So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Erstellt am: Freitag, 9. Februar 2024 von Sabine

Neue KFN-Studie erhellt Dunkelfeld. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 09.02.2024

So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Das Kriminalistische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat "Gewalt gegen Männer in Partnerschaften" erforscht. Die repräsentative Studie zeigt: Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon betroffen gewesen.

Mainz – Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon mal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen gewesen. In rund 40 Prozent der Fälle handelte es sich dabei um psychische Gewalt. Zwei Drittel der Betroffenen leiden unter den Folgen der erlebten Gewalt. – Das sind drei der zentralen Erkenntnisse aus einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), die von der WEISSER RING Stiftung finanziell gefördert wurde. An diesem Donnerstag wurden die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ in Hannover vorgestellt.

Die Folgen von Gewalt

In den Räumen des KFN wies Projektleiter Dr. Jonas Schemmel darauf hin, dass die Forscher bei ihrer Studie bewusst mit einem „sehr weit gefassten Gewaltbegriff“ gearbeitet hätten, „so wie er in der deutschen Forschung auch angewandt wird“. Insgesamt legten sie den Studienteilnehmern rund 35 unterschiedliche Gewaltformen vor, darunter auch leichte Formen der verbalen Aggressionen. „Jeder hat unterschiedliche Vorstellungen von Gewalt“, sagte Schemmel. Insgesamt 30 Prozent der Befragten gaben dabei an, körperliche Gewalt erfahren zu haben – dazu zählten zum Beispiel absichtliches Wegstoßen, Beißen, Kratzen, Kneifen und leichte oder harte Ohrfeigen.

Schemmel betonte, dass die Forschenden bei dem Projekt keinesfalls Gewalt gegen Frauen bagatellisieren wollen. Die Teilnehmer der Veranstaltung waren sich einig, dass Frauen weitaus häufiger und auch schwerer von Gewalt betroffen seien als Männer. Es bestehe aber kein Zweifel, dass auch Männer unter den Folgen der erlebten Gewalt litten. Neben zumeist oberflächlichen körperlichen Verletzungen wie blaue Flecken und Prellungen hätten die Studienteilnehmer den Wissenschaftlern von Stress und Anspannung berichtet, dem Gefühl von Erniedrigung und Ohnmacht sowie starken Angstgefühlen.

Warum Betroffene kaum Anzeige erstatten

Dennoch hätten sich nur wenige Betroffene Hilfe bei Polizei oder Beratungsstellen gesucht. Das liegt weniger an fehlendem Vertrauen in die Institutionen, sondern mangelnder Wahrnehmung als Betroffener. Studienteilnehmer Stefan beschreibt es so: „Ich habe mich ja nicht als Opfer gefühlt.

Eine überraschende Erkenntnis: Es sei teils „sehr schwer, auseinanderzuhalten, wer Opfer und Täter sei“. Es gäbe einen großen „Overlap“, sprich: eine große Überschneidung. Viele Männer gaben an, nicht nur Betroffener zu sein, sondern selbst Gewalt ausgeübt zu haben.

Auf Grundlage der Studienergebnisse haben die Forscher bei einer Fachtagung im Mai 2023 acht Handlungsempfehlungen entwickelt:

  1. Das Angebot an Beratungsstellen, die spezialisierte Angebote für gewaltbetroffene Männer vorhalten, sollte deutlich ausgebaut werden.
  2. Im Beratungskontext sollte die Komplexität von Partnerschaftsgewalt berücksichtigt werden: Viele Betroffene haben selbst schon einmal Gewalthandlungen begangen und viele dysfunktionale Beziehungen sind von einer wechselseitigen Gewaltdynamik gekennzeichnet.
  3. Männer benötigen eine proaktive Ansprache, um die Beratungsquote zu erhöhen. Aufgrund der stigmatisierenden Wirkung des Gewaltopfer-Begriffs und wegen der sehr unterschiedlichen Auffassungen von Gewalt könnte erprobt werden, ob ein Verzicht auf den Gewaltbegriff die Ansprache verbessert. Eine solche Ansprache könnte auch verwendet werden, um Männer bereits vor dem eigentlichen Gewaltausbruch für eine Beratung zu motivieren, was im Sinne einer Prävention sehr wünschenswert wäre.
  4. Auch für Männer braucht es mehr Orte, an denen sie bei Bedarf spontan Unterkunft finden, gegebenenfalls auch mit Kindern (Männerhäuser).
  5. Polizeibeamte sollten für unterschiedliche Täter-Opfer-Konstellationen bei häuslicher Gewalt noch stärker sensibilisiert werden.
  6. Partnerschaftsgewalt in all seinen Facetten sollte Gegenstand einer Sensibilisierungskampagne sein, die auch die Betroffenheit von Männern thematisiert, Betroffene auf Hilfe- und Beratungsmöglichkeiten hinweist und die Rolle und Aufgaben der einzelnen Akteur*innen (Beratungsstellen, Polizei, Gerichte) erklärt.
  7. Gerade in pädagogischen Einrichtungen braucht es schon früh einen kritischen Um-gang mit männlichen und weiblichen Stereotypen. Jungen sollten ebenso wie Mädchen ermutigt werden, sich von gesellschaftlichen Vorstellungen zu emanzipieren; Ge-fühle zu zeigen und zu verbalisieren darf nicht als unmännlich gelten.
  8. Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden. Das bedeutet, dass auch die Gewalt von Männern gegenüber Frauen weiterhin angemessen problematisiert und mit Maßnahmen angegangen wer-den muss.

Bei einer Podiumsdiskussion im Anschluss von Schemmels Ausführungen, nannte Björn Süfke von der Männerberatungsstelle man-o-mann aus Bielefeld die Handlungsempfehlungen „perfekt“. Er wies aber darauf hin: „Sieben der acht Punkte kosten Geld.“

Versperrter Ausweg

Erstellt am: Montag, 11. Dezember 2023 von Torben

Versperrter Ausweg

Die Flucht in ein Frauenhaus ist für Betroffene manchmal die einzige Möglichkeit, sich häuslicher Gewalt zu entziehen. Doch es mangelt bundesweit an freien Plätzen für Frauen und deren Kinder. Das bedeutet: In einer Notsituation gibt es für sie oft keinen Zufluchtsort.

Frauenhäuser sind Zufluchtsorte für von Gewalt Betroffene und deren Kinder, wenn sie keine Möglichkeit haben, zum Beispiel bei Freunden und Verwandten unterzukommen. So weit die Idee. Faktisch besteht diese Option aber nicht immer, wenn sie akut benötigt wird. Denn die Einrichtungen in Deutschland sind schlichtweg überlastet. Und wenn es doch freie Plätze gibt, liegen diese möglicherweise weit entfernt vom Wohnort der Schutzsuchenden und sind häufig nach nur wenigen Stunden schon wieder belegt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine bundesweite Datenauswertung des gemeinnützigen Recherchebüros „Correctiv.Lokal“.

Grundlage der Analyse sind die Daten, die im Jahr 2022 auf www.frauenhaus-suche.de abrufbar waren. Auf der Webseite der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser werden seit Mai 2021 die Kapazitäten der Schutzeinrichtungen aus dem ganzen Bundesgebiet verzeichnet. Diese wurden von der Correctiv-Redaktion ein Jahr lang täglich dreimal auf freie Plätze hin abgefragt. War für eine Einrichtung bei allen drei Abfragen kein freier Platz gelistet, wurde sie an diesem Tag als voll belegt gewertet. Berücksichtigt wurden nur Häuser, die das ganze Jahr über in Betrieb waren und an mindestens 80 Prozent der Tage ihren Status angegeben haben. 200 Einrichtungen erfüllten die Anforderungen. In ­Berlin, Hamburg und Bremen überwand kein Haus diese Hürde, sie sind daher nicht in der Analyse vertreten.

Die ernüchternde Erkenntnis: An durchschnittlich 303 Tagen meldeten die ausgewerteten Häuser Voll­belegung, so dass sie keine weiteren Schutzsuchenden mehr aufnehmen konnten. Die Punkte auf unserer Deutschlandkarte (siehe Seite 25) bilden die Anzahl und auch Verteilung der einzelnen Frauenhäuser in den unterschiedlichen Regionen und innerhalb der Bundesländer ab. Die eingefärbten Punkte spiegeln die Belegungssituation der analysierten Einrichtungen wider: Die Farbe Gelb – gleichbedeutend mit einer Belegungsquote von mehr als 75 Prozent im Jahresdurchschnitt – dominiert. Wie schlimm die Situation und vor allem wie groß der Bedarf an Plätzen ist, beschreibt eine Frauen­haus-Mitarbeiterin aus Bergisch Gladbach laut einer Mitteilung von Correctiv: „Für jeden freien Platz, den wir haben, rufen pro Tag etwa vier bis fünf Frauen an. Von daher sind wir immer voll.“

Beim Blick auf die durchschnittliche Belegungsquote der analysierten Einrichtungen in den 13 Bundesländern zeigt sich, dass es die höchsten Werte in Schleswig-­Holstein (93,11 Prozent), Hessen (91,60 Prozent) und Rheinland-Pfalz (91,41 Prozent) gab. „Frauenhäuser waren dort durchschnittlich an 9 von 10 Tagen voll ausgelastet“, heißt es dazu in der Mitteilung. Sachsen belegte mit einer Quote von 46,25 Prozent zwar den besten Platz – dieser Wert hat jedoch nur eine beschränkte Aus­sagekraft: Während in Hessen und Rheinland-Pfalz alle erfassten Häuser berücksichtigt werden konnten und in Schleswig-Holstein immerhin noch 14 von insgesamt 18, konnten in Sachsen nur fünf von landesweit 19 Einrichtungen analysiert werden, die die Anforderungen erfüllten. Das relativ gesehen gute Ergebnis könnte daher in einem statistischen Effekt begründet sein, der aus dem Meldeverhalten der Frauenhäuser resultiert. Dies gilt in ähnlichem Maße für alle ostdeutschen Länder.

Betrachtet man nur die Länder, in denen sämtliche ­Frauenhäuser in die Auswertung eingingen, erreicht das Saarland den besten Wert. Dort waren die Einrich­tungen im Jahr 2022 durchschnittlich zu 77,26 Prozent belegt. Das bedeutet aber: Nicht einmal jedes vierte Haus konnte Schutzbedürftigen einen Platz anbieten.

Transparenzhinweis: Die komplette Recherche ist auf der Internetseite www.correctiv.org zu lesen und wurde mit dem Reporterpreis 2023 in der Kategorie „Datenjournalismus“ ausgezeichnet. Der WEISSE RING hat das gemeinnützige Recherchebüro Correctiv im Jahr 2021 bei dem Projekt „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ unterstützt.

Polen vor dem Rückschritt

Erstellt am: Dienstag, 2. Februar 2021 von Torben

Polen vor dem Rückschritt

Zwei Drittel der polnischen Frauen haben schon häusliche Gewalt erlebt. Die Regierung erwägt nun, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten. Menschenrechtler fürchten Rückschritte im Kampf gegen Gewalt.

Foto: Mohssen Assanimoghaddam

63 Prozent der polnischen Frauen haben einer Studie des Marktforschungsunternehmens Kantar zufolge mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erlebt. Das polnische Familienministerium hatte die Studie 2019 in Auftrag gegeben. Veröffentlicht wurde sie jedoch erst durch Journalisten des Onlineportals Gazeta.pl. Die rechtskonservative polnische Regierung hielt die Studie unter Verschluss.

Der Leak der Studie im Sommer 2020 fällt in eine Zeit, in der Frauenrechts-Aktivistinnen, Menschenrechtler und Politikerinnen aus ganz Europa einen kritischen Blick nach Polen richten. Ende Juli kündigte der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro an, Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention in die Wege zu leiten. Wenige Tage später legte Premierminister Mateusz Morawiecki einen langsameren Gang ein und beauftragte zunächst den Verfassungsgerichtshof mit einer Prüfung, ob die Konvention gegen häusliche Gewalt in Einklang mit Polens Verfassung steht. Ob Polen den Vertrag tatsächlich aufkündigen wird, ist seitdem unklar. Die Weichen sind jedoch gestellt.

Das „störende“ Geschlecht

Justizminister Ziobro erklärte, er wolle keinesfalls die rechtliche Lage für Opfer häuslicher Gewalt verschlechtern. Vielmehr gehe es ihm um „ideologische Bestimmungen“ in der Konvention. Ihn stört etwa, dass die Konvention nicht nur vom biologischen, sondern auch vom sozialen Geschlecht ausgeht. Und davon, dass Geschlechterrollen nicht angeboren, sondern sozial konstruiert sind. Außerdem brauche Polen die Konvention gar nicht, da das polnische Recht zum Schutz von Frauen vor Gewalt vorbildlich und ein Modell für andere Länder sei, zitierte der Fernsehsender Polsat den Minister.

Urszula Nowakowska widerspricht Ziobro in diesem Punkt vehement. Das polnische Opferschutzsystem sei seit Jahren lückenhaft und werde den Bedürfnissen gewaltbetroffener Frauen nicht gerecht, meint die Gründerin des Frauenrechts-Zentrums Centrum Praw Kobiet. „Es fehlt nach wie vor an spezialisierten Einrichtungen zur umfassenden Unterstützung von Gewaltopfern“, erklärt sie. „Strafverfolgungs- und Justizbehörden lassen sich in ihrem Vorgehen oft von schädlichen Stereotypen leiten, die Frauen erneut zu Opfern machen.“ In der juristischen Verfolgung von Vergewaltigungen hinke das polnische Recht der Istanbul-Konvention weit hinterher.

Der Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt sei in Polen weiterhin unzureichend, erklärte auch der polnische Menschenrechtsbeauftragte Adam Bodnar im Juli in einer Stellungnahme. Die Istanbul-Konvention habe jedoch eine Reihe positiver Entwicklungen angestoßen. „Die Konvention war auch ein Katalysator für die Einrichtung einer rund um die Uhr erreichbaren Telefon-Hotline für Gewaltopfer und hat zur Einführung eines speziellen Anhörungsverfahrens für Opfer sexuellen Missbrauchs beigetragen“, schrieb der 2015 vom polnischen Parlament berufene Bodnar. Die zahlreichen von Politikern verbreiteten Falschinformationen über die Istanbul-Konvention beunruhigten ihn. Solche Äußerungen zeigten nicht nur, „dass die Politiker mit dem Text der Konvention nicht vertraut sind, sondern sind auch Ausdruck eines mangelnden Respekts gegenüber den Opfern von Gewalt.“

Angriffe auf Frauen- und LGBT-Rechte

Der Vorstoß gegen die Istanbul-Konvention fügt sich ein in eine Reihe von Angriffen der polnischen Regierung auf die liberale Gesellschaftsordnung. Seit 2015 versucht die von der rechtskonservativen PiS-Partei geführte Regierung, den Justizapparat des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Die EU-Kommission hat deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen gestartet, der Europäische Gerichtshof urteilte, dass Teile der polnischen Justizreform gegen europäisches Recht verstoßen.

Auch Frauen- und LGBT-Rechte sind in Polen seit Jahren zunehmenden Angriffen durch die Regierung und durch rechtsextreme Organisationen ausgesetzt. „Wir leben in einer interessanten Zeit, in der sich die Frauen in Polen einerseits mehr und mehr ihrer Rechte bewusst sind und wollen, dass sie wirklich respektiert werden“, erklärt Urszula Nowakowska. Frauen organisierten sich, protestierten und verteidigten ihre Rechte. „Andererseits beobachten wir eine Zunahme der Macht und der Mobilisierung fundamentalistischer und rechtsextremer Organisationen, die in Frauenrechten – und in Menschenrechten etwa für LGBT und Migranten – eine Bedrohung der Zivilisation sehen.“ An solche Bedrohungs-Szenarien knüpft auch der aktuelle Vorstoß der polnischen Regierung gegen die Istanbul-Konvention an.

Vereint gegen die Konvention: Ungarn, Bulgarien, Türkei Mit derartigen Gedanken ist die polnische Regierung nicht allein: Ungarn und Bulgarien haben die Konvention zwar unterzeichnet, jedoch bis heute nicht ratifiziert. In beiden Ländern schimpfen die Kritiker auf die „Gender-Ideologie“, die angeblich in dem Vertrag stecke und einen Angriff auf Traditionen und Werte darstelle. In der Türkei, deren Parlament die Istanbul-Konvention 2012 als erstes Land ratifiziert hat, denkt die Regierung Recep Tayyip Erdoğans ebenfalls über einen Ausstieg nach – weil die Konvention angeblich traditionelle Familienwerte untergrabe und einen „LGBT-Lifestyle“ propagiere. Dabei wäre eine ernsthafte Umsetzung der Konvention in der Türkei dringend angebracht: Jedes Jahr werden dort hunderte Frauen zu Todesopfern geschlechtsspezifischer Gewalt.

Nachtrag vom 11. Mai 2021:
I) Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in der Nacht zum 20. März 2021 per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention verkündet. (Quelle: Tagesschau)
II) Am 30. März hat die nationalkonservative Regierung im polnischen Parlament eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten. (Quelle: Tagesschau)