Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Erstellt am: Donnerstag, 22. August 2024 von Sabine

Foto: Christoph Klemp

Datum: 22.08.2024

Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals "offen" gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt.

Mainz – Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals „offen“ gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt. „Auch Regelungen im Gewaltschutzgesetz kann ich mir grundsätzlich vorstellen”, sagte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit Fußfesseln können die Behörden überwachen, ob sich Gefährder trotz gerichtlicher Kontaktverbote den Betroffenen nähern. Recherchen des WEISSEN RINGS haben gezeigt, dass Gewalttäter in Deutschland jährlich tausendfach gegen solche Anordnungen verstoßen und es dadurch immer wieder zu schweren Verletzungen und sogar Tötungen kommt.

Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, fordert deshalb schon lange eine Aufnahme der elektronischen Überwachungsmöglichkeit ins Gewaltschutzgesetz. Im Dezember 2023 hatte Dr. Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, einen entsprechenden Brandbrief an Minister Buschmann geschickt. Liesching wies darauf hin, dass in Deutschland an jedem dritten Tag ein (Ex-)Partner eine Frau töte, und schrieb: „Was mich besonders erschüttert: Viele dieser Frauen hatten sich vor der Tat hilfesuchend an den Staat gewandt.“ Er sei der Überzeugung, „dass der deutsche Staat Frauen besser schützen kann, als er es derzeit tut“. Erst vor wenigen Tagen stellte Liesching gemeinsam mit Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU) eine Bundesratsinitiative des Landes vor, mit der das Gewaltschutzgesetz erweitert werden kann.

Bislang hatte Bundesjustizminister Buschmann allerdings ablehnend auf derartige Forderungen reagiert. So antwortete sein Haus Ende 2023 auf eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“.

Mit Blick auf die aktuellen Äußerungen Buschmanns im RND-Interview sagte Patrick Liesching am Donnerstag: „Wir freuen uns sehr, dass sich nunmehr auch der Bundesjustizminister für eine bundesrechtliche Regelung beim Fußfessel-Einsatz gegen Gewalttäter öffnet. Jetzt hoffen wir im Interesse der schutzbedürftigen Frauen, dass die hessische Bundesratsinitiative schnell zu der längst überfälligen Gesetzesänderung führt.“

Wie die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gewalttätern bedrohte Frauen schützen kann, zeigt seit Jahren das Beispiel Spanien. Der WEISSE RING und die hessische Bundesratsinitiative regen ein solches Modell auch für Deutschland an.

“Es wird höchste Zeit“

Erstellt am: Freitag, 16. August 2024 von Sabine

Foto: WEISSER RING e. V.

Datum: 16.08.2024

“Es wird höchste Zeit“

Hessens Justizminister Heinz besucht den WEISSEN RING in Eschborn und stellt Pläne zum besseren Schutz von Frauen gegen Gewalt vor.

Eschborn – Der hessische Justizminister Christian Heinz (CDU) hat am dritten Tag seiner „Rechtsstaats-Tour“ durch Hessen den hessischen Landesverband des WEISSEN RINGS in Eschborn besucht. Im Gespräch Dr. Patrick Liesching, Vorsitzender des WEISSEN RINGS im Bund und in Hessen, und der ehrenamtlichen Opferhelferin Ingeborg Altvater ging es um den besseren Schutz von gewaltbetroffenen Frauen durch den Einsatz von elektronischer Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel). Die hessische Landesregierung hat eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, eine entsprechende Regelung in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann stellt sich dem bislang entgegen.

„Statistisch gesehen findet in Deutschland jeden Tag der Versuch einer Tötung einer Frau statt, jeden dritten Tag kommt es auch zu einer Vollendung einer Tötung. Das ist etwas, das mich persönlich sehr bewegt, weil ich auch als Staatsanwalt solche Fälle hatte. Und wenn man dann in die Details geht, die da ermittelt werden, die Betroffenheit von Angehörigen, von Kindern, von Waisen oder Halbwaisen sieht, dann ist das etwas, das einen nicht kalt lässt und das einen hohen Handlungsdruck erzeugt“, sagte Liesching zu Beginn des Gespräches. „Deswegen begrüße ich die Initiative von Justizminister Heinz außerordentlich.“

Die Bundesratsinitiative sieht unter anderem vor, die elektronische Fußfessel durch eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes bundesrechtlich zu verankern. „Momentan gibt es lediglich nach den Polizeigesetzen der Länder die Möglichkeit, dass Betroffene von häuslicher Gewalt durch die elektronische Fußfessel bei den Tätern nur kurzfristig und vorübergehend geschützt werden, eben bis gerichtliche Maßnahmen greifen. Um eine dauerhafte und nicht nur kurzfristig wirkende Möglichkeit zu haben, gerichtliche Kontakt- oder Näherungsverbote mit einer Fußfessel zu kontrollieren, muss die Fußfessel ins Gewaltschutzgesetz aufgenommen werden“, sagte der Justizminister.

Dr. Patrick Liesching richtet Forderungen an die Bundespolitik. Foto: WEISSER RING

Eine bundeseinheitliche Regelung zur präventiven, elektronischen Aufenthaltsüberwachung fordert der WEISSE RING seit Jahren. „Es ist höchste Zeit, dass der Bundesgesetzgeber endlich wirksame Instrumente schafft, um der Gewalt durch (Ex-)Partner zu begegnen. Die bisherigen Regelungen des Gewaltschutzgesetzes sind nicht ausreichend. Modelle zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Spanien und anderen europäischen Ländern zeigen eindrucksvoll, dass man solche Tötungen erfolgreich und effektiv verhindern kann. Deshalb kann ich die ablehnende Haltung von Bundesjustizminister Buschmann in keiner Weise nachvollziehen“, so Liesching.

Marco Buschmann hat sich in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur im vergangenen Juli gegen eine einheitliche Regelung ausgesprochen, wofür ihn der WEISSE RING scharf kritisierte. Der FDP-Politiker sieht zwar ebenfalls eine Notwendigkeit, den Schutz vor Gewalt durch Partner beziehungsweise Ex-Partner zu verbessern. Länder, die dafür elektronische Fußfesseln nutzen wollten, könnten dies aber selbst regeln, sagte Buschmann im Interview.

In Hessen ist der Einsatz von Fußfesseln zum Schutz vor gewalttätigen (Ex-)Partnern möglich. „Die Praxis hat aber gezeigt, dass das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, was das sogenannte HSOG ist, ein sehr schwaches Schwert ist“, so Justizminister Christian Heinz im Gespräch mit dem WEISSEN RING. Das Tragen einer Fußfessel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr sei nur für zwei bis maximal drei Wochen rechtlich zulässig. Recherchen des WEISSEN RINGS haben außerdem gezeigt, dass der Anordnung einer Fußfessel nach dem Landespolizeigesetz häufig sehr hohe rechtliche Hürden entgegenstehen und dies bislang nur in wenigen Bundesländern überhaupt möglich ist.

Einen kleinen, aber doch sehr bedrückenden Einblick in die Lage von häuslicher Gewalt betroffener Menschen, brachte die Außenstellenleiterin des Main-Taunus-Kreises im WEISSEN RING, Ingeborg Altvater. Sie berichtet: „Wenn Frauen es geschafft haben, sich aus einer gewaltsamen Beziehung zu trennen, dann hört das Leid nicht auf, sondern die Frauen leben unserer Erfahrung nach dann in einer Situation, die voll von Angst, von Bedrohungen, von Unsicherheit ist. Konkret sieht es dann so aus, dass sich die Frauen immer mehr zurückziehen. Sie leben teilweise in abgedunkelten Räumen, sperren sich da ein, verbarrikadieren sich, denn sie müssen immer wieder erleben, dass trotz Annäherungsverboten der gewalttätige Ex-Partner sich ihnen nähert.“ Der Einsatz einer Fußfessel würde die Situation der Frauen dramatisch verbessern, davon ist die Außenstellenleiterin überzeugt. „Wir wollen häusliche Gewalt konsequent bekämpfen. Die Bundesregierung muss jetzt endlich handeln“, so der hessische Justizminister in Eschborn. Laut Christian Heinz hat die aktuelle Bundesregierung noch ein Jahr und damit ausreichend Zeit, ein Bundesgesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zu Ende zu bringen.

Wieder mehr Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland angezeigt

Erstellt am: Freitag, 7. Juni 2024 von Sabine

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 07.06.2024

Wieder mehr Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland angezeigt

Im Jahr 2023 sind wieder deutlich mehr Fälle von Gewalt im häuslichen Umfeld angezeigt worden. Vor allem Frauen waren von Partnerschaftsgewalt betroffen. Familienministerin Paus verspricht ein neues Gesetz.

Berlin – Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. Wie aus einem aktuellen Bericht zur polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht, waren insgesamt 256.276 Menschen im Jahr 2023 offiziell von häuslicher Gewalt betroffen – 6,5 Prozent mehr als 2022. Bereits im Jahr davor hatte es einen Anstieg um mehr als acht Prozent gegenüber 2021 gegeben.

Die meisten Opfer waren demnach weiblich (70,5 Prozent). Bei 65,5 Prozent der Betroffenen handelte es sich um Gewalt in der Partnerschaft. Hier gab es insgesamt knapp 168.000 Fälle, 6,4 Prozent mehr als 2022.

Mehr innerfamiliäre Gewalt angezeigt

Die restlichen Opfer von häuslicher Gewalt (34,5 Prozent) waren laut Statistik von innerfamiliärer Gewalt betroffen. Hier handelt es sich um eine Form von Gewalt, die sich beispielsweise auch zwischen Großeltern und Enkelkindern oder anderen nahen Angehörigen abspielen kann. Diese Form von Gewalt betraf 2023 laut Statistik insgesamt 78.341 Menschen. Dies sind 6,7 Prozent mehr als im Vorjahr.

Auch im vergangenen Jahr waren bei häuslicher Gewalt 75,6 Prozent der Tatverdächtigen männlich. Mit 79,2 Prozent waren die Opfer von Partnerschaftsgewalt überwiegend Frauen, 20,8 Prozent der Betroffenen waren männlich. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um vorsätzliche einfache Körperverletzung (59,1 Prozent), Bedrohung, Stalking oder Nötigung (24,6) sowie um gefährliche Körperverletzung (11,4).

Ministerin Paus: „Erschreckendes Ausmaß“

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) äußerte sich erschüttert: „Die erneut deutlich gestiegenen Zahlen zur häuslichen Gewalt zeigen das erschreckende Ausmaß einer traurigen Realität. Gewalt ist ein alltägliches Phänomen – das ist nicht hinnehmbar“, sagte Paus. Gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Vizepräsidentin des Bundeskriminalamts, Martina Link, stellte sie am Freitag das sogenannte Bundeslagebild zur häuslichen Gewalt vor.

Den Betroffenen stellte Paus ein neues Gesetz in Aussicht. „Wir brauchen dringend ein flächendeckendes, niedrigschwelliges Unterstützungsangebot bestehend aus sicheren Zufluchtsorten und kompetenter Beratung. Dafür arbeiten wir an einem Gesetz zur Sicherung des Zugangs zu Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt“, erklärte sie. Dieses sogenannte Gewalthilfegesetz werde „die Grundlage für ein verlässliches und bedarfsgerechtes Hilfesystem bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen.“

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Erstellt am: Freitag, 15. März 2024 von Juliane

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Meistens trifft Partnerschaftsgewalt Frauen – aber auch Männer werden Opfer. Was wissen wir über dieses Thema, über das eher selten und nur ungern gesprochen wird? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat in München und Oldenburg, in Dresden und Hannover, in Berlin und Mainz recherchiert.

Die Illustration zeigt sehr vereinfacht einen Mann mit einer Träne unter einem Auge.

Illustration: Alexander Lehn

Eisregen prasselt auf die weißgefrorenen Pflastersteine am Mainzer Schillerplatz. Frost klebt auch am Fastnachtsbrunnen und an den 200 Narrenfiguren, die den Bronzeturm bis auf neun Meter Höhe hinaufreichen. René, 39 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit Vollbart und Zopf, blickt aus einem warmen Café hinaus auf das Winterbild und redet erst einmal übers Wetter. Ein bisschen Smalltalk, bevor er über das sprechen mag, über das Mann lieber nicht spricht: Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt.

I. Jeder zweite Mann

"Aber da verschieben sich natürlich auch Wahrnehmungen und Grenzen, ne. Also das ist ganz pervers, was mit einem selber so passiert, wie man in so was so reinrutschen kann, wo man zum Schluss denkt, (…) hättest du mir das vor fünf Jahren gesagt oder vor zehn, (…), hätte ich gesagt, 'garantiert nicht'. Never ever. Das passiert mir nicht."

Benjamin, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

„Gewalt gegen Frauen nimmt zu“

„Vor allem Frauen sind betroffen“

„91,7 Prozent der Täter sind männlich“

So lauten die Schlagzeilen, wenn Politik und Polizei alljährlich die aktuellen Zahlen zur häuslichen Gewalt und zur Partnerschaftsgewalt vorstellen. Und es stimmt ja auch, in den allermeisten Fällen sind Frauen die Opfer. Für das Jahr 2022 zum Beispiel verzeichnet die Statistik des Bundeskriminalamtes 157.818 Betroffene von Partner­schaftsgewalt. 126.349-mal waren Frauen die Leid­tragenden, das sind 80,1 Prozent. Männer kommen in der Berichterstattung kaum vor; falls doch, dann zumeist als Täter.

Aber es gibt sie trotzdem, die Männer, die Opfer von Partner­schaftsgewalt wurden. Laut Kriminalstatistik sind 19,9 Prozent der Betroffenen Männer. Männer wie René.

René ist für Geschäftstermine ein paar Tage in Rheinhessen unterwegs, er lebt mittlerweile in Norwegen. „In Norwegen machen sie vieles besser als die Deutschen“, deutet er an. Aber darüber werde man ja sicher später noch reden. Er blättert in der Speisekarte und bestellt sich einen Burger.

Die Zahlen des Bundeskriminalamtes bilden das sogenannte Hellfeld ab, also die Gewaltfälle, von denen die Polizei weiß. Eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) beleuchtet nun auch das Dunkelfeld. Für das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ haben die Wissenschaftler die Antworten von 1.209 Männern im Alter zwischen 18 und 70 Jahren in einem Onlinefragebogen ausgewertet und kamen so unter anderem zu ­folgenden repräsentativen Ergebnissen:

• Jeder zweite Mann in Deutschland war im Lauf ­seines Lebens mindestens einmal von Partnerschaftsgewalt betroffen (54,1 Prozent der Befragten).

• Die meisten betroffenen Männer haben psychische Gewalt erlebt (39,8 Prozent). 29,8 Prozent der Befragten berichteten von körperlicher Gewalt.

• Zwei Drittel der betroffenen Männer gaben an, an den Folgen der erlebten Gewalt zu leiden.

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Von der Scham zur Hilfe

Mehr als jeder zweite Mann, das klingt nach über­raschend vielen betroffenen Männern. Die hohe Zahl hat zum einen damit zu tun, dass die Forscher aus ­Hannover mit einem „sehr weit gefassten Gewalt­begriff“ gearbeitet haben, wie Projektleiter Dr. Jonas Schemmel erklärt. So fragten sie zum Beispiel auch nach Gewaltformen wie aggressivem Anschreien, absicht­lichem Zerstören von Gegenständen oder absichtlichem Wegstoßen. „Jeder Mensch stellt sich vielleicht etwas anderes unter Gewalt vor“, sagt Schemmel.

Zum anderen ist die hohe Zahl aber eben auch ein Indiz dafür, dass mehr Männer Gewalt in Partnerschaften erleben und mit deren Folgen umgehen müssen, als ­bislang angenommen wurde.

II. Renés Geschichte

"(Meine Partnerin) hat mich so verprügelt wie noch nie. Da haben mich hinterher sogar die Nachbarn drauf angesprochen, weil ich überall Kratzwunden im Gesicht hatte. Wir haben dann vorher als Alibi (…) erfunden, dass ich im Wald gefallen bin und da eben an Ästen hängengeblieben bin (…)."

Björn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

„Es fing ganz harmlos an“, sagt René im Café am Schiller­platz.

Vor ein paar Jahren, er wohnte noch in Koblenz, Rheinland-Pfalz, tauschte er mit einer Bekannten Nach­richten auf dem Smartphone aus. Ganz unverfänglich, sagt er. Seiner damaligen Partnerin passte das trotzdem nicht. Auf ihren Druck hin brach er den Kontakt zu der Bekannten ab. Jetzt wird alles wieder gut, dachte er.

Er irrte.

Die Forderung nach dem Kontaktabbruch war nur eine von zahlreichen Grenzüberschreitungen, die René erlebte. Von Wutausbruch zu Wutausbruch eskalierte die Situation immer mehr. Es dauerte Monate, bis er es schaffte, sich von seiner Freundin zu trennen. „Ich glaube, es war meinem damaligen Umfeld schon bewusst, dass diese Beziehung schwierig war“, sagt er.

Ein paar Wochen später sollte es eine Aussprache ­zwischen ihm und seiner Partnerin geben, ein letztes Mal. Die letzte Aussprache – das ist etwas, wovor Gewaltforscher und Kriminalbeamte Betroffene von Beziehungs­gewalt immer wieder warnen. Meistens warnen sie damit Frauen vor ihren gewalttätigen Männern.

Was genau bei diesem letzten Treffen passiert ist, möchte René nicht erzählen. Nur so viel: Es kam zu sexuellen Handlungen gegen seinen Willen, er traute sich aber auch nicht zu widersprechen. Als es vorbei ist, ist René wie gelähmt. Er findet keine Worte für das, was ihm widerfahren ist. „Dissoziiert und völlig verstört“ nennt er seinen damaligen Zustand, „ich konnte nicht reden und keinen Blick­kontakt halten.“ Er konnte nur schreiben: Auf einem Zettel notierte er ein paar Worte, ein Freund verstand sie. „Dem war ja auch klar, in was für einer Beziehung ich da war“, sagt René. Der Freund fährt ihn in eine Klinik.

III. Vier Probleme

"Ich hab' mich ja nicht als Opfer gesehen. Wieso sollte ich denn dann Hilfe holen? (…) dass ich eben halt gelernt hab', als Mann kann ich nicht Betroffener von Gewalt sein, das ist einfach nicht möglich. (…) Und solange es nicht möglich ist, bin ich auch kein Betroffener und hole mir auch keine Hilfe. Ist mir erst drei Jahre später aufgefallen, dass da was passiert ist, was über 'ne Grenze gegangen ist, weil ich meine eigenen Grenzen nicht gespürt habe. Deswegen kam ich nicht auf die Idee, die Polizei einzuschalten."

Stefan, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, stoßen sie häufig auf vier Probleme.

Problem Nummer 1: Männer begreifen oft nicht, was ihnen da passiert ist. War das tatsächlich Gewalt, was sie erlebt haben? Obwohl 66,7 Prozent der betroffenen Männer den Forschern des KFN sagten, dass sie an den Folgen ihrer Gewalterfahrung litten, gaben gleichzeitig 59 Prozent an, dass sie die Gewalt als „nicht so schlimm“ empfunden hätten. Weitere sieben bis acht Prozent ­sagten, sie hätten sich geschämt. Wer sich aber nicht als Opfer sieht oder sich zu sehr schämt und die Schuld allein bei sich selbst sucht, der holt sich keine Hilfe.

Problem Nummer 2: Wenn Männer erkannt haben, dass sie Hilfe brauchen, wissen sie häufig nicht, wo sie Hilfe finden können. Wer ist in Deutschland zuständig für gewaltbetroffene Männer? Für Männer überhaupt? Es gibt eine Frauenministerin, aber keinen Männer­minister. Es gibt ein Hilfetelefon des Bundesfrauenministeriums „Gewalt gegen Frauen“, aber keines „Gewalt gegen Männer“. Es gibt eine App „Gewaltfrei in die Zukunft“ des Bundesjustizministeriums für „erwachsene Frauen und nonbinäre Personen“, aber keine für erwachsene Männer. Es gibt einen internationalen „Orange Day“ der Vereinten Nationen zur „Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“, aber keinen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Männer. An wen wendet Mann sich also?

Ein Foto zeigt einen Mann mit Brille, der vor einer blauen Wand steht.

René, der selbst Gewalt erfahren hat, zeigt sein Gesicht auch bei Kampagnen gegen Gewalt. Foto: Ahlers

„Für Männer gab es schlicht gar nichts“, erinnert sich René.

„Ich habe in einer Beziehung gelebt, in der ich Gewalt erfahren habe. In der ich geschlagen wurde“, sagt er. „Ich wollte nicht zurückschlagen und wusste nicht, was ich tun sollte.“ Nach dem Ende der Beziehung ­kontaktierte er die Polizei. „Dort wurde mir geraten, erst mal zu einem Hilfeverein zu gehen. Dort wurde mir gesagt, ich sei ­leider ,zu männlich‘. Überall, wo ich hingegangen bin, wurde mir das Gleiche erzählt.“

René beschreibt damit Problem Nummer 3: Nicht nur Männer verstehen oftmals nicht, was ihnen passiert ist – auch professionelle Helfer tun es mitunter nicht.

Echte Männer weinen nicht. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Happy wife, happy life. Männer sind stark, Männer lassen sich nie unterkriegen, der Mann muss seine Familie beschützen. Haben Polizisten Sätze wie diese im Sinn, wenn ein Mann ihnen berichtet, er sei das Opfer einer gewalttätigen Frau geworden?

In München läuft Christiane Feichtmeier mit ihrem Rucksack durch den einsetzenden Nieselregen zur ­Landesgeschäftsstelle der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Sie ist mit der Bahn aus dem nahen Tutzing angereist, um über Gewalt gegen Männer zu sprechen; nach dem Gespräch wird sie denselben Weg zurück ­nehmen, um als SPD-Politikerin über Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Feichtmeier, 51 Jahre alt, trat 1990 als eine der ersten Frauen in die bayerische Polizei ein. Heute sitzt sie im Bundesvorstand der GdP, leitet dort seit elf Jahren die AG „Häusliche Gewalt“ und sagt: „Als Polizist­innen und Polizisten sind wir Teil der Gesell­schaft und haben auch viele Stereotype in unseren ­Köpfen. Und das können wir nicht einfach abschalten, wenn wir im Dienst sind, das nehmen wir mit.“ Weiter sagt sie: „Ich glaube, sobald sich die Tür öffnet und die Frau verheult ist oder vielleicht ein blaues Auge hat oder blutet, dann gehen wir davon aus, dass sie das Opfer ist und der Mann der Täter.“

Wie häufig stoßen gewaltbetroffene Männer auf taube Ohren, wenn sie bei der Polizei nach Hilfe fragen? Die Erkenntnisse der Wissenschaft dazu sind bislang dünn. Unter den gewaltbetroffenen Männern, die den Onlinefragebogen des KFN ausfüllten, hatten nur elf überhaupt Kontakt zur Polizei. Ihre Erfahrungen fielen gemischt aus. Drei Betroffene empfanden die angebotene Unterstützung als passend, vier konnten „teils / teils“ damit etwas anfangen, vier gar nichts. Vier Betroffene fühlten sich nicht ernst genommen von der Polizei, fünf fühlten sich für die Situation mitverantwortlich gemacht. In einem Interview berichtete ein Opfer den Forschern sogar, dass die Polizei ihn (als Täter) der Wohnung verwiesen habe, nachdem seine Partnerin ihn ebenfalls beschuldigt hätte.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat an alle 16 Bundes­länder und an das Bundeskriminalamt einen Fragen­katalog zu den Erfahrungen der Polizei mit dem Thema Gewalt gegen Männer geschickt. Auf die Frage, welche Rolle Stereotype und der hohe Anteil von männlichen Tätern spielten, reflektiert die Berliner Senatsver­waltung selbstkritisch, dieser Aspekt spiegele sich „auch im ­polizeilichen Einsatzgeschehen wider, sodass bei männlichen Betroffenen möglicherweise der (…) Eindruck einstehen könnte, dass Männer zunächst eher als Täter eingeordnet werden“. In der Summe aber zeigen sich die Länder überzeugt, „sensibel“ und „geschlechtsneutral“ mit Gewaltbetroffenen umzugehen. Baden-Württemberg etwa beteuert, dass „geschlechtsbezogene Bedürfnisse von Opfern individuell berücksichtigt“ ­würden.

Vergleichsweise gut fielen die Erfahrungen der gewaltbetroffenen Männer mit Beratungsstellen aus. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben im KFN-Fragebogen an, dass sie die Unterstützung als schnell und unkompliziert empfunden hätten. Allerdings waren es auch hier nur 35 Männer, die überhaupt Kontakt aufgenommen hatten.

92,1 Prozent der betroffenen Männer hatten sich weder an die Polizei noch an eine Beratungsstelle gewandt.

Aber selbst wenn Männer ihre Gewaltbetroffenheit verstanden haben, wenn sie eine zuständige Anlaufstelle gefunden haben, wenn die zuständige Anlaufstelle ebenfalls die Gewaltbetroffenheit verstanden hat und helfen will – dann scheitert die Hilfe oft an Problem Nummer 4: an der fehlenden Hilfsmöglichkeit. Lediglich zwölf Gewaltschutzeinrichtungen für Männer gibt es in Deutschland insgesamt, drei weitere nehmen sowohl Männer als auch Frauen auf. Im Ganzen gibt es nur 46 Schutzplätze bundesweit (Stand: Februar 2024).

IV. Kein Platz für Männer

"Sie stand nachts plötzlich mit 'nem Messer neben dem Bett, kam auf mich zu, die lallte irgendwas und 'Ich muss euch alle töten, ich muss euch alle töten'. Ich habe sie dann weggetreten, hab meine Kinder geschnappt, bin ins andere Zimmer, hab mich da eingesperrt, hab die Polizei gerufen (…)."

Paul, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

In Dresden stapft Frank Scheinert, 63 Jahre alt, über Schneereste durch die Neustadt. Hier hat die Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM) ihren Sitz, in einem Altbau mit einem balkonbreiten Spruchband vor dem 1. Stock: „Männerschutzwohnungen bundesweit!“ Wer in Deutschland zum Thema Partnerschaftsgewalt gegen Männer recherchiert, landet früher oder später in Dresden bei der BFKM und ihrem Leiter Frank Scheinert. Meistens früher.

Scheinert sagt: „Gewaltbetroffene Männer brauchen wie alle von Gewalt betroffenen Menschen ein Unter­stützungsangebot.“ Die BFKM hat ausgerechnet, dass die Nachfrage von gewaltbetroffenen Männern nach Gewaltschutzplätzen im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um zwei Drittel gestiegen ist: von 251 auf 421 Männer. Nur 99 Männer fanden einen Platz. Es gibt eine Deutschlandkarte der BFKM, auf der kleine blaue Punkte die Orte markieren, an denen es eine Männer­schutzwohnung gibt. In zehn Bundesländern findet sich kein einziger Punkt. „Da muss dringend was passieren“, sagt Scheinert.

Das allerdings ist gar nicht so einfach. Im Café am ­Mainzer Schillerplatz berichtet René: „Ich habe damals gedacht: Naja, es gibt keine Männerschutzwohnungen. Mir erschien das Konzept aber plausibel. Insbesondere, wenn man sich anguckt, dass bei häuslicher Gewalt die Polizei in unklaren Situationen tendenziell eher den Mann der Wohnung verweist und nicht die Frau. Dann steht der Mann da und hat auf einmal gar nichts mehr. Und ich dachte: Na gut, man kann ja eine Wohnung anbieten. Und ich war bereit, das ehrenamtlich zu ­stellen.“ René berichtet, dass er mit seiner Idee zur Gleichstellungsbeauftragten der Stadt gegangen sei; es habe mehrere Gespräche gegeben, polizeiliche ­Statistiken seien ausgewertet worden. Dann folgte die Ernüchterung. „Meinen Vorschlag unterstützte sie schon“, sagt René. „Sie wollte aber auch, dass die Ein­richtung professionell geleitet wird. Und dafür bräuchte man Geld vom Land. Das gab es damals nicht. Und damit war das Thema dann gegessen.“

Frank Scheinert. Foto: Karsten Krogmann

„Das ist ein dickes Brett, das wir da bohren“, sagt Frank Scheinert in Dresden. In 15 von 16 deutschen Bundesländern böten die Gleichstellungs- und Gewaltschutzförderrichtlinien keine Möglichkeit, Anträge für Männer­arbeitsprojekte zu stellen. Ausnahme: Sachsen. Die BFKM hat nicht zufällig ihren Sitz in der ­sächsischen Hauptstadt. Von hier aus unterstützt sie Vorstöße für Männerprojekte und kümmert sich darum, „dass die Politik möglichst auch Mittel zur Verfügung stellt“, wie Scheinert es vorsichtig formuliert.

Die erste Männerschutzwohnung in Deutschland entstand gut 500 Kilometer nordwestlich von Dresden im niedersächsischen Oldenburg – ehrenamtlich geführt, ohne kommunale oder sonstige staatliche Zuschüsse. Dort hatte sich im Jahr 2000 der Verein Männer-­­­­­Wohn-Hilfe gegründet mit dem Ziel „Schaffung eines Raumes für Männer, die aus eskalierten Situationen ihren ­Lebensort für eine gewisse Zeit wechseln wollen oder sollen“. 2002 zog der erste Mann ein. Seither ist die Wohnung durchgehend belegt.

Eine einzige Wohnung für ganz Niedersachsen. Platz für einen einzigen Mann, der maximal drei Monate ­bleiben darf.

In Sachsen rechnet Frank Scheinert bescheiden vor, dass es drei bis fünf Männerschutzwohnungen pro Bundesland geben sollte, „als nächsten Schritt“: jeweils drei in Berlin, Bremen, Hamburg und im Saarland, jeweils fünf in den anderen Bundesländern.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat alle 16 Landesregierungen nach der Zahl der Schutzeinrichtungen für Männer in ihrem Bundesland gefragt und ob ein Ausbau geplant sei. Sechs der Länder, die keine Schutzeinrichtung vorhalten, teilten mit, dass es keine Pläne gebe, dies zu ändern. Andere Länder erklärten, dass zunächst der Bedarf an solchen Wohnungen geprüft werden müsse. „Bisher gibt es keine wissenschaftlich fun­dierten Er­kenntnisse darüber, ob ein Netz an ähnlich ausgerichteten Zufluchtsmöglichkeiten, wie es sie für gewaltbetroffene Frauen gibt, erforderlich ist“, antwortete etwa Hessen. „Weder die Polizeiliche Kriminalstatistik noch andere Studien – auch nicht international – weisen bisher auf eine entsprechende Gefährdung von Männern hin.“

Allein Nordrhein-Westfalen ist bislang den von Frank Scheinert erhofften „nächsten Schritt“ gegangen.

V. Stigma und Tabu

"Aber dieser Übergriff, den ich, weil ich mir so dachte, okay, ist das jetzt so schlimm, muss ich da drüber reden, oder ist es doch so schlimm, und ja wie peinlich, mir als Mann passiert das, und ich bin doch der Größere, Stärkere … und eh wie kann mir das halt passieren."

Robert, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Am Pferdemarkt im Oldenburger Stadtzentrum kann man in einem schmalen Haus Wolfgang Rosenthal treffen, Jahrgang 1958, Vorsitzender des Vereins Männer-Wohn-Hilfe. Er sagt: „Diese 20 Jahre, die waren so was von interessant irgendwie, was wir für neue Blickwinkel auf Männlichkeit bekommen haben in dieser Zeit.“

Der erste Bewohner des Oldenburger Männerhauses: ein wohlsituierter Rentner. „Das hätten wir uns jetzt auch nicht so ausgedacht“, sagt Rosenthal. Am häufigsten erlebe er Akademiker als Bewohner, „42 Jahre alt, zwei Kinder“. Die zweithäufigste Gruppe, „so mit 25 Prozent“, bildeten Männer ohne Ausbildung, in der Regel arbeitslos, mehrere Kinder, keine stabile Beziehung, Ende 20, Anfang 30.

Auf dem Foto lehnt ein Mann an der Zarge einer geöffneten Tür.

Hier finden Männer Hilfe: Wolfgang Rosenthal von der Beratung „Männersache“. Foto: Christian J. Ahlers

Rückschlüsse auf eine Gruppe mit signifikant hoher Gewaltbetroffenheit lassen sich aus diesen Beobachtungen aber keine ziehen. Das bestätigen auch die ­KFN-Forscher, indem sie zusammenfassend feststellen, „dass es keine typischen Opfer gibt und Gewalt gegen ­Männer in Partnerschaften ein gesamtgesellschaftliches ­Phänomen ist“.

„Menschen, die sich bei mir melden, sagen oft: Schön, dass du drüber redest, weil mir das auch passiert ist“, sagt René in Mainz. Wenn jeder zweite Mann schon mal eine Form von Partnerschaftsgewalt erlebt hat, dann bedeutet das, betroffene Männer gibt es überall und in allen gesellschaftlichen Kreisen.

René tritt deshalb immer mit seinem echten Namen auf, wenn er seine Geschichte in der Öffentlichkeit erzählt: René Pickhardt. „Weil ich gesagt habe, das sollte eigentlich gar kein Tabuthema sein“, sagt er. „Weil es mir wichtig war, das Stigma und das Tabu zu brechen und zu sagen: So war das halt. Das kann dir doch auch passieren!“

VI. Auf der Suche nach Lösungen

"Und das ging dann irgendwann in so 'ne Phase, die ging diverse Jahre, die war dann, da hatte ich so 'ne große Wut, weil ich wusste, das ist, das ist nicht richtig, was hier gerade passiert. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Wut. So, und hab dann angefangen erst die Wände zu schlagen, dann mich zu schlagen und irgendwann durfte ich mal 'nen neuen Kochtopfdeckel kaufen, weil ich den an meinem Kopf zerschlagen habe und das sind dann diese Selbstverletzungen gewesen, weil ich nicht wusste, wohin mit dieser Wut."

Finn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Die Forscher aus Niedersachsen haben die Männer nicht nur nach Gewalt gefragt, die sie erlebt haben – sie ­fragten sie auch nach Gewalt, die sie ausgeübt haben. Das Ergebnis ist ein weiterer überraschender Befund: 39,5 Prozent der von physischer oder psychischer Gewalt betroffenen Teilnehmer der Onlinebefragung ­waren sowohl schon mal Opfer als auch Täter. Der ­Fachbegriff dafür lautet „Victim-Offender-Overlap“, Opfer-Täter-Überschneidung.

Was bedeutet dieser Befund für die Unterstützung von gewaltbetroffenen Männern in Partnerschaften?

Björn Süfke leitet das „Hilfetelefon Gewalt an Männern“ bei der Bielefelder Männerberatung „man-o-mann“, er lacht kurz auf und schüttelt den Kopf, dann sagt er: „Es wäre ja geradezu zynisch zu sagen: Wenn beide ein Problem haben, dann helfen wir ihnen nicht!“ Der Befund bedeutet, dass Opferhilfe mitunter eben auch Täter­arbeit heißt.

An einem Donnerstag im Februar steht Süfke, Jahrgang 1972, in einem würfelförmigen Bürobau im Hannoveraner Stadtteil List, vor ihm sitzen knapp 50 Menschen: Wissenschaftler, Vertreter von Polizei, BFKM, Hilfsreinrichtungen wie dem WEISSEN RING. Der Bürobau ist der Sitz des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, soeben hat Projektleiter Jonas ­Schemmel die Ergebnisse der Studie vorgestellt, jetzt schließt sich eine Podiumsdiskussion an, Süfke ist einer der Teilnehmer. Es geht um Fragen wie: Was fängt man mit den Erkenntnissen aus der Studie an? Wie hilft man betroffenen Männern am besten? Wie löst man das Problem „Partnerschaftsgewalt gegen Männer“?

Schemmel berichtet, was passiert sei, als er einer guten Freundin von seinem Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer“ erzählte: „Sie hat gelacht.“ Das sind die dicken Bretter, die es zu bohren gilt.

Transparenzhinweise:

Das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ wurde mit Mitteln der WEISSE RING Stiftung finanziert.

Der WEISSE RING war auch bei der Präsentation der Ergebnisse in Hannover involviert; die stellvertretende Bundesvorsitzende des Vereins, Petra Klein, moderierte die Podiumsdiskussion.

Die im Text zu Beginn jedes Kapitels abgedruckten Betroffenen-Zitate sind dem KFN-Forschungsbericht entnommen.

René Pickhardt, der als Betroffener im Text seine Geschichte erzählt, war auch Protagonist der Radio-Features „Du darfst kein Opfer sein – Wenn Männer unter häuslicher Gewalt leiden“ des Deutschlandfunks. Der Beitrag gewann 2017 den mittlerweile eingestellten Journalistenpreis des WEISSEN RINGS.

Beim WEISSEN RING melden sich größtenteils Frauen auf der Suche nach Unterstützung. Das gilt ganz besonders nach häuslicher Gewalt: 2023 waren 93,8 Prozent der Hilfesuchenden weiblich und nur 6,2 Prozent männlich.

Vielleicht wollten die Forscher aus Niedersachsen ­deshalb nicht einfach nur nackte Zahlen und Fakten vorlegen. Bei einem Fachtag mit Expertinnen und Experten aus Bereichen wie Opferhilfe, Kriminal­prävention und Psycho­logie erarbeiteten sie acht „Handlungs­empfehlungen“, die Eingang in die Studie fanden. Darunter finden sich zum Beispiel Vorschläge wie:

• der Ausbau des Beratungsangebots für Männer,

• die Schaffung von Männerhäusern,

• eine Kampagne, die die Öffentlichkeit für das Thema Partnerschaftsgewalt auch gegen Männer sensibilisiert.

„Ja“, sagt Björn Süfke von „man-o-mann“, „ich habe die Handlungsempfehlungen gelesen. Das ist perfekt!“ Er lächelt, dann sagt er: „Aber sieben der acht Punkte kosten Geld.“

Aktuell stehe Mann noch ganz am Anfang. Süfke nennt ein Beispiel, die Männerberatung in Deutschland. „Wir sind so klein“, sagt er. Wenn die Beratungsstelle eine Pressemitteilung veröffentliche, kämen am nächsten Tag dreimal so viele Anrufe rein. „Die kommen aber nicht durch“, sagte Süfke. Weil es nur eine einzige ­Leitung mit einem einzigen Berater gebe.

VII. Miteinander, nicht gegeneinander

"Da sagte sie: Ja, ich könnte Ihnen jetzt zehn Frauenberatungsstellen nennen in der Umgebung, wo ich Sie hinschicken könnte, aber für Männer weiß ich gar nichts."

Deniz, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Die achte Empfehlung in der KFN-Studie lautet: „Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden.“

In Berlin, seinem Wohnort, sitzt Studienleiter Jonas Schemmel, 36 Jahre alt, vor seinem Rechner. Wegen des Bahnstreiks ist das Interview ins Internet verlagert, und er sagt in die Kamera: „Gewalt gegen Männer macht Gewalt gegen Frauen nicht ungeschehen und andersherum.“ Er kennt die „sehr kontroversen Diskussionen“ und Vergleiche zwischen Gewalt gegen Frauen und gegen Männer. Zur Frontenbildung wollten die ­Wissenschaftler mit ihrer Untersuchung keinesfalls beitragen, im Gegenteil. Der Psychologe weist noch einmal ausdrücklich auf die Perspektive der Opfer hin: „Es hilft einem gewaltbetroffenen Mann ja nicht, wenn er hört: Na ja, aber das ist relativ selten und meistens sind ja die Frauen die Opfer.“

Länder lassen Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt im Stich

In zehn Bundesländern gibt es derzeit keine einzige Schutzeinrichtung für Männer, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind – und absehbar wollen die betreffenden Länder diese Lücke auch nicht schließen.

Es hilft einem männlichen Opfer auch nicht bei der Suche nach Unterstützung, wenn er Beratungsstellen für Frauen, Hilfetelefone für Frauen oder Gewaltfrei-Apps für Frauen findet. Es hilft ihm nicht, wenn die zuständigen Behörden erst auf Nachfrage sagen, das Thema Gewalt gegen Männer würde bei ihnen „mitbehandelt“ (Innenministerium Sachsen-Anhalt). Oder wenn Frauen­ministerin Lisa Paus auf Nachfrage erklärt, die Unterstützung von Gewaltbetroffenen schließe „selbstverständlich“ auch männliche Opfer mit ein.

Im Café am Mainzer Schillerplatz sagt René, er wünsche sich für Deutschland ein „geschlechtersensibles“ Hilfe­system wie in Norwegen. Wer dort zum Beispiel als Gewaltbetroffener die Internetseite des Krisenzentrums der Region Gjøvik aufrufe, findet sofort eine Weiter­leitung zu einem Bereich für Frauen, für Männer und für Kinder. Über dem Bereich „Männer“ steht: ­„Männer, die Opfer von Gewalt geworden sind, bezeichnen die psychische Gewalt oft als das Schlimmste. Väter leben oft um der Kinder willen in solchen Beziehungen, oft haben sie Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird oder dass sie die Fürsorge für die Kinder verlieren.“

René machte eine Therapie. Eine Zeitlang schrieb er Blogartikel und Gastbeiträge für Zeitungen, heute gibt er Interviews und zeigt sein Gesicht bei Kampagnen gegen häusliche Gewalt. Einmal, er lebte noch in Deutschland, stand ein Hasskommentar unter einem YouTube-Video, das er aufgenommen hatte. Sinngemäß hieß es darin, alle Männer sollen sterben. „Ich bin ja durchaus für freie Meinungsäußerung, aber das war zu viel“, sagt René. Er ging zur Polizei, stand vor einer Polizistin. „Die Polizistin hat erst mal gegrinst, als sie den Kommentar gelesen hat. Ich musste dann schon sehr lange darauf pochen, dass die Anzeige aufgenommen wird.“

Er hörte nie wieder von der Polizei.

Wie die Fußfessel Frauen besser schützen könnte

Erstellt am: Freitag, 15. März 2024 von Sabine
Femizide verhindern durch die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell. Man trägt Fußfessel.

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 15.03.2024

Wie die Fußfessel Frauen besser schützen könnte

Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend zu den Themen Gewalt gegen Frauen und elektronische Aufenthaltsüberwachung recherchiert und eine Art Lagebild erstellt.

Mainz – Ein Donnerstagabend im Juli 2021. Fast 40-mal sticht ein Mann auf offener Straße auf eine Frau ein, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retten ihr das Leben.

Die Überlebende: Frau S.
Der Täter: ihr Ehemann.

Es war eine Tat mit Ankündigung. Nach der Trennung hatte der Mann Frau S. beleidigt, gestalked und bedroht, „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Auch eine Bewährungsstrafe stoppte ihn nicht. Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon.

Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Männern zu schützen, das ist das Ziel von gerichtlichen Annäherungs- und Kontaktverboten. Aber die werden in Deutschland tausendfach ignoriert – und Frauen deshalb bedroht, verletzt oder sogar getötet. Allein im Jahr 2022 wurden hierzulande 133 Frauen Opfer.

Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend zu den Themen Gewalt gegen Frauen und elektronische Aufenthaltsüberwachung recherchiert und eine Art Lagebild erstellt. Wie machen es die Spanier? Wie ist die Situation in Deutschland? Was müssen Betroffene aushalten? Wäre das spanische Modell auch in unserem Land möglich?

Die wichtigsten Erkenntnisse unseres Reporter-Teams:

1) Frauen erleben täglich Gewalt durch (Ex-)Partner. Oft endet diese tödlich.

Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Jeden Tag versucht ein (Ex-)Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem (Ex-)Partner, eine Frau zu töten. 2022 starben 133 Frauen durch ihre (Ex-)Partner.

2) Kontaktverbote sollen die Frauen schützen, aber viele Gewalttäterignorieren dies – immer häufiger.

6.587 Verstöße gegen gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote erfasst die Polizeiliche Krimi­nalstatistik für das Jahr 2022. Im Jahr 2017 waren es 5.932 Verstöße. Das ist ein Anstieg von elf Prozent binnen fünf Jahren.

3) Niemand überwacht die Männer, gegen die ein Annäherungsverbot angeordnet wurde.

Gerichte beschließen Kontakt- und Annäherungs­verbote wegen der Dringlichkeit häufig sogar im Eilverfahren. Aber im Anschluss wird den Gewalt­tätern der Beschluss einfach zugestellt, manchmal nur „durch Einlegen in den Briefkasten“. Eine Über­wachung der Gefährder durch den Staat findet nicht statt.

4) Jedes Jahr sterben Dutzende Frauen durch Männer, die sich ihnen nie hätten nähern dürfen.

Offizielle Zahlen zum Zusammenhang von Tötun­gen und bestehenden Gewaltschutzanordnungen gibt es nicht. Unsere Redaktion hat deshalb mittels einer Datenrecherche im Internet nach Hinweisen gesucht – und sie fand 109 verschiedene, im Jahr 2023 veröffentlichte Presseartikel über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden von Männern, gegen die sie zuvor ein Kontakt- oder Annäherungs­verbot erwirkt hatten.

5) Spanien zeigt, wie sich Frauen besser schützen lassen: mittels elektroni­scher Aufenthaltsüberwachung.

Seit 2009 setzt Spanien die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Das spanische Modell gilt als zu 100 Prozent erfolgreich: Im Rahmen des Schutzprogrammes ist keine einzige Frau getötet worden. Frankreich hat das spanische Modell bereits übernommen, in der Schweiz läuft ein Pilotprojekt.

6) In Deutschland gibt es keine vergleichbare Überwachung.

Die Justizministerkonferenz der Bundesländer hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der Fußfessel bundesweit rechtlich gekoppelt werden können. Im November 2023 befand das Ministerium den Vorschlag als „nicht geeignet“. Buschmann gab das Thema zurück an die Länder und verwies dar­auf, dass schon jetzt die Polizeigesetze einiger Län­der Fußfessel-Anordnungen ermöglichten.

7) Derzeit ist der Fußfessel-Einsatz bei häuslicher Gewalt in nur sieben Bundesländern theoretisch möglich.

Nach der derzeitigen Rechtslage ist eine Fußfessel-Anordnung gegen Gewalttäter nur als kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahme für Opfer von Partnerschaftsgewalt erlaubt – in nur sieben Ländern und zumeist nur für wenige Tage. Annähe­rungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewalt­schutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.

8) Praktisch wird die Möglichkeit kaum genutzt, die rechtlichen Anforderungen sind extrem hoch.

Nordrhein-Westfalen etwa hat noch nie von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Fußfessel gegen Gewalttäter einzusetzen. In Hamburg gab es einen einzigen Versuch. Und obwohl hier ein Mann eine Frau etliche Male gestalkt, bedroht und geschlagen hatte, kippte ein Gericht die Anordnung.

Transparenzhinweis:
In seinen Strafrechtrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen.

So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Erstellt am: Freitag, 9. Februar 2024 von Sabine

Neue KFN-Studie erhellt Dunkelfeld. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 09.02.2024

So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Das Kriminalistische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat "Gewalt gegen Männer in Partnerschaften" erforscht. Die repräsentative Studie zeigt: Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon betroffen gewesen.

Mainz – Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon mal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen gewesen. In rund 40 Prozent der Fälle handelte es sich dabei um psychische Gewalt. Zwei Drittel der Betroffenen leiden unter den Folgen der erlebten Gewalt. – Das sind drei der zentralen Erkenntnisse aus einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), die von der WEISSER RING Stiftung finanziell gefördert wurde. An diesem Donnerstag wurden die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ in Hannover vorgestellt.

Die Folgen von Gewalt

In den Räumen des KFN wies Projektleiter Dr. Jonas Schemmel darauf hin, dass die Forscher bei ihrer Studie bewusst mit einem „sehr weit gefassten Gewaltbegriff“ gearbeitet hätten, „so wie er in der deutschen Forschung auch angewandt wird“. Insgesamt legten sie den Studienteilnehmern rund 35 unterschiedliche Gewaltformen vor, darunter auch leichte Formen der verbalen Aggressionen. „Jeder hat unterschiedliche Vorstellungen von Gewalt“, sagte Schemmel. Insgesamt 30 Prozent der Befragten gaben dabei an, körperliche Gewalt erfahren zu haben – dazu zählten zum Beispiel absichtliches Wegstoßen, Beißen, Kratzen, Kneifen und leichte oder harte Ohrfeigen.

Schemmel betonte, dass die Forschenden bei dem Projekt keinesfalls Gewalt gegen Frauen bagatellisieren wollen. Die Teilnehmer der Veranstaltung waren sich einig, dass Frauen weitaus häufiger und auch schwerer von Gewalt betroffen seien als Männer. Es bestehe aber kein Zweifel, dass auch Männer unter den Folgen der erlebten Gewalt litten. Neben zumeist oberflächlichen körperlichen Verletzungen wie blaue Flecken und Prellungen hätten die Studienteilnehmer den Wissenschaftlern von Stress und Anspannung berichtet, dem Gefühl von Erniedrigung und Ohnmacht sowie starken Angstgefühlen.

Warum Betroffene kaum Anzeige erstatten

Dennoch hätten sich nur wenige Betroffene Hilfe bei Polizei oder Beratungsstellen gesucht. Das liegt weniger an fehlendem Vertrauen in die Institutionen, sondern mangelnder Wahrnehmung als Betroffener. Studienteilnehmer Stefan beschreibt es so: „Ich habe mich ja nicht als Opfer gefühlt.

Eine überraschende Erkenntnis: Es sei teils „sehr schwer, auseinanderzuhalten, wer Opfer und Täter sei“. Es gäbe einen großen „Overlap“, sprich: eine große Überschneidung. Viele Männer gaben an, nicht nur Betroffener zu sein, sondern selbst Gewalt ausgeübt zu haben.

Auf Grundlage der Studienergebnisse haben die Forscher bei einer Fachtagung im Mai 2023 acht Handlungsempfehlungen entwickelt:

  1. Das Angebot an Beratungsstellen, die spezialisierte Angebote für gewaltbetroffene Männer vorhalten, sollte deutlich ausgebaut werden.
  2. Im Beratungskontext sollte die Komplexität von Partnerschaftsgewalt berücksichtigt werden: Viele Betroffene haben selbst schon einmal Gewalthandlungen begangen und viele dysfunktionale Beziehungen sind von einer wechselseitigen Gewaltdynamik gekennzeichnet.
  3. Männer benötigen eine proaktive Ansprache, um die Beratungsquote zu erhöhen. Aufgrund der stigmatisierenden Wirkung des Gewaltopfer-Begriffs und wegen der sehr unterschiedlichen Auffassungen von Gewalt könnte erprobt werden, ob ein Verzicht auf den Gewaltbegriff die Ansprache verbessert. Eine solche Ansprache könnte auch verwendet werden, um Männer bereits vor dem eigentlichen Gewaltausbruch für eine Beratung zu motivieren, was im Sinne einer Prävention sehr wünschenswert wäre.
  4. Auch für Männer braucht es mehr Orte, an denen sie bei Bedarf spontan Unterkunft finden, gegebenenfalls auch mit Kindern (Männerhäuser).
  5. Polizeibeamte sollten für unterschiedliche Täter-Opfer-Konstellationen bei häuslicher Gewalt noch stärker sensibilisiert werden.
  6. Partnerschaftsgewalt in all seinen Facetten sollte Gegenstand einer Sensibilisierungskampagne sein, die auch die Betroffenheit von Männern thematisiert, Betroffene auf Hilfe- und Beratungsmöglichkeiten hinweist und die Rolle und Aufgaben der einzelnen Akteur*innen (Beratungsstellen, Polizei, Gerichte) erklärt.
  7. Gerade in pädagogischen Einrichtungen braucht es schon früh einen kritischen Um-gang mit männlichen und weiblichen Stereotypen. Jungen sollten ebenso wie Mädchen ermutigt werden, sich von gesellschaftlichen Vorstellungen zu emanzipieren; Ge-fühle zu zeigen und zu verbalisieren darf nicht als unmännlich gelten.
  8. Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden. Das bedeutet, dass auch die Gewalt von Männern gegenüber Frauen weiterhin angemessen problematisiert und mit Maßnahmen angegangen wer-den muss.

Bei einer Podiumsdiskussion im Anschluss von Schemmels Ausführungen, nannte Björn Süfke von der Männerberatungsstelle man-o-mann aus Bielefeld die Handlungsempfehlungen „perfekt“. Er wies aber darauf hin: „Sieben der acht Punkte kosten Geld.“

Versperrter Ausweg

Erstellt am: Montag, 11. Dezember 2023 von Torben

Versperrter Ausweg

Die Flucht in ein Frauenhaus ist für Betroffene manchmal die einzige Möglichkeit, sich häuslicher Gewalt zu entziehen. Doch es mangelt bundesweit an freien Plätzen für Frauen und deren Kinder. Das bedeutet: In einer Notsituation gibt es für sie oft keinen Zufluchtsort.

Frauenhäuser sind Zufluchtsorte für von Gewalt Betroffene und deren Kinder, wenn sie keine Möglichkeit haben, zum Beispiel bei Freunden und Verwandten unterzukommen. So weit die Idee. Faktisch besteht diese Option aber nicht immer, wenn sie akut benötigt wird. Denn die Einrichtungen in Deutschland sind schlichtweg überlastet. Und wenn es doch freie Plätze gibt, liegen diese möglicherweise weit entfernt vom Wohnort der Schutzsuchenden und sind häufig nach nur wenigen Stunden schon wieder belegt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine bundesweite Datenauswertung des gemeinnützigen Recherchebüros „Correctiv.Lokal“.

Grundlage der Analyse sind die Daten, die im Jahr 2022 auf www.frauenhaus-suche.de abrufbar waren. Auf der Webseite der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser werden seit Mai 2021 die Kapazitäten der Schutzeinrichtungen aus dem ganzen Bundesgebiet verzeichnet. Diese wurden von der Correctiv-Redaktion ein Jahr lang täglich dreimal auf freie Plätze hin abgefragt. War für eine Einrichtung bei allen drei Abfragen kein freier Platz gelistet, wurde sie an diesem Tag als voll belegt gewertet. Berücksichtigt wurden nur Häuser, die das ganze Jahr über in Betrieb waren und an mindestens 80 Prozent der Tage ihren Status angegeben haben. 200 Einrichtungen erfüllten die Anforderungen. In ­Berlin, Hamburg und Bremen überwand kein Haus diese Hürde, sie sind daher nicht in der Analyse vertreten.

Die ernüchternde Erkenntnis: An durchschnittlich 303 Tagen meldeten die ausgewerteten Häuser Voll­belegung, so dass sie keine weiteren Schutzsuchenden mehr aufnehmen konnten. Die Punkte auf unserer Deutschlandkarte (siehe Seite 25) bilden die Anzahl und auch Verteilung der einzelnen Frauenhäuser in den unterschiedlichen Regionen und innerhalb der Bundesländer ab. Die eingefärbten Punkte spiegeln die Belegungssituation der analysierten Einrichtungen wider: Die Farbe Gelb – gleichbedeutend mit einer Belegungsquote von mehr als 75 Prozent im Jahresdurchschnitt – dominiert. Wie schlimm die Situation und vor allem wie groß der Bedarf an Plätzen ist, beschreibt eine Frauen­haus-Mitarbeiterin aus Bergisch Gladbach laut einer Mitteilung von Correctiv: „Für jeden freien Platz, den wir haben, rufen pro Tag etwa vier bis fünf Frauen an. Von daher sind wir immer voll.“

Beim Blick auf die durchschnittliche Belegungsquote der analysierten Einrichtungen in den 13 Bundesländern zeigt sich, dass es die höchsten Werte in Schleswig-­Holstein (93,11 Prozent), Hessen (91,60 Prozent) und Rheinland-Pfalz (91,41 Prozent) gab. „Frauenhäuser waren dort durchschnittlich an 9 von 10 Tagen voll ausgelastet“, heißt es dazu in der Mitteilung. Sachsen belegte mit einer Quote von 46,25 Prozent zwar den besten Platz – dieser Wert hat jedoch nur eine beschränkte Aus­sagekraft: Während in Hessen und Rheinland-Pfalz alle erfassten Häuser berücksichtigt werden konnten und in Schleswig-Holstein immerhin noch 14 von insgesamt 18, konnten in Sachsen nur fünf von landesweit 19 Einrichtungen analysiert werden, die die Anforderungen erfüllten. Das relativ gesehen gute Ergebnis könnte daher in einem statistischen Effekt begründet sein, der aus dem Meldeverhalten der Frauenhäuser resultiert. Dies gilt in ähnlichem Maße für alle ostdeutschen Länder.

Betrachtet man nur die Länder, in denen sämtliche ­Frauenhäuser in die Auswertung eingingen, erreicht das Saarland den besten Wert. Dort waren die Einrich­tungen im Jahr 2022 durchschnittlich zu 77,26 Prozent belegt. Das bedeutet aber: Nicht einmal jedes vierte Haus konnte Schutzbedürftigen einen Platz anbieten.

Transparenzhinweis: Die komplette Recherche ist auf der Internetseite www.correctiv.org zu lesen und wurde mit dem Reporterpreis 2023 in der Kategorie „Datenjournalismus“ ausgezeichnet. Der WEISSE RING hat das gemeinnützige Recherchebüro Correctiv im Jahr 2021 bei dem Projekt „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ unterstützt.

Polen vor dem Rückschritt

Erstellt am: Dienstag, 2. Februar 2021 von Torben

Polen vor dem Rückschritt

Zwei Drittel der polnischen Frauen haben schon häusliche Gewalt erlebt. Die Regierung erwägt nun, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten. Menschenrechtler fürchten Rückschritte im Kampf gegen Gewalt.

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

63 Prozent der polnischen Frauen haben einer Studie des Marktforschungsunternehmens Kantar zufolge mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erlebt. Das polnische Familienministerium hatte die Studie 2019 in Auftrag gegeben. Veröffentlicht wurde sie jedoch erst durch Journalisten des Onlineportals Gazeta.pl. Die rechtskonservative polnische Regierung hielt die Studie unter Verschluss.

Der Leak der Studie im Sommer 2020 fällt in eine Zeit, in der Frauenrechts-Aktivistinnen, Menschenrechtler und Politikerinnen aus ganz Europa einen kritischen Blick nach Polen richten. Ende Juli kündigte der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro an, Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention in die Wege zu leiten. Wenige Tage später legte Premierminister Mateusz Morawiecki einen langsameren Gang ein und beauftragte zunächst den Verfassungsgerichtshof mit einer Prüfung, ob die Konvention gegen häusliche Gewalt in Einklang mit Polens Verfassung steht. Ob Polen den Vertrag tatsächlich aufkündigen wird, ist seitdem unklar. Die Weichen sind jedoch gestellt.

Das „störende“ Geschlecht

Justizminister Ziobro erklärte, er wolle keinesfalls die rechtliche Lage für Opfer häuslicher Gewalt verschlechtern. Vielmehr gehe es ihm um „ideologische Bestimmungen“ in der Konvention. Ihn stört etwa, dass die Konvention nicht nur vom biologischen, sondern auch vom sozialen Geschlecht ausgeht. Und davon, dass Geschlechterrollen nicht angeboren, sondern sozial konstruiert sind. Außerdem brauche Polen die Konvention gar nicht, da das polnische Recht zum Schutz von Frauen vor Gewalt vorbildlich und ein Modell für andere Länder sei, zitierte der Fernsehsender Polsat den Minister.

Urszula Nowakowska widerspricht Ziobro in diesem Punkt vehement. Das polnische Opferschutzsystem sei seit Jahren lückenhaft und werde den Bedürfnissen gewaltbetroffener Frauen nicht gerecht, meint die Gründerin des Frauenrechts-Zentrums Centrum Praw Kobiet. „Es fehlt nach wie vor an spezialisierten Einrichtungen zur umfassenden Unterstützung von Gewaltopfern“, erklärt sie. „Strafverfolgungs- und Justizbehörden lassen sich in ihrem Vorgehen oft von schädlichen Stereotypen leiten, die Frauen erneut zu Opfern machen.“ In der juristischen Verfolgung von Vergewaltigungen hinke das polnische Recht der Istanbul-Konvention weit hinterher.

Der Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt sei in Polen weiterhin unzureichend, erklärte auch der polnische Menschenrechtsbeauftragte Adam Bodnar im Juli in einer Stellungnahme. Die Istanbul-Konvention habe jedoch eine Reihe positiver Entwicklungen angestoßen. „Die Konvention war auch ein Katalysator für die Einrichtung einer rund um die Uhr erreichbaren Telefon-Hotline für Gewaltopfer und hat zur Einführung eines speziellen Anhörungsverfahrens für Opfer sexuellen Missbrauchs beigetragen“, schrieb der 2015 vom polnischen Parlament berufene Bodnar. Die zahlreichen von Politikern verbreiteten Falschinformationen über die Istanbul-Konvention beunruhigten ihn. Solche Äußerungen zeigten nicht nur, „dass die Politiker mit dem Text der Konvention nicht vertraut sind, sondern sind auch Ausdruck eines mangelnden Respekts gegenüber den Opfern von Gewalt.“

Angriffe auf Frauen- und LGBT-Rechte

Der Vorstoß gegen die Istanbul-Konvention fügt sich ein in eine Reihe von Angriffen der polnischen Regierung auf die liberale Gesellschaftsordnung. Seit 2015 versucht die von der rechtskonservativen PiS-Partei geführte Regierung, den Justizapparat des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Die EU-Kommission hat deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen gestartet, der Europäische Gerichtshof urteilte, dass Teile der polnischen Justizreform gegen europäisches Recht verstoßen.

Auch Frauen- und LGBT-Rechte sind in Polen seit Jahren zunehmenden Angriffen durch die Regierung und durch rechtsextreme Organisationen ausgesetzt. „Wir leben in einer interessanten Zeit, in der sich die Frauen in Polen einerseits mehr und mehr ihrer Rechte bewusst sind und wollen, dass sie wirklich respektiert werden“, erklärt Urszula Nowakowska. Frauen organisierten sich, protestierten und verteidigten ihre Rechte. „Andererseits beobachten wir eine Zunahme der Macht und der Mobilisierung fundamentalistischer und rechtsextremer Organisationen, die in Frauenrechten – und in Menschenrechten etwa für LGBT und Migranten – eine Bedrohung der Zivilisation sehen.“ An solche Bedrohungs-Szenarien knüpft auch der aktuelle Vorstoß der polnischen Regierung gegen die Istanbul-Konvention an.

Vereint gegen die Konvention: Ungarn, Bulgarien, Türkei Mit derartigen Gedanken ist die polnische Regierung nicht allein: Ungarn und Bulgarien haben die Konvention zwar unterzeichnet, jedoch bis heute nicht ratifiziert. In beiden Ländern schimpfen die Kritiker auf die „Gender-Ideologie“, die angeblich in dem Vertrag stecke und einen Angriff auf Traditionen und Werte darstelle. In der Türkei, deren Parlament die Istanbul-Konvention 2012 als erstes Land ratifiziert hat, denkt die Regierung Recep Tayyip Erdoğans ebenfalls über einen Ausstieg nach – weil die Konvention angeblich traditionelle Familienwerte untergrabe und einen „LGBT-Lifestyle“ propagiere. Dabei wäre eine ernsthafte Umsetzung der Konvention in der Türkei dringend angebracht: Jedes Jahr werden dort hunderte Frauen zu Todesopfern geschlechtsspezifischer Gewalt.

Nachtrag vom 11. Mai 2021:
I) Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in der Nacht zum 20. März 2021 per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention verkündet. (Quelle: Tagesschau)
II) Am 30. März hat die nationalkonservative Regierung im polnischen Parlament eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten. (Quelle: Tagesschau)