Der Zuhörer

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Sabine

Der Zuhörer

Jörg Beck, langjähriger Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, starb am 22. Februar im Alter von 79 Jahren. Bei seiner Familie und Freunden war er bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz für Opfer.

Jörg Beck war Berufssoldat und begann kurz nach seiner Pensionierung, beim WEISSEN RING zu arbeiten. Er starb im Alter von 79 Jahren.

Jörg Beck diente fast sein ganzes Leben den Menschen: erst als Berufsoffizier bei der Bundeswehr und dann beim WEISSEN RING. „Es war ihm wichtig, sich für Opfer einzusetzen und etwas zu bewegen“, sagt seine Frau Florentine Beck. Ihr Mann starb an ihrem 52. Hochzeitstag, am 22. Februar, um 22.22 Uhr. „Ich glaube nicht an irgendeine Bedeutung, aber die Zahlenkombination fasziniert mich trotzdem.“

„Es war ihm wichtig, sich für Opfer einzusetzen und etwas zu bewegen.“

Jörg Becks Witwe Florentine

Als pensionierter Soldat fing Jörg Beck mit 60 Jahren beim WEISSEN RING an, zunächst als Mitarbeiter der Außenstelle Bonn, später als deren Leiter. 2010 wurde er zum Landesvorsitzenden NRW/Rheinland gewählt. Der ehrenamtliche Mitarbeiter aus der Außenstelle Euskirchen, Rudi Esch, kann sich noch gut an ihn erinnern: „Er war 24/7 WEISSER-RINGler. Man konnte ihn immer erreichen“, sagt Esch. Er betont mehrfach, wie gut Beck zugehört habe. Und wie einfühlsam er gewesen sei.

Gerald Fack traf Jörg Beck das erste Mal 1977 in der Offizierschule. „Er war später im Personalwesen der Bundeswehr tätig – schon damals kümmerte er sich um Menschen“, sagt Fack. In den 2000er-Jahren trafen sich ihre Wege erneut, nun beim WEISSEN RING. Er beschreibt Jörg Beck als ausgesprochen pflichtbewusst, ob als Soldat oder im Verein.

Eine Erinnerung an die Zeit beim WEISSEN RING steht auf Becks Schreibtisch: ein Foto mit dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Beck traf ihn 2015 beim Neujahrsempfang. „Er hatte sich sehr über die Einladung gefreut, auch für den WEISSEN RING“, erinnert sich seine Frau. Für ihn war die Arbeit im Verein sein zweiter Beruf. Der Gedanke an das Foto bringt Florentine Beck zum Schmunzeln, denn auf dem Bild sieht es aufgrund der Handbewegungen so aus, als würden Beck und Gauck Händchen halten. „Darüber musste er lachen“, erinnert sie sich.

Im Jahr 2014 wollte Beck nicht erneut als Landesvorsitzender kandidieren. „Ich sah, dass es ihm nicht gut geht, und habe ihm davon abgeraten“, sagt seine Frau. Sie kannte ihren Mann und behielt leider recht. Vier Jahre später kam die Diagnose: Parkinson. Jetzt ist Jörg Beck im Alter von 79 Jahren gestorben. Er hinterlässt drei Kinder und neun Enkelkinder.

Die Pionierin

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Sabine

Die Pionierin

Ursula Schott gehörte zu den ersten 23 Telefon-Beraterinnen des WEISSEN RINGS. Nach 15 Jahren hört sie jetzt als letzte aus der Anfangszeit auf. Im Interview blickt Schott auf bewegende Telefonate und überraschende Wendungen zurück.

Ursula Schott gehörte zu den ersten Telefon-Beraterinnen des WEISSEN RINGS. In 15 Jahren half sie in mehr als 780 Diensten Tausenden Menschen durch eine schwere Zeit.

Mit ihrem letzten Dienst am Neujahrstag ist für den weissen ring eine kleine Ära zu Ende gegangen. 15 Jahre arbeitete Ursula Schott ehrenamtlich für das Opfer-Telefon des Vereins; 2009 gehörte sie zu den ersten 23 Opferhelferinnen und -helfern, die sich für das neue Beratungsangebot engagierten.

Ein Chip für die Räumlichkeiten, eine Namenskarte und das aus der Zeit gefallene Nokia-Smartphone, das von manchen scherzhaft als „Hundeknochen“ bezeichnet wird, aber immerhin schon eine Kamera mit drei Megapixeln Auflösung hat: Mehr benötigte Schott nicht, um eineinhalb Jahrzehnte lang Menschen in schwierigen Situationen zu helfen. Kürzlich ist sie in die Bundesgeschäftsstelle des weissen rings in Mainz gekommen, um „ihre“ Werkzeuge zurückzubringen. Nicht fehlen darf natürlich die „Bestätigung der datenschutzkonformen Entsorgung von Dokumenten“, so viel Ordnung muss sein.

Außerdem möchte Ursula Schott sich von den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Zentralen Ehrenamtlichen Dienste (ZED) des weissen rings verabschieden. Schott hat ihnen kleine Tüten mitgebracht. Darin: Ein Teelicht, Schokolade, ein Sechs-Kräuter-Tee und ein Rezept, wie diese Zutaten für die „Zeit für Dich“ kombiniert werden sollen. Mit welchen Gefühlen Schott hergekommen sei, fragt eine Mitarbeiterin. „Das eine Auge weint ein bisschen mehr“, antwortet die 70-Jährige. Im Gespräch mit unserer Redaktion blickt Schott auf eine bewegte Zeit zurück. Sie hat sich vorbereitet und zieht einen DIN-A4-Zettel voller Notizen aus der Handtasche, es soll ja alles stimmen, was sie erzählt. Brauchen wird sie das Papier aber nicht.

Telefonieren Sie eigentlich privat gern, Frau Schott?

Ja! (Sie lacht.)

Das war ein sehr deutliches „Ja!“.

Auch in meiner beruflichen Karriere als Bankkauffrau habe ich absolut gern telefoniert. Das gehört für mich dazu.

Haben Sie mal nachgerechnet, wie viele Dienste Sie in den vergangenen 15 Jahren am Opfer-Telefon besetzt haben?

Nein, aber das kann man einfach ausrechnen, weil ich in all der Zeit kaum Urlaub gemacht habe. 15 mal 52, dann haben Sie es fast.

In der Summe sind es um die 780 Dienste, eher etwas mehr, vermutet Schott.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Telefonat? Wie ging es Ihnen dabei?

Ich bin da ganz cool an die Sache gegangen. Ich bin eigentlich zum Opfer-Telefon gekommen, weil ich gedacht habe: Die Armen, die finden ja keine Leute! (Sie lacht.)

Schott erzählt, wie ihr Ende 2008 eine Stellenanzeige in der lokalen Zeitung auffiel. Damals suchte der weisse ring aus organisatorischen Gründen gezielt rund um Mainz nach Ehrenamtlichen. Zwei Wochen später erschien das Inserat erneut. Bevor sich niemand findet, sagte sich Schott, mache ich es selbst.

Während meines ersten Telefonats war eine Frau am Telefon, die nach einer Betriebsfeier von ihrem Chef heimgefahren und dabei von ihm belästigt wurde. Sie konnte sich zwar irgendwie aus der Situation befreien, aber es ging ihr sehr schlecht, sie wusste nicht, wie sie sich am nächsten Arbeitstag verhalten sollte. Wir haben sehr lange geredet, das hat ihr offenbar geholfen, sie war später beruhigt. Da dachte ich: Das fängt ja gut an.

2009

Im Jahr 2009 hat der WEISSE RING das Opfer-Telefon eingeführt. Von Beginn an war die heute 70-jährige Ursula Schott aus Mainz dabei.

Wie oft kommt es vor, dass Menschen beim Opfer-Telefon anrufen, die einfach nur ein offenes Ohr suchen?

Das passiert nicht so oft, vielleicht in einem von 20 Fällen. Ich denke da immer an eine Frau, die sagte, sie habe genug Geld und brauche keine materielle Hilfe. Aber ihr sei etwas passiert, wofür sie sich sehr schäme, worüber sie mit jemanden reden müsse. Mit ihren Freundinnen gehe das nicht. Die Frau hatte an einem Geldautomaten 3.000 Euro abgehoben. Als sie mit dem Fahrrad zurückfuhr, saß am Straßenrand eine junge Frau, die bitterlich weinte. Sie stieg ab und fragte: „Was ist denn los?“ In einem Café ließ sie sich eine traurige Geschichte erzählen, vom kranken Vater, der dringend Geld für eine Behandlung benötige. Die Anruferin war so gerührt, dass sie der Frau ihre gerade erst abgehobenen 3.000 Euro schenkte. Sie freute sich sehr, dass sie etwas Gutes tun konnte. Stutzig wurde sie erst, als die junge Frau fragte, ob sie morgen wiederkommen könnte, sie bräuchte noch mehr Geld. Da wusste sie, dass es Betrug war.

Das klingt nach: zur falschen Zeit am falschen Ort.

Ich nehme an, dass sie beim Geldabheben beobachtet wurde. Und dann standen die parat. Die Anruferin hat mich darum gebeten, dass wir andere Menschen vor dieser Masche warnen mögen, damit nicht noch mehr darauf hineinfallen.

In den vergangenen Jahren hat unsere Redaktion in den sozialen Medien vermehrt Kommentare oder Nachrichten von Menschen erhalten, die zum Beispiel davon überzeugt sind, sie oder ihre Haustiere würden von feindlichen Mächten mit Mikrowellen bestrahlt. Haben Sie am Opfer-Telefon Ähnliches gehört?

Ja, solche Fälle gibt es, oft waren die Betroffenen vorher schon bei der Polizei oder anderen Anlaufstellen, bevor sie sich bei uns melden. Mein Ratschlag war dann oft: Wissen Sie was? Gehen Sie doch mal zu Ihrem Hausarzt und lassen Sie sich bestätigen, dass Sie gesund sind und alles stimmt, was Sie da erleben. Und dann muss die Polizei der Sache auch nachgehen.

Eine gute Lösung.

Ja, es gibt aber auch Fälle mit überraschenden Wendungen: Eine ältere Dame war sicher, dass jemand die Sachen in ihrer Wohnung durchwühlt. Die Schwiegertochter dachte an eine beginnende Demenz, ihr Mann aber sagte: „Meine Mutter nicht“. Das ging immer so weiter, bis sie das Türschloss tauschten. Doch am nächsten Tag war die Frau wieder überzeugt, dass jemand in der Wohnung gewesen ist. Also installierte der Sohn eine kleine Kamera mit Bewegungsmelder. Und siehe da, kaum war die Mutter aus der Tür, kam die Nachbarin herein, die immer einen Schlüssel hatte. Sie durchwühlte Schränke und Schubladen, offenbar war sie sehr neugierig. Solche Fälle gibt es eben auch, deshalb nehmen wir alle ernst.

„Ich bin da ganz cool an die Sache gegangen. Ich bin zum Opfertelefon gekommen, weil ich gedacht habe: Die Armen, die finden ja keine Leute!“<br />

Ursula Schott

Gibt es Delikte, die in den vergangenen 15 Jahren am Opfer- Telefon deutlich zugenommen haben?

Mir ist aufgefallen, dass häusliche Gewalt ein viel größeres Thema geworden ist mit der Zeit. Aber das liegt wahrscheinlich auch daran, dass viel mehr darüber gesprochen wird, auch in der Öffentlichkeit. Ähnlich ist es mit Stalking – wie oft ich in den letzten Jahren die NoStalk-App des WEISSEN RINGS empfohlen habe, Wahnsinn. Mord und Totschlag kommt auch immer mal vor. Oder dass Opfer sogar drauf hinweisen, wo man ihre Geschichte in der Zeitung nachlesen kann. Wenn es passte, habe ich nebenbei im Internet recherchiert und konnte dann sehen: Ja, es gibt wirklich so einen Fall.

Es ist für viele Menschen nicht leicht, sich Unbekannten anzuvertrauen. Wie sprechen die Leute Sie an?

Dass sich jemand meldet und sagt, einem „Freund“ sei etwas passiert, habe ich weniger erlebt. Aber viele tun sich schwer und sagen: „Ich weiß gar nicht, ob ich richtig bei Ihnen bin“. Oder: „Mir geht es nicht gut“. Wenn man ihnen ruhig sagt: „Lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie, was Sie sagen möchten“, dann läuft es auf einmal.

Die Gespräche sind ja sicher nicht immer leicht. Wie gehen Sie nach einem Dienst damit um?

Nach dem Dienst muss man schauen: Wie geht es einem, ist alles in Ordnung? Da habe ich aber eigentlich nie Probleme gehabt. Viele Kolleginnen und Kollegen machen zum Ausgleich Sport oder gehen spazieren, duschen oder ziehen sich einfach nur um. Und natürlich reden wir untereinander.

265.000

Insgesamt haben die ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen am Opfer-Telefon bis heute mehr als 265.000 Gespräche geführt, allein 2024 waren es rund 22.000.

Wie ist denn generell der Austausch untereinander? Am Telefon sind Sie im Grunde auf sich allein gestellt.

Wir treffen uns monatlich als Team, die Themen wechseln: Einen Monat gibt es ein Mitarbeitertreffen, bei dem viel über Organisatorisches gesprochen wird, im darauffolgenden Monat eine Supervision mit einem Psychologen. Seit der Corona-Pandemie ist das alles digital geworden, vor Ort treffen wir uns seltener. Was mir besonders gut gefällt, sind die regelmäßigen Vorträge. Da ging es um viele Themen, von Männergewaltschutz bis zur Arbeit im Frauenhaus.

Wenn Sie die Arbeit am Telefon in zwei, drei Sätzen zusammenfassen: Was war das Schönste für Sie?

Das Schönste ist, wenn ein Opfer anschließend sagt: „Mir geht es besser“. Oder: „Vielen Dank, das tat gut“.

Warum haben Sie aufgehört nach 15 Jahren?

Ich habe plötzlich das Gefühl, es ist genug. Ich war ja die Einzige, die noch aus der 23-köpfigen Start-Gruppe übriggeblieben ist. Jetzt dürfen Jüngere nachkommen.

116006

Durchschnittlich kommen die Beraterinnen und Berater je Schicht auf drei bis zehn Telefonate. Die durchschnittliche Gesprächsdauer beträgt neun Minuten. Das Angebot mit der Telefonnummer 116006 ist kostenfrei.

Was werden Sie vermissen am Telefon?

Vermissen werde ich vor allem die Menschen drumherum, die Hauptamtlichen genauso wie die Ehrenamtlichen, mit denen man sich immer wieder mal trifft.

Wir haben vorhin über Ihr erstes Telefonat gesprochen. Wie war Ihr letztes Telefonat für den WEISSEN RING?

Das ist eine witzige Geschichte: Ich hatte am ersten Weihnachtsfeiertag meinen vorletzten Dienst und dann am Neujahrstag um 7 Uhr am Morgen den letzten. Und es kam kein Anruf. Das habe ich in 15 Jahren nicht erlebt. Aber ist ja logisch, die Leute haben noch geschlafen, und ich saß da ganz wehmütig mit einem Tränchen in den Augen.

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Erstellt am: Freitag, 14. Februar 2025 von Sabine

München trauert um die Opfer des Anschlags. Foto: dpa

Datum: 14.02.2025

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an.

München/Mainz – Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite. Ich möchte alle Menschen, die Unterstützung brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden“, sagt Dr. Helgard van Hüllen, eine der amtierenden Landesvorsitzenden des WEISSEN RINGS Bayern Süd. „Diese Tat ist schrecklich und abscheulich, ich habe dafür keine Worte.“

Hilfesuchende können sich über die Rufnummer des Landesbüros Bayern Süd unter 09078/89494 an den WEISSEN RING wenden.

„Unser Angebot gilt nicht nur für Verletzte, sondern auch für Angehörige, für Zeuginnen und Zeugen, für Helferinnen und Helfer sowie für Einsatzkräfte vor Ort“, sagt Helgard van Hüllen. „So wichtig die politischen Diskussionen über den Fahrer und seine möglichen Motive auch sind: Zuerst müssen wir an die Opfer denken. Sie müssen wissen, wohin sie sich mit ihren Bedürfnissen und Fragen hinwenden können.“ Die amtierende Landesvorsitzende fügt außerdem hinzu: „Manche Betroffene merken vielleicht auch erst später, dass sie im Alltag das Erlebte nicht vergessen können. Auch diese Menschen möchte ich bestärken, sich Hilfe zu holen.“

"Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite."

Dr. Helgard van Hüllen

Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, ihnen Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Am Donnerstagmorgen gegen 10.30 Uhr ist ein 24-jähriger Mann mit dem Auto in eine Menschenmenge in der Münchner Innenstadt gefahren. Es handelte sich dabei um eine Verdi-Demonstration. Laut Polizei sind dabei mehr als 30 Menschen verletzt worden, zwei davon schwerverletzt, darunter ein Kind. (Stand 14.02.2025, 12 Uhr)

Der Kümmerer

Erstellt am: Donnerstag, 10. Dezember 2020 von Sabine

Der Kümmerer

Schnelle, unbürokratische Hilfe leisten – das ist es, was Herbert Weber vor mehr als 40 Jahren wollte, als er als Ehrenamtlicher zum WEISSEN RING kam. Über seine Erfahrungen könnte er Bücher schreiben, sagt er.

Herbert Weber, ehrenamtlicher Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, Foto: Tobias Großekemper

Damals, 1978, als ein Pole namens Karol Wojtyla in Rom zu Johannes Paul II. wurde, was hier nur wichtig ist, um zu verstehen, wie lange das jetzt schon wieder her ist, machte sich Herbert Weber aus Bochum auf seinen ersten Weg, um an fremden Haustüren zu schellen. Er wollte damals etwas bringen, was so noch keiner kannte, weil es das bis dahin noch nicht gab: Hilfe, schnell und unbürokratisch.

„Es kam“, sagt Weber, den man schnell Herbert nennen darf, wir sind hier im Ruhrpott, „öfter vor, dass die Menschen dachten, ich wollte ihnen eine Versicherung verkaufen.“ Wenn es Wüstenrot gibt, warum sollte da ein WEISSER RING nicht auch versichern wollen? Kannte ja kaum jemand, ach was, eigentlich überhaupt niemand diese Organisation.

Heute, im Frühherbst 2020, sitzt Weber in seinem Wohnzimmer am Rand der Bochumer Innenstadt. Aufgeräumt, der Rücken gerade. Seinem Gegenüber zugewandt, die Stimme tief und ein Blick, der etwas ausstrahlt: Hier sitzt jemand, der mit seinen 73 Jahren erstens schon einiges gesehen hat und somit schwer zu überraschen ist. Und dem man zweitens ein X nicht für ein U verkaufen kann.

„Da machste mit“

Eigenschaften, die Weber damals mit Sicherheit halfen, klarzumachen, dass er nicht von einer Versicherung kam. Was natürlich auch geholfen haben wird, war die Tatsache, dass Weber Polizist war. Aber auch nicht immer. Einmal zeigte er zur Legitimation seinen Dienstausweis, auf dem Foto hatte er aber, anders als in dem Moment, keinen Schnäuzer. Was zu Fragen führte. Aber auch das bekam Weber hin.

Zum RING kam Weber an einem Samstag. Zusammen mit seiner Frau ging er durch die Innenstadt, da sah er einen Kollegen aus dem Präsidium an einem Infostand stehen. WEISSER RING, das hatte auch Weber bis dahin noch nie gehört, aber die Idee dahinter, die fand er gut: „Als Polizist, das ist ja kein Geheimnis, konnte man den Opfern nicht so gut helfen, wie man das eigentlich wollte.“ Es gab Situationen, da sammelten die Kollegen mal für ein Taxi, wenn eine Frau nicht wusste, wie sie nach Hause kommen sollte – aber ausgereift war das nun wirklich nicht und hier, an diesem Infostand, war Weber schnell klar: „Da machste mit.“

Weber (links) gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Präsidium Bochum in seinen Anfangsjahren beim WEISSEN RING ∙ Foto: privat

Trotz einer Ehe, den zwei Töchtern und einem beruflichen Leben als Dienstgruppenführer. Was Weber damals nicht wusste, heute aber gelassen aussprechen kann: „Der WEISSE RING ist ganz schön fordernd.“ Die Familie habe gelitten, die Töchter seien manches Mal zu kurz gekommen, und „wenn ich damals gewusst hätte, was da auf uns zukommt, hätte ich es nicht gemacht.“ Sagt Weber in seinem Wohnzimmer.

„Und diese Freude dann, dieses Strahlen in den Augen – das werde ich nie vergessen.“

Herbert Weber über seinen ersten Fall

Jetzt war er dabei, und nach einem ersten Treffen in einer Privatwohnung, sechs, vielleicht sieben Leute waren dort, fuhr Weber dann zu seinem ersten Fall als ehrenamtlicher Mitarbeiter. Bottrop, westlicher Rand des Ruhrgebiets, „damals war die Region noch ein weißer Fleck für den RING, wir bearbeiteten damals aus Bochum den Kreis Recklinghausen mit, dazu Gelsenkirchen, Herne, Witten und Bottrop.“ Für Menschen, die das Ruhrgebiet nicht kennen, mag das alles eins sein, aber sie unterschätzen dann schlicht, wie groß dieser Ballungsraum tatsächlich ist.

Bottrop also, Weber fuhr mit einem Ingenieur mit, der ebenfalls beim RING war. Missbrauch einer 15-Jährigen durch den nicht mehr in der Familie lebenden Vater. „Das Mädchen hat sich damals nichts sehnlicher als ein Fahrrad gewünscht, und wir haben das geholt. Das Mädchen hat dann gleich eine Probefahrt gemacht, und diese Freude dann, dieses Strahlen in den Augen – das werde ich nie vergessen. Auch weil es mein erster Fall war.“

Wer Weber nach den Fällen fragt, die er so betreute, bekommt ein Schulterzucken und die Antwort, dass er darüber Bücher schreiben könnte. Ihm half es, Polizist zu sein, „da kannte ich ja so einiges“. Aber nicht nur, denn als Polizist ist man kritisch von Berufs wegen, hinterfragt, zweifelt: Stimmt das alles so, wie es einem gesagt wird? Als RING-Mitarbeiter musste Weber etwas anderes erst noch lernen: „Du bist für das Opfer da, immer und nur. Was das Opfer will, dafür musst du einstehen.“

Eine wesentliche Erkenntnis

Wenn Weber über seine Fälle Bücher schreiben könnte, wäre das über Opfer vermutlich eine Enzyklopädie – so sprudelt es aus dem ehemaligen Beamten heraus, wenn dieses Thema zur Sprache kommt. Opfer seien in Ausnahmesituationen, von jetzt auf gleich an Leib und Seele geschädigt, wie sollen die denn, fragt Weber dann auch nur rhetorisch, rational denken, selbstständig handeln, eigeninitiativ Anträge stellen, sich schlicht nur wehren? Im Laufe der nächsten Minuten kommen Sätze aus Weber heraus, die man, wenn nicht in Stein meißeln, so doch hinter diverse Ohren schreiben sollte.

Zum Beispiel: „Wir, die Mitarbeiter, sind die ersten Therapeuten, die vor Ort sind, die als erste Fremde zuhören, die uneigennützig Hilfe anbieten.“

Oder auch: „Der WEISSE RING stellt die Sozialarbeiter für die Opfer, was ja eigentlich der Staat machen müsste – da der es nicht tut, müssen wir da sein.“ Die wesentliche Erkenntnis, „und das sage ich nicht als Therapeut, ich bin ja keiner“, ist, wie verheerend Missbrauch in Kinder- und Jugendzeiten ein Leben auf lange Sicht beeinflussen kann. Wie also erwachsene Männer weinend dasitzen und erst irgendwann verstehen, dass ihr arbeitsreiches Leben, das nach außen hin wie ein Erfolg aussah, letztlich eine einzige Flucht vor den Ereignissen aus Kindertagen war. Überhaupt, die Sicht auf jeden einzelnen Fall und jedes einzelne Opfer. Eine Sicht, die anerkennt, dass die Menschen verschieden und Sätze wie „Jetzt muss es aber auch mal langsam gut sein!“ nichts sind. Nichts als dumme Sprüche. Und wie andererseits er, Weber, erkannt hat, dass sich viele Wunden nicht schnell schließen lassen. „Aber irgendwann kann man gemeinsam wieder etwas Land sehen. Oder ein Lächeln.“ Kurzes Schweigen. „Und dann geht dir das Herz auf.“

„Wir vor Ort wissen doch am besten, was gebraucht wird.“

Nicht nur goldene Momente

Es gab nicht nur die goldenen Momente, die Belastung nahm zu, am Anfang, wenn Weber manchmal nach der Nachtschicht gemeinsam mit einem Kollegen zu einem Fall fuhr. Dann sehr schnell dadurch, dass Weber Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS wurde, dazu die Öffentlichkeitsarbeit am Wochenende mit einem selbstgezimmerten Infostand, viel Überzeugungsarbeit und gelegentlicher Spendenakquise. Opfer riefen daheim an, dann wurde ein Anrufbeantworter angeschafft. „Das war“, sagt Weber, „einfach ziemlich viel damals.“ 1997 hörte Weber als Außenstellenleiter auf, nach seiner Pensionierung dann übernahm er wieder Fälle, was er heute noch tut. „Nicht zu viele, unsere Außenstellenleiterin teilt das klug ein.“

Heute ist der WEISSE RING größer als damals in den Anfängen, als zu Mitgliederversammlungen noch per Aufruf in der Mitgliederzeitschrift eingeladen und dann abends in Mainz gemeinsam im Hotelzimmer gesessen wurde. Eduard Zimmermann, Polizeipräsidenten und dazwischen Herbert Weber. „Da konnte ich, der Kommissar, einfach erzählen, was mir durch den Kopf ging.“ Wieder ein kurzes Schweigen, dann: „Da war natürlich auch Bauchpinselei im Spiel.“ Lächeln. Vergangenheit. Die ist ja eh immer goldener als die Gegenwart, erst recht als die Zukunft, aber Weber ist nun weiß Gott schon lang genug dabei, um eine fundierte Meinung zu haben.

Die Bürokratie wächst

Also, was ist heute? Heute ist Weber froh, dass es den WEISSEN RING gibt. „Gut, dass der Zimmermann den damals gegründet hat, die Gesellschaft braucht die große Organisation, die sie heute ist, sie bringt und gibt der Gesellschaft etwas.“ Aber? „Weißt du, damals hat mich beim WEISSEN RING sofort überzeugt, dass wir schnell und unbürokratisch helfen konnten.“ Früher, sagt er, sei es einfacher gewesen, bei den Opfern etwas für die Seele zu tun, eine Waschmaschine zu kaufen oder eine Wochenendfahrt zu organisieren. Irgendetwas, das hilft. „Wir vor Ort wissen doch am besten, was gebraucht wird.“ Doch es hilft nichts, die Organisation wuchs, mit ihr die Verantwortung und die Verwaltung, die Bürokratie. Wenn man so will, fehlt Herbert Weber vielleicht ein wenig die Leichtigkeit des Anfangs. „Wir sind halt groß geworden.“

In diesem Großwerden, das Weber jetzt mehr als 40 Jahre erlebt hat, hat er, auch das muss geschrieben werden, zwar viel gegeben – aber auch bekommen. „Was ich allein an Leuten kennengelernt habe, wie das meinen Horizont erweitert hat.“ Im Opferentschädigungsgesetz könnte er einen Anwalt ersetzen, geschult hat er, organisiert und gemacht. Und damit das erhalten, was jeden Menschen antreibt: das Gefühl, gebraucht zu werden, für andere notwendig zu sein.

„Herbert?“
„Ja?“
„Du hattest am Anfang des Gespräches erwähnt, dass du, wenn du gewusst hättest, was auf dich zukam, es gelassen hättest.“
„Ja?“
„Ich glaub dir das nicht.“
Schweigen. Lächeln. Dann: „Wenn heute damals wäre und ich wieder durch die Innenstadt gehen würde und da wäre dieser Stand – ich würde wieder anfangen. Es war einfach notwendig.“