Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Erstellt am: Mittwoch, 25. Juni 2025 von Gregor
Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Datum: 25.06.2025

Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Der Fonds sexueller Missbrauch, eine wichtige Hilfe für Opfer, ist schon länger in Gefahr. Jetzt spitzt sich die Situation zu. Ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge können vermutlich nicht mehr berücksichtigt werden.

Eine unverzichtbare, niedrigschwellige Unterstützung ist der Fonds sexueller Missbrauch (FSM) für Betroffene. Er ist Teil des Ergänzenden Hilfesystem (EHS), kann Folgen des Missbrauchs lindern und einspringen, wenn notwendige Leistungen nicht durch Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht abgedeckt werden, etwa Physiotherapie oder Ergotherapie.

Nun gibt es einen Antragsstopp. Außerdem steht der Fonds in seiner jetzigen Form vor dem Aus – trotz einer zuversichtlich stimmenden Ankündigung im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Die Parteien hielten darin fest: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“

Alarmierende Mitteilung der Geschäftsstelle

Am Mittwoch veröffentlichte die Geschäftsstelle des Fonds eine Mitteilung, die deutlich macht, wie sich die Situation zugespitzt hat: In den vergangenen Wochen seien mehr Anträge auf Unterstützung eingegangen als erwartet. „Zu unserem Bedauern werden die im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel zur Gewährung von Billigkeitsleistungen für Betroffene nicht ausreichen, um alle bisher eingegangenen Anträge zu bewilligen“, so die Geschäftsstelle. Derzeit sei davon auszugehen, dass ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge nicht mehr berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnten nur vollständige Anträge bis 31. Dezember 2025 beschieden werden. Die Geschäftsstelle bittet Antragstellende, bereits eingereichte Anträge selbstständig zu vervollständigen.

Weiter heißt es in der Mitteilung, dem Bundesfamilienministerium sei bewusst, dass die Fristen und Kürzungen viele Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend enttäuschen und vor große Herausforderungen stellen. In der bisherigen Form könne das System – auch weil in den Haushaltsverhandlungen keine Mittel vorgesehen seien – aber nicht fortbestehen. Unbürokratische Hilfen seien aber nach wie vor wichtig. Deshalb setze sich das Ministerium in Gesprächen dafür ein, dass Opfer weiterhin Hilfen bekommen – in welcher Form werde geprüft und brauche noch Zeit.

Kritische Stimmen sprechen von Abwicklung

Aus Fachverbänden sind Stimmen zu hören, die von einer Abwicklung des Fonds sprechen. Kürzlich hatte das von Karin Prien (CDU) geführte Bundesfamilienministerium auf Anfrage des WEISSER RING Magazins noch mitgeteilt: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Der Fonds ist schon länger in Gefahr: Unter Priens Vorgängerin Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte das Ministerium das geplante Aus mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 moniert hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte damals mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht auf eine Reform des EHS einigen können. Das müsse die neue Bundesregierung übernehmen.

Der „Rheinischen Post“ sagte Prien nun, sie wolle sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch einsetzen. Auch werde sie gezielt das Gespräch mit der Unabhängigen Beauftragten Kerstin Claus und dem Betroffenenrat suchen, um eine „tragfähige Lösung“ zu finden. Das System könne nicht wie bisher weitergeführt werden, räumte die Ministerin ein. Die Neuaufstellung sei für Anfang 2026 geplant.

Claus hat die aktuelle Entwicklung mit deutlichen Worten kritisiert: „Einfach rückwirkend bereits vorliegende fristgerechte Anträge auszuschließen und die Annahme von weiteren Anträgen bis zum kommunizierten Antragsende am 31. August 2025 zu verweigern, kommt einem neuerlichen Verrat an Betroffenen gleich“, sagte Claus. Sie appellierte an die Bundesregierung, „sicherzustellen, dass eine kurzfristige Nachsteuerung noch in diesem Jahr erfolgt, um Versorgungslücken zu verhindern“.

Rund 27.500 Menschen wurden unterstützt

Im Jahr 2023 wurden Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent) gezahlt, aus Bundesmitteln flossen in dem Jahr 32 Millionen Euro in den Fonds. Laut dem zuständigen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Unterstützung durch den Fonds.

Gegen die Strömung

Erstellt am: Freitag, 13. Juni 2025 von Sabine

Gegen die Strömung

Seit fast 16 Jahren kämpft Christophe Didillon mit Anträgen, Widersprüchen und Klagen um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Vor Gericht in Aurich, Ostfriesland, will er endlich einen Schlussstrich ziehen.

Opferentschädigung: Der unendliche Kampf des Herrn Didillon gegen den Staat. Gezeichnete Grafik

An dem Tag, an dem im Sozialgericht Aurich, Sitzungssaal I, alles enden soll für ihn, bleibt Christophe Didillon lieber zu Hause. Er hat sich mit einem Freund verabredet, sie wollen Kaffee trinken und vor allem: „Über was anderes reden“.

„Kläger/in Christophe Didillon, Beklagte/r Land Niedersachsen“, so steht es in Aurich draußen angeschlagen neben der Saaltür. Drinnen klebt auf Blech das Niedersachsenross an der Wand, hinten hat auf harten Stühlen die Öffentlichkeit Platz genommen: zwei Zuschauer, zwei Reporter. „Wir haben heute etwas Zuwachs“, stellt  der Vorsitzende Richter fest, er klingt ein bisschen beeindruckt. Sozialrecht ist kein Publikumsmagnet.

Der Richter spricht in eine drehbare Kamera, an den Wänden gibt es zudem zwei große Flachbildschirme. Das Gericht hat der Anwältin von Christophe Didillon die  Teilnahme per Video aus Hamburg erlaubt. Auch Didillon hätte sich von zu Hause aus dem 30 Kilometer entfernten Städtchen Norden zuschalten können. Er hat aus  gesundheitlichen Gründen abgelehnt, „mir würde das zu viel werden“.

Vor dem Richter liegen das rote Sozialgesetzbuch und ein 30 Zentimeter hoher Stapel mit Didillon-Akten, neben ihm sitzen zwei Schöffen. Die beiden ehrenamtlichen Richter hören heute zum ersten Mal von dem Fall, der Vorsitzende fasst den Sachverhalt für sie zusammen, „ich hoffe mal gerafft aufs Wesentliche“. Es ist eine  anspruchsvolle Aufgabe: Christophe Didillon gegen das Land Niedersachsen, das geht nun schon fast 16 Jahre. Es gab Hunderte Schreiben, Anträge auf Leistungen nach  dem Opferentschädigungsgesetz, Ablehnungen und Widersprüche, ärztliche Gutachten, Klagen und Gerichtsverfahren, erste Instanzen und zweite.

Didillon, 53 Jahre alt, hat angegeben, seit früher Kindheit physische und psychische Gewalt durch den Vater erlebt zu haben, sexualisierte Gewalt durch die Tante, weitere Gewalt durch Dritte: Mitschüler wie Fremde. Er machte Abitur, absolvierte eine Lehre (Industriekaufmann) und ein Studium (Sinologie), „mit Auszeichnung“, betont der  Richter. Didillon versuchte sich als Kunstmaler. Doch dann kam er beruflich nicht mehr voran. „Die Strömung wurde immer stärker“, so beschreibt er es selbst in einem  Lebenslauf, aus dem der Richter zitiert.

Wer infolge von Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat

Christophe Didillon lebt von Sozialhilfe und wohnt im Haus seiner alten Mutter. Das Haus nennt er „meinen Rückzugsort“, er kann von hier an die Nordsee laufen. Er hat  Angst, diesen Ort nach dem Tod der Mutter zu verlieren. Der Gerichtstag heute soll ihm Sicherheit geben, sagt er am Tag vorher im Telefonat mit dem WEISSER RING  Magazin: „Ich hoffe, dass endlich anerkannt wird, dass das, was mit mir damals passiert ist, nicht rechtmäßig war. Dass ich aus der Sozialhilfe rauskomme. Dass ich keine  Anträge mehr stellen muss. Dass ich endlich einen Schlussstrich unter all dem ziehen kann!“

Wer infolge von tätlicher Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat. Das verspricht seit 1976 das Opferentschädigungsgesetz (OEG), das zum 1. Januar 2024 durch das Sozialgesetzbuch XIV abgelöst wurde. So weit jedenfalls die Theorie – in der Praxis kommt die staatliche Entschädigung eher  selten bei den Opfern an, wie Recherchen des WEISSEN RINGS belegen.

Gegen die Strömung – Christoph Didillon

Seit fast 16 Jahren kämpft Christophe Didillon um Entschädigung – nun hofft er auf ein Urteil vor dem Sozialgericht.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis

Das liegt zum einen daran, dass nur wenige Gewaltopfer überhaupt einen Entschädigungsantrag stellen: Im Jahr 2023 gingen nur 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein; das entspricht sieben Prozent der 214.099 Gewalttaten, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts verzeichnet sind. Zum  anderen wird von diesen wenigen Anträgen nur ein kleiner Teil als entschädigungsberechtigt anerkannt: 23 Prozent im Jahr 2023, also nicht einmal ein Viertel. 48  Prozent der Anträge lehnten die Ämter ab, 29 Prozent erhielten den Stempel „Erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe, das können zum Beispiel Wegzug oder Tod sein, aber auch die Rücknahme des Antrags.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis. Der Antragsteller muss erstens eine Gewalttat erlebt haben. Er muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung aufweisen. Drittens muss diese Schädigung eine Folge der Gewalttat sein. Häufig ist bereits die Gewalttat schwer nachweisbar: zum Beispiel in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch oder von häuslicher Gewalt, nach denen es keine Strafanzeigen gab. Noch schwerer fällt oft der Nachweis des Zusammenhangs von Tat und Schädigung, zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Belegen müssen das dann medizinische Gutachten. Für die OEG-Recherchen sprach das WEISSER RING Magazin mit zahlreichen Betroffenen und Therapeuten. Einige nannten die Begutachtung „die Hölle“, „eine Katastrophe“, „Körperverletzung“.

Bei seinem ersten Gutachtertermin bekam Christophe Didillon eine so schwere Panikattacke, „dass der Notarzt mich aus der Praxis holen musste“, wie er berichtet. Eine  zweite Gutachterin schickte ihm vorab einen Fragebogen zu mit 283 Fragen. Darin ging es unter anderem um Sex mit Tieren, um Nekrophilie (sexuelle Erregung durch  Leichen), um Koprophilie (Lustgewinn durch menschlichen Kot). „Wie ein Täter habe ich mich gefühlt“, sagt Didillon. Er beantwortete die Fragen trotzdem.

2011 bewilligte das Land Niedersachsen eine Anerkennung nach dem OEG, „GdS 30“. GdS, das ist der Grad der Schädigungsfolgen; ab GdS 30 zahlt der Staat eine kleine  Rente, damals waren es 127 Euro monatlich. Didillon blieb von Sozialhilfe abhängig.

In Sitzungssaal I geht es heute um einen möglichen Berufsschadensausgleich. Dieser soll berufliche Nachteile ausgleichen, die durch die gesundheitliche Schädigung  entstanden sind, die wiederum durch eine Gewalttat entstanden ist. Didillon hat einen entsprechenden Antrag gestellt, das Land lehnte ab, Didillon klagte. Mit dem  Ausgleich wäre er nicht länger auf Sozialhilfe angewiesen, so Didillon, er könnte seinen Rückzugsort erhalten.

„Didillons berufliche Karriere hat ja gar nicht erst begonnen wegen der gesundheitlichen Belastung“

Der Richter will nun wissen, welchen beruflichen Nachteil der Kläger denn erlitten habe. „Es muss ein beruflicher Karriereknick feststellbar sein“, sagt er, „und der muss schädigungsbedingt sein.“ Er sehe „Schwierigkeiten in beiden Punkten“.

Er befragt die Anwältin von Didillon. An welcher Stelle mache sie den Berufsschaden fest? Ab wann habe Herr Didillon die berufliche Karriere nicht weiterverfolgt? Welchen Beruf habe er überhaupt angestrebt? Sinologe? Freischaffender Künstler? „Da auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist ohnehin schwierig“, sagt der Richter. Die  Anwältin muss passen: „Ich kann nicht den genauen ökonomischen Ablauf wiedergeben.“ Didillons berufliche Karriere habe ja gar nicht erst begonnen wegen der  gesundheitlichen Belastung.

In Sitzungssaal I sitzen zwei Vertreter der Beklagten, des Landes Niedersachsen, genauer: zwei Mitarbeiter des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie. Einer der  beiden weist darauf hin, dass die nicht gestartete Karriere als Sinologe oder als Künstler ja auch von ganz anderen Faktoren als einer gesundheitlichen Schädigung  abhängig gewesen sein könne: „Vom Arbeitsmarkt zu der Zeit oder vom Geschmack der Bilderkäufer.“

Nach eineinhalb Stunden, um 10:30 Uhr, schließt der Vorsitzende Richter die Didillon-Akten. Er kündigt an, dass er die Entscheidung des Gerichts spätestens am  nächsten Tag mitteilen werde.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland so viele OEG-Anträge abgelehnt wie noch nie. Das zeigt eine exklusive Auswertung des WEISSEN RINGS.

Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat die Klage von Didillon abgewiesen

Um 11:09 Uhr schickt Christophe Didillon die erste E-Mail an die Reporter. Er habe eben mit seiner Anwältin gesprochen, „es sieht nicht gut aus“. In den nächsten  Stunden und Tagen folgen viele weitere E-Mails. An seine Anwältin. An den WEISSEN RING. An das Landesamt. Einige der E-Mails sind sehr, sehr lang. Didillon ist  enttäuscht.

Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat seine Klage abgewiesen, Didillon erhält keinen Berufsschadensausgleich. Er ist wütend. Diese Gutachterin! Dieses  Gericht! Ja, kündigt er an, er werde Berufung einlegen! Das sei er sich schuldig, „sonst würde ich mir doch eingestehen müssen, von Anfang an falschgelegen zu haben“.  Er sagt: „Ich kämpfe weiter!“

Nichts endete an diesem Tag für Christophe Didillon.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING hat Christophe Didillon in den vergangenen Jahren wiederholt unterstützt, unter anderem mit der Übernahme von Anwalts- und Gutachterkosten. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins sprach zudem seit 2021 mehrfach mit ihm im Zuge ihrer Recherchen für den 2022 veröffentlichten OEG-Report.

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Erstellt am: Montag, 2. Juni 2025 von Gregor
Viele Opfer vertrauen sich niemandem an, aus Scham und Angst. Foto: dpa

Viele Opfer vertrauen sich niemandem an, aus Scham und Angst. Foto: dpa

Datum: 02.06.2025

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Eine neue Studie hat die Häufigkeit, den Kontext und die Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Etwa jeder Achte in Deutschland zwischen 18 und 59 Jahren ist als Kind oder Jugendlicher mindestens einmal Opfer sexualisierter Gewalt geworden – hochgerechnet sind das 5,7 Millionen Menschen. Mit 20,6 Prozent ist bei Frauen ein deutlich höherer Anteil betroffen als bei Männern mit 4,8 Prozent. Die Täter sind überwiegend männlich und lediglich in 4,5 Prozent der Fälle weiblich.

Repräsentative Studie mit 3000 Teilnehmenden

Das geht aus einer repräsentativen, am Montag veröffentlichten Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg hervor. Die Forschenden haben in Kooperation mit dem Umfrageinstitut infratest dimap eine repräsentative Stichprobe von Menschen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren angeschrieben. Rund 3000 Personen nahmen teil. Die Institute untersuchten sowohl die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als auch den Kontext und die Folgen der Taten. Es handelt sich um die erste bundesweite und repräsentative Studie zu diesem Thema.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, erklärt Prof. Dr. Harald Dreßing, der die Studie koordiniert hat und die Forensischen Psychiatrie am ZI leitet. Dieses gehört zum Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG).

Tatorte Familie und digitale Kanäle

Bei jüngeren Frauen, den 18-29-Jährigen, war die Betroffenenrate am höchsten: 27,4 Prozent. Unter allen Befragten gaben die meisten an, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Wobei Männer laut der Studie viel öfter in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Zusammenhängen und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe betroffen waren. Dies zeige, wie wichtig „differenzierte Schutzkonzepte“ für Kinder und Jugendliche seien, mahnen die Forschungsinstitute.

Gut 37 Prozent der Opfer hatten demnach bislang nicht mit anderen Menschen über die sexuellen Angriffe gesprochen, aus Scham und aus Angst, dass ihnen niemand glaube.

31,7 Prozent der Fälle betrafen digitale Kanäle. Dabei erhielten die Betroffenen beispielsweise ungewollt pornographisches Material, wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert oder gezwungen, sexuelle Bilder zu teilen.

Betroffene haben psychische Schwierigkeiten

Ein weiterer wichtiger Befund: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gehe es psychisch deutlich schlechter als Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, fordert Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm.

Die Untersuchung wurde mit Eigenmitteln der Institute finanziert sowie mit Hilfe der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch und des Kinderschutzbundes.

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Erstellt am: Donnerstag, 3. April 2025 von Selina

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung war groß, nachdem bekannt geworden war, dass der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) auslaufen soll. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds tatsächlich bleibt, ist ungewiss. Beratungsstellen und Betroffene mahnen, die niedrigschwelligen Hilfen in vollem Umfang zu erhalten.

Viele Opfer vertrauen sich niemandem an, aus Scham und Angst. Foto: dpa

Viele Opfer vertrauen sich niemandem an, aus Scham und Angst. Foto: dpa

Bernd Weiland (Name geändert) wurde jahrelang von seinem Vater missbraucht. Er verlor das Gleichgewicht und bekam als Erwachsener auch Geldsorgen, weil er beruflich nicht richtig Fuß fassen konnte. Um wenigstens etwas Abstand zu der Tat und zu dem Mann zu bekommen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, wollte er seinen Nachnamen ändern. Später hatte er noch einen kleinen Wunsch: sich einmal elegant einkleiden, von Kopf bis Fuß, um sich „nicht so ärmlich und erbärmlich“ zu fühlen, sagte er. Keine teure Designerkleidung, aber ordentliche Klamotten. Als der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seinen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Namensänderung und die Kleidung bewilligte, war er sprachlos und brach in Tränen aus, vor Freude.

Die Kleidung habe für ihn eine tiefere Bedeutung gehabt, erklärt Ingeborg Altvater, die beim WEISSEN RING mehr als 100 Beratungen zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS) gemacht hat, das hinter dem Fonds steht. „Die Garderobe stärkte sein Selbstbewusstsein. Das ist ganz wichtig, weil er wie andere Opfer mit dem Gefühl kämpfte, minderwertig und hilflos zu sein“, erinnert sich Altvater.

In der Regel ist eine Unterstützung bis 10.000 Euro möglich

Der Fonds kann Hilfen gewähren, die die Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht nicht abdecken. In der Regel ist eine Unterstützung in Höhe von 10.000 Euro, für Betroffene mit Behinderung bis zu 15.000 Euro möglich. Kürzlich ist bekannt geworden, dass das Ergänzende Hilfesystem und der FSM Ende 2028 auslaufen sollen. Demnach können Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt noch bis Ende August 2025 eingereicht und Zusagen nur bis Jahresende erteilt werden.

Das noch amtierende Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte diesen Schritt mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 bemängelt hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht darüber einigen können, wie sie das EHS neu aufstellen können. Das sei Aufgabe der neuen Bundesregierung. Der WEISSE RING und fünf Fachorganisationen, darunter die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), kritisierten die Entscheidung und forderten in einer gemeinsamen Erklärung: „Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden.“

Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Darin heißt es: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“ Doch ob der FSM als Teil des EHS tatsächlich bestehen bleibt und in welcher Form, ist noch unklar. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte eine Sprecherin des nun von Karin Prien (CDU) geführten Familienministeriums mit: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Leistungen können Folgen des Missbrauchs lindern

Beratende wie Ingeborg Altvater mahnen, den Fonds in vollem Umfang zu erhalten. Sie beschreibt das Hilfesystem als „sehr niedrigschwellige Möglichkeit zu helfen – und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, um die Folgen des Missbrauchs zu lindern“.

Das System bietet aus Sicht der Opfer eine Reihe von Vorteilen: Die Verfahren sind nicht so lang und belastend wie beim Entschädigungsrecht, und die Anträge werden viel häufiger genehmigt. Betroffene müssen glaubwürdige Angaben machen, etwa zu ihrer Person und zu den Taten, letztere jedoch nicht detailliert in Worte gefasst schildern. Sie können auch durch Ankreuzen Informationen geben, beispielsweise dazu, ob sie angefasst worden sind. „Das entlastet Opfer. Sie schaffen es dadurch eher, einen Antrag auf Unterstützung zu stellen“, weiß Altvater. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Beratung sagt Altvater: „Menschen, die in jungen Jahren von ihren Nächsten missbraucht wurden und dadurch einen großen Vertrauensbruch erlitten haben, sind eine besonders belastete Opfergruppe. Sie haben viele Ängste und Schamgefühle.“ Teilweise sind sie beruflich erfolgreich, haben aber privat Probleme. Mitunter verdrängen sie die Tat jahrzehntelang – und brechen dann zusammen.

Der FSM kümmert sich weitgehend um Fälle von sexualisierter Gewalt im familiären Bereich. Zudem übernimmt er Fälle in Institutionen, die sich an ihm beteiligen, etwa der Caritasverband und die Bundeswehr. Laut den jüngsten Zahlen ist der monatliche Schnitt an Erstanträgen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen, auf 412. Das geht aus dem Jahresbericht des Fonds hervor. Der Großteil der Antragstellenden hat sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld angegeben (96,2 Prozent). In etwa 98 Prozent der Fälle wurden Mittel aus dem FSM bewilligt. Im Jahr 2023 flossen Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent), der Bund zahlte in dem Jahr 32 Millionen ein. Nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Hilfen durch den Fonds. Den größten Anteil im vorvergangenen Jahr hatten Leistungen, die der „individuellen Aufarbeitung“ dienen, etwa Hilfen zur sozialen Teilhabe oder Entspannungsverfahren (8 Millionen Euro), gefolgt von therapeutischen Hilfen (7,7 Millionen Euro).

Beratungsstellen warnen vor Aus

Auch in der Fachberatung aktive Einrichtungen kritisieren das drohende Aus bundesweit. Lilo Löffler, geschäftsführender Vorstand beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer Mettmann, warnt zum Beispiel vor einem „fatalen Schritt“ der Politik. Die individuellen Hilfeleistungen seien eine wichtige Anerkennung für Betroffene und „tragen erheblich zur Linderung des erlebten Leids bei.“

Der Fonds Sexueller Missbrauch kann einspringen, wenn gesetzliche Leistungen nicht reichen, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Oder wenn das Fortsetzen gesetzlicher Leistungen abgelehnt oder durch eigentlich vorrangige Leistungsträger erschwert wird. So kann der Fonds beispielsweise eine Behandlung in den sogenannten psychotherapeutischen Richtlinienverfahren über die Stundenobergrenze hinaus ermöglichen. Weitere Beispiele sind Physiotherapie, Ergotherapie, Zahnbehandlungen, Aus- und Fortbildung oder Umzüge, etwa wenn der Tatort auch der Wohnort ist.

Wenn Altvater Betroffene berät, erklärt sie ihnen zu Beginn den Aufbau des Antrags, klärt formale Dinge: „Das verringert die Anspannung.“ Es geht erst um Daten zur Person, später um Tatzeit und Tatort, die Tat, die nicht beschrieben werden muss, dann um seelische und körperliche Folgen sowie die konkreten Leistungen, die das Leid lindern und den Heilungsprozess fördern sollen. Die Sachbearbeiter müssen erkennen, weshalb etwas beantragt wird und inwiefern es helfen kann. „Wir überlegen, was den Opfern guttun, was ihnen eine neue Perspektive eröffnen würde.“ Ein wichtiges Ziel sei, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen, da sie sich häufig machtlos fühlen. Auch deshalb habe der Fonds eine große Bedeutung: „Wenn Betroffene aktiv werden, aus der Opferrolle treten können und schließlich lesen, dass der Staat ihr Leid anerkennt und sie unterstützt, brechen sie manchmal in Tränen aus. Manchen hat ihr Umfeld viele Jahre lang nicht geglaubt.“

Unruhe und Sorgen bei Betroffenen

Ein Ende des Fonds wäre verheerend, sagt Altvater. Die Ankündigung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Teil des EHS nicht weiterzuführen, hat bereits negative Folgen gehabt. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, nicht wahrgenommen. Aufgrund der aktuell geltenden Fristen müssen sie schnell handeln – was für schwer traumatisierte Menschen eine große Herausforderung ist. Ein weiteres Problem: Es gibt keine Vorauszahlungen mehr. Wenn also jemand zum Beispiel das Geld für ein Fahrrad nicht vorstrecken kann und der Händler nicht mit sich reden lässt, muss er aufgrund der aktuellen Antragsflut auf die bewilligte Leistung verzichten. „Das ist alles belastend, sorgt für Unruhe“, so Altvater.

Sie, ihre beratenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer hoffen, dass der Fonds bestehen bleibt, gestärkt wird, und dass bald Klarheit herrscht. Was das Ergänzende Hilfesystem leisten kann, zeigt ein weiterer Fall, der Altvater besonders gut im Gedächtnis geblieben ist: Annette Weber (Name geändert) hatte der Missbrauch so aus der Bahn geworfen, dass sie kaum in der Lage war, ihre Wohnung zu verlassen und unter Leute zu gehen. Die Rollläden in ihrer Zweizimmerwohnung ließ sie zumeist unten. In der EHS-Beratung nannte sie zwei Anliegen: ein Rudergerät, gegen ihre Rückenschmerzen und ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer, wo sie schlief statt im Schlafzimmer. Beim zweiten Wunsch war Altvater der Grund zunächst nicht klar, für den Antrag musste sie ihn aber kennen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fragte Altvater: „Hat der Missbrauch in einem Schlafzimmer stattgefunden?“

Weber nickte, erleichtert darüber, dass die Beraterin es ausgesprochen hatte. Altvater ergänzte den Antrag und er wurde bewilligt. Weber war „einfach nur glücklich“. Sowohl über den Ersatz für die alte, durchgelegene Couch als auch über das Rudergerät. Es half ihrem Rücken, und sie mochte die gleichmäßige, beruhigende Bewegung, die sich so anfühlte, als wäre sie auf dem Wasser.

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Erstellt am: Freitag, 14. März 2025 von Sabine

Datum: 14.03.2025

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems.

Mainz – Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems. Laut „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ der Bundesregierung wird das EHS und damit auch der FSM nach dem 31.12.2028 nicht fortgeführt. Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt sind dann nur noch bis 31.08.2025 möglich und Bewilligungen können nur bis zum 31.12.2025 erteilt werden. Faktisch erfolgt damit die Einstellung von EHS und FSM, die verheerende Folgen für Betroffene hat.

Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen e.V. info@bag-forsa.de
www.bag-forsa.de
Tel: 0711–85 70 68

Das kritisieren BAG FORSA, bff, BKSF, DGfPI und WEISSER RING: Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Richtlinien für den FSM entsprechend anzupassen und eine nachhaltige Lösung sicherzustellen, um Betroffene weiterhin angemessen zu unterstützen. Eine ersatzlose Einstellung des Fonds darf es nicht geben.

Konkret fordern wir die Bundesregierung auf:

Bundeskoordinierung
Spezialisierter Fachberatung
gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend
info@bundeskoordinierung.de
www.bundeskoordinierung.de
Tel: 030-8891 6866
  • Die „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ muss sofort und grundsätzlich geändert werden.
  • Die Frist 31.08.2025 für die Antragsstellung (Erstantrag) muss umgehend aufgehoben werden.
  • Es muss sichergestellt werden, dass bei einem voraussichtlich hohen Aufkommen von Erstanträgen ausreichend finanzielle Mittel für die Bearbeitung und Bewilligung dieser vorhanden sind.
  • Solange es keine adäquaten Alternativen zur niedrigschwelligen Unterstützung Betroffener sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend gibt, muss der Fonds unbedingt fortgeführt werden. Vor der Einstellung muss zunächst sichergestellt sein, dass ein alternatives System für den Fonds funktioniert.
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.
info@bv-bff.de
www.frauen-gegen-gewalt.de
Tel: 030-32299500

Das niedrigschwellige EHS gewährleistet die tatsächliche Unterstützung von Betroffenen. Im Gegensatz zu dem im Jahr 2024 in Kraft getretenen neuen Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV), das in der Praxis schwer zugänglich ist und mit bürokratischen Hürden eine unüberwindbare Belastung darstellen kann. Insbesondere für Menschen, die über das gesetzliche Leistungssystem bislang Ablehnungen erhalten haben, trägt diese bedeutende Form der Anerkennung entscheidend zur Linderung des Leids bei. Die Möglichkeit individueller, anhand tatsächlicher Bedürfnisse fortentwickelten Hilfeleistungen wird von Betroffenen häufig in Anspruch genommen. 2023 hat sich das Aufkommen von Erstanträgen erneut gesteigert (21 Prozent) und zeigt den ungebrochen hohen Bedarf. Daher ist es dringend erforderlich, das EHS als ergänzende niedrigschwellige Hilfe aufrechtzuerhalten. [Fonds Sexueller Missbrauch – Jahresbericht 2023]

Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention
bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V.
info@dgfpi.de
www.dgfpi.de
Tel:  0211 – 497 680-0 

Solange der Staat es nicht schafft, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen, muss er zumindest eine wirksame und funktionierende Unterstützung aufrechterhalten. Wir rechnen zudem mit weiteren Problemen durch ein absehbar hohes Aufkommen von Anträgen. Für die Bewilligung von Anträgen muss Geld im Haushalt eingestellt sein. Wenn diese Gelder aufgebraucht sind, muss gewährleistet werden, dass dennoch weitere Anträge bewilligt werden können und entsprechende Mittel dafür eingestellt werden. Berechtigt besteht ein Grund zur Annahme, dass die Bewilligung von Anträgen bereits vor dem 31.08.2025 eingestellt wird und dadurch vielen Betroffenen zentrale Unterstützungsleistungen verwehrt werden.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Negativrekord bei der staatlichen Entschädigung für Gewaltopfer im Bund und bei den Ländern. Die Zahlen von 2023 im Überblick

Eine Landkarte von Deutschland, die in rot und grüner Farbe zeigt wie viele Ab- oder Zusagen es für die Opferentschädigung gab im Jahr 2023 pro Bundesland.

Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54,4), am niedrigsten in Sachsen (38,6), Niedersachsen (38,9) und Rheinland-Pfalz (42,4).

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Bund

48 %

Ablehnungen

23 %

Anerkennungen

29 %

Erledigungen aus sonstigen Gründen*

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

*Erledigungen aus „sonstigen Gründen“ sind u. a. Rücknahme des Antrags, Abgabe an andere Ämter, Wegzug, Tod.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. Februar 2025 von Sabine

Nur wenige Opfer stellen einen OEG-Antrag. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Datum: 12.02.2025

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland so viele OEG-Anträge abgelehnt wie noch nie. Das zeigt eine exklusive Auswertung des WEISSEN RINGS.

Mainz – Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54 Prozent), am niedrigsten in Sachsen (38,6 Prozent), Niedersachsen (38,9 Prozent) und Rheinland-Pfalz (42,4 Prozent).

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Als im Mai 2022 Betroffene in Berlin gegen die Zumutungen des Opferentschädigungsgesetzes demonstrierten, gedachten sie öffentlich David – einem verstorbenen Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung „nicht mehr konnte“. Nach Davids Tod setzt seine Mutter den Kampf fort.

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

Erstellt am: Freitag, 13. Oktober 2023 von Sabine

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern. Dafür pendelt die Münchenerin durch das ganze Land – und zwischen Euphorie und Frustration.

Foto: Christian J. Ahlers

Gudrun Stifter hat selbst erfahren müssen, wie der Staat Gewaltopfer allein lässt. Die Münchenerin nimmt das nicht hin – sie kämpft in ganz Deutsch­land für eine bessere Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG). Um das zu erreichen, hat sie gemeinsam mit anderen in sämtlichen Bundesländern Petitionen eingereicht. Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die junge Frau mehr als ein halbes Jahr begleitet und dabei erlebt, wie sie sich auf der politischen Bühne immer weiter professionalisierte und erste Erfolge feierte, aber auch immer wieder Rückschläge hinnehmen musste.

Gudrun Stifter: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht“

OEG-Petitionen in Deutschland

Es ist längst dunkel, vor dem Haus der Bremischen ­Bürgerschaft herrscht an diesem Freitagabend eisige Kälte, aber Gudrun Stifter scheint das alles gar nicht wahrzunehmen. Sie lächelt nicht, sie lacht, die Anspannung des Tages ist ihr sichtlich von den Schultern ­gefallen. 60 Minuten dauerte ihr Termin vor dem hiesigen Petitionsausschuss, viermal so lange wie ­eigentlich geplant nahm sich die Runde Zeit für das Anliegen der jungen Frau aus München: das Opfer­entschädigungsgesetz, kurz OEG, gerechter zu machen.

Voller Hoffnung war sie nach Bremen gefahren, sieben Seiten hatte sie in der Nacht noch geschrieben und kaum ein paar Stunden geschlafen. Gudrun Stifter wollte gut vorbereitet sein, es war schließlich das erste Mal, dass sie vor Politikern und Politikerinnen im Ausschuss sprechen konnte. Um diese dafür zu gewinnen, die Umsetzung eines Bundesgesetzes in dem kleinen hanseatischen Bundesland zu verbessern.

Gudrun Stifter ist keine Politikerin, keine Juristin, keine Lobbyistin. Sie ist ein einzelnes Gewaltopfer und sie ist eine Aktivistin, die sich nicht nur in Bremen eigen­initiativ mit ihrer „Petition L20-567“ für die Rechte von Betroffenen einsetzt – sondern mit Petitionen in ganz Deutschland. „Wenn ich es nicht mache, macht es ­keiner“, sagt sie.

Es gibt Menschen, deren Leben wie am Reißbrett gezeichnet verläuft: Karriere, Kinder, ein eigenes Haus, alle Träume erfüllend.

Gudrun Stifters Leben gehört nicht dazu.

Ihr Leben ist über Jahre hinweg immer wieder geprägt von Gewalt, als Zeugin, als Opfer. Traumata statt Träume. So wie an diesem Sommerabend im August 2021, als sie zufällig einem flüchtigen Bekannten begegnet, der die damals 27-Jährige mehrfach vergewaltigt. Heimlich gelingt es Stifter, WhatsApp-Nachrichten an ihre Mitbewohner zu schreiben; die müssten doch noch wach sein? Niemand reagiert. Irgendwann kann sie selbst den Notruf wählen, die Polizei befreit sie aus der Gewalt des Täters. Als dieser Monate später zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt wird, hat Gudrun Stifter fast alles verloren: ihre Ausbildung, ihr Zuhause, Freunde. Die Mitbewohner schmissen sie aus der WG, „weil die nichts mit der Kriminalpolizei zu tun haben wollten“, sagt sie. Zwischenzeitlich ist sie obdachlos, lässt sich aus Verzweiflung selbst in eine Klinik einweisen, kommt später bei Bekannten und einem Freund unter.

Obendrein erhält Stifter eine Rechnung von ihrer ­Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern.

Sie ertrage einiges, sagt Stifter, „aber Ungerechtigkeit nicht“.

Sie recherchiert nächtelang, schreibt Briefe an die Kranken­kasse und reicht eine Petition im bayerischen Landtag ein: Der Staat solle diese Kosten übernehmen und nicht auch noch den Opfern aufbürden. Ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus, mittlerweile beschäftigt sich der Bundestag mit dem Antrag, Zeitungen und das Fernsehen berichten über ihren Fall. Schließlich zahlt die Krankenkasse, teilt aber mit, dass es sich um eine ­„Einzel­fallentscheidung“ handele.

Gudrun Stifter hat nach der Tat in ihrem Bundesland einen Antrag auf Opferentschädigung gestellt und merkt schnell: „Da ist ein dickes Fell nötig.“ Als die Redaktion des WEISSEN RINGS im Juni 2022 den „OEG-Report“ veröffentlicht, ist das für sie eine Initialzündung „zum richtigen Zeitpunkt“, wie sie später sagt.

Der Report belegt: Wer in Deutschland von einer Gewalttat betroffen ist, muss oft jahrelang um die Anerkennung seines Leids kämpfen. Die Recherche zeigt auch, dass der Staat bei der Umsetzung des eigentlich gut gemachten Opferentschädigungsgesetzes oftmals scheitert. Mehr noch: dass die Betroffenen die häufig jahrelangen Verfahren als retraumatisierend und zermürbend erleben. Nicht wenige geben irgendwann auf, zu belastend ist die Auseinandersetzung mit Behörden.

Stifter findet ihre Erfahrungen im „OEG-Report“ wieder, erfährt, dass sie nicht allein ist, dass es so viele andere gibt, denen es ähnlich geht. Sie will das, diese „himmelschreiende Ungerechtigkeit“, nicht hinnehmen. Sie will zeigen, dass hinter jeder Zahl, hinter jedem abgelehnten OEG-Antrag ein Schicksal steht. Am besten könnte das gelingen mit Petitionen in allen Bundesländern, denn die sind verantwortlich für die Umsetzung des OEG in der Praxis.

Lange Nächte am Schreibtisch

Was treibt sie an? Sie habe ein empathisches Herz, ­antwortet die junge Frau, „ich bin tatsächlich ein sehr altruistischer Mensch“.

,,Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht."

Gudrun Stifter

Nächtelang quält sie, die sich selbst als Nachteule bezeichnet, sich also am Schreibtisch in ihrer Wohnung, in der sie mittlerweile lebt, durch Gesetzestexte, studiert statistische Auswertungen, tippt erste Bausteine für Petitionen in ihren Laptop, erstellt die Webseite petitionen-oeg.de und richtet Social-Media-Kanäle ein. Sie vernetzt sich virtuell mit anderen Betroffenen, tauscht sich mit Experten aus, darunter Jörg Michael Fegert, einem Psychotherapeuten und Hochschulprofessor, oder mit Münchener Landespolitikerinnen.

Sie erinnert sich, wie schockiert Vertreterinnen und Vertreter von FDP und Grünen gewesen seien, als sie ihnen das erste Mal über die Probleme bei der Umsetzung des OEG berichtete: „Die Missstände waren ihnen nicht bekannt.“ Stifter tat es gut, wahrgenommen zu werden, „dass jemand zugehört hat, dass meine Aussagen und die Fakten ernst genommen wurden. Dass mir geglaubt und ich unterstützt wurde. Das gab mir Auftrieb, weiter­zumachen“.

Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern reicht Stifter schließlich Petitionen in allen deutschen Landtagen ein. Der Tag ist sorgfältig ausgewählt: Die Aktion startet am 2. Oktober, dem internationalen Tag der Gewaltlosigkeit. Und Mahatma Gandhis Geburtstag, wie Gudrun Stifter auf ihrer Homepage schreibt.

Fünf Ordner voller Unterlagen

Die Reaktionen in Form von Einladungen zu Petitions- und Sozialausschüssen in mehreren Bundesländern ­lassen nicht lange auf sich warten. Stifter versucht, jeden der Termine wahrzunehmen, reist von frühmorgens bis spät in die Nacht quer durch die Republik.

Wie groß das alles werden würde, das habe sie damals „nie geahnt“, wird sie rund ein Jahr später sagen. Und auch nicht, wie anstrengend das werden würde.

Für die junge Frau bricht nach dem Einreichen der Petitionen eine Zeit an, in der sie in wenigen Monaten fünf Ordner mit Petitionsvorlagen, Anträgen, Behörden-Antworten, Rechtfertigungen und Einladungen füllen wird. In der sie eine Homepage ständig aktualisieren wird, einen Instagram-Kanal befüllen und auf Community-Fragen in einer Facebook-Gruppe antworten wird. In der sie Medien Interviews geben, Mails an Wissenschaftler schreiben und Telefonate mit Politikerinnen führen wird.

Eine Zeit, in der Gudrun Stifter von einer Betroffenen zur Projektmanagerin, Pressesprecherin, Ansprechpartnerin und Fachreferentin in Personalunion werden wird. Und dabei zwischen Euphorie und Resignation pendeln wird.

Als der Vorsitzende des Petitionsausschusses Claas ­Rohmeyer (CDU) erwähnt, dass Gudrun Stifter extra von München nach Bremen gereist ist, wird anerkennend auf die Tische geklopft. Es ist ein Freitagnachmittag, die Politikerinnen und Politiker sitzen hier ehrenamtlich, haben gerade eine lange Anhörung hinter sich, Tablets und Smartphones werden bedient, Unterlagen durchgeblättert, gelangweilt, ermüdet wirkt das zum Teil. Stifter, aufgeregt, aber sortiert, legt los: „Ich bin selbst Opfer von zwei Verbrechen geworden.“ Da halten die meisten inne, horchen auf, hören von da an aufmerksamer zu.

25 Minuten, so lange braucht die 29-Jährige, so lange darf sie auch sprechen. Danach nimmt der Leiter des Ver­sorgungsamts Stellung. Ein Wahnsinnsthema sei das, „das sind dicke Bretter, die Sie da bohren“. Er verstehe ihre Ansätze und teile die Kritik des WEISSEN RINGS, auf die sie Bezug nimmt. Es stimme: Das OEG sei bundes­weit wenig bekannt, das sei die Ursache für die niedrige Antragsquote, „das kann nicht sein“. Dann zählt er auf, was auf Bundesebene gerade passiere. „Die Verfahren sind belastend für die Opfer, auch wenn wir versuchen, sie sensibel zu gestalten.“ Der Gesetzgeber sehe vor, dass die Opfer eine Nachweispflicht haben, das sei die Ursache dafür, dass es wenige Anerkennungen und viele Rückzieher gebe. Es folgen Fragen der Ausschuss­mitglieder. Dann kündigt der Vorsitzende an, eine Stellung­nahme des Landesopferschutzbeauftragten einzuholen.

Nach einer Stunde steht Gudrun Stifter also draußen in der Kälte. Der Ausschussvorsitzende kommt dazu, sagt, sie habe ihnen das Feld „sehr eindrucksvoll nahe­gebracht“. Zwar sei im Mai Wahl und es werde dann eine neue Zusammensetzung im Ausschuss geben. Aber das Thema werde der parlamentarischen Arbeit erhalten bleiben, versichert er und unterstreicht: „Das ist eine große politische Herausforderung.“

„Ich muss immer noch tief durchatmen.“ Stifter hatte mit Ablehnung gerechnet, jetzt ist sie „überwältigt“. Davon, dass sie so lange das Wort hatte. Von der Zugewandtheit der Ausschussangehörigen. Vom verständnisvollen ­Auftreten des Amtsleiters. Von der Kontakt­aufnahme von Mustafa Öztürk (Grüne), der ihr Anliegen auf ­Bundesebene heben will. Die Reise in den Norden hat sich ­gelohnt.

Während sich eine pechschwarze Wolkenwand über das prachtvolle Maximilianeum schiebt, den altehr­würdigen Sitz des Bayerischen Landtags, pfeift der Wind durch die Gänge im Südgebäude. In Saal S401, in dem der Sozialausschuss tagt, hat Gudrun Stifter auf der ­vordersten Bank im Zuschauerbereich Platz genommen. Anders als zwei Monate zuvor in Bremen, ist sie ­diesmal nicht allein gekommen. Neben ihr sitzen

… Anne C., die vergeblich Gerechtigkeit für ihren Sohn David beim Freistaat eingefordert hatte. David war ein Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung nach dem OEG „nicht mehr konnte“, wie seine Mutter sagt, und sich das Leben nahm.

… Monica Gomes, die nach eigenen Worten ständige Retraumatisierungen erleidet durch die Schriftwechsel mit dem Amt, das ihren OEG-Antrag prüft. Das Öffnen des Briefkastens ist für sie längst unerträglich geworden.

… Wolfgang, Monicas Lebensgefährte, der vor Sitzungsbeginn noch DIN A4 große Zettel verteilt, mit der Überschrift: „Das OEG-Verfahren: ein deutscher Skandal.“

… Frau A., die jahrelang mit den Behörden um die Anerkennung ihres OEG-Antrags kämpfen musste.

Verhandelt wird an diesem Donnerstagmorgen der Antrag „Drucksache 18/26435: Wirksamkeit für das Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhöhen: Betrof­fenen endlich gerecht werden“. Auf drei Seiten haben Landtagsabgeordnete von FDP, Grünen und SPD – im Bund stellen die Parteien die Regierung, in Bayern die ­Opposition – die Forderungen von Gudrun Stifter ­aufgegriffen, haben bei der Ausarbeitung des Antrags eng mit ihr zusammengearbeitet. Für Stifter ist das eine zuvor „unvorstellbare, große Ehre“.

 

Nur: Wirklich gerecht wird die Diskussion dem Anliegen der Betroffenen nicht, ist sich das Quintett aus der ­ersten Reihe später einig. Über die, um die es in dieser Geschichte geht, sei zwar gesprochen worden, aber nicht mit ihnen. „Das hat mich, ehrlich gesagt, sehr traurig gemacht“, sagt Monica Gomes. Sie habe sich wie Luft gefühlt, „obwohl die Abgeordneten einen natürlich gesehen haben“.

FDP-Politikerin Julika Sandt (Foto: Ahlers): „Die Petitionen gehen unter die Haut.“

Auch Gudrun Stifter macht kein Geheimnis daraus, wie gern sie beim verbalen Schlagabtausch mit CSU, Freien Wählern und AfD mitgemischt und ihr Anliegen persönlich präsentiert hätte. So wie in Bremen. Weil sie weiß, dass Politikerinnen und Politiker Opfern eher zuhören als der Opposition. Dabei hatten die Abgeordneten Julika Sandt (FDP) und Kerstin Celina (Grüne) alle Punkte vorgetragen, die Stifter selbst in ihren Petitionen nennt.

Die Politikerinnen erzählen die Geschichten von Betroffenen aus ganz Deutschland. Menschen wie Alexei Kreis, der nach einer Schlägerei vor einer Diskothek zum Pflege­fall wurde und dessen Familie Jahre auf Anerkennung des OEG-Antrags warten musste, oder  Matthias ­Corssen, der von einem Krankenpfleger fast totgespritzt wurde und dem es mit der Bürokratie anschließend ähnlich erging. Es werden Statistiken und Recherchen des WEISSEN RINGS zitiert, die die sehr unterschiedliche Praxis bei der Umsetzung des OEG in den Bundes­ländern offenbaren. Die Abgeordneten untermauern damit ihre Forderungen, die auch in Stifters Petitionen stehen:

  1. Schaffung einer externen und unabhängigen Monitoringstelle für die Umsetzung des OEG und des Sozialgesetzbuches (SGB) XIV.
  2. Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Gewaltopfer und Angehörige von Opfern von Mord- sowie Tötungsdelikten.
  3. Start einer Informations- und Aufklärungs­kampagne über die Ansprüche und Leistungen nach dem OEG und des SGB XIV.

CSU, Freie Wähler und AfD beeindrucken die Schilderungen und Zahlen nicht. Sie argumentieren trocken dagegen: Im SGB XIV, das 2024 das OEG ablösen wird, sei eine bundesweite Evaluierung ja schon vorgesehen. Außerdem gebe es bereits ein ausreichendes, umfassendes Hilfsnetzwerk für Betroffene und der bisherige Rechtsweg sei ausreichend.

„Wir hätten dies in wenigen Sätzen widerlegen können“, sagt Gudrun Stifter. Die Diskussion sei für sie „nahezu unerträglich“ gewesen. Nicht nur, weil einige Politi­kerinnen und Politiker „abgelenkt“ gewirkt hätten. Die „negativen Erfahrungen, die Schwierigkeiten mit dem Rechtssystem, die erlittenen Schäden und so weiter“ seien ihnen, den Betroffenen, abgesprochen worden. „Sie haben sich nicht mit den Petitionen und Hintergründen befasst, oder damit, dass das Gesetz in der Umsetzung scheitert. Sie verstehen es nicht. Und sie befassen sich damit nicht. Das macht mich wütend“, sagt Stifter. Kurz lächelt sie verlegen.

Grünen-Politikerin Kerstin Celina (Foto: Ahlers): „CSU, Freie Wähler und AfD haben den Kern des Antrags nicht verstanden.“

Im nächsten Moment schaut sie wieder ernst: Eine Vertreterin des Staatsministeriums hatte als weiteres ­Gegenargument angeführt, eine Beschwerdestelle sei ja auch belastend für Gewaltopfer. „Das finde ich unglaublich: Wenn wir das nicht wollen würden, würden wir es ja nicht fordern.“ Für Stifter ist das nichts anderes als „Gaslighting“, eine Form gezielter Manipulation, mit der eine andere Person derart verunsichert wird, dass sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln beginnt.

Dass der Antrag von FDP, SPD und Grünen ebenso wie die unter Ausschluss der Öffentlichkeit besprochenen Einzelpetitionen schließlich abgelehnt werden, überrascht die Petenten nicht. Enttäuscht sind sie trotzdem.

„Guten Tag, Gudrun Stifter mein Name“, stellt sich die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz vor, lächelt, ist aber merklich aufgeregt. „Ich bin die Initiatorin einer deutschlandweiten Petitionsaktion von Gewaltopfern.“

Wenn Politikerinnen und Politiker öffentlich auftreten, etwa bei Bürgerdialogen oder Fachveranstaltungen, können sie nicht oder zumindest nur schwer ausweichen. Das erfährt auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) an diesem ersten Samstag im April, an dem er sich bei einer 24-Stunden-Diskussion des Vereins „Fortschritt, Vision, Diskurs“ Fragen zum Thema Inklusion stellen lässt.

Stifter weiß, dass der Landeschef erst ein paar Monate zuvor bei einer Podiumsdiskussion des WEISSEN RINGS vor rund 300 Menschen versprochen hatte, das Thema OEG in Sachsen zu evaluieren und bundesweit auf die Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz im Jahr 2024 zu setzen. Sie will, dass Kretschmer dieses Versprechen nicht vergisst und auch wirklich Wort hält. Dafür ist sie von München in die sächsische Landeshauptstadt gereist – für eine Minute und 44 Sekunden Redezeit.

„Was haben Sie explizit geplant?“

Sie befasse sich mit „Inklusion in einem etwas weiteren Bereich“, sagt sie augenzwinkernd, eben dem OEG, und trägt ihre Forderungen vor. Unterstützung erhalte sie unter anderem vom Dachverband der Opferschutz­organisationen in Europa, Victim Support Europe (VSE). Der sei ebenfalls der Ansicht, dass auch mit der Reform des Gesetzes im Jahr 2024 die „qualitative und quantitative Evaluation nicht ausreichen werde“.

Die 29-Jährige streicht sich durch das Haar, sie wirkt nervös, löst immer wieder die Hände voneinander, um sie kurz darauf wieder ineinander zu legen. „Was haben Sie explizit geplant, um die Evaluation zu ermöglichen und gegebenenfalls auch die Partizipation von Betroffe­nen und Experten wie Anwälten, Ärzten …?“ Kretschmer lässt Stifter nicht ausreden, unterbricht sie mit ­seiner wenig konkreten Antwort. Er habe erst letztens wieder mit dem sächsischen Landesvorsitzenden des WEISSEN RINGS über das OEG gesprochen. Er habe ja versprochen, dass Sachsen sich dort anders aufstellen werde, Beweislastumkehr und so, man wolle da schon etwas erreichen, sagt der Politiker. Und: „Ich teilte die Interessen und die Haltung, die Sie vermitteln, und glaube, dass man da vieles besser machen kann.“

„Vielen Dank“, sagt Gudrun Stifter und strahlt.

Gudrun Stifter weiß, was jetzt kommt.

Es ist kurz vor Mitternacht und der Bayerische Landtag nur noch gut zur Hälfte gefüllt, als die Debatte um den 13. Tagesordnungspunkt beginnt und Stifter, die auf den Rängen oberhalb des Plenums sitzt, ein „Déjà-vu“ erlebt: Dieselben Rednerinnen und Redner tauschen dieselben Argumente zur Wirksamkeit des Opferentschädigungsgesetzes aus, wie schon Monate zuvor ein paar Meter weiter im Saal S401 im Südgebäude. Die FDP konnte den Antrag trotz  Ablehnung im Sozialausschuss in den Landtag einbringen.

Aber auch diese Abstimmung endet so wie die im März: Die Mehrheit ist dagegen.

Noch im Plenum nimmt die Grünen-Politikerin Kerstin Celina ein Selfie auf und postet es auf Instagram, schreibt dazu trotzig: „Dann ändern wir es halt im Bund. Danke Ampel, schon im Voraus.“

Die Uhr zeigt 5 nach 12 an. „Wie passend”, kommentiert Stifter. Was sie meint: Aus Sicht der Betroffenen ist es allerhöchste Zeit, dass sich etwas ändert.

„Noch mehr als eine Stunde Zeit“, stellt Stifter an einem Mittwoch um kurz vor 10 Uhr fest, als sie auf den grauen Magdeburger Bahnhofsvorplatz tritt. „So viel Zeit habe ich sonst nie“, sagt sie und lacht. Sie sieht erschöpft aus. Seit kurz nach vier Uhr in der Früh ist die junge Frau schon unterwegs, viel geschlafen hatte sie schon die Nacht zuvor nicht. Anders als vor einem halben Jahr in Bremen, muss sie den heutigen Termin in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts aber nicht mehr vorbereiten, sie weiß genau, was sie sagen wird.

Um 11:20 Uhr soll sie sich beim Landtag anmelden, der Weg führt durch die Altstadt, vorbei am Faunbrunnen, hin zur exzentrischen „Green Citadel“ von Friedensreich Hundertwasser. Ein paar Schritte weiter liegt das weniger spektakuläre, aber doch eindrucksvolle Landtagsgebäude, das früher einmal als Sitz einer Ingenieurs­schule fungierte.

Vorbei, bevor es begonnen hat?

Drinnen tauscht Stifter ihren Personalausweis gegen einen gelben Tagesausweis und postet das obligatorische Selfie vor den Landesflaggen auf Instagram, so wie sie es in jeder Landeshauptstadt macht, um ihre Follower in den Sozialen Medien mitzunehmen.

„Wir hatten hier schon ähnliche Anträge“, sagt die Vorsitzende des Petitionsausschusses ein paar Minuten später. Sie meint die OEG-Petitionen von Stifters Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die wenige Monate zuvor am selben Ort besprochen und zur juristischen Prüfung weitergegeben wurden. Da die Einordnung des Rechtsausschusses noch aussteht, schlägt eine Angehörige des Ausschusses vor, die heutige Besprechung zu verschieben.

Gudrun Stifter sitzt schräg rechts hinter der Frau, hat die Beine übereinandergeschlagen und presst die Hände ineinander. Ist es schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat? Und dafür der ganze Aufwand, das frühe Aufstehen, die lange und teure Fahrt, wo ihre finanzielle Situation eh schon schwierig ist? „Nein“, entscheidet die Vorsitzende und bittet Stifter in das Plenum.

Politiker hören ihr zu

Also legt die Aktivistin los. Sie referiert über die Probleme in OEG-Verfahren, zitiert routiniert Gesetze, belegt ihre Ausführungen aus dem Gedächtnis mit Zahlen und Studien. Einen Spickzettel wie in Bremen benötigt sie nicht mehr. Aus der einzelnen Betroffenen Gudrun Stifter aus Süddeutschland ohne Erfahrung auf dem politischen Parkett, die im Januar sagte, es koste sie Überwindung, in der Öffentlichkeit zu stehen, ist in den vergangenen Monaten eine erfahrene Kämpferin für die Belange von Gewaltopfern geworden.

Dass hier ein Opfer Opferinteressen vertreten kann, wirkt: Anders als im März in München hören die Ausschussangehörigen aufmerksam zu, stellen Nachfragen.

Auch wenn die Abstimmung über den Antrag dann doch verschoben wird, bis die Empfehlung des Rechtsausschusses vorliegt, ist Stifter zufrieden. Gerade, als sie den Stuhl nach hinten rückt, um aufzustehen, dreht sich die Vorsitzende zu ihr und fragt neugierig. „Sie sind ja auch in anderen Bundesländern aktiv. Wie war da denn so die Resonanz?“

Gudrun Stifter schmunzelt und antwortet: „Sehr unterschiedlich!“

Manchmal sitze sie nachts vor dem Laptop und könne einfach nichts mehr schreiben, sagt Gudrun Stifter. Die letzten Monate seien sehr anstrengend gewesen. Und dann sind da noch die Ablehnungen ihrer Petitionen, in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg und Bayern. In anderen Ländern wie Bremen oder Sachsen-Anhalt steht die Entscheidung noch aus. Frustrierend sei das, sagt die Münchenerin.

Neulich hat Stifter bei Facebook eine Nachricht erhalten: Ihr Engagement hat die Angehörigen eines Mordopfers ermutigt, ihre Probleme mit dem OEG öffentlich zu machen. Stifter zieht Kraft aus Nachrichten wie diesen.

Die benötigt sie auch. Hier unterstützt sie die Uniklinik Ulm bei der Auswertung einer wissenschaftlichen Umfrage zu Gewaltopfern, dort plant sie den Schritt in Richtung Bundesebene. Und, und, und. Es bleibt noch viel zu tun für Gudrun Stifter.

Transparenzhinweis:
Die Kosten für Gudrun Stifters Reisen nach Bremen und zur VSE-Konferenz nach Berlin hat der WEISSE RING übernommen, Der Verein hat ihr auch Unterstützung für ihr Vorhaben auf Bundesebene zugesagt.

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Erstellt am: Donnerstag, 1. Dezember 2022 von Karsten

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Als im Mai 2022 Betroffene in Berlin gegen die Zumutungen des Opferentschädigungsgesetzes demonstrierten, gedachten sie öffentlich David – einem verstorbenen Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung „nicht mehr konnte“. Nach Davids Tod setzt seine Mutter den Kampf fort.

Foto: Matthias Balk/dpa

Wie er war, ihr David?

Seine Mutter lächelt kurz, dann beginnt sie zu erzählen.

„Er war sehr anständig“, sagt sie.

„Wissen Sie, ich meine diesen alten Anstand.“ Sie sucht nach passenden Worten dafür. „Edel“ fällt ihr ein. Und „hehr“.

„Ich glaube, er hat noch nie gelogen. Dazu war er nicht fähig.“

„Er konnte wunderbar zeichnen. Und er konnte so gut schreiben! Er hatte all diese idealistischen Geschichten in seinem Kopf, in denen Helden gegen das Böse kämpfen.“

„Schon als kleines Kind wollte er beim Spielen immer der Weiße Ritter sein, der den anderen hilft.“

„Was er aber überhaupt nicht ertragen konnte, das war Ungerechtigkeit.“

Sie hält inne.

„Ich kann das auch nicht“, sagt sie.

***

Anneliese C. gegen den Freistaat Bayern, so steht es im Sozialgericht München auf dem Schild vor Sitzungssaal IV. Im Saal sitzt Anne C., Rechtsnachfolgerin des verstorbenen David C., vor der Richterbank und fragt: „Ich habe etwas aufgeschrieben, darf ich das vorlesen? Seit dem Tod meines Sohnes leide ich sehr unter Wortfindungsstörungen.“

„Selbstverständlich“, antwortet die Richterin, „dafür sind wir heute hier.“

Julisonne schwappt durch große Fenster und tunkt den Saal in mildes Licht: das Kreuz an der einen Wand, das bayerische Staatswappen an der anderen Wand, den Monitor in der Ecke mit Herrn K. im Bild. Herr K. ist aus seinem Büro zugeschaltet, „im Dienstgebäude in Bayreuth“, wie die Richterin fürs Protokoll vermerkt. Herr K. vertritt die Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS), die wiederum den Beklagten vertritt, den Freistaat Bayern.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Die Klägerin, Anne C., ist eine zarte Frau in Hosenanzug und Blümchenbluse, 76 Jahre alt. Lange hat sie in Wien gelebt, vielleicht haben ihre Worte daher manchmal dieses warme Ausderzeitgefallene; später am Tag wird sie den Kellner im Café mit „Herr Ober“ ansprechen. Aber jetzt spricht sie zunächst zum Gericht, 45. Kammer, eine hauptamtliche Richterin und zwei ehrenamtliche Richter, und erklärt mit fester Stimme: „Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will.“

Der Sohn, David, war im Jahr 2010 Opfer einer Gewalttat geworden. In einer Augustnacht lief er laut Polizeibericht durch Schwabing, als er ein Paar bemerkte, das auf einer Gaststättenterrasse öffentlich Geschlechtsverkehr hatte. David ging erst weiter, doch dann kehrte er um, in seinem Anstandsgefühl verletzt, und rief: „Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, rufe ich die Polizei!“ Das Paar hörte auf, der Mann zog die Hosen hoch und ging auf David los. Er schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er prügelte ihn zu Boden. Er trat auf ihn ein. Er schrie: „Ich bring Dich um! Ich schlag Dich tot!“ Die Liste von Davids Verletzungen in den Arztberichten gerät lang: Nasenbeinbruch, Gehirnerschütterung, Platzwunde am Kopf, Prellungen, Schürfwunden, Zahnabsplitterungen, kurze Bewusstlosigkeit. Der Täter wurde nie gefasst und zur Verantwortung gezogen, für David war das eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Der Fall David S.: Eine Mutter kämpft um Gerechtigkeit

David ging es auch schon vor der Tat schlecht. Er litt seit seiner Jugend an Zwangsstörungen, er hatte Depressionen, in seiner Krankenakte finden sich Berichte von Dutzenden Klinikaufenthalten. Nach der Gewalttat ging es ihm schlechter, er klagte über ständige Flashbacks, tägliche Schmerzen und Schwächeanfälle, er berichtete von der Zerstörung seines Sicherheitsgefühls und jedes Selbstwertgefühls.

Noch 2010 stellte David einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), er hoffte auf eine Rentenzahlung, er hoffte auf bessere Behandlungsmöglichkeiten. Das ZBFS lehnte ab. 2017 versuchte es David erneut, er fügte neue Arztberichte bei, wieder lehnte das ZBFS ab. Seine seelischen Störungen seien keine Folge der Gewalttat, befand das Amt. David empfand auch das als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Er legte Widerspruch ein, er reichte Klage ein.

Im August 2020 gab das Gericht ein weiteres nervenärztliches Gutachten in Auftrag. Am 8. April 2021 informierte die Richterin David darüber, dass das Gutachten jetzt vorliege und dass sich laut diesem Gutachten keine Schädigungsfolgen der Gewalttat feststellen ließen. „Die Klage hat damit keine Aussicht auf Erfolg. Es wird angeregt, die Klage zurückzunehmen“, schrieb sie. Mit freundlichen Grüßen, die Vorsitzende der 45. Kammer.

Eine Nacht im August 2010

Eine letzte Nachfrage bei einem Anwalt: Könnte David vielleicht ein eigenes Gutachten in Auftrag geben? Der Anwalt macht ihm keine Hoffnung. Er schreibt am 17. April, dass er „wenig Erfolgsaussichten“ sehe. Zudem sei es schwierig, einen Fachgutachter zu finden, „der nicht vorbelastet ist und der vor allen Dingen unabhängig von öffentlichen Stellen“ arbeite.

David starb am 20. April 2021, Anne C. fand ihren toten Sohn am nächsten Nachmittag. Der Abschiedsbrief war nicht lang. David erklärte darin, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte handele und auf keinen Fall wiederbelebt werden wolle. Seinen Eltern und Freunden wünsche er „alles erdenklich Gute“. Er wurde 40 Jahre alt.

Im Gerichtssaal trägt seine Mutter vor: „Mein Sohn war schon lange vor dieser schrecklichen Tat psychisch krank. Aber er konnte immer noch einigermaßen seinen Alltag händeln, mal mehr, mal weniger und auch mit Unterstützung seiner Klinikaufenthalte. Er konnte zu dieser Zeit noch Geschichten schreiben.“ Ihr bricht die Stimme, aber sie liest weiter: „Es tut mir im Herzen weh, dass diese Geschichten nicht die Chance hatten, von meinem Sohn zu Ende geschrieben worden zu sein.“

Davids Geschichten. Da gab es zum Beispiel die von den „World Greatest“: sieben Jugendliche, die zusammenfinden, ihre jeweiligen Fähigkeiten entdecken und gemeinsam das Böse bekämpfen. „Wenn es schon keinen Helden gibt, der einem die größten Probleme vom Hals hält, ist es eindeutig an der Zeit, selber Held zu werden“, schrieb David.

Nein, entschied Anne C., Davids Rechtsnachfolgerin, die Klage würde sie nicht zurücknehmen! An Davids Stelle beantragte nun sie, den Ablehnungsbescheid aufzuheben, eine Posttraumatische Belastungsstörung als Folge der Gewalttat anzuerkennen und eine Beschädigtenrente zu gewähren. Die Rente will sie im Erfolgsfall spenden, „für Kinder, für Tiere, so etwas wäre ganz im Sinne von David“.

Die 45. Kammer hält die Köpfe gesenkt, während Davids Mutter vorträgt. Eine Stellungnahme von 22 Seiten hatte sie zuvor bereits eingereicht, um Fehler und Irrtümer in den Gutachten und Arztberichten anzuprangern. „Ich setze voraus, dass meine Entgegnung gelesen worden ist“, sagt sie. Jetzt verurteilt sie noch einmal „tendenziöse Behauptungen“ und einen „erstaunlichen Umgang mit Fakten“, beschreibt ihren Zorn über die „Betrugsabsichten“, die ihrem Sohn unterstellt würden. „Das war keine Rauferei“, sagt sie, „mein Sohn war in einer äußerst lebensbedrohlichen Situation. Das war eine Grenzsituation, die sein ganzes Wesen veränderte und sein Leben schließlich zur Hölle machte.“ Bitte, schließt Davids Mutter nach sieben Schreibmaschinenseiten: Haben Sie den Mut und die Empathie, Ihre Fehleinschätzung zu korrigieren und meinem Sohn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!

Herr K.? Möchten Sie dazu etwas sagen?, fragt die Richterin den Monitor. „Wir lassen das jetzt mal so stehen“, sagt Herr K. im Dienstgebäude in Bayreuth.

Anne C. hat eine Schachtel mit Bildern mitgebracht. „Darf ich Ihnen Fotos von meinem Sohn zeigen, wie er sukzessive abgebaut hat?“, fragt sie die Richterin.

„Nein“, sagt die Richterin, sie schüttelt den Kopf, „jetzt nicht.“ Das Gericht wolle sich nun zur Beratung zurückziehen.

„… bis David nicht mehr konnte“

Viele Gewaltopfer, deren OEG-Anträge abgelehnt wurden oder die in jahrelangen OEG-Verfahren festhängen, haben sich über soziale Netzwerke wie Facebook vernetzt. Auch David suchte kurz vor seinem Tod Kontakt zu anderen Betroffenen. Sein Suizid sprach sich schnell herum. Als Betroffene im Mai 2022 zu einer Demo und Mahnwache vor dem Bundessozialministerium aufriefen, erinnerten sie in einer Pressemitteilung auch an David: „Im vergangenen Jahr nahm sich ein junger Mann das Leben. Zuvorgegangen war ein jahrelanger Druck durch die Behörden, bis David nicht mehr konnte.“

Seine Mutter sagt, dass David auch vor dem Brief aus dem Gericht schon häufiger von Suizid gesprochen habe. „Aber das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, sagt sie. „David hatte Hoffnung – danach hatte er keine Hoffnung mehr.“

Wer infolge eines tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung. So steht es in Paragraf 1 des Opferentschädigungsgesetzes. Aber Gewalttäter treffen nicht nur auf gesunde Opfer. Manchmal trifft die Gewalt einen Menschen, der auch vorher schon verletzt war. Der vielleicht schon häufiger Gewalt erfuhr, der krank ist, der verwundbarer ist als andere Menschen. Wenn es so einem Menschen nach der Gewalttat schlecht geht und er Versorgung beantragt, muss er beweisen, dass es ihm wegen der Gewalttat schlecht geht und nicht etwa wegen möglicher früherer Verletzungen.

EXKLUSIV: Der #OEGreport – Alle Recherchen im Überblick

Die 45. Kammer hat die Beratung beendet und kehrt zurück in den Sitzungssaal. Die Klage wird abgewiesen, verkündet die Vorsitzende Richterin. Ihr Tonfall ist sanft, sie weiß, dass sie zu einer trauernden Mutter spricht. „Wir sind an Recht und Gesetz gebunden“, erklärt sie. „Wir können einen Antrag nicht genehmigen, wenn die Voraussetzungen nicht vorliegen. Auch wenn wir noch so empathisch sind.“

Für eine Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz braucht es zweierlei, erstens: den Nachweis, dass eine Gesundheitsstörung vorliegt. Zweitens: den Nachweis, dass diese Störung durch die Gewalttat ausgelöst wurde. Beides, so steht es später in der schriftlichen Urteilsbegründung, erkennt das Gericht im Fall David nicht. „Die gerichtliche Beweisaufnahme hat ergeben, dass Schädigungsfolgen der Gewalttat vom 29. 08. 2010 nicht mehr festzustellen sind“, heißt es nüchtern. Darüber hinaus sei „die geltend gemachte Gesundheitsstörung auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Gewalttat vom 29. 08. 2010 zurückzuführen“.

„Aber“, sagt die Richterin freundlich zu Anne C., „Sie können in Berufung gehen.“

Nein, sagt Anne C. nach dem Gerichtstermin in einem Münchner Café, das könne sie nicht. Sie sei 76 Jahre alt, ihr fehle die Kraft, sie habe die Mittel nicht, sie vermisse Davids Wortgewalt für einen weiteren Kampf. Sie werde nun nach Hause fahren und aufräumen. Alles liege voll mit Papieren: Davids Nachlass aus zwölf Jahren Hoffnung auf Anerkennung. Sie selbst hat zwei Taschen mit ins Gericht gebracht, darin sind unter anderem: ihre 22-seitige Abrechnung mit den Gutachten, „das Gericht ist nicht einmal darauf eingegangen“, die sieben Schreibmaschinenseiten für die heutige Anhörung, Davids schönste Geschichten, die Fotos von David.

***

Nach der Urteilsverkündung sagte die Richterin zu Anne C.: „Wenn Sie mir die Fotos von Ihrem Sohn noch zeigen wollen, können Sie das gern tun.“

„Nein“, antwortete Davids Mutter, „das möchte ich nicht mehr.“