Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Erstellt am: Dienstag, 30. September 2025 von Gregor
Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Datum: 30.09.2025

Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, fordert in einem Gastkommentar im WEISSER RING Magazin die Politik auf, das endgültige Aus des Fonds Sexueller Missbrauch zu verhindern.

Nach dem Ende des Fonds Sexueller Missbrauch hat die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, den Bundestag in die Pflicht genommen, zeitnah für Ersatz zu sorgen. In einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin schreibt Claus: „Selten gelingt es der Politik, so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu schaffen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war eine solche Erfolgsgeschichte. Jetzt ist es an den Abgeordneten, das endgültige Aus dieses niedrigschwelligen Hilfesystems zu verhindern. Er hat Belastungen im Alltag verringert und Perspektiven möglich gemacht, wo vergangene Gewalt oft das Leben prägt.“

Rückwirkender Stopp

Darüber hinaus kritisiert Kerstin Claus, es sei ein „verheerendes Signal“ für Betroffene gewesen, als die Ampelregierung im vergangenen Jahr „stillschweigend“ das Aus des Fonds zum 31. August 2025 beschlossen und die aktuelle Bundesregierung später sogar einen rückwirkenden Antragsstopp ab dem 19. März zugelassen habe. „Das ist ein Akt der Entsolidarisierung. Eine Regierung, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlichen verschreibt, darf so nicht handeln“, so Claus. „All dies jetzt preiszugeben – nur weil eine Bundesregierung nach der anderen daran scheitert, dieses Hilfesystem verlässlich finanziell und strukturell abzusichern –, ist ein Armutszeugnis.“

Die Bemühungen der früheren Familienministerin Lisa Paus (Grüne), den Fonds über das neue „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ abzusichern, seien kraftlos gewesen. Das Veto der FDP habe Paus stillschweigend akzeptiert und öffentliche Debatten vermieden. Ihre Nachfolgerin Karin Prien (CDU) habe zwar eine gesetzliche Verankerung des Hilfesystems gefordert, jedoch keinen konkreten Vorschlag eingebracht.

Jetzt liege die Verantwortung beim Bundestag und damit bei den Abgeordneten. Claus fordert: „Ab 2026 müssen die nötigen Mittel dauerhaft gesichert und perspektivisch der Fonds endlich gesetzlich verankert werden. Denn: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen.“

Ministerium prüft Ersatz

Ob und welchen Ersatz es für den Fonds gibt, ist weiter ungewiss. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte das Bundesfamilienministerium mit, es setze sich dafür ein, dass Betroffene auch künftig wirksame Hilfen erhalten. Dies hatten Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die „Möglichkeiten der Umsetzung“ würden weiterhin geprüft, sagte eine Sprecherin des Ministeriums von Karin Prien (CDU), die sich unter anderem mit dem Betroffenenrat austausche. Der Prozess werde noch „einige Zeit in Anspruch nehmen“, damit die Lösung den Vorgaben des Bundesrechnungshofs entspreche.

Der Fonds, der zum Ergänzenden Hilfesystem gehörte, war im Sommer – rückwirkend zum 19. März – eingestellt worden. Der WEISSE RING und weitere Fachorganisationen kritisierten das Ende des Fonds. Dieser konnte einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach jüngsten Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums wurden bislang etwa 165,2 Millionen Euro ausgezahlt.

 

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Erstellt am: Freitag, 11. Juli 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 11.07.2025

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Der rückwirkende Antragsstopp beim Fonds Sexueller Missbrauch hat bei Opfern und Beratenden Empörung ausgelöst.

Sabrina Lange* wurde mehrfach missbraucht und ist dadurch schwer traumatisiert. So schwer, dass sie unter anderem an Krampfanfällen leidet. Um ihren Alltag zu erleichtern und ihrer Belastungsstörung besser entgegenwirken zu können, wollte sie ihren dafür gut geeigneten Hund zum Assistenzhund ausbilden lassen. Sie hoffte dabei auf eine Finanzierung durch den Fonds Sexueller Missbrauch (FSM). Zusammen mit Ingeborg Altvater, die ehrenamtlich für den WEISSEN RING arbeitet, hatte sie in den vergangenen Wochen einen Antrag vorbereitet, gewissenhaft Informationen gesammelt und Formulare ausgefüllt.

Vor wenigen Tagen, kurz vor dem Fertigstellen des Antrags, rief Altvater Sabrina Lange an, um ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen: Der Fonds wird zumindest vorerst kein Geld mehr auszahlen. Als Lange das hörte, schwieg sie. Nach einer langen Pause fragte sie: „Was mache ich jetzt?“ Altvater konnte ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Denn einen Assistenzhund etwa über das Soziale Entschädigungsrecht zu finanzieren, ist nur schwer möglich, und wenn, dann dauert es jahrelang.

Nach dem Stopp beim Fonds – rückwirkend zum 19. März – hat Altvater wiederholt Reaktionen wie die von Sabrina Lange erlebt, wie sie im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt. Sie berät zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS), dessen Teil der Fonds ist, und begleitete Opfer hierbei in mehr als 100 Fällen. Altvater bezeichnet die aktuelle Entwicklung als „Katastrophe“. Dass sie die Betroffenen nach und nach anrufen und informieren musste, habe ihr „in der Seele wehgetan“. Am anderen Ende der Leitung habe „Stille und Entsetzen“ geherrscht. Alleine in Hessen, wo die ehrenamtliche Mitarbeiterin im Einsatz ist, hätten in acht bis zehn Fällen Beratungstermine kurzfristig abgesagt werden müssen. Und dass, obwohl bei denen der Antrag fast fertig gewesen sei. Andere Verfahren – bei denen die Betroffenen teils weite Wege und die erneute Konfrontation mit dem Missbrauch auf sich genommen hätten – liefen schon und nach jetzigem Stand vergeblich.

Fonds ist wichtige niedrigschwellige Hilfe

Die Sprachlosigkeit sei für einen Teil der Missbrauchsopfer typisch, sie gehörten zu den Schwerstbetroffenen, fühlten sich wehrlos und könnten nur schwer ihre Stimme erheben, um sich für ihre Belange einzusetzen. Umso schlimmer sei der Umgang mit ihnen – zumal es nicht um Milliardensummen gehe, kritisiert Altvater.

Vor zwei Wochen hatte die Geschäftsstelle des FSM auf ihrer Webseite mitgeteilt, dass sie Erstanträge, die ab dem 19. März dieses Jahres eingegangen sind, voraussichtlich nicht mehr annehmen könne. Die Mittel im Bundeshaushalt reichten nicht, hieß es.

Der Fonds ist für viele Betroffene eine niedrigschwellige Unterstützung, auf die sie nicht verzichten können. Er kann einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums haben bislang 36.000 Betroffene einen Antrag gestellt, ausgezahlt wurden 165,2 Millionen Euro.

Ministerin Prien kündigt an, sich für mehr Geld einzusetzen

Ministerin Karin Prien (CDU) kündigte an, sie werde sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch engagieren und das System neu aufstellen. Doch ob und wann die Reform kommt, und wie viel Geld dafür zur Verfügung steht, ist ungewiss.

Bereits im Frühjahr war bekanntgeworden, dass der Fonds auslaufen soll. Das damals von Lisa Paus (Grüne) geführte Familienministerium führte haushaltsrechtliche Bedenken des Bundesrechnungshofes als Grund an und sah die künftige Regierung in der Pflicht, für Ersatz zu sorgen. In seinem Koalitionsvertrag versicherten Union und SPD zwar: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort.“ Aber es kam anders.

Nach dem angekündigten Auslaufen des Fonds im März rief Ingeborg Altvater Betroffene, die bereits erste Kontakte wegen einer Antragstellung zu ihr aufgenommen hatten, an und klärte sie darüber auf. Daraufhin wurden einige von ihnen aktiv und stellten noch einen Antrag. Manche machten sich nun den Vorwurf, sie hätten zu lange gewartet. Zu Unrecht, sagt Altvater. Sie könnten nichts für den Stopp, der auch noch rückwirkend erfolgt sei. Manche Opfer kämpften jahrzehntelang mit den Folgen des Missbrauchs, sie bräuchten viel Kraft und Zeit, um sich zu einem Antrag auf Unterstützung durchzuringen.

Schlag ins Gesicht für traumatisierte Menschen

Susanne Seßler, die sich für den WEISSEN RING vor allem in Südbayern als EHS-Beraterin engagiert, macht derzeit ähnliche Erfahrungen wie Altvater und spricht von einem Schlag ins Gesicht. „Erschüttert“ seien die Betroffenen. Sie hätten sich überwunden und würden nun wieder „hinten herunterfallen“, was bei traumatisierten Menschen besonders schlimm sei. „Manche sagen bitter enttäuscht: ,Sehen Sie, ich wusste, dass ich nichts bekomme‘“, berichtet Seßler. In den vergangenen Monaten habe sie zusammen mit Betroffenen knapp 20 Anträge fertiggestellt, etwa fünf weitere seien geprüft und noch mehr vorbereitet worden.

Dass das Geld nicht reiche, kann Seßler nicht nachvollziehen: Zum einen hätten die Verantwortlichen nach ihrer Mitteilung im März damit rechnen müssen, dass aufgrund der Befristung mehr Anträge kommen. Zum anderen lägen diese geschätzt im vierstelligen Bereich, so dass sich die Ausgaben bei einer Unterstützung von in der Regel 10.000 Euro in Grenzen hielten.

Zwei Frauen, die Seßler beriet, wurde eine Reittherapie genehmigt, die allerdings von der Therapeutin verschoben werden musste. „Was jetzt? Wird das Geld noch ausgezahlt?“, fragen sich die Betroffenen.

Neuer Missbrauchsfonds gefordert

Seßler fordert, kurzfristig die entstandenen Lücken mit zusätzlichem Geld zu schließen und mittelfristig einen neuen Fonds aufzusetzen. Das neue Soziale Entschädigungsrecht, das seit 2024 gilt, sei nicht umfassend genug, um die „wichtigen Komplementärtherapien“ abzudecken.

Der WEISSE RING und vier weitere Fachorganisationen – die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen – haben den Stopp kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung scharf kritisiert. Sie forderten, die Hilfen zu erhalten und das dafür nötige Geld im Etat des Bundes bereitzustellen.

Auch Ingeborg Altvater hofft noch. Sie hat die Opfer gebeten, ihre Unterlagen aufzuheben.

*Name geändert

 

 

Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Erstellt am: Mittwoch, 25. Juni 2025 von Gregor
Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Datum: 25.06.2025

Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Der Fonds sexueller Missbrauch, eine wichtige Hilfe für Opfer, ist schon länger in Gefahr. Jetzt spitzt sich die Situation zu. Ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge können vermutlich nicht mehr berücksichtigt werden.

Eine unverzichtbare, niedrigschwellige Unterstützung ist der Fonds sexueller Missbrauch (FSM) für Betroffene. Er ist Teil des Ergänzenden Hilfesystem (EHS), kann Folgen des Missbrauchs lindern und einspringen, wenn notwendige Leistungen nicht durch Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht abgedeckt werden, etwa Physiotherapie oder Ergotherapie.

Nun gibt es einen Antragsstopp. Außerdem steht der Fonds in seiner jetzigen Form vor dem Aus – trotz einer zuversichtlich stimmenden Ankündigung im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Die Parteien hielten darin fest: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“

Alarmierende Mitteilung der Geschäftsstelle

Am Mittwoch veröffentlichte die Geschäftsstelle des Fonds eine Mitteilung, die deutlich macht, wie sich die Situation zugespitzt hat: In den vergangenen Wochen seien mehr Anträge auf Unterstützung eingegangen als erwartet. „Zu unserem Bedauern werden die im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel zur Gewährung von Billigkeitsleistungen für Betroffene nicht ausreichen, um alle bisher eingegangenen Anträge zu bewilligen“, so die Geschäftsstelle. Derzeit sei davon auszugehen, dass ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge nicht mehr berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnten nur vollständige Anträge bis 31. Dezember 2025 beschieden werden. Die Geschäftsstelle bittet Antragstellende, bereits eingereichte Anträge selbstständig zu vervollständigen.

Weiter heißt es in der Mitteilung, dem Bundesfamilienministerium sei bewusst, dass die Fristen und Kürzungen viele Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend enttäuschen und vor große Herausforderungen stellen. In der bisherigen Form könne das System – auch weil in den Haushaltsverhandlungen keine Mittel vorgesehen seien – aber nicht fortbestehen. Unbürokratische Hilfen seien aber nach wie vor wichtig. Deshalb setze sich das Ministerium in Gesprächen dafür ein, dass Opfer weiterhin Hilfen bekommen – in welcher Form werde geprüft und brauche noch Zeit.

Kritische Stimmen sprechen von Abwicklung

Aus Fachverbänden sind Stimmen zu hören, die von einer Abwicklung des Fonds sprechen. Kürzlich hatte das von Karin Prien (CDU) geführte Bundesfamilienministerium auf Anfrage des WEISSER RING Magazins noch mitgeteilt: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Der Fonds ist schon länger in Gefahr: Unter Priens Vorgängerin Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte das Ministerium das geplante Aus mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 moniert hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte damals mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht auf eine Reform des EHS einigen können. Das müsse die neue Bundesregierung übernehmen.

Der „Rheinischen Post“ sagte Prien nun, sie wolle sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch einsetzen. Auch werde sie gezielt das Gespräch mit der Unabhängigen Beauftragten Kerstin Claus und dem Betroffenenrat suchen, um eine „tragfähige Lösung“ zu finden. Das System könne nicht wie bisher weitergeführt werden, räumte die Ministerin ein. Die Neuaufstellung sei für Anfang 2026 geplant.

Claus hat die aktuelle Entwicklung mit deutlichen Worten kritisiert: „Einfach rückwirkend bereits vorliegende fristgerechte Anträge auszuschließen und die Annahme von weiteren Anträgen bis zum kommunizierten Antragsende am 31. August 2025 zu verweigern, kommt einem neuerlichen Verrat an Betroffenen gleich“, sagte Claus. Sie appellierte an die Bundesregierung, „sicherzustellen, dass eine kurzfristige Nachsteuerung noch in diesem Jahr erfolgt, um Versorgungslücken zu verhindern“.

Rund 27.500 Menschen wurden unterstützt

Im Jahr 2023 wurden Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent) gezahlt, aus Bundesmitteln flossen in dem Jahr 32 Millionen Euro in den Fonds. Laut dem zuständigen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Unterstützung durch den Fonds.

Gegen die Strömung

Erstellt am: Freitag, 13. Juni 2025 von Sabine

Gegen die Strömung

Seit fast 16 Jahren kämpft Christophe Didillon mit Anträgen, Widersprüchen und Klagen um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Vor Gericht in Aurich, Ostfriesland, will er endlich einen Schlussstrich ziehen.

Opferentschädigung: Der unendliche Kampf des Herrn Didillon gegen den Staat. Gezeichnete Grafik

An dem Tag, an dem im Sozialgericht Aurich, Sitzungssaal I, alles enden soll für ihn, bleibt Christophe Didillon lieber zu Hause. Er hat sich mit einem Freund verabredet, sie wollen Kaffee trinken und vor allem: „Über was anderes reden“.

„Kläger/in Christophe Didillon, Beklagte/r Land Niedersachsen“, so steht es in Aurich draußen angeschlagen neben der Saaltür. Drinnen klebt auf Blech das Niedersachsenross an der Wand, hinten hat auf harten Stühlen die Öffentlichkeit Platz genommen: zwei Zuschauer, zwei Reporter. „Wir haben heute etwas Zuwachs“, stellt  der Vorsitzende Richter fest, er klingt ein bisschen beeindruckt. Sozialrecht ist kein Publikumsmagnet.

Der Richter spricht in eine drehbare Kamera, an den Wänden gibt es zudem zwei große Flachbildschirme. Das Gericht hat der Anwältin von Christophe Didillon die  Teilnahme per Video aus Hamburg erlaubt. Auch Didillon hätte sich von zu Hause aus dem 30 Kilometer entfernten Städtchen Norden zuschalten können. Er hat aus  gesundheitlichen Gründen abgelehnt, „mir würde das zu viel werden“.

Vor dem Richter liegen das rote Sozialgesetzbuch und ein 30 Zentimeter hoher Stapel mit Didillon-Akten, neben ihm sitzen zwei Schöffen. Die beiden ehrenamtlichen Richter hören heute zum ersten Mal von dem Fall, der Vorsitzende fasst den Sachverhalt für sie zusammen, „ich hoffe mal gerafft aufs Wesentliche“. Es ist eine  anspruchsvolle Aufgabe: Christophe Didillon gegen das Land Niedersachsen, das geht nun schon fast 16 Jahre. Es gab Hunderte Schreiben, Anträge auf Leistungen nach  dem Opferentschädigungsgesetz, Ablehnungen und Widersprüche, ärztliche Gutachten, Klagen und Gerichtsverfahren, erste Instanzen und zweite.

Didillon, 53 Jahre alt, hat angegeben, seit früher Kindheit physische und psychische Gewalt durch den Vater erlebt zu haben, sexualisierte Gewalt durch die Tante, weitere Gewalt durch Dritte: Mitschüler wie Fremde. Er machte Abitur, absolvierte eine Lehre (Industriekaufmann) und ein Studium (Sinologie), „mit Auszeichnung“, betont der  Richter. Didillon versuchte sich als Kunstmaler. Doch dann kam er beruflich nicht mehr voran. „Die Strömung wurde immer stärker“, so beschreibt er es selbst in einem  Lebenslauf, aus dem der Richter zitiert.

Wer infolge von Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat

Christophe Didillon lebt von Sozialhilfe und wohnt im Haus seiner alten Mutter. Das Haus nennt er „meinen Rückzugsort“, er kann von hier an die Nordsee laufen. Er hat  Angst, diesen Ort nach dem Tod der Mutter zu verlieren. Der Gerichtstag heute soll ihm Sicherheit geben, sagt er am Tag vorher im Telefonat mit dem WEISSER RING  Magazin: „Ich hoffe, dass endlich anerkannt wird, dass das, was mit mir damals passiert ist, nicht rechtmäßig war. Dass ich aus der Sozialhilfe rauskomme. Dass ich keine  Anträge mehr stellen muss. Dass ich endlich einen Schlussstrich unter all dem ziehen kann!“

Wer infolge von tätlicher Gewalt eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung durch den Staat. Das verspricht seit 1976 das Opferentschädigungsgesetz (OEG), das zum 1. Januar 2024 durch das Sozialgesetzbuch XIV abgelöst wurde. So weit jedenfalls die Theorie – in der Praxis kommt die staatliche Entschädigung eher  selten bei den Opfern an, wie Recherchen des WEISSEN RINGS belegen.

Gegen die Strömung – Christoph Didillon

Seit fast 16 Jahren kämpft Christophe Didillon um Entschädigung – nun hofft er auf ein Urteil vor dem Sozialgericht.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis

Das liegt zum einen daran, dass nur wenige Gewaltopfer überhaupt einen Entschädigungsantrag stellen: Im Jahr 2023 gingen nur 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein; das entspricht sieben Prozent der 214.099 Gewalttaten, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts verzeichnet sind. Zum  anderen wird von diesen wenigen Anträgen nur ein kleiner Teil als entschädigungsberechtigt anerkannt: 23 Prozent im Jahr 2023, also nicht einmal ein Viertel. 48  Prozent der Anträge lehnten die Ämter ab, 29 Prozent erhielten den Stempel „Erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe, das können zum Beispiel Wegzug oder Tod sein, aber auch die Rücknahme des Antrags.

So einfach der Entschädigungsanspruch klingt, so kompliziert ist die rechtliche Praxis. Der Antragsteller muss erstens eine Gewalttat erlebt haben. Er muss zweitens eine gesundheitliche Schädigung aufweisen. Drittens muss diese Schädigung eine Folge der Gewalttat sein. Häufig ist bereits die Gewalttat schwer nachweisbar: zum Beispiel in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch oder von häuslicher Gewalt, nach denen es keine Strafanzeigen gab. Noch schwerer fällt oft der Nachweis des Zusammenhangs von Tat und Schädigung, zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Belegen müssen das dann medizinische Gutachten. Für die OEG-Recherchen sprach das WEISSER RING Magazin mit zahlreichen Betroffenen und Therapeuten. Einige nannten die Begutachtung „die Hölle“, „eine Katastrophe“, „Körperverletzung“.

Bei seinem ersten Gutachtertermin bekam Christophe Didillon eine so schwere Panikattacke, „dass der Notarzt mich aus der Praxis holen musste“, wie er berichtet. Eine  zweite Gutachterin schickte ihm vorab einen Fragebogen zu mit 283 Fragen. Darin ging es unter anderem um Sex mit Tieren, um Nekrophilie (sexuelle Erregung durch  Leichen), um Koprophilie (Lustgewinn durch menschlichen Kot). „Wie ein Täter habe ich mich gefühlt“, sagt Didillon. Er beantwortete die Fragen trotzdem.

2011 bewilligte das Land Niedersachsen eine Anerkennung nach dem OEG, „GdS 30“. GdS, das ist der Grad der Schädigungsfolgen; ab GdS 30 zahlt der Staat eine kleine  Rente, damals waren es 127 Euro monatlich. Didillon blieb von Sozialhilfe abhängig.

In Sitzungssaal I geht es heute um einen möglichen Berufsschadensausgleich. Dieser soll berufliche Nachteile ausgleichen, die durch die gesundheitliche Schädigung  entstanden sind, die wiederum durch eine Gewalttat entstanden ist. Didillon hat einen entsprechenden Antrag gestellt, das Land lehnte ab, Didillon klagte. Mit dem  Ausgleich wäre er nicht länger auf Sozialhilfe angewiesen, so Didillon, er könnte seinen Rückzugsort erhalten.

„Didillons berufliche Karriere hat ja gar nicht erst begonnen wegen der gesundheitlichen Belastung“

Der Richter will nun wissen, welchen beruflichen Nachteil der Kläger denn erlitten habe. „Es muss ein beruflicher Karriereknick feststellbar sein“, sagt er, „und der muss schädigungsbedingt sein.“ Er sehe „Schwierigkeiten in beiden Punkten“.

Er befragt die Anwältin von Didillon. An welcher Stelle mache sie den Berufsschaden fest? Ab wann habe Herr Didillon die berufliche Karriere nicht weiterverfolgt? Welchen Beruf habe er überhaupt angestrebt? Sinologe? Freischaffender Künstler? „Da auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, ist ohnehin schwierig“, sagt der Richter. Die  Anwältin muss passen: „Ich kann nicht den genauen ökonomischen Ablauf wiedergeben.“ Didillons berufliche Karriere habe ja gar nicht erst begonnen wegen der  gesundheitlichen Belastung.

In Sitzungssaal I sitzen zwei Vertreter der Beklagten, des Landes Niedersachsen, genauer: zwei Mitarbeiter des Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie. Einer der  beiden weist darauf hin, dass die nicht gestartete Karriere als Sinologe oder als Künstler ja auch von ganz anderen Faktoren als einer gesundheitlichen Schädigung  abhängig gewesen sein könne: „Vom Arbeitsmarkt zu der Zeit oder vom Geschmack der Bilderkäufer.“

Nach eineinhalb Stunden, um 10:30 Uhr, schließt der Vorsitzende Richter die Didillon-Akten. Er kündigt an, dass er die Entscheidung des Gerichts spätestens am  nächsten Tag mitteilen werde.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland so viele OEG-Anträge abgelehnt wie noch nie. Das zeigt eine exklusive Auswertung des WEISSEN RINGS.

Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat die Klage von Didillon abgewiesen

Um 11:09 Uhr schickt Christophe Didillon die erste E-Mail an die Reporter. Er habe eben mit seiner Anwältin gesprochen, „es sieht nicht gut aus“. In den nächsten  Stunden und Tagen folgen viele weitere E-Mails. An seine Anwältin. An den WEISSEN RING. An das Landesamt. Einige der E-Mails sind sehr, sehr lang. Didillon ist  enttäuscht.

Am nächsten Morgen steht fest: Das Gericht hat seine Klage abgewiesen, Didillon erhält keinen Berufsschadensausgleich. Er ist wütend. Diese Gutachterin! Dieses  Gericht! Ja, kündigt er an, er werde Berufung einlegen! Das sei er sich schuldig, „sonst würde ich mir doch eingestehen müssen, von Anfang an falschgelegen zu haben“.  Er sagt: „Ich kämpfe weiter!“

Nichts endete an diesem Tag für Christophe Didillon.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING hat Christophe Didillon in den vergangenen Jahren wiederholt unterstützt, unter anderem mit der Übernahme von Anwalts- und Gutachterkosten. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins sprach zudem seit 2021 mehrfach mit ihm im Zuge ihrer Recherchen für den 2022 veröffentlichten OEG-Report.

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Erstellt am: Montag, 2. Juni 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 02.06.2025

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Eine neue Studie hat die Häufigkeit, den Kontext und die Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Etwa jeder Achte in Deutschland zwischen 18 und 59 Jahren ist als Kind oder Jugendlicher mindestens einmal Opfer sexualisierter Gewalt geworden – hochgerechnet sind das 5,7 Millionen Menschen. Mit 20,6 Prozent ist bei Frauen ein deutlich höherer Anteil betroffen als bei Männern mit 4,8 Prozent. Die Täter sind überwiegend männlich und lediglich in 4,5 Prozent der Fälle weiblich.

Repräsentative Studie mit 3000 Teilnehmenden

Das geht aus einer repräsentativen, am Montag veröffentlichten Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg hervor. Die Forschenden haben in Kooperation mit dem Umfrageinstitut infratest dimap eine repräsentative Stichprobe von Menschen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren angeschrieben. Rund 3000 Personen nahmen teil. Die Institute untersuchten sowohl die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als auch den Kontext und die Folgen der Taten. Es handelt sich um die erste bundesweite und repräsentative Studie zu diesem Thema.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, erklärt Prof. Dr. Harald Dreßing, der die Studie koordiniert hat und die Forensischen Psychiatrie am ZI leitet. Dieses gehört zum Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG).

Tatorte Familie und digitale Kanäle

Bei jüngeren Frauen, den 18-29-Jährigen, war die Betroffenenrate am höchsten: 27,4 Prozent. Unter allen Befragten gaben die meisten an, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Wobei Männer laut der Studie viel öfter in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Zusammenhängen und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe betroffen waren. Dies zeige, wie wichtig „differenzierte Schutzkonzepte“ für Kinder und Jugendliche seien, mahnen die Forschungsinstitute.

Gut 37 Prozent der Opfer hatten demnach bislang nicht mit anderen Menschen über die sexuellen Angriffe gesprochen, aus Scham und aus Angst, dass ihnen niemand glaube.

31,7 Prozent der Fälle betrafen digitale Kanäle. Dabei erhielten die Betroffenen beispielsweise ungewollt pornographisches Material, wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert oder gezwungen, sexuelle Bilder zu teilen.

Betroffene haben psychische Schwierigkeiten

Ein weiterer wichtiger Befund: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gehe es psychisch deutlich schlechter als Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, fordert Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm.

Die Untersuchung wurde mit Eigenmitteln der Institute finanziert sowie mit Hilfe der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch und des Kinderschutzbundes.

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Erstellt am: Donnerstag, 3. April 2025 von Selina

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung war groß, nachdem bekannt geworden war, dass der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) auslaufen soll. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds tatsächlich bleibt, ist ungewiss. Beratungsstellen und Betroffene mahnen, die niedrigschwelligen Hilfen in vollem Umfang zu erhalten.

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Bernd Weiland (Name geändert) wurde jahrelang von seinem Vater missbraucht. Er verlor das Gleichgewicht und bekam als Erwachsener auch Geldsorgen, weil er beruflich nicht richtig Fuß fassen konnte. Um wenigstens etwas Abstand zu der Tat und zu dem Mann zu bekommen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, wollte er seinen Nachnamen ändern. Später hatte er noch einen kleinen Wunsch: sich einmal elegant einkleiden, von Kopf bis Fuß, um sich „nicht so ärmlich und erbärmlich“ zu fühlen, sagte er. Keine teure Designerkleidung, aber ordentliche Klamotten. Als der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seinen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Namensänderung und die Kleidung bewilligte, war er sprachlos und brach in Tränen aus, vor Freude.

Die Kleidung habe für ihn eine tiefere Bedeutung gehabt, erklärt Ingeborg Altvater, die beim WEISSEN RING mehr als 100 Beratungen zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS) gemacht hat, das hinter dem Fonds steht. „Die Garderobe stärkte sein Selbstbewusstsein. Das ist ganz wichtig, weil er wie andere Opfer mit dem Gefühl kämpfte, minderwertig und hilflos zu sein“, erinnert sich Altvater.

In der Regel ist eine Unterstützung bis 10.000 Euro möglich

Der Fonds kann Hilfen gewähren, die die Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht nicht abdecken. In der Regel ist eine Unterstützung in Höhe von 10.000 Euro, für Betroffene mit Behinderung bis zu 15.000 Euro möglich. Kürzlich ist bekannt geworden, dass das Ergänzende Hilfesystem und der FSM Ende 2028 auslaufen sollen. Demnach können Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt noch bis Ende August 2025 eingereicht und Zusagen nur bis Jahresende erteilt werden.

Das noch amtierende Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte diesen Schritt mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 bemängelt hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht darüber einigen können, wie sie das EHS neu aufstellen können. Das sei Aufgabe der neuen Bundesregierung. Der WEISSE RING und fünf Fachorganisationen, darunter die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), kritisierten die Entscheidung und forderten in einer gemeinsamen Erklärung: „Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden.“

Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Darin heißt es: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“ Doch ob der FSM als Teil des EHS tatsächlich bestehen bleibt und in welcher Form, ist noch unklar. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte eine Sprecherin des nun von Karin Prien (CDU) geführten Familienministeriums mit: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Leistungen können Folgen des Missbrauchs lindern

Beratende wie Ingeborg Altvater mahnen, den Fonds in vollem Umfang zu erhalten. Sie beschreibt das Hilfesystem als „sehr niedrigschwellige Möglichkeit zu helfen – und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, um die Folgen des Missbrauchs zu lindern“.

Das System bietet aus Sicht der Opfer eine Reihe von Vorteilen: Die Verfahren sind nicht so lang und belastend wie beim Entschädigungsrecht, und die Anträge werden viel häufiger genehmigt. Betroffene müssen glaubwürdige Angaben machen, etwa zu ihrer Person und zu den Taten, letztere jedoch nicht detailliert in Worte gefasst schildern. Sie können auch durch Ankreuzen Informationen geben, beispielsweise dazu, ob sie angefasst worden sind. „Das entlastet Opfer. Sie schaffen es dadurch eher, einen Antrag auf Unterstützung zu stellen“, weiß Altvater. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Beratung sagt Altvater: „Menschen, die in jungen Jahren von ihren Nächsten missbraucht wurden und dadurch einen großen Vertrauensbruch erlitten haben, sind eine besonders belastete Opfergruppe. Sie haben viele Ängste und Schamgefühle.“ Teilweise sind sie beruflich erfolgreich, haben aber privat Probleme. Mitunter verdrängen sie die Tat jahrzehntelang – und brechen dann zusammen.

Der FSM kümmert sich weitgehend um Fälle von sexualisierter Gewalt im familiären Bereich. Zudem übernimmt er Fälle in Institutionen, die sich an ihm beteiligen, etwa der Caritasverband und die Bundeswehr. Laut den jüngsten Zahlen ist der monatliche Schnitt an Erstanträgen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen, auf 412. Das geht aus dem Jahresbericht des Fonds hervor. Der Großteil der Antragstellenden hat sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld angegeben (96,2 Prozent). In etwa 98 Prozent der Fälle wurden Mittel aus dem FSM bewilligt. Im Jahr 2023 flossen Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent), der Bund zahlte in dem Jahr 32 Millionen ein. Nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Hilfen durch den Fonds. Den größten Anteil im vorvergangenen Jahr hatten Leistungen, die der „individuellen Aufarbeitung“ dienen, etwa Hilfen zur sozialen Teilhabe oder Entspannungsverfahren (8 Millionen Euro), gefolgt von therapeutischen Hilfen (7,7 Millionen Euro).

Beratungsstellen warnen vor Aus

Auch in der Fachberatung aktive Einrichtungen kritisieren das drohende Aus bundesweit. Lilo Löffler, geschäftsführender Vorstand beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer Mettmann, warnt zum Beispiel vor einem „fatalen Schritt“ der Politik. Die individuellen Hilfeleistungen seien eine wichtige Anerkennung für Betroffene und „tragen erheblich zur Linderung des erlebten Leids bei.“

Der Fonds Sexueller Missbrauch kann einspringen, wenn gesetzliche Leistungen nicht reichen, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Oder wenn das Fortsetzen gesetzlicher Leistungen abgelehnt oder durch eigentlich vorrangige Leistungsträger erschwert wird. So kann der Fonds beispielsweise eine Behandlung in den sogenannten psychotherapeutischen Richtlinienverfahren über die Stundenobergrenze hinaus ermöglichen. Weitere Beispiele sind Physiotherapie, Ergotherapie, Zahnbehandlungen, Aus- und Fortbildung oder Umzüge, etwa wenn der Tatort auch der Wohnort ist.

Wenn Altvater Betroffene berät, erklärt sie ihnen zu Beginn den Aufbau des Antrags, klärt formale Dinge: „Das verringert die Anspannung.“ Es geht erst um Daten zur Person, später um Tatzeit und Tatort, die Tat, die nicht beschrieben werden muss, dann um seelische und körperliche Folgen sowie die konkreten Leistungen, die das Leid lindern und den Heilungsprozess fördern sollen. Die Sachbearbeiter müssen erkennen, weshalb etwas beantragt wird und inwiefern es helfen kann. „Wir überlegen, was den Opfern guttun, was ihnen eine neue Perspektive eröffnen würde.“ Ein wichtiges Ziel sei, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen, da sie sich häufig machtlos fühlen. Auch deshalb habe der Fonds eine große Bedeutung: „Wenn Betroffene aktiv werden, aus der Opferrolle treten können und schließlich lesen, dass der Staat ihr Leid anerkennt und sie unterstützt, brechen sie manchmal in Tränen aus. Manchen hat ihr Umfeld viele Jahre lang nicht geglaubt.“

Unruhe und Sorgen bei Betroffenen

Ein Ende des Fonds wäre verheerend, sagt Altvater. Die Ankündigung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Teil des EHS nicht weiterzuführen, hat bereits negative Folgen gehabt. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, nicht wahrgenommen. Aufgrund der aktuell geltenden Fristen müssen sie schnell handeln – was für schwer traumatisierte Menschen eine große Herausforderung ist. Ein weiteres Problem: Es gibt keine Vorauszahlungen mehr. Wenn also jemand zum Beispiel das Geld für ein Fahrrad nicht vorstrecken kann und der Händler nicht mit sich reden lässt, muss er aufgrund der aktuellen Antragsflut auf die bewilligte Leistung verzichten. „Das ist alles belastend, sorgt für Unruhe“, so Altvater.

Sie, ihre beratenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer hoffen, dass der Fonds bestehen bleibt, gestärkt wird, und dass bald Klarheit herrscht. Was das Ergänzende Hilfesystem leisten kann, zeigt ein weiterer Fall, der Altvater besonders gut im Gedächtnis geblieben ist: Annette Weber (Name geändert) hatte der Missbrauch so aus der Bahn geworfen, dass sie kaum in der Lage war, ihre Wohnung zu verlassen und unter Leute zu gehen. Die Rollläden in ihrer Zweizimmerwohnung ließ sie zumeist unten. In der EHS-Beratung nannte sie zwei Anliegen: ein Rudergerät, gegen ihre Rückenschmerzen und ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer, wo sie schlief statt im Schlafzimmer. Beim zweiten Wunsch war Altvater der Grund zunächst nicht klar, für den Antrag musste sie ihn aber kennen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fragte Altvater: „Hat der Missbrauch in einem Schlafzimmer stattgefunden?“

Weber nickte, erleichtert darüber, dass die Beraterin es ausgesprochen hatte. Altvater ergänzte den Antrag und er wurde bewilligt. Weber war „einfach nur glücklich“. Sowohl über den Ersatz für die alte, durchgelegene Couch als auch über das Rudergerät. Es half ihrem Rücken, und sie mochte die gleichmäßige, beruhigende Bewegung, die sich so anfühlte, als wäre sie auf dem Wasser.

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Erstellt am: Freitag, 14. März 2025 von Sabine

Datum: 14.03.2025

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems.

Mainz – Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems. Laut „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ der Bundesregierung wird das EHS und damit auch der FSM nach dem 31.12.2028 nicht fortgeführt. Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt sind dann nur noch bis 31.08.2025 möglich und Bewilligungen können nur bis zum 31.12.2025 erteilt werden. Faktisch erfolgt damit die Einstellung von EHS und FSM, die verheerende Folgen für Betroffene hat.

Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen e.V. info@bag-forsa.de
www.bag-forsa.de
Tel: 0711–85 70 68

Das kritisieren BAG FORSA, bff, BKSF, DGfPI und WEISSER RING: Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Richtlinien für den FSM entsprechend anzupassen und eine nachhaltige Lösung sicherzustellen, um Betroffene weiterhin angemessen zu unterstützen. Eine ersatzlose Einstellung des Fonds darf es nicht geben.

Konkret fordern wir die Bundesregierung auf:

Bundeskoordinierung
Spezialisierter Fachberatung
gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend
info@bundeskoordinierung.de
www.bundeskoordinierung.de
Tel: 030-8891 6866
  • Die „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ muss sofort und grundsätzlich geändert werden.
  • Die Frist 31.08.2025 für die Antragsstellung (Erstantrag) muss umgehend aufgehoben werden.
  • Es muss sichergestellt werden, dass bei einem voraussichtlich hohen Aufkommen von Erstanträgen ausreichend finanzielle Mittel für die Bearbeitung und Bewilligung dieser vorhanden sind.
  • Solange es keine adäquaten Alternativen zur niedrigschwelligen Unterstützung Betroffener sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend gibt, muss der Fonds unbedingt fortgeführt werden. Vor der Einstellung muss zunächst sichergestellt sein, dass ein alternatives System für den Fonds funktioniert.
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.
info@bv-bff.de
www.frauen-gegen-gewalt.de
Tel: 030-32299500

Das niedrigschwellige EHS gewährleistet die tatsächliche Unterstützung von Betroffenen. Im Gegensatz zu dem im Jahr 2024 in Kraft getretenen neuen Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV), das in der Praxis schwer zugänglich ist und mit bürokratischen Hürden eine unüberwindbare Belastung darstellen kann. Insbesondere für Menschen, die über das gesetzliche Leistungssystem bislang Ablehnungen erhalten haben, trägt diese bedeutende Form der Anerkennung entscheidend zur Linderung des Leids bei. Die Möglichkeit individueller, anhand tatsächlicher Bedürfnisse fortentwickelten Hilfeleistungen wird von Betroffenen häufig in Anspruch genommen. 2023 hat sich das Aufkommen von Erstanträgen erneut gesteigert (21 Prozent) und zeigt den ungebrochen hohen Bedarf. Daher ist es dringend erforderlich, das EHS als ergänzende niedrigschwellige Hilfe aufrechtzuerhalten. [Fonds Sexueller Missbrauch – Jahresbericht 2023]

Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention
bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V.
info@dgfpi.de
www.dgfpi.de
Tel:  0211 – 497 680-0 

Solange der Staat es nicht schafft, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen, muss er zumindest eine wirksame und funktionierende Unterstützung aufrechterhalten. Wir rechnen zudem mit weiteren Problemen durch ein absehbar hohes Aufkommen von Anträgen. Für die Bewilligung von Anträgen muss Geld im Haushalt eingestellt sein. Wenn diese Gelder aufgebraucht sind, muss gewährleistet werden, dass dennoch weitere Anträge bewilligt werden können und entsprechende Mittel dafür eingestellt werden. Berechtigt besteht ein Grund zur Annahme, dass die Bewilligung von Anträgen bereits vor dem 31.08.2025 eingestellt wird und dadurch vielen Betroffenen zentrale Unterstützungsleistungen verwehrt werden.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Negativrekord bei der staatlichen Entschädigung für Gewaltopfer im Bund und bei den Ländern. Die Zahlen von 2023 im Überblick

Eine Landkarte von Deutschland, die in rot und grüner Farbe zeigt wie viele Ab- oder Zusagen es für die Opferentschädigung gab im Jahr 2023 pro Bundesland.

Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54,4), am niedrigsten in Sachsen (38,6), Niedersachsen (38,9) und Rheinland-Pfalz (42,4).

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Bund

48 %

Ablehnungen

23 %

Anerkennungen

29 %

Erledigungen aus sonstigen Gründen*

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

*Erledigungen aus „sonstigen Gründen“ sind u. a. Rücknahme des Antrags, Abgabe an andere Ämter, Wegzug, Tod.

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. Februar 2025 von Sabine

Nur wenige Opfer stellen einen OEG-Antrag. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Datum: 12.02.2025

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland so viele OEG-Anträge abgelehnt wie noch nie. Das zeigt eine exklusive Auswertung des WEISSEN RINGS.

Mainz – Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54 Prozent), am niedrigsten in Sachsen (38,6 Prozent), Niedersachsen (38,9 Prozent) und Rheinland-Pfalz (42,4 Prozent).

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Als im Mai 2022 Betroffene in Berlin gegen die Zumutungen des Opferentschädigungsgesetzes demonstrierten, gedachten sie öffentlich David – einem verstorbenen Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung „nicht mehr konnte“. Nach Davids Tod setzt seine Mutter den Kampf fort.

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Erstellt am: Sonntag, 25. August 2024 von Sabine

“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Oliver L. hat 2020 schwer verletzt den Messerangriff eines islamistischen Attentäters in der Dresdner Altstadt überlebt. Sein Partner Thomas L. starb. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Oliver L. erstmals aus Opfersicht über die Tat, wie ihm ein Hund namens Bart bei der Verarbeitung half und worüber er sich in Politik und Medien ärgerte.

3st kommunikation GmbH

Ein Gründerzeithaus im Kölner Süden, vor den Fenstern leuchtet herbstroter Ahorn. Hinter den Fenstern steht Oliver L., ein drahtiger 57-Jähriger, in seiner Altbauküche und schenkt Kaffee ein, gekocht mit einer in die Jahre gekommenen Kaffeemaschine.

Herr L., das ist ein richtig guter Kaffee!

Ja, oder? Das war die Maschine meiner Lieblingstante, einer Ordensschwester. Sie lebt leider nicht mehr, sie starb auch 2020. Da an der Wand hängt ihr Foto.

L. zeigt auf das Schwarzweißporträt einer Frau in Schwesterntracht. An der Küchenwand hängen auch Fotos von Thomas, Olivers Partner. Am 4. Oktober 2020, Oliver und Thomas hatten Urlaub und besichtigten die Dresdner Altstadt, griff ein Islamist die beiden Männer von hinten an und stach mit dem Messer auf sie ein. Thomas starb, Oliver überlebte schwer verletzt.

Drei Jahre sind jetzt seit dem Angriff vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es gut. Die schweren körperlichen Verletzungen sind verheilt. Neben der tiefen Stichwunde im Rücken hatte mir der Täter das rechte Bein verletzt, ab der Schnittwunde bis hinunter in den Fuß ist es seitdem taub. Aber das beeinträchtigt mich kaum. Ich kann laufen, ich habe keine Schmerzen. Der Tod von Thomas hat mich viel mehr beschäftigt. Ich hatte eine schlimme Zeit. Aber ich würde sagen, dass ich mittlerweile damit zurechtkomme.

Wer oder was hat Ihnen geholfen, zurechtzukommen?

In erster Linie mein Hund.

Vor den Küchenfenstern liegt ein Kissen, und auf dem Kissen liegt Bart. Bart kommt aus Spanien und ist ein Mischlingshund.

Im Krankenhaus wurde ich zuerst von der Polizei vernommen. Ich habe immer wieder gefragt: Wo ist ­Thomas? Was ist mit Thomas? Die hatten mir nur gesagt, Thomas liegt in einem anderen Krankenhaus, und sie hätten keine Infos. Und ich habe immer wieder gesagt, ­Dresden kann doch nicht so groß sein, dass die nicht wüssten, wie es Thomas geht! Die Befragung durch die Polizei ging schnell, ich konnte ja leider nicht viel sagen: Der Täter hat uns von hinten angegriffen, wir haben beide nichts mitbekommen. Nach der Vernehmung kamen dann bestimmt zehn Ärzte ins Zimmer, haben sich nebeneinander aufgereiht und mir mitgeteilt, dass ­Thomas nicht überlebt hat. Und ich wusste instinktiv: Ich schaffe das nur mit Hund.

Aber Sie hatten keinen Hund.

Nein, ich hatte noch nie einen Hund. Thomas hatte einen Hund, aber der war schon vor Jahren gestorben.

Woher kommt dann die Erkenntnis: Ich schaffe das nur mit Hund?

Ich hatte Angst vor der Einsamkeit. Nicht vor dem Alleinsein, ich habe viele Freunde. Alle meine Freunde haben getan, was sie konnten. Eine Freundin hat mir einfach nur Blumen vorbeigebracht. Ein Freund hat mich mit Essen versorgt. Eine andere Freundin hat so sehr mit mir mitgelitten und um Thomas getrauert – das hat mir am besten getan in den ersten Wochen danach. Meine besten Freunde sind nach Dresden ins Krankenhaus gekommen. Ich war nicht allein. Aber ich hatte Angst vor den Wochenenden, vor Ferien, vor dem Sommer. Ich wusste: All das, was ich vorher hatte, war weg und würde mir besonders in diesen Zeiten und in Zukunft fehlen. Und mit dem Hund kann ich das aushalten.

Ein gutes Freunde-Netzwerk funktioniert so: Ein Freund von Oliver L. kannte einen Freund, der wiederum eine Freundin kannte, die eine spanische Vermittlungsagentur kannte. Irgendwann stand L. mit anderen Menschen an einer Autobahnraststätte nach Frechen, ein Bus aus Spanien hielt, Katzen wurden herausgereicht, schließlich drückte jemand Oliver L. Bart in den Arm. Der Bus fuhr wieder ab. „Ich hätte gar keine Chance gehabt zu sagen, er gefällt mir nicht“, sagt Oliver L., „aber er gefiel mir sofort. Sogar sehr.“ Er lacht. „Das war Liebe auf den ersten Blick.“

Möchten Sie uns von Thomas erzählen? Was war er für ein Mensch?

Oliver L. schweigt lange, er kämpft mit den Tränen. Dann schüttelt er den Kopf.

Haben Sie verfolgt, wie Medien über den Angriff auf Sie und Thomas berichtet haben?

Ja, ich habe das verfolgt. Und ich habe mich von der ersten Sekunde an aufgeregt, weil es immer hieß, das sei ein Attentat auf Schwule gewesen. Das stimmte einfach nicht! Danach erfolgte unmittelbar eine Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbandes, der versuchte, die Opferrolle für sich zu vereinnahmen. Das hat mich maßlos gestört.

„Ich hätte einen gesellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei rumlaufen?“

Oliver L.
Was hat Sie daran gestört?

Erstens beeinflusst die sexuelle Orientierung eines Opfers weder positiv noch negativ die Schwere eines Mordes. Zweitens hatte dieser Täter einfach Hass auf unsere westliche Gesellschaft, und er wollte an diesem Tag morden. Wir waren Zufallsopfer! Wir waren die Dritten, die er im Visier hatte. Andere hatten einfach Glück gehabt, weil sie vorher in einem Hauseingang verschwunden oder in ein Hotel gegangen waren. Drittens wurde die Berichterstattung durch das Statement des Lesben- und Schwulenverbandes so beeinflusst, dass sich Bundeskanzlerin Merkel die Hände reiben konnte.

Das mit dem Händereiben müssen Sie erklären.

Das war der zweite Anschlag durch einen als hoch­gradig gefährlich eingestuften Islamisten in Deutschland. Es ist skandalös, dass so ein Mann hier frei herumlaufen durfte. Aber dann hieß es plötzlich, das war ein Anschlag auf Schwule. Und alle Leute, die nicht schwul sind, haben uns sicherlich bedauert und gesagt: Schlimm – aber ich bin ja nicht schwul, mir kann das nicht passieren. Kann es doch!

Fühlten Sie sich und Thomas durch die Debatte um Ihre sexuelle Orientierung als Opfer nicht hinreichend gesehen?

Nein, wir wurden ja gesehen. Aber wir wurden als Opfer auf unsere sexuelle Orientierung reduziert. Und die Gefahr, die von diesem Täter ausging, die von islamistischen Schläfern im Land ausgeht, wurde dadurch nicht gesehen. Der Täter war jahrelang wegen seiner Gefährlichkeit in Haft, er war gerade erst fünf Tage frei – und dann begeht er einen Mord! Nach dem Anschlag von Anis Amri 2016 auf den Weihnachtsmarkt in Berlin haben sie Betonblöcke vor sämtliche Weihnachtsmärkte gestellt. Und was ist nach Dresden passiert? Gar nichts! Weil es ja zwei Schwule waren. Es betrifft uns aber alle! Es hätte jeden treffen können!

Welche Konsequenzen hätten Sie sich konkret gewünscht?

Ich erinnere mich an ein Interview der „Bild“-Zeitung mit einem Politiker, in dem er sinngemäß sagte, Politik und Behörden hätten alles richtig gemacht in Hinsicht auf den Täter und seine Überwachung. Und dann hat die „Bild“ eine richtig gute Frage gestellt: Wie hätte es denn ausgesehen, wenn Sie Fehler gemacht hätten? Ich meine, ein Mensch ist tot! Wie kann da alles richtig gewesen sein? Ich hätte mir alles in allem eine mutigere Berichterstattung gewünscht. Und dann hätte ich einen ge­­sellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei herumlaufen? Aber die Schwulen-Debatte hat den Blick darauf komplett verstellt.

Heute, in diesem Gespräch mit dem WEISSEN RING, äußern Sie sich erstmals öffentlich. Mit einer Ausnahme: Sie haben sich in die Diskussion um ein Mahnmal in Dresden eingeschaltet und in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Stadtrats ein Statement verlesen lassen, mit dem Sie die Mahnmal-Pläne ablehnen. Was haben Sie gegen ein Mahnmal?

Ich bin gegen den Plan, mit einem Mahnmal in Dresden an die „Opfer homophob und transphob motivierter Gewalt“ zu erinnern, weil das an der Sache vorbeigeht. Ich bin dafür, dass es ein Mahnmal gegen islamistischen Terror gibt. Aber das traut sich anscheinend niemand. Außerdem gibt es leider genug Menschen, die zum ­Beispiel jüdische Grabmäler oder Gedenkstätten schänden. Ich glaube, wenn so ein – wie ich finde – falsches Mahnmal in Dresden stünde, dann könnte das auch oft beschmiert oder verunstaltet werden. Und wenn ich dann gleichzeitig daran denken muss, dass Thomas an genau dieser Stelle gestorben ist, fände ich das un­­erträglich.

Sie sagten, dass die Tat kaum körperliche Folgen für Sie hatte. Hat die Tat Auswirkungen auf Ihr Alltagsleben? Zum Beispiel auf Ihr Verhalten in der Öffentlichkeit?

Nein. Ich gehe überall hin, ich schaue mich nicht ständig um. Ich bewege und verhalte mich ganz normal in der Öffentlichkeit. Mit einer Ausnahme: Ich fahre nie wieder nach Dresden. Dresden ist für mich die Stadt des Horrors.

Und doch sollten Sie gezwungen werden, bereits wenige Monate nach der Tat wieder nach Dresden zu fahren: Dort fand der Prozess gegen den Täter statt, und Sie sollten als Zeuge gehört werden. Wie haben Sie das empfunden?

Mir hat sich der Magen umgedreht, mir war schlecht. Der Sozialarbeiterin, die mich begleiten sollte, habe ich immer wieder gesagt: Ich kann da nicht hinfahren, ich kann nicht in Dresden übernachten! Es gibt vielleicht Betroffene, die haben das Bedürfnis, den Mörder zu sehen oder ihm etwas zu sagen. Ich habe das nicht, ich wollte nichts davon, ich wollte am liebsten nichts mit dem Prozess zu tun haben. Dann fand die Verhandlung auch noch im Hochsicherheitssaal in der Justizvollzugsanstalt statt, weil der Täter so gefährlich ist. Ich hatte Angst, dass der mich sieht. Ich hatte Angst, dass er vielleicht ein Netzwerk von islamistischen Attentätern hat. Ich habe gesagt: Wie kann es sein im deutschen Recht, dass ich in meiner Situation vor Ort aussagen muss? Aber der Angeklagte hat nun mal das Recht, alle Zeugen zu sehen und zu hören.

„Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.“

Oliver L.
Sie haben dann aber doch nicht vor Ort ausgesagt, sondern wurden live zugeschaltet in die Verhandlung.

Es hieß dann, ich könne vielleicht audiovisuell aus­sagen. Das ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Ich hätte dann nicht mit dem Täter in einen Raum sein ­müssen, aber ich sollte trotzdem nach Dresden kommen. Am Ende hatte ich das Glück, dass ich in Bonn aussagen konnte. Im Landgericht, in einem separaten Raum mit Bildschirm. Die Sozialarbeiterin, die mich unterstützt hat, eine empathische Frau, saß während der Aussage neben mir. Bevor die Verhandlung anfing, hat sich der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats mit mir unterhalten. Er hat mir die Angst genommen, weil er sagte, ich könne nichts Falsches sagen. Ich habe dann während der Aussage auch nur ihn und die Beisitzer gesehen. Mein Anwalt hat hinterher zu mir gesagt, er habe noch nie einen so empathischen Richter erlebt.

Sie loben den Richter, die Sozialarbeiterin – haben Sie weitere Hilfe von staatlicher Seite erlebt?

Ja, es gab Hilfe. Moment.

Oliver L. steht auf und geht in einen Nebenraum, zurück kommt er mit einer Pappschachtel voller Briefe. Er zieht einzelne Briefe aus der Schachtel: zuerst ein Schreiben einer Journalistin, das er nie beantwortet hat, dann das erste Kondolenzschreiben.

Hier, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen hat mir geschrieben, Herr Kretschmer. Der Minister­präsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet. Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, Herr Kuper. Das war das persönlichste Schreiben, fand ich. Er hat mir geschrieben, wenn es Ihre Gesundheit und die Corona-bedingte Lage zulässt, würde ich Sie gern einmal persönlich kennenlernen, ich solle ihm doch ein Signal geben.

Haben Sie sein Gesprächsangebot wahrgenommen?

Oliver L. schüttelt den Kopf. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Schachtel.

Der Bundespräsident hat mir geschrieben, Herr Steinmeier. Die Reaktion aus der Politik war da, und ich habe das als sehr positiv wahrgenommen.

Illustration: 3st kommunikation GmbH
Haben Sie auch Post von der Bundeskanzlerin bekommen, von Frau Merkel?

Nein. Und das fand ich unverschämt, ehrlich gesagt.

Der Staat unterstützt Verbrechensopfer bei Bedarf auch materiell, zum Beispiel mit Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. War Ihnen das vor der Tat bekannt?

Ich hätte nichts gewusst davon, wenn mir das keiner gesagt hätte. Warum sollst du dich auch damit beschäftigen, wenn du nicht betroffen bist? Ich hatte Hilfen, mein erster Kontakt damals war der WEISSE RING. Mein Anwalt hat mir auch sehr geholfen. Ich habe das gemacht, was mir von anderen empfohlen wurde. Ich selbst war komplett überfordert, ich fand alles so verwirrend. Ich habe die Unterschiede zwischen den verschiedenen Behörden nicht verstanden, ich wusste nicht, wo ich meine Anträge überhaupt stellen sollte. Von der Unfallkasse Sachsen habe ich dann sehr schnell Geld bekommen. Den Antrag beim LVR (Anm. der Redaktion: Landschaftsverband Rheinland, zuständig für Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz) hätte ich mir sparen können, da bin ich gegen eine Wand gelaufen. Ganz im Gegensatz zum Bundesamt für Justiz, von dem ich unbürokratisch sofort Hilfe bekommen habe und sehr gut betreut wurde. Der Opferschutzbeauftragte Pascal Kober hat sich sogar persönlich mit mir in Verbindung gesetzt.

Betroffene klagen immer wieder über belastende Verfahren und unsensible Behördenkommunikation. Wie haben Sie das empfunden?

Beim LVR als Katastrophe. Und ich bin da wirklich nicht empfindlich. Allein diese Kommunikationswege: Der LVR fragte mich etwas per Brief, ich antworte sofort per E-Mail, etliche Wochen später kommt dann wieder ein Brief, auf Umweltschutzpapier und vermutlich per Postkutsche zugestellt. Irgendwann bekam ich einen fröhlichen Anruf von der Sachbearbeiterin: „Herr L., Sie bekommen in Kürze Post von uns.“ Dann kam die Post: Alles wurde abgelehnt. Es geht mir nicht darum, dass ich kein Geld bekommen habe. Ich habe keine bleibenden Schäden davongetragen, da finde ich es gerechtfertigt, keine Rente zu bekommen. Aber beim LVR ­wissen sie nicht, wie man mit Opfern vernünftig kommuniziert. Mir tun die Menschen leid, die es psychisch und finanziell schwerer als ich haben.

Würden Sie Betroffenen davon abraten, einen Antrag auf Opferentschädigung zu stellen und sich dem damit verbundenen Verfahren auszusetzen?

Nein, auf keinen Fall. Wenn sie bleibende Schäden davongetragen haben, sind sie womöglich auf die Entschädigung angewiesen. Aber sie sollten sich Unterstützung suchen, allein kommen sie da nicht durch. Nein, gar nicht. Das ist meine Geschichte, das muss nicht immer wieder in die Öffentlichkeit. Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.