Kann Kunst Leben retten?

Erstellt am: Dienstag, 23. Januar 2024 von Sabine

Mahnmal gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide

Datum: 23.01.2024

Kann Kunst Leben retten?

Am 24. Januar 2024 weiht die Stadt Osnabrück ein Mahnmal gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide ein, das die Taten "skandalisieren" soll. Was steckt dahinter?

Osnabrück/Mainz – In der Region Osnabrück ist die Zahl der Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen zuletzt gestiegen. Am 24. Januar 2024 weiht die niedersächsische Stadt nun ein Mahnmal gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide ein, das die Taten „skandalisieren“ soll. Ein Gespräch mit Patricia Heller und Ann Kristin Schneider, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Osnabrück.

Patricia Heller, 37 Jahre, ist Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Osnabrück. Sie stammt aus Augsburg und lebt seit 2010 in der Region Osnabrück. Heller ist Mutter von drei Kindern.
(Foto: privat)

Frau Heller, Frau Schneider, glauben Sie, dass Kunst Gewalt verhindern und Leben retten kann?
Heller: Ich glaube, dass unser Mahnmal auf jeden Fall einen präventiven Ansatz hat. Es wird natürlich nicht Menschen davor retten, von Gewalt betroffen zu sein. Aber das Mahnmal zeigt das „Signal of help“, mit dem Menschen per Handzeichen unauffällig sichtbar machen können, dass sie bedroht werden und Hilfe benötigen. Das Zeichen wurde ja während der Pandemie bekannt, wenn auch nicht so bekannt, wie es wünschenswert wäre. Wir gehen davon aus, dass wir im lokalen Kontext dieses Zeichen und auch das Thema geschlechtsspezifische Gewalt bekannter machen können.

Warum bekommt ausgerechnet Osnabrück ein solches Mahnmal? Hat die Stadt ein größeres Gewaltproblem als andere Städte in Deutschland?
Schneider: Es gab im vergangenen Jahr in der Region Osnabrück zwei Femizide und einen versuchten Femizid, das ist eine alarmierend hohe Zahl. Darüber hinaus gab es in Stadt und Landkreis insgesamt relativ viele Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, 2022 waren es mit 1452 Fällen fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Viele davon wurden medienwirksam in der Stadtbevölkerung diskutiert, ob das jetzt sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigungen im öffentlichen nächtlichen Raum waren. Wir haben dann gesagt, diese Taten muss man irgendwie widerspiegeln und auch noch mal skandalisieren. Denn diese Gewalt ist nicht hinnehmbar.

Wie kam es von diesem Gedanken zu der Idee, ein Mahnmal gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide zu schaffen? Ich habe mal gegoogelt, Vorbilder dafür gibt es kaum.
Heller: Wir haben uns nicht an Vorbildern orientiert, aber wir haben uns schon umgeschaut. Es gibt beispielsweise die Initiative „Femizide stoppen“, die auf Instagram jeden Femizid zählt und abbildet, der in Deutschland passiert. Das geschieht im digitalen Raum, und unser Gedanke war dann: Wir möchten das im Stadtbild abbilden. Wenn wir das im öffentlichen Raum fest verankern, dann setzen sich im besten Falle auch Menschen damit auseinander, die bislang keinen Bezug zum Thema hatten. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist kein Thema, dass irgendeine Gruppe, Einkommens- oder Altersklasse betrifft, sondern das breit durch alle Bevölkerungsschichten geht. Für die Beschäftigung damit wollten wir mit dem Mahnmal auf dem Willy-Brandt-Platz ein niedrigschwelliges Angebot machen.

Ann Kristin Schneider, 39 Jahre alt, ist stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Osnabrück. Sie ist in Osnabrück geboren und lebt dort in einer Patchwork-Familie, „mit insgesamt zwei Kindern, einem leiblichen und einem Bonus-Kind“. (Foto: privat)

In der lokalen Presse las ich, der Willy-Brandt-Platz sei als „Treffpunkt der lokalen Alkoholikerszene“ bekannt.
Heller: Es ist ein bisschen unglücklich, wie die Zeitung das dargestellt hat. So hätten wir nicht gesprochen. Wir sind froh über diesen Platz, weil er perfekt ist für unser Anliegen: Er ist sehr zentral gelegen an einer Hauptverkehrsstraße, nämlich am Osnabrücker Ring. Das heißt, wir haben relativ viel Verkehr, auch ein Fahrradweg führt dort vorbei. Zudem ist es ein Park: Es gibt da picknickende Familien, es gibt einen Spielplatz, es gibt Sportgeräte, es gibt wegen der Nähe zur Universität viele Studierende.

Schneider: Es stimmt, dass auch Personen den Park nutzen, die eine Suchterkrankung haben, weil an einem Eck dieses Parks das „Café Connection“ liegt, das Unterstützung bietet für Menschen mit Suchterkrankung. Der Platz ist also tatsächlich sehr heterogen genutzt – von Menschen, die ihn passieren, und von Menschen, die dort verweilen.

Wie haben Politik und Stadtgesellschaft auf den Plan reagiert, ein solches Mahnmal mitten in der Stadt zu errichten?
Heller: Die Reaktionen in der Politik und in unseren Netzwerken waren wohlwollend. Wir haben die Finanzmittel des Gleichstellungsbüros für die Umsetzung der Istanbul-Konvention der Europäischen Union aufgewendet, um das Mahnmal zu errichten. Konkret geht es um Artikel 14 der Konvention, Bildung und Prävention. Weil wir das Geld zur Verfügung hatten, mussten wir keinen eigenen politischen Beschluss für das Projekt einholen.

Schneider: Es gab aber auch eine kritische Stimme: Die Mittel seien besser für Prävention eingesetzt, hieß es dort, außerdem ziele ein Mahnmal in die Vergangenheit und biete deshalb keinen Mehrwert für akut von Gewalt betroffene Frauen. Wie schon gesagt: Ich sehe durchaus einen präventiven Ansatz des Mahnmals. Und ich finde, dass ein Mahnen an Vergangenes sehr wohl aktuell Menschen ermutigen kann, tätig zu werden. Nur wer der Vergangenheit gedenkt, kann sich für ein besseres Leben in Zukunft einsetzen. Aber Kritik ist absolut in Ordnung. So ein Mahnmal darf und soll auch unbequem sein.

Was sagt die Osnabrücker Stadtbevölkerung?
Heller: Das Mahnmal wird am 24. Januar eingeweiht. Wir hoffen, dass dann Reaktionen aus der Bevölkerung kommen. Das war bisher noch nicht der Fall.

Welche Reaktionen würden Sie sich denn wünschen?
Heller: Zum einen hoffen wir natürlich, dass das Mahnmal gut angenommen wird und sich Menschen noch nähere Informationen zum Thema holen. Wir haben das Mahnmal mit den prägnanten Händen, aber es gibt auch eine Infotafel, auf der Hintergründe stehen: Was ist ein Femizid? Was ist das Problem mit geschlechtsspezifischer Gewalt? Das ist ganz knapp und in einfacher Sprache formuliert, aber wer mehr möchte, findet auch einen QR-Code auf der Infotafel, von wo aus man auf eine lokale Homepage mit verschiedenen Netzwerk-Partner:innen kommt. Im besten Fall findet jemand, der selbst von Gewalt betroffen ist, hier Hilfe: An wen kann ich mich wenden? Welche Unterstützungsangebote gibt es?

Schneider: Und dann hoffen wir, dass das Mahnmal für gewaltbetroffene Menschen die Möglichkeit bietet, sich vielleicht noch mal mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Und schließlich können wir das Mahnmal für Aktionstage nutzen, die jährlich in unserem Kalender stehen.

Sie denken an Tage wie den „Orange Day“, den Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen?
Heller: Zum Beispiel. Vielleicht macht man dort zu solchen Tagen eine Veranstaltung, vielleicht nutzt man die magnetische Oberfläche des Mahnmals, um weitere Informationen abzubilden. Im besten Falle nutzen das auch andere Initiativen und Vereine, die in Osnabrück aktiv sind.

Transparenzhinweis:
Das Mahnmal gegen geschlechtsspezifische Gewalt wird am 24. Januar 2024 um 15 Uhr auf dem Willy-Brandt-Platz in Osnabrück, Niedersachsen, eingeweiht. Geschaffen hat das Werk die Künstlerin Irène Mélix, deren Entwurf sich in einem Ausschreibungswettbewerb der Stadt durchsetzte. Die Mittel für das rund 25.000 Euro teure Mahnmal stammen größtenteils aus dem Topf des städtischen Gleichstellungsbüros für die Umsetzung der Istanbul-Konvention, des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Gefördert wurde das Projekt zudem mit Landesmitteln für die Umsetzung der Istanbul-Konvention (CEDAW Niedersachsen).

Versperrter Ausweg

Erstellt am: Montag, 11. Dezember 2023 von Torben

Versperrter Ausweg

Die Flucht in ein Frauenhaus ist für Betroffene manchmal die einzige Möglichkeit, sich häuslicher Gewalt zu entziehen. Doch es mangelt bundesweit an freien Plätzen für Frauen und deren Kinder. Das bedeutet: In einer Notsituation gibt es für sie oft keinen Zufluchtsort.

Frauenhäuser sind Zufluchtsorte für von Gewalt Betroffene und deren Kinder, wenn sie keine Möglichkeit haben, zum Beispiel bei Freunden und Verwandten unterzukommen. So weit die Idee. Faktisch besteht diese Option aber nicht immer, wenn sie akut benötigt wird. Denn die Einrichtungen in Deutschland sind schlichtweg überlastet. Und wenn es doch freie Plätze gibt, liegen diese möglicherweise weit entfernt vom Wohnort der Schutzsuchenden und sind häufig nach nur wenigen Stunden schon wieder belegt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine bundesweite Datenauswertung des gemeinnützigen Recherchebüros „Correctiv.Lokal“.

Grundlage der Analyse sind die Daten, die im Jahr 2022 auf www.frauenhaus-suche.de abrufbar waren. Auf der Webseite der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser werden seit Mai 2021 die Kapazitäten der Schutzeinrichtungen aus dem ganzen Bundesgebiet verzeichnet. Diese wurden von der Correctiv-Redaktion ein Jahr lang täglich dreimal auf freie Plätze hin abgefragt. War für eine Einrichtung bei allen drei Abfragen kein freier Platz gelistet, wurde sie an diesem Tag als voll belegt gewertet. Berücksichtigt wurden nur Häuser, die das ganze Jahr über in Betrieb waren und an mindestens 80 Prozent der Tage ihren Status angegeben haben. 200 Einrichtungen erfüllten die Anforderungen. In ­Berlin, Hamburg und Bremen überwand kein Haus diese Hürde, sie sind daher nicht in der Analyse vertreten.

Die ernüchternde Erkenntnis: An durchschnittlich 303 Tagen meldeten die ausgewerteten Häuser Voll­belegung, so dass sie keine weiteren Schutzsuchenden mehr aufnehmen konnten. Die Punkte auf unserer Deutschlandkarte (siehe Seite 25) bilden die Anzahl und auch Verteilung der einzelnen Frauenhäuser in den unterschiedlichen Regionen und innerhalb der Bundesländer ab. Die eingefärbten Punkte spiegeln die Belegungssituation der analysierten Einrichtungen wider: Die Farbe Gelb – gleichbedeutend mit einer Belegungsquote von mehr als 75 Prozent im Jahresdurchschnitt – dominiert. Wie schlimm die Situation und vor allem wie groß der Bedarf an Plätzen ist, beschreibt eine Frauen­haus-Mitarbeiterin aus Bergisch Gladbach laut einer Mitteilung von Correctiv: „Für jeden freien Platz, den wir haben, rufen pro Tag etwa vier bis fünf Frauen an. Von daher sind wir immer voll.“

Beim Blick auf die durchschnittliche Belegungsquote der analysierten Einrichtungen in den 13 Bundesländern zeigt sich, dass es die höchsten Werte in Schleswig-­Holstein (93,11 Prozent), Hessen (91,60 Prozent) und Rheinland-Pfalz (91,41 Prozent) gab. „Frauenhäuser waren dort durchschnittlich an 9 von 10 Tagen voll ausgelastet“, heißt es dazu in der Mitteilung. Sachsen belegte mit einer Quote von 46,25 Prozent zwar den besten Platz – dieser Wert hat jedoch nur eine beschränkte Aus­sagekraft: Während in Hessen und Rheinland-Pfalz alle erfassten Häuser berücksichtigt werden konnten und in Schleswig-Holstein immerhin noch 14 von insgesamt 18, konnten in Sachsen nur fünf von landesweit 19 Einrichtungen analysiert werden, die die Anforderungen erfüllten. Das relativ gesehen gute Ergebnis könnte daher in einem statistischen Effekt begründet sein, der aus dem Meldeverhalten der Frauenhäuser resultiert. Dies gilt in ähnlichem Maße für alle ostdeutschen Länder.

Betrachtet man nur die Länder, in denen sämtliche ­Frauenhäuser in die Auswertung eingingen, erreicht das Saarland den besten Wert. Dort waren die Einrich­tungen im Jahr 2022 durchschnittlich zu 77,26 Prozent belegt. Das bedeutet aber: Nicht einmal jedes vierte Haus konnte Schutzbedürftigen einen Platz anbieten.

Transparenzhinweis: Die komplette Recherche ist auf der Internetseite www.correctiv.org zu lesen und wurde mit dem Reporterpreis 2023 in der Kategorie „Datenjournalismus“ ausgezeichnet. Der WEISSE RING hat das gemeinnützige Recherchebüro Correctiv im Jahr 2021 bei dem Projekt „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ unterstützt.

Polen vor dem Rückschritt

Erstellt am: Dienstag, 2. Februar 2021 von Torben

Polen vor dem Rückschritt

Zwei Drittel der polnischen Frauen haben schon häusliche Gewalt erlebt. Die Regierung erwägt nun, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten. Menschenrechtler fürchten Rückschritte im Kampf gegen Gewalt.

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

63 Prozent der polnischen Frauen haben einer Studie des Marktforschungsunternehmens Kantar zufolge mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erlebt. Das polnische Familienministerium hatte die Studie 2019 in Auftrag gegeben. Veröffentlicht wurde sie jedoch erst durch Journalisten des Onlineportals Gazeta.pl. Die rechtskonservative polnische Regierung hielt die Studie unter Verschluss.

Der Leak der Studie im Sommer 2020 fällt in eine Zeit, in der Frauenrechts-Aktivistinnen, Menschenrechtler und Politikerinnen aus ganz Europa einen kritischen Blick nach Polen richten. Ende Juli kündigte der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro an, Polens Austritt aus der Istanbul-Konvention in die Wege zu leiten. Wenige Tage später legte Premierminister Mateusz Morawiecki einen langsameren Gang ein und beauftragte zunächst den Verfassungsgerichtshof mit einer Prüfung, ob die Konvention gegen häusliche Gewalt in Einklang mit Polens Verfassung steht. Ob Polen den Vertrag tatsächlich aufkündigen wird, ist seitdem unklar. Die Weichen sind jedoch gestellt.

Das „störende“ Geschlecht

Justizminister Ziobro erklärte, er wolle keinesfalls die rechtliche Lage für Opfer häuslicher Gewalt verschlechtern. Vielmehr gehe es ihm um „ideologische Bestimmungen“ in der Konvention. Ihn stört etwa, dass die Konvention nicht nur vom biologischen, sondern auch vom sozialen Geschlecht ausgeht. Und davon, dass Geschlechterrollen nicht angeboren, sondern sozial konstruiert sind. Außerdem brauche Polen die Konvention gar nicht, da das polnische Recht zum Schutz von Frauen vor Gewalt vorbildlich und ein Modell für andere Länder sei, zitierte der Fernsehsender Polsat den Minister.

Urszula Nowakowska widerspricht Ziobro in diesem Punkt vehement. Das polnische Opferschutzsystem sei seit Jahren lückenhaft und werde den Bedürfnissen gewaltbetroffener Frauen nicht gerecht, meint die Gründerin des Frauenrechts-Zentrums Centrum Praw Kobiet. „Es fehlt nach wie vor an spezialisierten Einrichtungen zur umfassenden Unterstützung von Gewaltopfern“, erklärt sie. „Strafverfolgungs- und Justizbehörden lassen sich in ihrem Vorgehen oft von schädlichen Stereotypen leiten, die Frauen erneut zu Opfern machen.“ In der juristischen Verfolgung von Vergewaltigungen hinke das polnische Recht der Istanbul-Konvention weit hinterher.

Der Schutz von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt sei in Polen weiterhin unzureichend, erklärte auch der polnische Menschenrechtsbeauftragte Adam Bodnar im Juli in einer Stellungnahme. Die Istanbul-Konvention habe jedoch eine Reihe positiver Entwicklungen angestoßen. „Die Konvention war auch ein Katalysator für die Einrichtung einer rund um die Uhr erreichbaren Telefon-Hotline für Gewaltopfer und hat zur Einführung eines speziellen Anhörungsverfahrens für Opfer sexuellen Missbrauchs beigetragen“, schrieb der 2015 vom polnischen Parlament berufene Bodnar. Die zahlreichen von Politikern verbreiteten Falschinformationen über die Istanbul-Konvention beunruhigten ihn. Solche Äußerungen zeigten nicht nur, „dass die Politiker mit dem Text der Konvention nicht vertraut sind, sondern sind auch Ausdruck eines mangelnden Respekts gegenüber den Opfern von Gewalt.“

Angriffe auf Frauen- und LGBT-Rechte

Der Vorstoß gegen die Istanbul-Konvention fügt sich ein in eine Reihe von Angriffen der polnischen Regierung auf die liberale Gesellschaftsordnung. Seit 2015 versucht die von der rechtskonservativen PiS-Partei geführte Regierung, den Justizapparat des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Die EU-Kommission hat deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen gestartet, der Europäische Gerichtshof urteilte, dass Teile der polnischen Justizreform gegen europäisches Recht verstoßen.

Auch Frauen- und LGBT-Rechte sind in Polen seit Jahren zunehmenden Angriffen durch die Regierung und durch rechtsextreme Organisationen ausgesetzt. „Wir leben in einer interessanten Zeit, in der sich die Frauen in Polen einerseits mehr und mehr ihrer Rechte bewusst sind und wollen, dass sie wirklich respektiert werden“, erklärt Urszula Nowakowska. Frauen organisierten sich, protestierten und verteidigten ihre Rechte. „Andererseits beobachten wir eine Zunahme der Macht und der Mobilisierung fundamentalistischer und rechtsextremer Organisationen, die in Frauenrechten – und in Menschenrechten etwa für LGBT und Migranten – eine Bedrohung der Zivilisation sehen.“ An solche Bedrohungs-Szenarien knüpft auch der aktuelle Vorstoß der polnischen Regierung gegen die Istanbul-Konvention an.

Vereint gegen die Konvention: Ungarn, Bulgarien, Türkei Mit derartigen Gedanken ist die polnische Regierung nicht allein: Ungarn und Bulgarien haben die Konvention zwar unterzeichnet, jedoch bis heute nicht ratifiziert. In beiden Ländern schimpfen die Kritiker auf die „Gender-Ideologie“, die angeblich in dem Vertrag stecke und einen Angriff auf Traditionen und Werte darstelle. In der Türkei, deren Parlament die Istanbul-Konvention 2012 als erstes Land ratifiziert hat, denkt die Regierung Recep Tayyip Erdoğans ebenfalls über einen Ausstieg nach – weil die Konvention angeblich traditionelle Familienwerte untergrabe und einen „LGBT-Lifestyle“ propagiere. Dabei wäre eine ernsthafte Umsetzung der Konvention in der Türkei dringend angebracht: Jedes Jahr werden dort hunderte Frauen zu Todesopfern geschlechtsspezifischer Gewalt.

Nachtrag vom 11. Mai 2021:
I) Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in der Nacht zum 20. März 2021 per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention verkündet. (Quelle: Tagesschau)
II) Am 30. März hat die nationalkonservative Regierung im polnischen Parlament eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten. (Quelle: Tagesschau)