Terrorattacken wie diese werden in Präventions- und Notfallplänen als Großschadensereignisse eingestuft. „Pläne, wie damit umzugehen ist, haben wir ja in der Schublade“, sagt Frau Metzger heute. Bis zu diesem Tag im Oktober 2019 hatte sie aber keine Vorstellung davon, was ein solches „Großschadensereignis“ alles auslösen kann.

Am nächsten Morgen kommen die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in der Außenstelle zusammen, die gleichzeitig auch das Landesbüro ist. Hier, vor der Glasscheibe, stand am Tag des Anschlags noch ein Polizist mit einer Maschinenpistole.

Eine Stadt im Ausnahmezustand

Maja Metzger trägt das Mobiltelefon bei sich, an dem sich Opfer melden können. Zunächst rufen viele Eltern an, die ihre Kinder nicht erreichen können – Halle ist eine Studentenstadt. Dazwischen Menschen aus der Stadt, die einfach mal reden wollen, über Ängste oder Sorgen. „So ein Angriff aus dem Nichts erschüttert Menschen in ihren Grundfesten“, sagt Frau Metzger. Die übliche Sorglosigkeit, die so alltäglich ist, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, ist von heute auf morgen weg. An ihre Stelle tritt das Gefühl: „Ich kann auf die Straße gehen und komme vielleicht nicht wieder nach Hause.“ Das mache etwas mit den Menschen, ob sie Zeuge wurden oder nicht.

So etwas sei auch nach ein paar Wochen oder Monaten nicht vorbei: „Der Ausnahmezustand hat hier schon ein halbes Jahr gedauert, viele wollten das erst einmal mit sich selbst ausmachen.“ Dann hätten sie sich doch gemeldet, telefonisch. Oder sie kamen einfach vorbei.

Insgesamt werden 36 Opfer betreut, auch Angehörige von Opfern. Der Außenstelle Halle kommen damals zwei Dinge zugute: Einerseits, dass ihr Sitz in der Innenstadt auch der Sitz des Landesverbandes ist. So gib es eine Anlaufstelle, einen großen Raum, einen kleinen Raum, Platz für die Arbeit, die getan werden muss. „Einen Raum, in dem wir uns besprechen können und wo das Besprochene bleiben kann.“

An der Synagoge von Halle hängt eine Gedenktafel für die Todes- und alle weiteren Opfer des antisemitischen Terroranschlags.

Andererseits haben sie in einer Studentenstadt wie Halle, viele ehrenamtliche Helfer. Wer Metzger heute fragt, was eine Außenstelle aus einem Ereignis wie diesem lernen kann, erhält zur Antwort, dass das, was getan werden muss, auf möglichst viele Schultern verteilt werden müsse. Und was sie selbst gelernt hat? „Dass es gut ist, etwas tun zu können und nicht hilflos daneben zu stehen.“

Die Stadt verändert sich nach dem Anschlag, in den Tagen danach ist das am meisten zu spüren. Menschen rücken näher zusammen, sprechen oder schweigen gemeinsam. Die Zusammenarbeit des WEISSEN RINGS mit den Behörden sei damals enger geworden. Spenden, die in der Stadt gesammelt werden, gehen an die Opferhilfeorganisation und werden weitergereicht: rund 31.000 Euro. Ein Ehepaar, niedergeschossen vom Täter, wird vor Gericht aussagen, dass die einzige Institution, die ihm die ganze Zeit zur Seite gestanden habe, der WEISSE RING war.

Verlust der Sorglosigkeit

Und dennoch: Die Hilfe, das Näherrücken, der Zusammenhalt danach können nichts ungeschehen machen: nicht die Toten, nicht die Verletzten, nicht die Geschockten und die Traumatisierten. Ebenso wenig den Verlust der Sorglosigkeit und den Hass, der sich damals Bahn bricht und bis heute noch bisweilen nachwirkt: Der Täter filmt damals seine Taten und stellt sie live ins Netz. Auch Frau Metzger, die das Geschehen damals selber gar nicht miterlebt, wird es später doch noch sehen: Dieses Video wird ihr kommentarlos auf WhatsApp zugeschickt, fünf, sechs Mal kommt es bei ihr an. Wie oft es wohl andere bekommen haben?

Heute, im Frühjahr 2021, sitzt Frau Metzger in der Außenstelle Halle, der Ausnahmezustand ist vorbei, an den Tatorten erinnern Tafeln an die Tat, hier und da in der Stadt steht „Niemals vergessen Kevin und Jana“ auf Stromkästen gesprüht. Das Unfassbare ist und bleibt unfassbar. Und es lässt so viele andere Dinge kleiner wirken: Dass wegen der Pandemie die Friseure geschlossen sind, ist für Maja Metzger zum Beispiel ziemlich irrelevant. Dass sie nicht zum Halleschen FC kann, stört sie dann doch schon ein bisschen mehr – aber nur ein bisschen. Es gibt, das hat die Zeit gezeigt, wirklich Schlimmeres.