„Im Netzwerk der Vergewaltiger“

Erstellt am: Freitag, 14. März 2025 von Sabine
Das Logo des Journalisten-Teams Strg_F ist zu sehen, dazu der Titel der aktuellen Reportage "Im Vergewaltiger-Netzwerk". Dazu ist ein Screenshot eingeblendet von einem abfotografierten Zettel, auf dem ein Telegram-Konto aufgeschrieben ist für wahrscheinlich interessierte Vergewaltiger.

GUCKEN

„Im Netzwerk der Vergewaltiger“

STRG_F auf YouTube

Wer dachte, dass der Fall Gisèle Pelicot ein grausames Einzelschicksal ist, sollte sich die Reportage „Im Netzwerk der Vergewaltiger“ von STRG_F ansehen.

Beeindruckend zeigen die Reporterinnen Isabell Beer und Isabel Ströh, dass sich auf Telegram ein internationales Netzwerk findet, „in dem sich Nutzer über Vergewaltigungen an bewusstlosen Frauen austauschen, sie offenbar planen und Aufnahmen des Missbrauchs teilen“. Mit einem Einladungslink treten die Journalistinnen erst einer, dann mehreren Gruppen bei und finden ein Ausmaß an Grausamkeit und Auskunftsfreudigkeit, das selbst die erfahrenen Reporterinnen überrascht.

Der Film zeigt, mit welchen perfiden Mitteln Männer ihre Frauen betäuben, und betrachtet auch die juristische Seite dieses Phänomens. Zu guter Letzt geht er außerdem auf den prominentesten Fall dieser Art ein: den Fall Gisèle Pelicot.

Der Film bringt etwas Unglaubliches ans Tageslicht, das bisher in nicht gekanntem Ausmaß im Dunkel der vermeintlichen Anonymität existieren konnte.

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Erstellt am: Freitag, 14. März 2025 von Sabine

Datum: 14.03.2025

Keine Einsparungen auf Kosten der Betroffenen von sexualisierter Gewalt!

Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems.

Mainz – Seit 2013 ist das Ergänzende Hilfesystem (EHS) und damit auch der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) eine zentrale Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und unverzichtbarer Bestandteil des Unterstützungssystems. Laut „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ der Bundesregierung wird das EHS und damit auch der FSM nach dem 31.12.2028 nicht fortgeführt. Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt sind dann nur noch bis 31.08.2025 möglich und Bewilligungen können nur bis zum 31.12.2025 erteilt werden. Faktisch erfolgt damit die Einstellung von EHS und FSM, die verheerende Folgen für Betroffene hat.

Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen e.V. info@bag-forsa.de
www.bag-forsa.de
Tel: 0711–85 70 68

Das kritisieren BAG FORSA, bff, BKSF, DGfPI und WEISSER RING: Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, die Richtlinien für den FSM entsprechend anzupassen und eine nachhaltige Lösung sicherzustellen, um Betroffene weiterhin angemessen zu unterstützen. Eine ersatzlose Einstellung des Fonds darf es nicht geben.

Konkret fordern wir die Bundesregierung auf:

Bundeskoordinierung
Spezialisierter Fachberatung
gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend
info@bundeskoordinierung.de
www.bundeskoordinierung.de
Tel: 030-8891 6866
  • Die „Richtlinie für die Gewährung von Hilfen des Bundes für Betroffene sexueller Gewalt“ muss sofort und grundsätzlich geändert werden.
  • Die Frist 31.08.2025 für die Antragsstellung (Erstantrag) muss umgehend aufgehoben werden.
  • Es muss sichergestellt werden, dass bei einem voraussichtlich hohen Aufkommen von Erstanträgen ausreichend finanzielle Mittel für die Bearbeitung und Bewilligung dieser vorhanden sind.
  • Solange es keine adäquaten Alternativen zur niedrigschwelligen Unterstützung Betroffener sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend gibt, muss der Fonds unbedingt fortgeführt werden. Vor der Einstellung muss zunächst sichergestellt sein, dass ein alternatives System für den Fonds funktioniert.
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.
info@bv-bff.de
www.frauen-gegen-gewalt.de
Tel: 030-32299500

Das niedrigschwellige EHS gewährleistet die tatsächliche Unterstützung von Betroffenen. Im Gegensatz zu dem im Jahr 2024 in Kraft getretenen neuen Sozialen Entschädigungsrecht (SGB XIV), das in der Praxis schwer zugänglich ist und mit bürokratischen Hürden eine unüberwindbare Belastung darstellen kann. Insbesondere für Menschen, die über das gesetzliche Leistungssystem bislang Ablehnungen erhalten haben, trägt diese bedeutende Form der Anerkennung entscheidend zur Linderung des Leids bei. Die Möglichkeit individueller, anhand tatsächlicher Bedürfnisse fortentwickelten Hilfeleistungen wird von Betroffenen häufig in Anspruch genommen. 2023 hat sich das Aufkommen von Erstanträgen erneut gesteigert (21 Prozent) und zeigt den ungebrochen hohen Bedarf. Daher ist es dringend erforderlich, das EHS als ergänzende niedrigschwellige Hilfe aufrechtzuerhalten. [Fonds Sexueller Missbrauch – Jahresbericht 2023]

Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention
bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e.V.
info@dgfpi.de
www.dgfpi.de
Tel:  0211 – 497 680-0 

Solange der Staat es nicht schafft, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen, muss er zumindest eine wirksame und funktionierende Unterstützung aufrechterhalten. Wir rechnen zudem mit weiteren Problemen durch ein absehbar hohes Aufkommen von Anträgen. Für die Bewilligung von Anträgen muss Geld im Haushalt eingestellt sein. Wenn diese Gelder aufgebraucht sind, muss gewährleistet werden, dass dennoch weitere Anträge bewilligt werden können und entsprechende Mittel dafür eingestellt werden. Berechtigt besteht ein Grund zur Annahme, dass die Bewilligung von Anträgen bereits vor dem 31.08.2025 eingestellt wird und dadurch vielen Betroffenen zentrale Unterstützungsleistungen verwehrt werden.

Die Mission von Gisèle Pelicot

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Sabine

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ – dieser entschlossene Satz von Gisèle Pelicot hat sich zu einem Kampfruf entwickelt. Er prangt auf Schildern vor Gerichtssälen, mahnt auf Graffiti in den Straßen französischer Städte und geht als Hashtag in den sozialen Medien viral. Der Prozess gegen die Vergewaltiger Pelicots in Frankreich hat weltweit die Aufmerksamkeit auf die Situation der Betroffenen gelenkt. Beim Opfer-Telefon des WEISSEN RINGS meldeten sich nach Beginn der Verhandlung in Avignon vermehrt Betroffene von Sexualstraftaten. Hat die Scham bereits die Seite gewechselt, kann sie es überhaupt? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben.

Gisèle Pelicot steht seitlich und hat den Kopf direkt zum Publikum gedreht. Das Bild ist rötlich gefärbt und eine ausgestreckte Hand ist leicht zu erkennen.

Nach der Urteilsverkündung wendet sich Gisèle Pelicot an andere Betroffene. „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen“, sagt sie.

Der Kontrast zwischen dem Auftreten des Opfers und der Angeklagten könnte kaum größer sein. Gisèle Pelicot schreitet aufrecht und ruhig zum Gerichtsgebäude, flankiert von ihren Anwälten und ihrer Familie, begleitet von Kameras. Der Weg ist gesäumt von Frauen und Männern, die der 72-jährigen Französin applaudieren und ihr Dankesworte zurufen. Sie antwortet mit einem Lächeln und einem leisen „Merci“.

Die Angeklagten, die nicht in Untersuchungshaft sitzen, haben die Kapuzen ihrer Jacken und Pullover ins Gesicht gezogen. Alle tragen Schutzmasken, einige auch Handschuhe. So schnell wie möglich eilen sie an den Kameras und Zuschauern vorbei, betreten den Gerichtssaal und entfernen ihre Kapuzen und Masken erst, als die Richter den Saal betreten. Die Angeklagten in Untersuchungshaft werden an einem abgeschirmten Seiteneingang vorgefahren und huschen durch ein Spalier von Polizisten ins Gericht. Bloß nicht gesehen werden – Scham entsteht durch den direkten oder vorgestellten Blick anderer Menschen auf die eigene Person.

Gisèle Pelicot hat die Täter ins Licht gezogen und die Belastung eines Gerichtsprozesses auf sich genommen. Später, unmittelbar nach der Urteilsverkündung, wird sie sich an die Betroffenen wenden, die nicht den Weg in die Öffentlichkeit gehen, deren Geschichten im Dunkeln bleiben: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen.“

Der Fall Pelicot

Die heute 72-jährige Gisèle Pelicot wurde von ihrem damaligen Ehemann Dominique jahrelang regelmäßig mit
Schlafmitteln betäubt und von ihm sowie von Fremden vergewaltigt. Er filmte die Taten. Ende Dezember 2024 wurde Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt. Neben ihm wurden 50 weitere Männer für schuldig befunden und zu Strafen zwischen drei und 15 Jahren Haft verurteilt. Die Verbrechen wurden aufgedeckt, nachdem Dominique Pelicot in einem Supermarkt dabei erwischt worden war, wie er mit seinem Handy unter die Röcke von Kundinnen filmte. Im Rahmen der Ermittlungen fand die Polizei Videos und Fotos von den Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot.

Kapitel I
Die Scham der Opfer

Anette Diehl ist Trauma-Fachberaterin des Frauennotrufs in Mainz, sie berät und begleitet Frauen und Mädchen schon seit fast 40 Jahren. „Man kann Gisèle Pelicot gar nicht genug dafür danken, was sie getan und gesagt hat. Sie hat erreicht, dass sowohl andere Betroffene als auch Politik und Gesellschaft sich dafür interessieren, wie die Situation für Opfer ist. Und dieser Satz, dass die Scham die Seite wechseln muss, hat sehr vielen Menschen geholfen“, sagt Diehl. Scham spiele eine große Rolle: „Neben den Mitschuldgefühlen, der Wut, dem Ekel, der Trauer, der Verzweiflung, ist Scham allen gemeinsam, die sich an uns wenden“, berichtet die Beraterin aus ihrer Arbeit. Scham habe etwas Sprachloses und Selbstzerstörerisches. Sie sei für viele Frauen und Mädchen eine hohe Hürde, die sie davon abhalte, über erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen oder diese anzuzeigen.

Im Jahr 2023 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 12.186 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in Deutschland, 10.106 davon wurden demnach aufgeklärt. Das bedeutet, dass mindestens ein Tatverdächtiger ermittelt wurde. In den vorangegangenen Jahren wurden 11.869 Fälle (2022) beziehungsweise 9.903 Fälle (2021) erfasst. Das bildet jedoch nur das Hellfeld ab. Laut einer Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamtes für das Jahr 2020 werden lediglich 9,5 Prozent der Vergewaltigungen überhaupt angezeigt.

Häufig melden sich Betroffene erst Jahre oder gar Jahrzehnte nach der Tat, weil sie unter den Spätfolgen leiden, etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

„Viele sagen uns dann, sie hätten sich so geschämt, dass sie all die Jahre nicht darüber sprechen konnten“, sagt Diehl. Sie weiß, wie wichtig es ist, wenn mutige Betroffene einen Stein ins Rollen bringen, wie bei „MeToo“. „Manchmal rollt der Stein eine ganze Weile, dann aber setzt leider oft wieder das Victim Blaming ein.“ Die Täter-Opfer-Umkehr, die den Opfern eine Mitschuld unterstellt.

Im Fall Pelicot – wo die Beweislast erdrückend war – brüllen Anwälte der Verteidigung das Opfer während seiner Aussage immer wieder an. Die Unterstellung, Gisèle Pelicot müsse irgendwie für die Vergewaltigungen mitverantwortlich sein, kommt von der Ehefrau eines Angeklagten: „Wenn mein Mann wirklich jemanden hätte vergewaltigen wollen, hätte er sich eine attraktivere Frau ausgesucht.“ Ein Angeklagter, von Beruf Krankenpfleger, sagt vor Gericht, man hätte den Bewusstseinszustand von Pelicot während der Vergewaltigungen medizinisch bewerten müssen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln stand. Er selbst hätte nicht unterscheiden können, ob das Opfer geschlafen oder nur so getan habe.

„Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann. Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter .“

Prof. Friederike Funk

Die Viktimologin Anne-Kathrin Kreft vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sieht Scham als eine zentrale emotionale Reaktion auf Vergewaltigungen, die tiefgreifende psychologische und soziale Folgen haben könne. Sie plädiert für eine gesellschaftliche Veränderung, hin zu einer Haltung, die Opfer entlastet. Kreft hat sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten in Kolumbien erforscht und mit betroffenen Frauen und Helferinnen gesprochen. Was weit entfernt klingt, rückt ganz nah, wenn es um Scham geht: „Selbst in diesen Fällen politisch motivierter sexualisierter Gewalt wurden die Frauen nach der Tat teilweise noch gefragt, was sie getan hätten, um das zu provozieren“, erinnert sich Kreft. Wenn die Gesellschaft dem Opfer immer wieder zu verstehen gebe, in irgendeiner Form mitverantwortlich zu sein für die eigene Vergewaltigung, steigere das die Scham und sei für die Betroffenen gravierend.

Aus der Befragung von BKA und Polizei zu Sexualdelikten

71 %

der Opfer geben an, dass
es keine Beweise gab

38 %

hatten Angst vor dem Täter
oder der Täterin

32 %

hatten Angst vor
einem Gerichtsverfahren

Dass Opfer nicht als solche wahrgenommen werden, ist ein tief verankertes Muster. Oft taucht die Frage auf, ob es sich überhaupt um Gewalt handelte oder nicht um ein großes Missverständnis. Im Prozess von Avignon sagen die Männer, die inzwischen zu langen Haftstrafen verurteilt sind, ihnen sei nicht klar gewesen, dass Pelicot schlief. Außerdem habe ihr Mann doch zugestimmt. Auch Pelicot wird unterstellt, sie hätte die Taten provoziert: als die Verteidigung ihr 27 intime Fotos zum Vorwurf machen will, die auf Dominique Pelicots Laptop gespeichert waren. 27 von insgesamt 20.000 Dateien. Sie wurden wohl mit ihrem Einverständnis aufgenommen. Eine Verteidigerin fragt Gisèle Pelicot, ob sie exhibitionistische Tendenzen habe. In diesem Moment verliert die sonst so beherrschte Gisèle Pelicot die Geduld. Die 72-Jährige reagiert empört: „Ich verstehe nun, warum die Opfer von Vergewaltigungen so selten Anklage erheben – schämen Sie sich, mir solche Dinge zu unterstellen!“

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ – dieser entschlossene Satz von Gisèle Pelicot hat sich zu einem Kampfruf entwickelt. Hat die Scham bereits die Seite gewechselt, kann sie es überhaupt? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben.

Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, schmerzten Pelicot besonders.

Es gibt die Vorstellung, wie ein Opfer zu sein habe: traurig, schwach, leise. „Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann“, erklärt Friederike Funk. Die Professorin für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat viele Kommentare zum Fall Gisèle Pelicot gelesen. Sie forscht dazu, wie die Gesellschaft auf Täter und Opfer blickt. „Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter“, sagt Funk. Die Umkehr basiere unter anderem auf dem psychologischen Konzept des Gerechte-Welt-Glaubens, der Erwartung, dass es grundsätzlich gerecht zugehe und wir im Leben das bekommen, was uns zusteht. „Wenn objektive Fakten fehlen, verleitet dies leider häufig dazu, zu schauen, ob eine Person vielleicht selbst ein bisschen mit dazu beigetragen hat, was ihr passiert ist“, beschreibt Funk. Es ist eine Art Selbstschutz-Mechanismus: Weil wir uns ja nicht so verhalten würden, fühlen wir uns sicherer.

Die Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, seien für sie besonders schmerzhaft gewesen, betont Gisèle Pelicot vor Gericht. Die Erklärungen einiger Täter, sie seien wie „fremdgesteuert“ gewesen, hätten sie zermürbt. Aber dann zeigt sich wieder die beeindruckende Stärke dieser Frau, als sie sagt: „Ich fühle mich für nichts von allem verantwortlich. Es war ein langer Weg für mich, das zu begreifen, aber in erster Linie bin ich ein Opfer.“ Allen Anschuldigungen zum Trotz.

Mehr als 265.000 Opfer Häuslicher Gewalt hat die Polizei im Jahr 2024 registriert. Rund 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Illustration: Emmanuel Polanco/Sepia

Mehr als 265.000 Opfer Häuslicher Gewalt hat die Polizei im Jahr 2024 registriert. Rund 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Illustration: Emmanuel Polanco/Sepia

Auch bei häuslicher Gewalt fragen manche absurderweise schnell: Warum ist sie nicht gegangen? Statt: Warum hat er sie geschlagen? Anette Diehl hat das schon so oft gehört, dass sie die Einstellung manchmal wütend macht. Aber sie ist nicht entmutigt, im Gegenteil: „Das gesellschaftliche Klima hat sich in den vergangenen fünf Jahren schon sehr zum Positiven verändert“, findet Diehl. „Es gab ‚MeToo‘, Fälle wie den von Gisèle Pelicot, die weltweit verfolgt werden, immer mehr Betroffene melden sich in den sozialen Medien und Podcasts zu Wort.“ Wichtig sei aber, anzuerkennen, dass andere, die dasselbe Schicksal erlitten haben, nicht den Weg von Pelicot wählen müssen. „Das darf nur jede Betroffene für sich selbst entscheiden.“ Ob sie aus der Opferrolle in die aktiv handelnde Rolle findet, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie die Gesellschaft damit umgeht, vom sozialen Umfeld über die Polizei bis zum Gericht.

„Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt.“

Prof. Ruth Linssen

Kapitel II
In den Mühlen der Strafverfolgung

Die erste Hürde ist die Anzeige bei der Polizei, damit setzt sich die Mühle der Strafverfolgung in Gang. Welche Erfahrungen Betroffene dabei machen, hat Ruth Linssen, Professorin für Soziologie und Strafrecht an der Fachhochschule Münster, im Rahmen einer Studie für das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen untersucht. „Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt“, sagt Linssen. Viele Opfer, die sie befragte, hätten Angst vor Ausgrenzung geäußert und schämten sich besonders, wenn nahe Angehörige bei der Vernehmung dabei waren. Der Umgang der Polizei mit Betroffenen hingegen habe sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich geändert – im positiven Sinne. Linssen führt das auch darauf zurück, dass dort mittlerweile mehr junge Frauen arbeiten, die ein anderes Problembewusstsein hätten.

Eine Frau gewann durch das Verfahren ihre Souveränität wieder.

Doch eine Aussage vor Gericht kann extrem belastend sein. Eine Befragte berichtete ihr, was für ein gutes Gefühl ihr ihre Aussage vor Gericht gab. Der Täter habe während des Prozesses auf den Boden geguckt und sich geschämt. „Die Frau hatte ihre Souveränität durch das Verfahren wiedergewonnen, als würde der Prozess die Verhältnisse wieder zurechtrücken. Das war aber lange nicht bei allen so“, so Linssen. „Ganz ehrlich, ich war mir nach der Studie noch viel weniger sicher als vorher, ob ich eine Vergewaltigung anzeigen würde. Ich wäre im Gericht im Boden versunken, wenn ich in diesen Details die Tat hätte schildern müssen, wie Frauen mir das berichtet haben.“

„Ich kann nichts riskieren“

Eine von sexualisierter Gewalt betroffene Frau berichtet, weshalb sie viele Jahre nach dem Missbrauch durch ihren Stiefvater doch noch Anzeige erstattet hat und – anders als Gisèle Pelicot – anonym bleiben möchte.

„Als ich elf Jahre alt war, ging es mit den körperlichen Übergriffen los. Ab meinem 14. Lebensjahr begann mein Stiefvater, mich auch zu vergewaltigen, bis zu meinem 17. Lebensjahr. Ich habe niemandem davon erzählt. Meinen Freunden nicht, meinem Freund nicht und auch meiner Mutter nicht. Ich war einfach froh, als nach der Trennung Ruhe einkehrte.

Viele Jahre später bin ich ihm begegnet, nur einen Ort von meinem Wohnort entfernt. An der Hand hatte er einen kleinen Jungen. Da kam alles wieder hoch. Kurz darauf saß ich mit meiner Mutter und meinem Freund zusammen und wir kamen auf ihn zu sprechen. Und da erzählte ich es ihnen. Meiner Mutter liefen die Tränen, sie hatte nichts geahnt. Gemeinsam beschlossen wir, zur Polizei zu gehen.

Es dauerte vier Jahre, bis die Gerichtsverhandlung begann. Obwohl der Fall mir alt und klein erschien, war am ersten Prozesstag viel Presse da. Die Lokalzeitung berichtete am nächsten Tag. Bei meiner Aussage waren keine Medien erlaubt. Trotzdem kannten sie alle Details, auch über meine Entjungferung. Eine Journalistin hatte nie mit mir gesprochen, ihre Infos stammten von den Anwälten meines Stiefvaters.

Vor der Anzeige hatte ich ähnliche Fälle recherchiert und wusste, wie schwer es für Opfer ist – das jahrelange Verfahren und die Unterstellungen. Ein Täter darf schweigen, aber das Opfer muss alles erzählen, auch intime Details.

Das Schlimmste war, als die Videoaufzeichnung meiner Aussage im Gerichtssaal vor dem Täter abgespielt wurde. Ich dachte, ich wäre in einem geschützten Raum bei der Polizei. Und dann sieht und hört der Täter mich sagen: Ich habe Angst vor ihm, ich habe eine kleine Tochter, ich wohne nur einen Ort weiter, ich gehe in seinem Ort einkaufen.

Ich konnte also nicht in die Öffentlichkeit gehen. Ich wusste nicht, wie das Verfahren ausgehen wird. Es gab zu Beginn keine Beweise aus der Zeit. Während des Verfahrens tauchten Beweise auf, wie Fotos von meiner Schwester und mir.

Das, was Gisèle Pelicot gemacht hat, ist unfassbar mutig und stark. Aber nicht jedes Opfer kann das. Sie ist älter, hat kein kleines Kind zu Hause. Ihr Mann saß von Anfang an im Gefängnis. Es gab eine Vielzahl an Beweisen. Die Ausgangslage in solchen Fällen ist meistens viel schlechter für Opfer. Außerdem schützt Deutschland eher die Täter als die Opfer.
Trotzdem bin ich froh, dass ich es gemacht habe. Letztes Jahr wurde er zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Noch hat er die Haftstrafe, die kurz ist, nicht angetreten. Als Mutter bleibe ich anonym, da ich nichts riskieren kann. Ich weiß nicht, was er macht, wenn er entlassen wird.“

Lena*

Gerichtsprozesse können für Betroffene extrem belastend sein. Forderungen nach verpflichtenden Weiterbildungen für einen sensibleren Umgang mit Opfern weisen Richterinnen und Richter mit Verweis auf ihre Unabhängigkeit zurück. „Das eine schließt das andere nicht aus“, findet hingegen Professor Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. „Man kann unabhängig und neutral sein und trotzdem zwischenmenschlich in angemessener Form sensibel mit diesen schwierigen Themen umgehen.“

Ein Versuch des Rechtssystems, mit dem vermeintlichen Interessenskonflikt umzugehen, ist die Psychosoziale Prozessbegleitung. Tina Neubauer ist Prozessbegleiterin in Stuttgart und arbeitet für die PräventSozial gGmbH. Sie unterstützt in Baden-Württemberg seit mehr als 20 Jahren Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer bei Gerichtsprozessen und kennt die Fälle von gut 1.000 Betroffenen. Sie bildet auch Begleiter aus, unter anderem an der Akademie des weissen rings. „Ich habe jetzt die ganzen Jahre nur wenige Frauen betreut, denen es nicht unangenehm war, über sexualisierte Übergriffe zu sprechen. Das Thema Scham ist bei den meisten vorhanden“, sagt Neubauer. Bislang beschließe lediglich ein kleiner Teil: „Ich zeige das bei der Polizei an. Ich mache meine Aussage vor Gericht.“

„Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil: Es ist gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt.“

Professor Martin Rettenberger

Viele Menschen belaste es, dass sie dort „erneut die Kontrolle abgeben, so wie bei der Tat“, schildert Neubauer. Ein Strafverfahren ist immer öffentlich, selbst wenn die Öffentlichkeit eingeschränkt werden kann. Betroffene sind Opferzeugen, die in der Regel aussagen müssen und zur Wahrheit verpflichtet sind. Die Begleiterin erklärt ihnen den Ablauf des Verfahrens, ihre Rechte als Zeugen und die Möglichkeiten der Nebenklage. Ziel ist es, den Opfern mithilfe von Informationen mehr Sicherheit zu geben. Die Psychosoziale Prozessbegleitung kooperiert mit NERO, einem Netzwerk von Opferanwälten, das Betroffene schon vor der Anzeige juristisch unterstützt. „Ich finde, die Betroffenen müssen wissen, worauf sie sich einlassen“, sagt Neubauer.

Wenn sie Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt, dass der Täter verurteilt wird. Die Kriminologische Zentralstelle hat Verlaufsstudien ausgewertet und Verurteilungsquoten zwischen 16 und 30 Prozent zusammengetragen. Es gibt aber auch Auswertungen, die auf eine Quote unter 10 Prozent kommen.

Wenn Opfer Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt,dass der Täter verurteilt wird.

Der Kriminologe Martin Rettenberger verweist darauf, dass „wir auch in anderen Deliktsbereichen einen hohen Schwund zwischen angezeigten Fällen und Verurteilung haben“. Aufgrund eines größeren Bewusstseins für sexuelle Grenzüberschreitungen werde insgesamt mehr angezeigt. „Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind also nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil“, sagt Rettenberger. Es sei gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt. Relativ viele Anzeigen führten zu Ermittlungen, die dann aber nicht ganz eindeutig seien. Mögliche Gründe: Betroffene ziehen ihre Aussage zurück oder machen Angaben, die kaum verwertbar sind. Beteiligte können sich nicht mehr richtig erinnern. Oft steht Aussage gegen Aussage. „Wenn die Fälle unklar sind, dann werden sie im Rechtsstaat für die angeklagte Person ausgelegt. Die Schuld muss zweifelsfrei feststehen. Das ist ein hohes Gut, und das sollten wir nicht über Bord werfen“, sagt Rettenberger.

Das soll auch vor Falschbeschuldigungen schützen. Laut Forschung kommen diese Fälle vor, sind aber selten. „Diese Einzelfälle sind schrecklich, keine Frage, werden aber meist medial aufgebauscht“, sagt Claudia Igney vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). „Das steht in keinem Verhältnis zu der Vielzahl an Fällen, wo es andersrum ist: Die sexualisierte Gewalt hat stattgefunden, aber sie lässt sich nicht beweisen. Die Anforderungen des Strafrechts sind sehr hoch. Die Täter gehen straffrei aus. Aber das bedeutet eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden hat.“

Im Falle von Gisèle Pelicot war die Beweislage gegen die Angeklagten so eindeutig, weil die Taten gefilmt und akribisch archiviert worden waren. „Auch wenn es kein prototypischer Fall ist, war dieser Prozess wichtig, weil er dazu geführt hat, dass Menschen sich vorstellen können, was es alles gibt in unserer Gesellschaft und dass solche Taten nicht von Monstern begangen werden, sondern von Männern aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen – ja sogar vom eigenen Ehemann“, sagt Igney.

„Ich habe Angst“

Was Gisèle Pelicot geleistet habe, sei beeindruckend, sagt eine Frau, die eine Attacke nur knapp überlebte. Mehr Betroffene müssten sich äußern, doch das ginge oft nicht.

„Nach meiner Scheidung hatte ich zwei Jahre eine On-off-Beziehung mit meinem Expartner. Irgendwann trennte ich mich endgültig von ihm. Danach suchte er weiter Kontakt und stand öfter vor meiner Tür. Heute würde ich von Stalking sprechen. Freunde warnten mich, aber ich habe das nicht ernst genommen. Er hatte mir nie etwas getan. Als er alkoholisiert vor meiner Tür stand, dachte ich zum ersten Mal daran, die Polizei zu rufen. Dann waren zwei Wochen Ruhe.

Plötzlich stand er wieder vor meiner Tür. Es war ein Freitag, meine beiden Jungs waren schon im Haus, meine Tochter und ich kamen gerade. Ich schickte sie ins Haus. Da holte er völlig unvermittelt ein Messer raus und stach auf mich ein. In Tötungsabsicht – gezielt in Richtung Herz, dann in den Oberkörper. Ich habe mich mit meinen Händen versucht zu schützen, schrie laut, ging zu Boden. Und dann sah ich eine dunkle Gestalt, sie zog ihn von mir, nahm ihn in den Schwitzkasten. Es war ein junger Mann.

Mein Expartner versuchte, sich selbst zu töten, indem er das Messer in seinen Bauch stach. Erst sechs Monate später ging das Gerichtsverfahren los, was mich nervös machte. Ich wusste, dass er nach sechs Monaten ohne Gerichtstermin wieder aus der Untersuchungshaft darf. Nach sechs Verhandlungstagen wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt. Das ist kurz für versuchten Mord und schwere Körperverletzung. Das Gericht berücksichtigte, dass er Ersttäter ist, ein Alkoholproblem und eine psychische Erkrankung hat. Aus juristischer Sicht kann ich das Urteil nachvollziehen, aber aus Opfersicht ist es ein Schlag ins Gesicht.

Ich bin traumatisiert, arbeitsunfähig und schwerbehindert aufgrund meiner Verletzungsfolgen. Ich habe Angst um mich und meine Kinder: Vor knapp zwei Jahren wurde er in ein forensisches Krankenhaus gebracht. Ich weiß nicht, ob er wegen guter Führung vielleicht bald rauskommt.

Nach der Tat klingelten Journalisten an meiner Haustür und bedrängten Familienmitglieder. Meine Kinder wurden in der Schule von Mitschülern angesprochen, weil die Eltern neugierig waren. Es ist beeindruckend, was Gisèle Pelicot geleistet hat, aber ihr Täter bleibt im Gefängnis. Mehr Opfer müssten auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen, aber das ist oft nicht möglich. Zu kurze Haftstrafen, Kinder, die man nicht in Gefahr bringen möchte, oder andere Gründe sorgen dafür, dass Menschen wie ich das nicht machen.

Am ersten Gerichtstag war Presse anwesend, auch ein Kamerateam. Meine Anwältin sagte zu mir, dass ich mir eine Akte vor das Gesicht halten könnte. Aber das tat ich nicht – ich muss mich nicht verstecken, der Täter muss es.“

Antonia*

Links steht ein Mann, mit den Händen im Gesicht und rechts hinter ihm ist ein sehr großer Damenfuß mit hohen Schuhen zu sehen. Es wirkt, als könnte die Frau auf den Mann treten, als wäre er ein Käfer.

Gisèle Pelicot hat vielen Frauen Mut gemacht. Sie hat einen Wandel in Gang gesetzt, doch der Weg ist noch weit. Expertinnen fordern ein gesellschaftliches Klima, in dem Betroffene nicht stigmatisiert werden.

Kapitel III
Die Scham der Täter

In der psychologischen Betreuung von Inhaftierten spielt Scham eine Rolle, weil sie eine Hürde bei der therapeutischen Arbeit sein kann. „Hartnäckiges Leugnen und auch das vollständige Schweigen sind ein Mechanismus, um mit dem eigenen Schamgefühl umzugehen“, sagt Martin Rettenberger. „Scham hat mit der Angst davor zu tun, soziales Ansehen zu verlieren. Das unangenehme Gefühl lenken einige Männer unmittelbar in Aggression um“, weiß Rettenberger aus seiner Tätigkeit als Gutachter.

René Cuadra ist Gefängnis-Psychologe in der Justizvollzugsanstalt Offenburg und blickt auf fast drei Jahrzehnte Erfahrung mit Sexualstraftätern zurück. „Ich verstehe Gisèle Pelicot so, dass natürlich die Täter sich schämen sollten und nicht die von ihnen vergewaltigten Frauen“, sagt Cuadra. Die Äußerung könne aber auch so verstanden werden, dass die Scham von der einen Person zur anderen übergehen, dass man die Scham übertragen könne. „Das, so denke ich, funktioniert nicht. Hat ein Opfer eine Scham nicht mehr, hat sie nicht automatisch der Täter. Wenn die Täter von Avignon Scham erleben können, ist es eine eigene.“ So wie es der Psychologe im Gefängnisalltag erlebt, ist kein Affekt bei Inhaftierten so wenig zugänglich wie die Scham. „Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele gar keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“ Dabei spiele Scham in den Lebenswegen vieler inhaftierter Menschen eine große Rolle, sie hänge häufig eng mit Gewalt zusammen.

Im Pelicot-Prozess übernehmen die Männer kaum Verantwortung für ihre Taten. Die Psychologin Annabelle Montagne, die sechs der Täter begutachtet hat, sagt vor Gericht, dass keiner von ihnen sich der Vergewaltigung schuldig bekennen wolle. Haben diese Männer eine Trennung zwischen ihrem öffentlichen und sexuellen Leben gezogen? Haben sie eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können? Die Psychologin bejaht dies.

Haben die Täter eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können?

In der Kriminalpsychologie wird dieser Mechanismus mithilfe „kognitiver Verzerrungen“ erklärt. Das sind „Gedankenkonstrukte, mithilfe derer die Straftat relativiert und entschuldigt wird“, erklärt Psychologin Lydia Benecke, die mit verurteilen Sexualstraftätern arbeitet. „Auch Menschen, die schwere Straftaten begehen, neigen dazu, automatisch ein insgesamt positives Bild von sich selbst aufrechtzuerhalten und auch entsprechend von anderen wahrgenommen werden zu wollen.“

Einige Vergewaltiger Pelicots verzerren vor Gericht die Wirklichkeit, indem sie behaupten, davon ausgegangen zu sein, es handele sich um ein Spiel des Paares. 35 der 51 Angeklagten beharren bis zum Schluss darauf, Gisèle Pelicot nicht vergewaltigt zu haben, weil ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass das Opfer dem Sexualakt nicht zugestimmt hatte.

„Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“

René Cuadra

Als „Prozess der Feigheit“ bezeichnet Gisèle Pelicot die Erklärungsversuche der Angeklagten. Immer wieder verzieht sie spöttisch das Gesicht oder rollt mit den Augen. Die Männer sollen zugeben, was sie getan haben, fordert sie. Als ihr der Vorsitzende zum zweiten Mal das Wort erteilt, konfrontiert sie die Männer direkt: „Wann genau hat Madame Pelicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?“ Die Antwort: Schweigen und gesenkte Blicke.

Benecke arbeitet mit ihren männlichen Klienten daran, solche kognitiven Verzerrungen abzubauen, damit sie Verantwortung übernehmen können. Wenn sie ihre Taten ungeschönt wahrnehmen, empfinden viele von ihnen Scham. Diese „ist eine unglaublich starke negative Emotion, die Menschen manchmal regelrecht überwältigt und im besten Fall dazu beitragen kann, dass sie bestimmte Dinge nicht oder nicht mehr tun“. Kann aus öffentlicher Beschämung Scham entstehen? „Möglich ist das schon“, sagt Benecke. „Scham kann soziales Verhalten fördern, aber auch kognitive Verzerrungen auslösen, um dadurch die Scham zu reduzieren oder sogar aggressive Empfindungen auslösen.“ Im Pelicot-Prozess gab es ihrer Meinung nach einen Moment, in dem beginnende Zweifel der Täter sichtbar geworden seien: Als die Videos der Taten gezeigt werden, schauen sie weg. Nicht ein Einziger möchte sich ansehen, was er getan hat.

Kapitel IV
Das letzte Wort

Zumindest während ihres Prozesses hat Gisèle Pelicot das Ziel ihrer Mission erreicht. Der Großteil der Gesellschaft blickt mit Bewunderung auf sie und mit Unverständnis auf die Täter. Verteidigerinnen wie Nadia El Bouroumi, die auf ihrem TikTok-Kanal Gisèle Pelicot verhöhnt, indem sie zu „Wake me up, before you go go“ tanzt, erntet einen Shitstorm. Gegen Verteidiger Christophe Bruschi, der nach der Urteilsverkündung die wütenden Zuschauerinnen als „hysterisch“ und „zickig“ bezeichnet, startet Change.org eine Petition mit dem Ziel, ihn von der Anwaltsliste zu streichen. Eine weitere Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben. In der Zeit von Gisèle Pelicot lassen viele Frauen und Männer Täter-Opfer-Umkehr und Macho-Gehabe nicht mehr durchgehen. Die Scham wechselt die Seiten.

9,5%

Anzeigequote bei sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung

2,2 %

Anzeigequote bei körperlicher
sexueller Belästigung

Was muss geschehen, damit das dauerhaft so bleibt? Für Pelicot ist die Sache klar. Als der Vorsitzende Richter ihr zum letzten Mal das Wort erteilt, fordert sie gewohnt ruhig und würdevoll: „Es ist an der Zeit, dass sich die machistische und patriarchalische Gesellschaft endlich ändert und aufhört, Vergewaltigung zu verharmlosen. Wir müssen dringend unsere Sichtweise auf Vergewaltigung ändern.“ Ihre Tochter Caroline Darian geht weiter. Sie nutzt das große Interesse, um sich mit ihrer neu gegründeten Stiftung M’endors pas (Betäub mich nicht) dafür einzusetzen, dass die sogenannte chemische Unterwerfung als Straftat verfolgt wird.

Und in Deutschland? „Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft bewusst auf unseren Umgang mit Opfern achten“, sagt Sozialpsychologin Friederike Funk. „Vor allem in Zeiten von Social Media, in denen wir alles in Echtzeit kommentieren können, wäre es doch schön, einfach mal keine voreilige Meinung zu posten, wenn man die Fakten schlichtweg nicht kennt.“ Kriminologe Martin Rettenberger meint: „Damit die Scham die Seite wechseln kann, braucht es langfristige Veränderungen statt Schnellschüsse. Und das fängt schon bei einer frühen Sensibilisierung von Jungs für die Gleichberechtigung an.“

Eine Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben.

Claudia Igney sagt: „Sexualisierte oder andere Formen von Gewalt erlebt zu haben, gehört zur Biografie vieler Frauen. Das macht sie aber nicht für immer zum Opfer. Da sind auch viel Stärke, Mut und Kraft und Wege der Bewältigung. Darüber sollte mehr berichtet werden. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem Frauen offen über all das sprechen können, ohne Stigmatisierung befürchten zu müssen.“

Mit einem Lächeln im Gesicht und sichtlich erleichtert verlässt Gisèle Pelicot am 19. Dezember 2024 nach Prozessende den Gerichtssaal, in dem kurz zuvor die Urteile verkündet worden waren. Sie hat es gerade noch durch den Metalldetektor geschafft, mehr Platz am Ausgang war wegen des Presseandrangs nicht. Aufrecht, selbstbewusst und ruhig, im Kreise ihrer Familie, sagt sie: „Ich wollte, dass die Gesellschaft an den Debatten teilhat, die am 2. September stattfanden, als ich die Türen zu diesem Prozess öffnete. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Ich habe jetzt Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der jede Frau und jeder Mann in Harmonie, Respekt und gegenseitigem Verständnis leben kann.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
Zum Fall Pelicot hat sich auch der WEISSE RING öffentlich positioniert. Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer sagte zum Prozessende: „Gisèle Pelicot ist nicht nur eine bewundernswert tapfere Frau – ihr ist ohne jede Einschränkung zuzustimmen, wenn sie fordert: ,Die Scham muss die Seite wechseln.‘ Niemand muss sich schämen, Opfer einer Straftat geworden zu sein. Für Taten sind Täter verantwortlich, niemals die Opfer. Ich wünsche mir sehr, dass diese Erkenntnis endlich auch in Deutschland die letzten Zweifler erreicht, die immer noch meinen, die Kleidung eines Vergewaltigungsopfers oder der Trennungswunsch eines Femizidopfers hätten etwas mit dem Verbrechen zu tun. Vielleicht tragen das Beispiel von Gisèle Pelicot und ihr furchtloses Auftreten in der Öffentlichkeit dazu bei. Unabhängig davon sollte man jedem Opfer eines Verbrechens, das seine Privatsphäre schützen möchte und auf Anonymität besteht, dies auch zugestehen.“

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Juliane

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen: Am 11. September 2023 wurde ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg entführt und sexuell missbraucht. Die Polizei nahm später einen vor Kurzem aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter fest. In Schul-WhatsApp-Gruppen war vor dem Mann gewarnt worden, der Rechtsstaat hatte sich zuvor hilflos gezeigt, unter anderem konnte der Mann das Tragen einer Fußfessel verweigern. Mit der Redaktion des WEISSEN RINGS sprach der Vater des entführten Kindes erstmals öffentlich über den Fall.

Eine Straße mit dem Ortsschild "Edenkoben". Dazu sieht man ein Feld. Hier wurde ein kleines Mädchen entführt.

„Wein – Wald – Kultur“, mit diesem Slogan wirbt Edenkoben im Internet um Touristen. Bundesweite Bekanntheit erlangte die kleine Stadt in der Südpfalz allerdings erst als Tatort eines Verbrechens. Fotos: Anna Ziegler

Ein Reihenhaus am Ende einer Sackgasse, dahinter Weinbau, so wie überall hier: kilometerweites Grün, bis irgendwann der noch grünere Wald beginnt. „Wein – Wald – Kultur“, mit diesem Slogan wirbt Edenkoben auch im Internet um Touristen.

Bundesweite Bekanntheit erlangte die 7.000-Einwohner-Stadt in der Südpfalz allerdings erst als Tatort eines Verbrechens. Im September 2023 entführte ein Mann ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg und missbrauchte es sexuell. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd befreite die Polizei das Kind aus dem Auto des Entführers und nahm den Fahrer fest, einen frisch aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter. Im ganzen Land berichteten Medien über den Fall, allen voran die „Bild“-Zeitung veröffentlichte Dutzende Texte über den „Kinderschänder von Edenkoben“ und warf Politik und Behörden „Totalversagen“ vor.

In dem Reihenhaus am Ende der Sackgasse sitzt Mathias am Esstisch, der Vater des Mädchens. Hinter Mathias hängen eingerahmt Porträtzeichnungen an der Wand, sie zeigen die Tochter und ihren älteren Bruder, auf Regalbrettern stapeln sich Spiele und Bücher. Vor einer anderen Wand steht ein altes Küchenbuffet, aus dem obersten Fach quellen Zeitungen, „das sind die gesammelten Artikel über den Fall“, sagt der Vater. Mathias, 44 Jahre alt, von Beruf Fachkrankenpfleger, spricht erstmals aus der Betroffenenperspektive über die Tat.

Mathias, im September 2023 wurde Ihre zehnjährige Tochter entführt, im April 2024 hat das Landgericht Landau einen mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Wie geht es Ihrer Tochter heute, wie geht es Ihrer Familie, wie geht es Ihnen?

Ich würde sagen, uns geht es den Umständen entsprechend gut. Wir haben die Gerichtsverhandlung hinter uns, und wenn man das so sagen darf: Das Ergebnis war ein voller Erfolg für uns.

Das Gericht hat den Angeklagten zu zwölf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Hat Sie das Urteil überrascht?

Ja. Zwölf Jahre und Sicherungsverwahrung sind doch eher selten nach solchen Taten.

Sie hatten ein milderes Urteil für den Angeklagten erwartet?

Nach allem, was ich so mitbekomme vom deutschen Rechtssystem, hätte das Urteil auch anders ausfallen können. Von daher ist meine Erleichterung groß.

Der Fall Ihrer Tochter hat ein großes Medienecho ausgelöst, nach der Tat war immer wieder der Satz zu lesen und zu hören, dass Ihre Tochter und Ihre ganze Familie jetzt womöglich für den Rest ihres Lebens mit den Folgen der Tat zu kämpfen hätten. Versuchen Sie, sich gegen solche Langzeitfolgen zu wappnen?

Es gibt eine ganze Menge, was man machen kann und auch machen sollte. Ich absolviere im Moment noch eine Traumatherapie, das tut mir persönlich unheimlich gut. Meine Tochter ist ebenfalls weiterhin in Therapie, das entwickelt sich auch sehr gut. Es gibt aber auch Menschen, denen sexualisierte Gewalt widerfährt und die ohne Therapie gut klarkommen. Der Satz „Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben“, den wir gerade in den ersten Tagen nach der Entführung so oft gehört haben, der ist nicht zwangsläufig richtig.

Empfinden Sie den Satz als stigmatisierend?

Ja, das hat etwas von Stigmatisierung. Ich möchte nicht kleinreden, was passiert ist. So etwas kann heftigste Konsequenzen haben für die Seele, für die Psyche. Aber ein Mensch verfügt auch über viele Ressourcen, mittel- bis langfristig mit so einer Erfahrung umgehen zu können und einem Schaden vorzubeugen.

Hilft Ihnen Ihre Berufserfahrung als Intensivpfleger, nicht nur als Betroffener, sondern auch mit einer gewissen professionellen Distanz auf das Geschehene zu blicken?

Ja, vermutlich ist das so.

Mathias blickt nicht nur als Vater und Intensivpfleger auf das Geschehene, sondern auch mit der forschergleichen Neugierde eines Mannes, der unbedingt verstehen will, was passiert ist. Er hat sich akribisch vorbereitet auf das Gespräch; vor ihm liegt ein prall gefüllter Aktenordner, daneben ein Zettel mit handschriftlichen Notizen.

„Nach allem, was ich so mitbekomme vom deutschen Rechtssystem, hätte das Urteil auch anders ausfallen können. Von daher ist meine Erleichterung groß.“
Wie haben Sie den 11. September 2023 erlebt?

Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde bei uns Realität. Diese Stunden waren extrem traumatisch und sind auch der Hauptgrund, warum ich heute noch in Therapie bin. Aber ich erzähle einfach mal von Anfang an. Meine Frau ist ja auch Krankenschwester und hatte Frühschicht, ich hatte Spätschicht. Folglich habe ich mich morgens um die Kinder gekümmert. Unsere Tochter ist sehr selbstständig und hat sich eigenständig fertig gemacht. Bemerkenswerterweise war sie recht früh an diesem Morgen. Sie war bereits um 7:25 Uhr fertig und hat gemeint, sie gehe jetzt in die Schule. Da habe ich gesagt: „Dann bist du ja etwas früher als sonst, du kannst dir ja Zeit lassen.“ Sie verlässt also das Haus, den Schulweg geht sie schon seit vier Jahren. Um halb neun ruft dann meine Frau von der Arbeit an und sagt: „Unsere Tochter ist nicht in der Schule angekommen.“

Der Täter griff das Mädchen morgens auf dem Schulweg auf. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd befreite die Polizei das Kind aus dem Auto des Entführers und nahm den Fahrer fest. Fotos: Anna Ziegler

Fast eine halbe Stunde lang schildert Mathias minutiös den Ablauf des 11. September. Seine Notizen braucht er dafür nicht einmal. Er erzählt, wie er ins Zimmer der Tochter ging, um zu schauen, ob sie vielleicht doch zurück ins Bett gegangen und wieder eingeschlafen ist. Wie er den Schulweg abfuhr, „ganz langsam und mit offenen Fenstern“. Wie er mit der Schulsekretärin die Klassenzimmer und die Sporthalle absuchte. Wie der Schulrektor und er ganz diskret die beste Freundin der Tochter befragten. Wie er sich selbst fragte, ob er gleich die Polizei verständigen soll oder ob er noch eine halbe Stunde warten soll. Wie er sich die Frage selbst beantwortete: Nein, du fährst sofort zur Polizei. Wie er vorher doch noch einmal nach Hause fuhr, um nachzuschauen, ob seine Tochter in der Zwischenzeit vielleicht zurückgekehrt ist.

Und dann bin ich zur Polizei: Guten Tag, meine zehnjährige Tochter ist vermisst. Da habe ich schon gemerkt, irgendwas passiert hier. Leute stehen auf, es entsteht eine merkwürdige Unruhe. Und ich denke noch so für mich: Toll, die nehmen das total ernst! Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass es Parallelmeldungen gab, dass die Polizei den aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter bereits auf dem Schirm hatte und dass es sogar eine Anruferin gab, die die Entführung beobachtet hatte.

Hatten Sie keine Angst zu diesem Zeitpunkt?

Ich fuhr dann zurück nach Hause, und auf dem Weg dorthin rief mich die Polizei an und sagte, ich müsse wiederkommen, die Kollegen aus Neustadt seien jetzt da. Da dachte ich: Das ist die Kripo. Und als ich so durch Edenkoben fuhr, drängte sich mir der Gedanke auf: Meine Tochter könnte tot sein! Angst griff nach mir, Angst und Ohnmacht. Das war für mich der schlimmste Moment. Der hat dann sogenannte Intrusionen bei mir ausgelöst: flashbackartige Bilder mit dem gleichen Gefühl, das ich in der Angstsituation hatte. Das haben zum Beispiel Soldaten, die aus Kriegsgebieten kommen. Das konnte ich später in der Traumatherapie aufarbeiten. Heute habe ich die Intrusionen nicht mehr.

Hatten Sie in dieser Situation der Ungewissheit Unterstützung?

Wir haben maximale Hilfe und Empathie erfahren in diesen dunklen Stunden. Die Polizei war wirklich super. Da herrschte ein extremer Stresspegel auf den Polizeiwachen. Und trotzdem war man immer bemüht, mit uns bestmöglich umzugehen.

Mathias rekapituliert weiter das Geschehen des 11. September 2023. Bis zu dem Zeitpunkt, als seine Frau und er bei der Polizei in Landau endlich ihre Tochter wieder- sahen: eingehüllt in einen weißen Kunststoffanzug, wegen der Spurensicherung.

„Der Satz ‚Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben‘, den wir gerade in den ersten Tagen nach der Entführung so oft gehört haben, der ist nicht zwangsläufig richtig. “

Wer hat Ihnen mitgeteilt, was Ihrer Tochter angetan wurde?

Letztlich hat es uns unsere Tochter selbst gesagt. Ich habe sie gefragt: Mensch, was ist dir denn passiert? Und dann erzählte sie: Da war ein Mann, der habe sie gewaltsam gepackt und in sein Auto gestoßen. Sie habe versucht, sich zur Wehr zu setzen, sie habe geschrien, aber es habe sie keiner gehört. Sie sagte, sie habe Angst gehabt und ihrem Entführer Fragen gestellt, um ein Gefühl von Kontrolle zu haben. Der Entführer habe sie beruhigt. Der Mann sei mit ihr an einen unbekannten Ort gefahren und habe sie gezwungen, ein Handtuch über ihrem Gesicht zu tragen. Und dann hat sie das umschrieben mit „und dann passiert das, was bei so einer Entführung nun mal passiert“. Da war uns klar, sie umschreibt den sexuellen Missbrauch jetzt mit diesen Worten. Ich musste dann erst mal eine rauchen gehen. Als später die Zeugenvernehmung von unserer Tochter stattfinden sollte, haben wir ihr gesagt: Auch wenn es schwer ist, wäre es gut, wenn du das alles sehr konkret benennst. Sie hat dann laut Polizei eine super Zeugenaussage gemacht.

Waren Sie dabei?

Ja, am Anfang. Als es dann in Richtung Missbrauch ging, habe ich angeboten, dass wir als Eltern rausgehen. Dem hat sie direkt zugestimmt, damit sie freier reden kann. Sie hat dann auch wohl sehr detailliert geschildert, was passiert ist. Wobei das, was passiert ist, weniger das ist, was man sich jetzt vielleicht vorstellt.

An dieser Stelle stockt Mathias. Etwas umständlich versucht er zu erklären, dass Missbrauch nicht immer gleich Missbrauch ist. Er bemüht sich zu sagen, was geschehen ist, ohne aussprechen zu müssen, was geschehen ist. Was er eigentlich sagen möchte ist: was nicht geschehen ist.

„Wir haben maximale Hilfe und Empathie erfahren in diesen dunklen Stunden. Da herrschte ein extremer Stresspegel auf den Polizeiwachen. Und trotzdem war man immer bemüht, mit uns bestmöglich umzugehen.“

Nach Straftaten wird zum Schutz der Betroffenen häufig darauf verzichtet, das Geschehene konkret zu benennen. Ganz besonders, wenn die Betroffenen Kinder oder Jugendliche sind. In Ihrem Fall habe ich aber das Gefühl, dass Sie gern mehr sagen würden – auch zum Schutz der Betroffenen. Stimmt das?

Hier in Edenkoben weiß jeder, dass wir die betroffene Familie sind. Also alle in unserem sozialen Umfeld, jeder Lehrer, jeder Mitschüler. Viele gehen nach der Medienberichterstattung automatisch von den schlimmsten Horror-Szenarien aus. Ich habe das Gefühl, dass ich einer Stigmatisierung ein wenig entgegenwirken kann, wenn ich sage: Ich will nichts schönreden, das war ein sexueller Missbrauch, das ist eine schwere Straftat. Aber es war vielleicht auch nicht das, was ihr jetzt im Kopf habt.

Medien in ganz Deutschland berichteten über den Fall, allen voran die „Bild“-Zeitung veröffentlichte Dutzende Texte über den „Kinderschänder von Edenkoben“ und warf Politik und Behörden „Totalversagen“ vor. Fotos: Anna Ziegler

Behörden, Hilfsorganisationen, oft auch Medien unternehmen sehr viel dafür, Betroffene zu schützen, indem sie möglichst wenige Informationen preisgeben. Denken Sie, dass sie damit manchmal das Gegenteil erreichen von dem, was sie erreichen wollen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe es als positiv empfunden, dass man vor allem vor Gericht so konsequent versucht hat, die Intimsphäre unserer Tochter zu schützen. Trotzdem spürte ich auch das Bedürfnis, zum Schutz meiner Tochter zumindest so viele Informationen transparent zu machen, dass das Kopfkino bei den Leuten nicht schlimmer ausfällt als die Wirklichkeit.

Die Medien warfen Politik und Behörden nach der Tat schweres Versagen vor. 2020 empfahl ein Gutachter im Prozess gegen den Mann eine anschließende Sicherungsverwahrung, aber das Landgericht ordnete sie nicht an. Nach seiner Entlassung 2023 sollte er dann per Fußfessel überwacht werden, der Mann weigerte sich einfach. Das hat für viel Empörung gesorgt. Sie als Betroffene haben sich mit Kritik auffällig zurückgehalten – warum?

Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat. Es fällt uns schwer zu sagen: Die Polizei ist schuld, das Gericht ist schuld, die Führungsaufsichtsstelle ist schuld. Nehmen wir das Beispiel Führungsaufsicht: Da gab es ja extra Mitarbeiter, um auf den Mann aufzupassen. Aber die Führungsaufsicht war das völlig falsche Instrument, mit einem Straftäter dieses Kalibers umzugehen. Der hätte in Sicherheitsverwahrung gehört.

„Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat. Es fällt uns schwer zu sagen: Die Polizei ist schuld, das Gericht ist schuld, die Führungsaufsicht ist schuld.“

Als der Mann 2020 wegen Körperverletzung und Verstößen gegen Weisungen der Führungsaufsicht verurteilt wurde, waren die Einzelstrafen angeblich zu gering ausgefallen, um eine anschließende Sicherungsverwahrung anordnen zu können.

Das ist komplizierter, ich habe mich damit intensiv beschäftigt. Es ist mir nicht bekannt, dass ein Gericht in Deutschland wegen eines Verstoßes gegen die Führungsaufsicht Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Erst in diesem Jahr, nach unserem Fall, hat ein deutsches Gericht erstmalig einen Sexualstraftäter wegen Verstößen gegen die Führungsaufsichtsauflagen mit Sicherungsverwahrung belegt. Es war sogar dasselbe Gericht. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Gerichts damals zu kritisieren.

Wenn es jemandem zusteht, dann doch wohl Ihnen als Betroffener dieser Entscheidung?

Die Frage ist doch: Wird der Job gemacht? Tut jeder, was er tun sollte? Nehmen wir die Führungsaufsicht: Das Gericht hatte eine wöchentliche Kontaktaufnahme mit der Person vorgesehen. Die Führungsaufsicht hat das sogar täglich gemacht. Die haben viel mehr getan, als sie eigentlich hätten machen müssen, weil sie wussten, wie gefährlich der Mann ist. Die Führungsaufsicht ist einfach das völlig falsche Instrument gewesen. Ich bin Fachkrankenpfleger auf einer Intensivstation, für mich klingt das so, als würde man einen kritisch kranken Intensivpatienten nicht auf die Intensivstation legen, sondern auf Normalstation. Und wenn der Patient dann abends tot im Bett liegt, dann wundert man sich. Natürlich bin ich der Meinung, dass da grundsätzlich etwas schiefläuft. Wie oft kommen Sexualstraftäter aus dem Gefängnis wieder frei und werden rückfällig? Es muss sich grundsätzlich etwas ändern. Es muss vielleicht härtere Strafen geben. Es muss öfter die Sicherheitsverwahrung verhängt werden. Es muss eine mit Zwang durchsetzbare Fußfessel-Überwachung möglich sein. Vielleicht passiert das jetzt ja.

Vor Gericht trat der Vater des betroffenen Mädchens als Nebenkläger auf. Das gab ihm das Gefühl, wichtige Informationen zu erhalten und den Prozessverlauf im Sinne des Opfers beeinflussen zu können. Fotos: Anna Ziegler

Es wäre Ihr gutes Recht, wütend darüber zu sein, dass das alles damals nicht passiert ist, und die dafür verantwortlichen Stellen zu kritisieren. Sie haben sicherlich schon mal den Begriff „Victim Blaming“ gehört?

Sie meinen damit eine Täter-Opfer-Umkehr oder auch Schuldverlagerung? Also den Versuch, die Verantwortung für eine Straftat nicht dem Täter, sondern dem Opfer zuzuschreiben? Man denkt auf einmal, man findet die Schuldigen überall. Als Erstes ist es natürlich die Polizei. Dann ist es der böse Staat. Später war es die Schule, die hätte doch bessere Sicherheitskonzepte haben sollen. Und wir Eltern, ich hätte meine Tochter nicht allein zur Schule laufen lassen sollen! Das ist Victim Blaming, uns als Eltern wird die Schuld für das Verbrechen an unserer Tochter gegeben. Das kann einen ganz schön fertig machen.

Hat man Ihnen diesen Vorwurf gemacht?

Das hat mir niemand persönlich gesagt, aber das kann man zum Beispiel bei Facebook lesen. „Also ich bin ja Helikoptermutter und stehe dazu. Ich hätte meine Tochter niemals allein …“ Schon ist der Vorwurf da. Unsere Tochter hat sich auch selbst die Schuld gegeben: „Ich hätte den Weg nicht nehmen sollen.“ Das ist doch ein Klassiker in der Psychologie! Ich sage ganz klar: An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand. Das habe ich auch als Nebenkläger vor Gericht gesagt.

Die „Bild“-Zeitung zitierte ein Mitglied des Innenausschusses im rheinland-pfälzischen Landtag mit dem Satz: „Der Rechtsstaat ist hier an Grenzen gestoßen.“ Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Im Prozess habe ich mich an die Vorsitzende Richterin gewandt. Dabei habe ich diesen Satz zitiert und gesagt: „Bei vielen Menschen in der Bevölkerung entsteht tatsächlich der Eindruck, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers an seine Grenzen kommt. Dies soll heute anders sein. Sehr geehrte Frau Vorsitzende, hohes Gericht, bitte beweisen Sie uns das Gegenteil. Beweisen Sie uns, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers umzugehen weiß.“ Ich bat das Gericht, dafür zu sorgen, dass dieser Mann nie wieder die Möglichkeit bekommen wird, ein Kind zu entführen und zu missbrauchen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, Betroffene besser zu schützen?

Ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland zu häufig nur die Scherben aufkehren, nachdem etwas zerbrochen ist. Es wird viel auf Prävention gesetzt; Kinder lernen, wie sie sich im Falle eines Falles zu verhalten haben. Es gibt Psychologen, die die Folgen eines Missbrauchs aufarbeiten und therapieren. Es gibt den WEISSEN RING und viele weitere Hilfsorganisationen. Doch im Endeffekt behandeln wir Symptome. Ich kann mir vorstellen, dass härtere Strafen ein Mittel gegen Sexualstraftäter sind. Häufiger verhängte Sicherungsverwahrung. Fußfesselzwang. Weniger Datenschutz. Aber das müssen Fachleute beantworten, ich bin kein Fachmann. Dieser Fall ist in jeder Hinsicht besonders: Vor dem Mann wurde ja gewarnt, sogar unsere Tochter hatte vorher ein Foto von ihm auf ihrem Smartphone, weil das nach seiner Haftentlassung über Schul-WhatsApp-Gruppen geteilt worden war. Meine Frau und ich kannten die Nachricht leider nicht. Besonders war an dem Fall auch das hohe mediale Interesse. Das hat den Nachteil einer möglichen Stigmatisierung, aber auf der anderen Seite kann es auch ein Vorteil sein.

„Sehr geehrte Frau Vorsitzende, hohes Gericht, bitte beweisen Sie uns das Gegenteil. Beweisen Sie uns, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers umzugehen weiß.“

Das müssen Sie erklären.

Wir haben sehr viel Empathie erfahren, ganz viele Menschen haben extrem viel Rücksicht auf uns genommen. Der WEISSE RING war sofort da, noch am Entführungstag. Ein paar Tage später saß der Opferbeauftragte des Landes hier. Es sind Spendenaktionen gelaufen, was tatsächlich eine große Hilfe ist in dem Moment. Dann war da unser Arbeitgeber, der uns freigestellt und in jeder Hinsicht unterstützt hat. Freunde, Familie. Unser Anwalt, Matthias Bär aus Edenkoben, stand uns fachlich wie im menschlichen Sinne zur Seite. Das Gymnasium in Edenkoben hat uns sehr geholfen. Wir haben uns wöchentlich getroffen, um die Situation meiner Tochter zu besprechen. Die Traumaambulanz in Landau, die Therapeutin meiner Tochter, sie alle haben uns sehr geholfen. Ich glaube, dass all diese Unterstützung nicht die Regel ist bei Missbrauchsfällen.

Was, glauben Sie, ist denn die Regel?

Die Regel ist, dass man erst gar nicht weiß, dass was passiert ist. Dann kommt irgendwann ein dunkler Verdacht. Der Verdacht erhärtet sich. Man geht zur Polizei und stellt fest, dass es schwierig wird, den Missbrauch nachzuweisen. Es kommt zu einer Aussage-gegen-Aussage-Situation. In der Regel finden die meisten Missbrauchsfälle im sozialen Umfeld statt, da ist keine externe Person der Täter. Da gibt es nicht so viele Unterstützer. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir ein Stück weit privilegiert waren wegen des hohen medialen und gesellschaftlichen Interesses an diesem Fall.

Mathias atmet durch. „Ich muss erst mal eine rauchen“, sagt er und geht in den Garten. Er beeilt sich, er hat noch viel zu sagen. „Sie merken ja, dass ich das Thema sehr konfrontativ angehe. Aber ich muss damit auch mal wieder aufhören. Die letzten Monate gab es für mich nur das Thema Entführung, ich habe alle Kraft auf dieses Thema aufgewendet. Meine Frau tickt da zum Beispiel ganz anders. Sie sorgte für Normalität bei uns in der Familie. Das passte super.“

„Ich hätte den Weg nicht nehmen sollen – das ist doch ein Klassiker in der Psychologie! Ich sage ganz klar: An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand.“

Sie sind als Nebenkläger vor Gericht aufgetreten. Wie haben Sie den Prozess vor dem Landgericht Landau erlebt?

Sicherlich ist „Vorfreude“ nicht das treffende Wort, aber für mich war der Prozessbeginn sehr positiv besetzt, weil ich erwartet habe, dass der Entführer meiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Es war eine Möglichkeit für mich, mich zur Wehr zu setzen. Das hat auch meine Traumatherapeutin zu 100 Prozent unterstützt. Ich hatte von Anfang an das Bestreben, den Prozessverlauf so gut wie es mir möglich ist zu beeinflussen – und zwar, indem ich unsere Perspektive aufzeige. Ich wollte objektiv und nachvollziehbar die Konsequenzen so einer Tat aufzeigen, vor allem für uns. Konkret habe ich zum Beispiel aufgezeigt, dass unsere Tochter zum Prozesszeitpunkt immer noch Schwierigkeiten mit dem Schulweg hatte und eine Traumatherapie machte.

Mit der Urteilsverkündung konnte die Familie „ein ganz großes Stück dieser Lebensphase abschließen“, sagt der Vater des Opfers. Er blickt optimistisch in die Zukunft: „Das Leben geht weiter.“ Fotos: Anna Ziegler

Hatten Sie das Gefühl, man hört Ihnen zu?

Ja, ich hatte das Gefühl, alles anbringen zu dürfen und Gehör zu bekommen. Ich habe auch vor Gericht Empathie von allen Seiten erfahren. Vom Gericht selbst, aber auch von der Verteidigerin des Angeklagten. Dafür habe ich mich am Ende auch bedankt. Mir war es aus mehreren Gründen wichtig, als Nebenkläger dabei zu sein. Erstens: Ich kann den Prozessverlauf beeinflussen. Zweitens: Ich bekomme wichtige Informationen. Es gab zum Beispiel Erkenntnisse aus dem Verfahren, die mir wiederum für die Therapie meiner Tochter hilfreich erschienen. Und dann gab es für mich auch noch die Möglichkeit, durch eine allumfassende Aussage von mir es meiner Frau zu ersparen, ebenfalls als Zeugin aussagen zu müssen.

Musste Ihre Tochter aussagen?

Nein, sie musste nicht aussagen, weil der Angeklagte geständig war.

Im Strafprozess stehen die mutmaßlichen Täter im Mittelpunkt. Hatten Sie das Gefühl, dieser Prozess war auch ein Prozess für das Opfer?

Es liegt natürlich in der Natur der Dinge, dass in einem Strafverfahren der Angeklagte im Mittelpunkt steht. Zeitweise hatte ich auch das starke Gefühl, dass wir als Geschädigte komplett aus dem Fokus geraten sind. Zum Beispiel haben wir einen ganzen Vormittag damit verbracht, darüber zu reden, ob der Angeklagte durch den Polizeieinsatz Verletzungen davongetragen habe. Polizisten wurden befragt, Untersuchungsbefunde besprochen, der Angeklagte angehört.

„Von den Folgen für Geschwister, für die Eltern, von den Therapien, von den unzähligen Tränen, all das muss das Gericht wissen. Es ist auch aus psychologischer Sicht wichtig, sich zur Wehr zu setzen.“

Was konnten Sie als Nebenkläger tun, um die betroffene Seite in den Vordergrund zu rücken?

Wir haben zum Beispiel über die Nebenklage den Rektor der Schule meiner Tochter als Zeugen geladen. Die Schule befand sich ja auch im absoluten Ausnahmemodus. Da wird auf dem Schulweg ein paar Meter vor dem Schulgelände ein Mädchen entführt. Da war ein Kriseninterventionsteam da. Da waren täglich sechs Psychologen da. Es gab Krisentreffen. Viele Lehrer hatten Tränen in den Augen. Der Rektor hat das einsortiert, er sagte: Für eine Schule gibt es nur zwei andere Szenarien, die eine ähnliche Dramatik zur Folge haben – ein Amoklauf oder der Tod eines Schülers. Wir wollten aufzeigen, dass so etwas kein isoliertes Verbrechen ist, sondern dass es Kreise zieht.

An wen denken Sie bei den Kreisen noch, abgesehen von der Schule?

Ich denke zum Beispiel an unseren Arbeitgeber. Meine Frau und ich sind beide seit über 20 Jahren in dem Krankenhaus tätig, wir sind dort natürlich gut vernetzt und bekannt. Wir wissen, dass in der ersten Woche die Betroffenheit so groß war, dass die Kollegen auf dem Boden gesessen und geweint haben. Das sind ja auch Eltern mit Kindern, das ist auch deren schlimmste Horrorvorstellung.

Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie das Urteil als „vollen Erfolg“ bezeichnet. Wie wichtig war Ihnen die Strafzumessung?

Es war uns natürlich wichtig, dass der Täter bei nachgewiesener Schuld angemessen bestraft wird. Und die Folgen einer Tat sind für die Strafzumessung nicht irrelevant. Ich wollte das Gericht dabei unterstützen, indem ich bestmöglich die Konsequenzen der Tat für alle Beteiligten aufzeige – mit dem Ziel, so auf die Strafzumessung einzuwirken. Ich habe, sachlich und objektiv, von den Folgen für meiner Tochter berichtet. Von den Folgen für Geschwister, für die Eltern, von den Therapien, von den unzähligen Tränen, von meiner beruflichen Reduzierung, all das muss das Gericht wissen. Auf diesem Weg konnte ich mich nach dem schrecklichen Angriff auf meine Familie zur Wehr setzen. Es ist auch aus psychologischer Sicht wichtig, sich zur Wehr zu setzen.

Wir sprachen über die öffentliche Aufmerksamkeit, die Ihr Fall und der Prozess erfahren haben, und die Empathie, die Sie erfahren haben. Wie haben Sie die Medien wahrgenommen?

Eigentlich auch sehr positiv. Es war ja sehr viel los in den Medien, vor allem in den ersten Tagen. Ich bin mehrfach gewarnt worden, dass Reporter bald vor unserer Haustür stehen würden. Uns hat aber nie jemand direkt angesprochen.

Fast vier Stunden sind mittlerweile vergangen, die Rebstöcke hinter der Sackgasse liegen längst im Dunkeln. Mathias sortiert seine Unterlagen und legt die Dokumente zurück in den Aktenordner. Ein letztes Mal liest er seinen Notizzettel, „habe ich etwas Wichtiges vergessen?“ Er schüttelt den Kopf.

Wenn alles vorbei ist, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist – was werden Sie dann tun?

Ich habe mich ja bewusst für diesen konfrontativen Weg der Auseinandersetzung mit dem Geschehen entschieden. Zwischendurch habe ich aber mal gedacht, dass es auch ein guter Weg gewesen wäre, das alles zu 100 Prozent den Juristen zu überlassen. Jeden Tag, wenn ein Gerichtstermin stattfindet, hätte ich dann etwas Cooles mit meinen Kindern machen können. Wir wären ins Schwimmbad gegangen, wir wären ins Kino gegangen, wir wären auf den Markt gegangen. Aber ich glaube, dass es auch gut war, wie es war, und dass ich vor Gericht einiges erreichen konnte. Mit der Urteilsverkündung konnten wir aus Perspektive meiner Familie bereits ein ganz großes Stück von dieser Lebensphase abschließen. Das Leben geht weiter, und ich blicke total optimistisch in die Zukunft.

Transparenzhinweis:
Die Familie von Mathias wurde von der Außenstelle Südpfalz des weissen rings unter Leitung von Heinz Pollini betreut. Unter anderem finanzierte der Verein eine einwöchige Erholungs‑ maßnahme für die Familie nach der Tat.

Der lange Kampf des Andreas S.

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Sabine

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde Andreas S. in Holzminden mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht. Als Erwachsener kämpft er seit einem Vierteljahrhundert für Aufklärung. Jetzt steht er kurz vor seinem Ziel: Im Frühjahr 2025 beginnt ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung des Leids, das ihm und vielen weiteren Kindern widerfahren ist.

Ein Mann mit Glatze schaut gerade aus. Das Bild ist stark belichtet so dass der Mann nicht komplett zu erkennen ist. Auf dem Foto ist Andreas S.. ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit.

Andreas S. spricht offen über seine Geschichte und lässt sich auch fotografieren. Er möchte aber nicht erkannt werden, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen. Foto: Erik Hinz

Eine Stadt im Münsterland, im Januar 2025. Andreas S. sitzt an seinem Küchentisch und sagt, dass es ihm heute gut gehe und er offen über all das sprechen könne, was jetzt folgt, ohne dass ihm der Boden unter den Füßen wegbricht. „Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir widerfahren ist“, sagt der 51-Jährige. „Man muss sich nicht für etwas schämen, was einem widerfährt. Man kann sich doch nur für etwas schämen, was man getan hat. Ich habe aber nichts getan.“

Jahrelang hat ein Kinder- und Jugendpsychiater Andreas S. in seiner Sprechstunde missbraucht. Viele Jahre konnte S. das Erlebte nicht einordnen. Erst als junger Erwachsener wehrte er sich, auch um andere zu schützen. Er spricht offen über seinen einsamen Kampf, möchte aber nicht, dass sein vollständiger Name in diesem Text genannt wird, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen.

Das Trauma hat seinen Ursprung in den 1980er-Jahren in der kleinen Stadt Holzminden im südlichen Niedersachsen. Der Kinder- und Jugendpsychiater war damals Chefarzt des Albert-Schweitzer-Familientherapeutikums „Lustiger Bach und als Freund der Familie häufig zu Besuch im Elternhaus von Andreas S., dessen Mutter ebenfalls Ärztin war. Bei so einem Besuch habe seine Mutter dem Psychiater von Andreas‘ Konzentrations- und Einschlafstörungen erzählt. Der antwortete: „Bring den Jungen mal vorbei.“ Das Therapeutikum befand sich damals noch im Aufbau. Andreas S. erinnert sich, dass die erste Sprechstunde in provisorischen Baucontainern stattfand. Dort habe der Arzt nicht nur seinen Blutdruck gemessen und die Reflexe getestet, sondern ihn auch aufgefordert, sich nackt auszuziehen. Er musste nackt Liegestütze und eine Brücke machen, der Arzt habe ihn fotografiert und an den Genitalien manipuliert. „Ich war damals zehn Jahre alt und fand das unangenehm.“

Als er davon zu Hause erzählte, entgegnete seine Mutter: „Hab dich nicht so.“

Sein Vater meinte später, er steigere sich da in etwas hinein. Wer soll einem glauben, wenn einem nicht einmal die eigenen Eltern glauben?

1984

Insgesamt 156-mal fuhr Andreas S. als Kind in die Klinik. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt – und meinte damit einen separaten Raum, in dem eine Liege mit einem Heizlüfter stand.

Andreas S. sagt, er habe immer darunter gelitten, dass seine Eltern wenig Zeit hatten. Durch die Arztbesuche habe er die Aufmerksamkeit seiner Mutter bekommen. Also fuhr er jahrelang weiter mit dem Fahrrad in die Klinik. Insgesamt 156-mal, immer mittwochs, jeweils für 50 Minuten. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt. „In einem separaten Raum stand eine Liege mit einem Heizlüfter, da haben dann die körperlichen Untersuchungen stattgefunden.“ Als Andreas S. im Jahr 2023 die Klinik in Holminden noch einmal mit zwei Journalisten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ besuchte, die seine Geschichte recherchierten, traf ihn fast der Schlag. „Die alte Liege von damals stand immer noch in dem Behandlungsraum.“

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde Andreas S. in Holzminden mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht. Als Erwachsener kämpft er seit einem Vierteljahrhundert für Aufklärung. Jetzt steht er kurz vor seinem Ziel: Im Frühjahr 2025 beginnt ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung des Leids, das ihm und vielen weiteren Kindern widerfahren ist.

Mit 14 sei er wegen der voranschreitenden Pubertät uninteressant geworden für den Psychiater, der Missbrauch endete. Lange Zeit verdrängte Andreas S. die Gedanken an das Geschehen. Erst als er Mitte der 1990er-Jahre im Fernsehen einen Bericht über den belgischen Sexualmörder Marc Dutroux sah, da sei ihm schlagartig klar geworden: Das, was ihm als Kind im „Lustigen Bach“ widerfahren ist, das war Missbrauch.

Es ist nicht ungewöhnlich, so etwas spät zu erkennen. Die meisten Menschen wenden sich erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach einem Missbrauch an Beratungsstellen. „Es war schrecklich. Ich war über mehrere Tage in einer Art Trancezustand, habe fast nichts gegessen und sehr viel geweint.“ Er suchte Hilfe, fand sie zunächst bei einer Freundin und dann professionell. Dort riet man ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern. Andreas S. sagt: „Als mir bewusst wurde, dass womöglich andere Kinder immer noch missbraucht werden, habe ich beschlossen, etwas zu unternehmen. Der Arzt praktizierte ja noch.“ Das habe ihm Antrieb gegeben, sich aus seiner Ohnmacht und Opferrolle zu befreien.

Man riet ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern.

Andreas S. kontaktierte nun die Ärztekammer Niedersachsen, die Bezirksregierung Hannover und die Staatsanwaltschaft Hildesheim. Unangemeldet besuchte eine Delegation der Bezirksregierung die Klinik und stellte fragwürdige Behandlungs- und Untersuchungsmethoden fest. Sie informierte das Familienwerk im Dezember 1996 darüber. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wussten die Verantwortlichen in Holzminden von den Vorwürfen. Im März 1997 untersagte das Familienwerk nach eigenen Angaben dem Arzt sämtliche körperlichen Untersuchungen, die nicht zum Standard bei psychiatrischen Behandlungen zählen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber wieder ein. Es sei nicht Aufgabe der Justiz, ärztliche Untersuchungsmethoden zu bewerten, hieß es. Im Oktober 1997 beauftragte die Bezirksregierung Hannover den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Professor Dr. Jörg Fegert, heute Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder-​ und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, die Untersuchungsmethoden des Arztes in Holzminden zu prüfen.

1999

Die Staatsanwaltschaft erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben.

Parallel dazu wandte sich Andreas S. an das Magazin „Der Spiegel“, um die Geschichte publik zu machen. Als dann Fegerts Gutachten sowie Artikel in der „Neuen Westfälischen“ und im „Spiegel“ erschienen, ging alles ganz schnell: Die Bezirksregierung Hannover entzog dem Arzt die Approbation, weil das Gutachten zu dem Schluss gelangt war, dass der Psychiater in Holzminden seine Stellung als „Tarnung“ genutzt habe, sein Handeln klassische Muster pädophiler Handlungen aufweise und er den Kindern nachhaltig geschadet habe. Es meldeten sich weitere Jungen, die Staatsanwaltschaft ermittelte erneut: Bei einer Razzia entdeckten die Ermittler bei dem Psychiater Bilder, Videos und Tagebuchaufzeichnungen mit sexuellen Fantasien, die zu den Kindern passten.

„Damit war klar, dass es kein ärztliches Handeln war, sondern dass der Arzt seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt hat auf Kosten seiner Patienten“, sagt Andreas S. heute. Das sah damals auch die Staatsanwaltschaft so und erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben. Doch vorher schickte er Andreas S. noch eine Postkarte.

Auf dem Foto ist Andreas S. von hinten fotografiert worden.

Empathische Geste: Der Gutachter Prof. Dr. Jörg Fegert hat einen Ring für Andreas S. anfertigen lassen – als Anerkennung für dessen intensiven Kampf um die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Der Ring zeigt einen Menschen, der sich vor Schmerz krümmt, aber gleichzeitig stolz aufrichtet.

Auf der Karte, das wird Andreas S. niemals vergessen, stand unter einem Totenkopf in lateinischer Sprache: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Es ist ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium. „Ich habe die Postkarte verbrannt. Aber ich hatte tatsächlich viele Jahre wahnsinnige Schuldgefühle“, schildert der 51-Jährige. „Vermutlich würde der Mann noch leben, wenn ich das nicht ins Rollen gebracht hätte. Aber ich weiß nicht, wie viele Kinder er dann noch missbraucht hätte.“ In den 14 Jahren, die der Psychiater in Holzminden wirkte, waren rund 7.500 Kinder und Jugendliche bei ihm in Behandlung. Andreas S. ist sich sicher, dass der Missbrauch weitergelaufen wäre, denn schon damals hätten trotz vieler Hinweise alle weggesehen, weil der Arzt zu den Honoratioren der Stadt gehörte. Die Lokalzeitung „Täglicher Anzeiger Holzminden“ schrieb im Juni 1998: „Offensichtlich wussten viele Holzmindener von den Vorwürfen gegen den Mediziner, nur wenige sprachen darüber.“ Noch kurz bevor dem Arzt die Approbation entzogen wurde, war er feierlich aus der Klinik verabschiedet worden.

Manchmal klingelt während des knapp vierstündigen Gesprächs in der Küche von Andreas S. das Telefon. Er wechselt dann mühelos vom Deutschen ins Englische. Er spricht mehrere Sprachen verhandlungssicher und hat beruflich Karriere gemacht.

Der alleinerziehende Vater ist Führungskraft in einer gemeinnützigen Organisation. Der sexuelle Missbrauch durch den Psychiater in seiner Kindheit beherrschte nicht seinen Alltag, aber die Erlebnisse meldeten sich immer wieder, besonders in Krisensituationen. Andreas S. hatte Panikattacken und Flashbacks. Ein bestimmter Geruch, der ihn an den Arzt erinnerte, löste sofort Brechreiz bei ihm aus. Er machte Psychotherapien, doch keine führte zur Linderung. Bis zur Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und einer professionellen Behandlung vergingen noch viele Jahre.

Und immer wieder stellte sich Andreas S. diese bohrenden Fragen: Warum lässt das Albert-Schweitzer-Familienwerk dieses Unrecht nicht aufarbeiten? Wie vielen Kindern ist es noch so ergangen wie mir? Haben die Menschen Hilfe?

Im Jahr 2016 schrieb er dann einen Brief an das Familienwerk und bat um Aufarbeitung und die Übernahme institutioneller Verantwortung. Die Antwort kam zwei Jahre später. Darin hieß es, man könne „eine öffentliche Klarstellung von Recht und Unrecht“ nicht leisten. „Der Brief war schrecklich für mich“, sagt Andreas S., er bittet jetzt um eine kurze Gesprächspause. Er möchte jetzt erstmal eine dampfen. Er holt sich seine E-Zigarette und nimmt einen tiefen Zug. Und noch einen zweiten.

2025

Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer- Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 ein externes Institut, den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Das Institut soll im Mai 2025 einen Aufruf an Betroffene starten.

Andreas S. erzählt von einer weiteren Grenzerfahrung auf seinem langen Leidensweg: 2019 hatte er während einer Zugfahrt nach Berlin eine heftige Panikattacke und rief den Krisendienst in Berlin-Charlottenburg an. Heute sagt er: „Erst da ist mir klargeworden, dass ich dieses Trauma nicht loswerde, ohne es vernünftig aufzuarbeiten.“ Ein Freund empfahl ihm eine Tagesklinik für Traumatherapie. „Das hat mir sehr geholfen.“ In der Therapie rekonstruierte ein Parfümeur sogar den Geruch, der die Übelkeit bei ihm auslöste. Er roch so lange daran, bis er sich nicht mehr davor ekeln musste.

Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall.

Seine persönliche Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in seiner Kindheit hat Andreas S. damit vorangebracht. Doch er wollte auch eine offizielle Anerkennung als Opfer. Er hörte vom Opferentschädigungsgesetz (OEG), mit dem sich der Staat verpflichtet, Opfern zu helfen, die er nicht vor Gewalt schützen konnte. „Ich wusste ja nicht, was mir blüht“, sagt Andreas S. heute über den langen Weg zur Entschädigung. Vor allem die Fragen, die er sich vom Sachbearbeiter des zuständigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) gefallen lassen musste, nach sexuellen Vorlieben und was er dabei empfinde, seien eine absolute Zumutung gewesen. „Es war die Hölle.“ Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall. „Mir geht es nicht ums Geld. Aber dieser Mann konnte über viele Jahre agieren und ist immer wieder geschützt worden. Die Staatsanwaltschaft war involviert. Die Anstalten körperlichen Rechts waren involviert. Das Gesamtsystem hat versagt.“ Und dafür sei das OEG eigentlich gemacht. „Ich würde den OEG-Antrag nicht noch einmal stellen“, sagt er rückblickend.

2023 wendet sich Andreas S. erneut an das Familienwerk, jetzt an das Kuratorium. Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer-Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Damals sei deutlich geworden, „dass wir aus Sicht der Opferperspektive zu wenig getan haben und eine professionelle und unabhängige Aufarbeitung notwendig ist“, teilte das Familienwerk auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mit. Bislang habe es Kontakt zu vier Personen gegeben, die konkretes Interesse an einer Aufarbeitung signalisiert hätten. Das IPP werde im Mai 2025 einen Aufruf starten, der sich sowohl an Betroffene richtet als auch an Menschen, die vom Missbrauch wussten. Die Ergebnisse des Instituts sollen im Jahr 2027 veröffentlicht werden.

Die Berichterstattung, sagt Andreas S., habe nicht nur den Druck auf das Familienwerk erhöht, sondern sei auch sehr heilsam für ihn gewesen. Deshalb spreche er über seine Geschichte. Seine Mitarbeitenden haben ihn auf den Fotos in den Artikeln erkannt, obwohl er sich, wie auch für diese Geschichte im WEISSER RING Magazin, nur so fotografieren lässt, dass er eigentlich nicht sofort erkannt werden kann. „Man empfindet Scham, natürlich. Die Arbeit ist doch der letzte Ort, an dem man so etwas teilen möchte. Aber: Es war richtig. Der positive Zuspruch hat gutgetan und die Scham ist weg.“ Andreas S. geht es um die Anerkennung von Unrecht, um Empathie und die Übernahme von Verantwortung. „Ich hätte vermutlich längst klein beigegeben, wenn das Familienwerk in irgendeiner Form uns Betroffene um Verzeihung gebeten hätte.“ Das sei aber bis heute nicht geschehen.

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Sabine

Der Bundestag beschloss, dass die Pille danach für Vergewaltigungsopfer kostenfrei wird. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 31.01.2025

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt, beschloss der Bundestag. Das ist vor allem einer Betroffenen zu verdanken.

Mainz – In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt. Das beschloss der Bundestag in der Nacht zu Freitag. Die bisherige Regelung sah eine regelhafte Kostenübernahme nur dann vor, wenn die Betroffene 22 Jahre oder jünger ist.

Der Beschluss ist nicht nur eine gute Nachricht für alle Opfer sexualisierter Gewalt, sondern auch ein Erfolg für Gudrun Stifter. Sie hatte die Debatte angestoßen, nachdem sie selbst vergewaltigt wurde. Stifter erhielt damals eine Rechnung von ihrer Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen, wurde ihr damals mitgeteilt. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern. Das wollte sie nicht akzeptieren.

 

Gudrun Stifter (Foto: Christian J. Ahlers)

2021 hatte Stifter eine Petition vor den Bayerischen Landtag gebracht, in der sie die Übernahme der Kosten forderte. In einer Beschlussempfehlung hatte sich der Landtag dafür ausgesprochen, dass sich die bayerische Staatsregierung für eine Änderung auf Bundesebene einsetzen soll. Jetzt, fast vier Jahre später, wurde ihre Hartnäckigkeit und Engagement von Erfolg gekrönt.

Es war nicht die erste Petition von Gudrun Stifter: Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die Münchenerin im Jahr 2023 begleitet, als sie in bundesweiten Petitionen Verbesserungen bei der Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG, seit 2024: Sozialgesetzbuch XIV) forderte. Damals sagte sie: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht.“

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern.

Exklusiv: Interview mit dem Vater des Opfers

Erstellt am: Montag, 13. Januar 2025 von Sabine

Foto: dpa

Datum: 13.01.2025

Exklusiv: Interview mit dem Vater des Opfers

Der Fall bewegte Deutschland: Auf dem Schulweg wurde im September 2023 in Edenkoben eine Zehnjährige von einem verurteilten Sexualstraftäter entführt und missbraucht. Gegenüber unserer Redaktion äußert sich erstmals der Vater des Kindes.

Mainz/Edenkoben – Mit der Verurteilung des Sexualstraftäters von Edenkoben ist in der Familie des minderjährigen Opfers nach den Worten seines Vaters „wieder viel Normalität eingekehrt“. In einem exklusiven Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS bezeichnete der Mann aus der Pfalz das inzwischen rechtskräftige Urteil als „vollen Erfolg für uns“, berichtete vom schlimmsten Tag seines Lebens, wehrte sich gegen Beschuldigung von Opfern und machte Vorschläge.

Der mehrfach auch wegen Sexualstraftaten verurteilte Angeklagte hatte das Mädchen am 11. September 2023 auf dem Schulweg in sein Auto gezerrt und missbraucht. Nach einer Verfolgungsfahrt wurde er festgenommen und das Kind befreit. Die Tat hatte Diskussionen etwa über das zwangsweise Anlegen einer elektronischen Fußfessel ausgelöst.

„Grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde Realität“

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde bei uns Realität“, sagte der Vater im Interview mit dem WEISSEN RING über den Tag. „Angst griff nach mir, Angst und Ohnmacht.“

Der Täter war erst Mitte Juli aus der Haft entlassen worden, wurde engmaschig von der Polizei überwacht und musste sich an zahlreiche Weisungen halten. Dagegen verstieß er jedoch und weigerte sich unter anderem, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Wenige Tage vor der Tat beantragte die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl, weil der Mann gegen diese Auflagen verstoßen hatte. Die Akten kamen aber zu spät beim Amtsgericht an.

Maximale Unterstützung und Empathie bekommen

Polizei und andere Institutionen hätten maximale Unterstützung und Empathie gezeigt, berichtete der Vater. Die Familie habe auch therapeutische Hilfe erhalten. Er kritisierte jedoch die Stigmatisierung des Opfers mit Aussagen wie „Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben“. Der Mensch verfüge auch über viele Ressourcen, „mittel- bis langfristig mit so einer Erfahrung umgehen zu können und einem Schaden vorzubeugen“.

Der Vater wehrte sich gegen „Victim-Blaming“ (deutsch Opfer-Beschuldigung), das auch seine Familie getroffen habe, weil die Zehnjährige allein zur Schule gegangen sei. „An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand.“

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Im Entführungs- und Missbrauchsfall Edenkoben spricht der Vater des betroffenen Mädchens erstmals über die Geschehnisse.

Zwölf Jahre Haft für Täter

Das Landgericht Landau verurteile den Angeklagten zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung. Eine solche Strafe sei „doch eher selten nach solchen Taten“, sagte der Vater.

„Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat.“ Die Führungsaufsicht, die rückfallgefährdete Täter nach der Haftentlassung betreue, sei „das falsche Instrument, mit einem Straftäter dieses Kalibers umzugehen.“

„Ich bin Fachkrankenpfleger auf einer Intensivstation, für mich klingt das so, als würde man einen kritisch kranken Intensivpatienten nicht auf die Intensivstation legen, sondern auf Normalstation“, sagte der Vater. „Und wenn der Patient dann abends tot im Bett liegt, dann wundert man sich.“

„Im Endeffekt behandeln wir Symptome“

Statt Kritik an den Institutionen forderte er grundsätzliche Änderungen von der Politik. „Im Endeffekt behandeln wir Symptome. Ich kann mir vorstellen, dass härtere Strafen ein Mittel gegen Sexualstraftäter sind. Häufiger verhängte Sicherungsverwahrungen. Fußfesselzwang. Weniger Datenschutz. Aber das müssen Fachleute beantworten.“

Der Vater verfolgte das Verfahren als Nebenkläger. Das sei sein Weg gewesen, sich „nach dem schrecklichen Angriff auf meine Familie zur Wehr setzen“ zu können. Er blicke nun „total optimistisch in die Zukunft“.

Pornografisches im Posteingang

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Juliane

Pornografisches im Posteingang

Studierende erleben an deutschen Hochschulen digitale Gewalt – per E-Mail, in sozialen Netzwerken und auf Lernplattformen im Internet. Drei junge Frauen wollen das ändern.

Mitten in der Vorlesung erscheint eine Nachricht auf dem Display ihres Handys. Sie ist von ihrem Dozenten. Inhalt: ein Penis-Foto, ein sogenanntes Dick-Pic. Sie erstarrt, darf sich aber vor ihren Kommilitonen nichts anmerken lassen. Ekel steigt in ihr auf.

Das ist der Bericht einer Studentin, die digitale Gewalt erlebt hat. Sie hat um Anonymität gebeten. Denn wie so viele Gewaltopfer empfindet sie große Scham. Trotzdem möchte sie erzählen, damit Verantwortliche an Hochschulen erfahren, was digitale Gewalt für die Betroffenen bedeuten kann.

Herausforderungen für „Digital Natives“

Das Handy immer griffbereit, per Smartwatch erreichbar und in den sozialen Medien gut vernetzt – für die 18- bis 30-Jährigen von heute ist das selbstverständlich. Mühelos jonglieren sie mit privaten Messengern, privaten und universitären E-Mail-Accounts und Lernplattformen wie Moodle oder Blackboard. Was dieser Generation mehr zu schaffen macht, ist der Missbrauch, der über diese Plattformen möglich ist. Übergriffige Nachrichten, ungewollte Nacktbilder. Videoaufnahmen, die auf Partys oder während Vorlesungen stattfinden und dann ohne das Wissen, geschweige denn das Einverständnis der abgebildeten Person geteilt werden. Kontaktaufnahme über die Handynummer, weil diese für alle sichtbar in einer Uni-WhatsApp-Gruppe abgelegt ist.

Jegliche beleidigende, diskriminierende oder sexuelle Grenzüberschreitung gilt als digitale Gewalt. Aber ist das den sogenannten Digital Natives bewusst, denjenigen, die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind? Der WEISSE RING hat über die sozialen Medien eine Umfrage unter Studierenden durchgeführt. Von 140 Studenten gaben 55 an, diesen Begriff noch nie gehört zu haben. 72 Prozent der Studierenden, die angaben, bereits digitale Gewalt erfahren zu haben, hatten keine Unterstützung gesucht.

P*rnografisches im Posteingang

Digitale Gewalt an der Uni

Paula Paschke, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Religionspädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, hat dieses Phänomen sowohl als Studentin als auch als Lehrende beobachtet und ist besorgt über das Ausmaß und die Intensität der digitalen Grenzüberschreitungen. Sie sagt: Die Betroffenen stehen den Angriffen im Netz oft sehr hilflos gegenüber. „Ich bin Mitte 20 und als Teenager mit Medien aufgewachsen. Ältere Generationen gehen einfach davon aus, dass junge Heranwachsende gut damit umgehen können. Und das ist sicher auch der Fall, dass wir uns schnell zurechtfinden. Aber wie sieht es mit den Sicherheitsaspekten aus?“ Seit fast drei Jahren setzt sich Paula Paschke deshalb dafür ein, dass bundesweit Hochschulen diskriminierende und Gewalt ermöglichende Strukturen in ihren digitalen Räumen ernst nehmen.

Besorgt über das Ausmaß digitaler Gewalt: Paula Paschke. Foto: Julia Zipfel

Universitäten galten lange Zeit als eine Art Elfenbeinturm, in dem man sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigt und von den Problemen der restlichen Welt ein wenig abgekoppelt ist. Im Jahr 2019 stürzte dieser Elfenbeinturm im Zuge der Me-too-Bewegung krachend ein. Hierarchische Beziehungen, in denen Betroffene kaum Möglichkeiten haben, sich gegen Vorgesetzte zu wehren, ohne Job und Karriere zu gefährden, gelangten an die Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Doktorandinnen und Professorinnen sprachen öffentlich über Machtmissbrauch, Mobbing und sexuelle Übergriffe durch Vorgesetzte und Kollegen. Als Konsequenz überarbeiteten Verantwortliche die Richtlinien und setzten Ergänzungen der Hochschulgesetze durch. Auf vielen Hochschulwebseiten wurden neue Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes veröffentlicht, um Schutz vor Diskriminierung jeglicher Art zu bieten. Für Paula Paschke aber blieben zwei große Probleme ungelöst: „In der Diskussion wird kaum berücksichtigt, welche Rolle die digitale Komponente spielt. Auch die Hochschulen sind stark von der Digitalisierung betroffen. Und damit nimmt auch die Gewalt neue Formen an.“

Am meisten betroffen, am wenigsten geschützt

Ein Semester zuvor. Aus heiterem Himmel schreibt der Studentin ein Dozent abseits der Uni-Kommunikationswege. Eine kurze Anfrage zu einem Thema, an dem sie gerade arbeitet. Das ist ihr unangenehm, aber nach einigem Zögern antwortet sie. Er schreibt zurück. Sie antwortet wieder. Will nicht unhöflich sein. Ein Gespräch entwickelt sich, er fragt nach ihren beruflichen Plänen, ihrem Beziehungsstatus. Dann will er ihre Telefonnummer.

Mittlerweile lässt sich digitale Gewalt an Hochschulen in Zahlen darstellen. Laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften aus dem Jahr 2022 hat fast ein Drittel der Studierenden und Beschäftigten sexuelle Belästigung im Studium oder am Arbeitsplatz erlebt – auch online. Im gleichen Jahr führt das Projekt UniSAFE europaweit Umfragen an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch, um Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu entwickeln. In den Ergebnissen tauchen vermehrt digitale Komponenten der Belästigung an Hochschulen auf, darunter Cybermobbing und die Verbreitung pornografischer Bilder oder Texte ohne Einverständnis des Empfängers. In der Umfrage des WEISSEN RINGS unter Studierenden gaben elf der 140 Befragten an, digitale Gewalt erlebt zu haben, 28 Befragte hatten Vorfälle von digitaler Gewalt beobachtet. Bei sieben Betroffenen ging die digitale Gewalt von Dozierenden aus. Vier Studierende gaben an, digitale Gewalt von Mitarbeitern der Universitäten erfahren zu haben. 31 Studierende waren durch Kommilitonen digital angegriffen worden.

Wem das zu abstrakt ist, der braucht nur einen Blick in die Presse zu werfen, um anschauliche Beispiele zu finden. Im April 2024 berichten Medien von einem Professor der Fachhochschule Gelsenkirchen, der nach Aussagen männlicher Studierender diese sexuell belästigt und bedroht sowie intensiv über WhatsApp kontaktiert und unter Druck gesetzt haben soll. Im Juni 2024 wird ein 22-jähriger Informatikstudent der RWTH Aachen exmatrikuliert, weil er in digitalen Hochschulgruppen frauenfeindliche Nachrichten gepostet, Studentinnen und Dozentinnen aufgelauert und sie mit Drohbotschaften und Bildern belästigt hat.

Die Vernetzung über soziale Netzwerke gehört dazu. Digitale Gewalt damit leider auch.

Nach Meinung von Paula Paschke vernachlässigen die Hochschulen beim Kampf gegen digitale Gewalt eine weitere Komponente: den Schutz der Studierenden. Laut einer aktuellen Studie der gemeinnützigen Organisation HateAid ist die Altersgruppe der 18- bis 27-Jährigen am stärksten von digitaler Gewalt betroffen. Fast ein Drittel der befragten Betroffenen gab an, schon einmal Opfer von digitaler Gewalt geworden zu sein. Ein Rückzug aus der digitalen Welt ist aber keine Option. Vorlesungs- und Seminarmaterial wird heute vermehrt online zur Verfügung gestellt, Referatsgruppen koordinieren sich über WhatsApp, die Vernetzung über soziale Netzwerke wie Instagram, Snapchat oder TikTok gehört zum studentischen Leben einfach dazu. Digitale Gewalt damit leider auch.

Regeln für digitale Räume

Der Dozent tritt immer fordernder auf. Die Studentin traut sich nicht, Nein zu sagen. „Er war eine Autoritätsperson, bei der ich noch mehrere Prüfungen ablegen musste. Und durch diese Nähe und unsere unterschiedlichen Positionen hatte ich gar nicht die Möglichkeit, so zu reagieren wie zum Beispiel in der Freizeit. Wenn mich da jemand anspricht und ich will das nicht, dann sage ich: ‚Lass mich in Ruhe.‘“

Paula Paschke ist noch Studentin, als sie von der Initiative Digital Change Maker erfährt. Das Programm bietet Studierenden aus ganz Deutschland die Möglichkeit, die digitale Transformation an Hochschulen aktiv mitzugestalten. 2021 wird Paschke Teil der bundesweiten studentischen Denkfabrik. Sie lernt die Philosophiestudentin Lea Bachus aus Berlin kennen. Gemeinsam beschließen sie, Verantwortliche für das Thema zu sensibilisieren und für ein sicheres digitales Hochschulumfeld zu kämpfen. Frei von Hassrede, Diskriminierung und sexuellen Übergriffen.

Im Oktober 2022 berichten Paschke und Bachus auf dem „Let’s Talk:Campus“-Festival über den Status quo von Studierenden und digitaler Gewalt. Die anschließende Fragerunde dauert länger als geplant. „Viele Lehrende waren sehr überrascht und haben uns gesagt, dass sie das Thema gar nicht auf dem Schirm hatten. Sie waren dankbar, dass wir sie darauf aufmerksam gemacht haben“, berichtet Paula Paschke. „In weiteren Gesprächen kam immer wieder die Frage auf, ob man präventiv etwas in die Lehre einbauen könnte. Das hat uns motiviert, eine Netiquette zu verfassen und zur Verfügung zu stellen.“

Eine Netiquette legt die Regeln im Netz fest, an die sich alle Beteiligten halten müssen. In der Vorlage für die pädagogische Praxis haben Paschke und Bachus Eckpunkte festgehalten, die aus ihrer Sicht für ein gewaltfreies Miteinander wesentlich sind:

• Digitale Räume sollen Safe Spaces sein, verletzendes Verhalten wie Hate Speech oder Beleidigungen werden nicht akzeptiert.

• Die Kommunikation im Rahmen der Lehrveranstaltung hat über die digitalen Kanäle der Hochschule zu erfolgen. Ausnahme: In privaten Messenger-Diensten wie WhatsApp werden private Kontaktdaten sensibel behandelt und wird niemand ohne Zustimmung der Gruppe hinzugefügt.

• Audio- und Bildschirmaufnahmen von Personen sind verboten.

Die Netiquette verweist bei Verstößen gegen diese Regeln an die universitäre Anlaufstelle gegen Diskriminierung oder für Gleichstellung. Bei Zuwiderhandlung drohen Sanktionen seitens der Hochschule.

Nehmen die Studierenden diese Regeln wahr und vor allem ernst? Paula Paschke sagt: Es funktioniert. „Ich habe zum Beispiel mitbekommen, dass Studierende meiner Veranstaltung eine WhatsApp-Gruppe gegründet haben. Ich habe noch einmal auf die Netiquette hingewiesen und deutlich gemacht, dass das freiwillig ist und wir für die Veranstaltung eine andere Form der Kommunikation haben. Tatsächlich wurde viel expliziter gefragt, ob die Studierenden in diese Gruppe aufgenommen werden wollen, anstatt sie einfach hinzuzufügen, wie es sonst üblich ist.“

Allerdings ist die Netiquette nur ein kleiner Baustein im großen Ganzen dessen, was eine Hochschule zum Schutz vor digitaler Gewalt tun sollte. Aufklärung und Beratung für Studierende haben bislang kaum einen Stellenwert, wie eine Analyse der Redaktion zeigt. Dafür wurden die Webseiten der 100 größten Hochschulen in Deutschland dahingehend durchsucht, welche Beratungsstellen explizit Hilfsangebote zu digitaler Gewalt machen oder zumindest Informationen wie Veranstaltungen oder Broschüren dazu anbieten. Das Ergebnis: An lediglich 15 Universitäten ist dies der Fall. Paschke und Bachus sehen das größte Problem in der rechtlichen Stellung der Studierenden.

Rechtsschutz nur für Angestellte

Die Studentin ist überfordert damit, dem Mann einerseits als Dozenten und Vorgesetzten zu begegnen, andererseits als Verführer, der sich als potenzieller Partner sieht. „Vielleicht redet man sich selbst auch ein: Ich kann das irgendwie noch handhaben, ich kann damit umgehen. Und trotzdem quält einen die Frage: Ist das noch okay? Ab wann meldet man das? Und wem?“ Schließlich ist es heutzutage normal, ständig Nachrichten zu bekommen. Und blockieren? „Das wäre ja unhöflich, schließlich kommuniziert man mit einem Lehrenden einer Universität.“

Für Beschäftigte an Hochschulen gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Sie haben das Recht, sich bei sexueller Belästigung beim Arbeitgeber zu beschweren und, wenn keine geeigneten Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen werden, „ihre Tätigkeit ohne Benachteiligung zu beenden“. Studierende sind in solchen Fällen auf sich allein gestellt, erklärt Lea Bachus 2022 im Rahmen eines Talks: „Wären Studierende an der Hochschule angestellt, hätten sie andere Möglichkeiten. Für sie gilt das AGG nicht.“ Erlebt beispielsweise eine Studentin Belästigung, Diskriminierung oder digitale Gewalt durch den Dozenten und bleibt deshalb der Veranstaltung fern, wird diese nicht für das Studium anerkannt. Da ist es besser, sich mit dem Dozenten gut zu stellen, einen unpassenden Kommentar zu überhören oder zu überlesen, als die Zulassung zur Abschlussprüfung zu riskieren.

Es verändert sich etwas

Die Situation überschattet alles. „Der Sicherheitsraum, der die Universität eigentlich auch sein sollte, ist nicht mehr da. Und das erschwert natürlich das Ziel, irgendwie sein Studium zu beenden.“ Das liegt auch an ihren Selbstvorwürfen. „Wenn man Opfer einer Gewalttat wird, stellt man auch ganz viel die eigenen Fähigkeiten infrage.“ Dem Täter die Schuld für ihre Situation zu geben, kommt ihr lange gar nicht in den Sinn. Denn „sexuelle Gewalt geht mit Erniedrigung einher, und die besteht lange weiter“.

Paschke und Bachus veröffentlichen einen Forderungskatalog. Darin führen sie unabhängige Anlaufstellen für Betroffene auf, kostenlose Rechtsberatung für betroffene Studierende, leicht zugängliche Informationsmöglichkeiten und eine Verantwortung von Lehrenden und Hochschulleitungen für digitale Gewalt im Hochschulkontext.

Will Studierende aufklären und sensibilisieren: Laura Mößle. Foto: Julia Zipfel

Große Forderungen, die viel Umstrukturierung erfordern. Allerdings scheint man sie zu hören, wie ein Blick in die Landesgesetze annehmen lässt: In neun Bundesländern wurde das AGG inzwischen auf Studierende ausgeweitet. Damit gelten für sie an den Hochschulen dieser Länder die gleichen rechtlichen Möglichkeiten wie für Beschäftigte. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz oder die Hochschule Merseburg haben eigene Antidiskriminierungsrichtlinien verabschiedet, die ausdrücklich auch für Studierende gelten, und zwar sowohl im analogen als auch im digitalen Raum. Ob weitere Hochschulen nachziehen werden, bleibt abzuwarten. Allerdings: 77 Prozent der Studierenden gaben bei der Stichprobenumfrage des WEISSEN RINGS an, dass ihnen keine einschlägigen Maßnahmen an ihrer Universität bekannt seien.

Der WEISSE RING hakte mit einer weiteren Befragung bei den Pressestellen der 100 größten Hochschulen Deutschlands nach. Lediglich 17 Universitäten nahmen an der Umfrage teil. An acht Hochschulen waren Fälle digitaler Gewalt den Verantwortlichen bekannt. Allerdings fielen die Fallzahlen niedrig aus: An vier Universitäten waren insgesamt neun Dozierende betroffen.

Zwei Hochschulen meldeten zwei und sieben Studierende als Betroffene. Dazu schrieb ein Pressesprecher bei der Befragung: „Wir vermuten eine sehr hohe Dunkelziffer, da sich nur in seltenen Fällen Personen an uns wenden.“ Und die Universität Mannheim schreibt auf ihrer Website „Informationen und Hilfe bei Gewalt“: „Viele Betroffene nutzen die Möglichkeit zur Hilfe bei Anlaufstellen oder Beratung an der Universität Mannheim (noch) nicht.“

Es bleibt also viel zu tun. Obwohl Paula Paschke als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr beschäftigt ist, will sie das Projekt gemeinsam mit Lea Bachus weiter vorantreiben. So viel Zeit fürs Ehrenamt muss sein, denn: Studierende müssen darüber aufgeklärt werden, was sie im digitalen Raum erwarten können, und lernen, wie sie sich schützen können. „Ich weiß nicht, wie viele Studierende sich darüber Gedanken machen, was mit ihren Kontaktdaten passiert, was mit eventuellen Fotos passiert und wie sie im digitalen Hochschulraum auftreten. Das erfordert Medienkompetenz oder Mediensozialisation. Und die ist in der Schulbildung nicht vorgesehen.“

Und wenn es gar nicht so weit käme?

Über diesen Bildungsweg denkt Laura Mößle nach, als sie eine Lehrveranstaltung für das Sommersemester 2024 plant. Mößle, Anfang 30, hat in Religionspädagogik promoviert und beendet gerade einen zweijährigen Aufenthalt als Research Fellow am Safeguarding Institut an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, als sie einen Lehrauftrag aus Frankfurt am Main erhält. Sie soll am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität ein Seminar zu digitalen Grenzverletzungen für Lehramtsstudierende halten. Dabei fallen ihr die immer häufigeren Berichte aus Schulen ein, in denen pornografisches Material unter Jugendlichen kursiert. Auch wenn die angehenden Lehrerinnen und Lehrer das vielleicht nicht wahrhaben wollen, ist es Laura Mößle wichtig, „ihnen die Angst vor dem ganzen Themenbereich Missbrauch zu nehmen und sie stattdessen in ihrer Kompetenz zu stärken. Das Ziel ist es, dass die Studierenden sagen: ‚Jetzt kann ich mit den Kindern und Jugendlichen darüber sprechen, wie sie ihre Grenzen setzen können, wie sie diese auch einhalten können.‘ Viele Lehrerinnen und Lehrer gehen der Thematik lieber aus dem Weg.“ Ein besonderer Schwerpunkt der Religionspädagogik in Frankfurt liegt auf dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht – für eine praktische Medienkompetenz. „Es braucht aber auch eine reflexive Medienkompetenz, damit unsere angehenden LehrerInnen wissen, wie gute Verhaltensformen im Netz aussehen.“

Was für die heutigen Studierenden noch ungewöhnliche Erfahrungen sein mögen, findet laut Laura Mößle bei den Jüngsten bereits statt. Einige ihrer Studierenden arbeiten nebenbei in Kindertagesstätten oder Horten und berichten in der Uni von ihren Erfahrungen dort.

„Eine Studentin hat heute erzählt, dass sich ihr eines der Kinder, die sie nachmittags betreut, anvertraut hat. Das Mädchen erklärte, dass ihr jemand komische Nachrichten auf Snapchat schreibe. Das Mädchen wollte die Nachrichten erst gar nicht zeigen. Die Studentin blieb jedoch am Ball und fragte immer wieder nach. Schließlich durfte sie den Chat sehen. Die Nachrichten waren sexualisiert und grenzüberschreitend. Mit Hilfe der Studentin gelang es dem Mädchen, den Kontakt abzubrechen.“

 

Was früher als Mutprobe auf dem Schulhof ausgetragen wurde, findet heute als sogenannte Challenge im digitalen Raum statt.

Mößle sagt, dass Kinder und Jugendliche oft das Bedürfnis haben, mit jemandem über ihre digitalen Erfahrungen zu sprechen, aber nicht wissen, wem sie sich anvertrauen können. „Da braucht es ein Gesprächsangebot von Pädagoginnen und Pädagogen und Lehrkräften, die das im Blick haben.“ Der Druck, den die Jugendlichen durch die sozialen Medien verspüren, ist enorm. Was früher als Mutprobe auf dem Schulhof ausgetragen wurde, findet heute als sogenannte Challenge im digitalen Raum statt. Wie zuletzt bei der „Hot Chip Challenge“, bei der man vor laufender Kamera extrem scharfe Chips essen musste. In Bayern kamen eine 13- und eine 14-Jährige nach dem Verzehr mit Magenkrämpfen und Atemnot ins Krankenhaus. Die Challenge ging weiter. Dann starb in den USA ein 14-Jähriger, woraufhin der Hersteller die Chips vom Markt nahm.

Auch Mobbing erreicht neue Dimensionen. Mitschüler werden nach dem Sport in der Umkleidekabine in peinlichen Situationen fotografiert und dann mit den Fotos erpresst. Sie brauchen jemanden, der den Ernst der Lage versteht. Eine Vertrauensperson, die weiß, welche Katastrophe ein peinliches Bild für einen Jugendlichen im Internet sein kann. Und die den Tätern auch deutlich macht, ab wann sie sich strafbar machen und welche Folgen das unbedachte Posten für alle haben kann.

 

Medienkompetenz als Prävention

Ein Nebeneffekt der Präventionsarbeit ist die Sensibilisierung der Studierenden. Vielleicht erkennt der eine oder andere Teilnehmer nach dem Seminar von Mößle, dass das komische Gefühl, dass er nach einer digitalen Begegnung hatte, gerechtfertigt war. Denn die Befragung des WEISSEN RINGS unter den Studierenden hat gezeigt: Viele sind zwar dem gesamten Onlineerlebnis ständig ausgesetzt, können aber mit dem Begriff „Digitale Gewalt“ nichts anfangen. Für die Kinder wird im Unterricht ein Grundgedanke gelegt, der ihnen noch im Erwachsenenalter helfen kann. „Es kann sein, dass man die ganze Kindheit und Jugend nicht von digitaler Gewalt betroffen ist. Dann merkt man irgendwann als Erwachsener: Man ist in eine komische Situation geraten, in der man sich nicht wohlfühlt“, sagt Laura Mößle. „Und dann gibt es andere, die auch dieses Wissen haben und einem sagen: Das ist Erpressung oder Grenzüberschreitung, was diese Person mit dir macht.“

Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer können mit diesem Wissen Kindern die nötigen Kompetenzen vermitteln, um im Netz sicher zu sein und sich im Notfall selbstbewusst abzugrenzen oder Hilfe zu suchen. Vielleicht wächst so eine Generation heran, die digitale Gewalt im Keim erstickt. Die sich traut, sich auch an Universitäten ganz selbstverständlich gegen solche Übergriffe zu wehren, und damit eine neue Normalität schafft: die eines sicheren digitalen Raumes, in dem klare Regeln für alle Studierenden, Forschenden und Lehrenden gelten.

Digitale Gewalt wirkt genauso nach wie analoge. Die Situation der anonymen Studentin hat sich aufgelöst, sie hat keinen Kontakt und keine Berührungspunkte mehr mit dem Dozenten. Das Geschehene verfolgt sie aber noch. „Man hat schon so eine Art Verfolgungswahn, vielleicht auch, weil man keine Kontrolle darüber hat, welche Verbreitung dieser Kommunikation vielleicht stattgefunden hat. Und welche Folgen das für mein weiteres Leben haben könnte.“ Denn vielleicht existieren die digitalen Grenzverletzungen, die sie erlebt hat, auf irgendeinem Server oder Handy noch weiter.

Lebensrettende Fußfessel

Erstellt am: Dienstag, 5. Dezember 2023 von Karsten

Lebensrettende Fußfessel

Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Männern zu schützen, das ist das Ziel von gerichtlichen Annäherungsverboten. Aber die werden in Deutschland tausendfach ignoriert – und Frauen deshalb bedroht, verletzt, getötet. Dabei könnten diese Frauen geschützt werden. Spanien macht vor, wie es funktionieren kann, während sich in Deutschland Bund und Länder gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Eine Recherche aus der Redaktion des WEISSEN RINGS.

Elektronische Fußfessel nach spanischem Modell: Eine Grafik von zwei Beinen. Eine Frau steht gegenüber einem Mann, der eine Fußfessel trägt.

Wie der Staat Frauen besser vor Gewalt schützen könnte.

I. Die rote Warnlampe

Frau S. reicht zur Begrüßung die linke Hand, ihr rechter Arm ist taub seit dem Messerangriff. Fast 40-mal stach ihr Ehemann auf sie ein, nachdem er ihr an jenem Donnerstagabend im Juli 2021 auf offener Straße aufgelauert hatte. Ihr Körper ist nun narbenübersät, am Arm, auf dem Bauch, im Gesicht, aber die tiefsten Narben trägt Frau S. unter der Haut: Sie schläft schlecht, sie verlässt kaum das Haus, in ihr tobt permanent die Angst. „In meinem Kopf brennt immer eine rote Warnlampe“, sagt sie: „Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr!“

Trotzdem ist Frau S., 49 Jahre alt, heute zum Gespräch ins Germersheimer Stadthaus gekommen. Ihre Tochter hat sie mit dem Auto hergefahren, damit die Mutter nicht allein durch die Außenwelt gehen muss. „Ich will, dass die ganze Welt meine Geschichte hört“, sagt Frau S.

Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Und das sind nur die bekannten Fälle, die der Polizei angezeigt werden; das Dunkelfeld ist Schätzungen zufolge vier- bis fünfmal so groß. Eigentlich muss der Satz lauten: Alle 45 Sekunden wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt.

Für viele Frauen endet diese Gewalt tödlich. Jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. Im vergangenen Jahr waren es 133 tote Frauen.

Essen (Nordrhein-Westfalen), Januar 2023

Eine 50-jährige Frau wird von ihrem Schwiegersohn mit dem Küchenmesser erstochen; ihre Tochter hatte sich wenige Tage zuvor von dem Mann getrennt und war zu ihrer Mutter gezogen. Wegen gewaltsamer Übergriffe gab es gegen den Mann ein gerichtliches Annäherungsverbot.

Häufig hatten sich die Frauen vor der Tat hilfesuchend an die Behörden gewandt. Oft sprach ein Gericht ein Kontakt- und Näherungsverbot gegen den prügelnden oder drohenden Mann aus, manchmal per Eilentscheid noch am Tag der Antragstellung. Doch die Gewalttäter ignorieren diese Verbote immer häufiger. Die offizielle Kriminalstatistik notierte im Jahr 2017 für Deutschland 5.932 Fälle, in denen gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz verstoßen wurde. Im Jahr 2022 waren es 6.587 Verstöße, ein Anstieg um elf Prozent binnen fünf Jahren.

Wie oft es trotz eines bestehenden Kontaktverbots zu einer schweren Gewalttat bis zum Mord kam, erfasst die Kriminalstatistik nicht. Auch eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS an die einzelnen Bundesländer brachte kein Ergebnis. Wir haben deshalb versucht, uns mittels einer aufwändigen Google-Recherche einen Eindruck von der Dimension zu verschaffen. Dabei haben wir nach im Jahr 2023 veröffentlichten Presseartikeln gesucht, in denen über schwerste Gewalttaten gegen Frauen im Zusammenhang mit einem bestehenden Kontaktverbot berichtet wird. Zum Zeitpunkt unserer Suche Mitte Oktober 2023 waren 109 verschiedene Texte online über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden – von Männern, die sich ihnen laut Gerichtsbeschluss nie hätten nähern dürfen.

Sembach (Rheinland-Pfalz), Februar 2023

Eine 48-jährige Frau stirbt, nachdem ihr Mann ihr im Auto auflauerte, ihren Wagen auf einer Hauptstraße rammte und sie mit 15 Schüssen tötete. Das Opfer hatte nach der Trennung ein Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Ex-Partner erwirkt.

II. „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“

Frau S. war 14, als sie ihrem Mann versprochen wurde. Mit 15 heiratete sie, mit 16 bekam sie das erste Kind. Drei weitere Kinder folgten. Die Kinder, sie sind ihr Ein und Alles, Frau S. erzählt viel von ihnen. „Nur ihretwegen habe ich das alles 30 Jahre lang ertragen“, sagt sie. Sie meint die Angst vor ihrem Mann. Den ständigen psychischen Druck. Die Ehe, die sie nie wollte.

Als die Kinder erwachsen waren, wollte Frau S. sich trennen. 2019 erfuhr ihr Mann von ihren Scheidungsplänen, er griff sie körperlich an. Die Situation eskalierte. Frau S. zeigte ihn an, immer wieder. Die Polizei verwies ihn der Wohnung. Nachts um drei brach der Mann wieder ins Haus ein, er hatte eine Schusswaffe dabei. Der Sohn rang den Mann nieder, „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“, schrie er.

Der Sohn baute ein neues Sicherheitsschloss ein, der Mann versuchte mehrfach, sich bei der Sicherheitsfirma den Zugangscode zu erschleichen. Er bedrohte Frau S., „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Er stalkte sie, saß am Straßenrand im Auto und beschimpfte sie: „Hure! Schlampe!“ Er tauchte bei der Arbeit im Markt auf, er bekam Hausverbot. Er ortete ihr Auto mit einem GPS-Gerät. Er verfolgte sie und versuchte sie von der Straße zu drängen. Frau S. erwirkte Annäherungs- und Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz, der Mann hielt sich nicht daran, das Stalking ging weiter. Ein Gericht verurteilte ihn deswegen zu neun Monaten Haft auf Bewährung, er hörte auch danach nicht auf.

Elektronische Fußfessel liegt auf einem Tisch. Davor steht ein Laptop und auf dem Bildschirm sieht man geografische Angaben.

Auf dem Monitor können die Überwacher Verbotszonen sehen, aber auch Details wie die Geschwindigkeit, mit der die Fußfessel bewegt wird. Foto: Christoph Klemp

In Rheinland-Pfalz gibt es ein sogenanntes Hochrisikomanagement für schwere Fälle von häuslicher Gewalt. Der Fall S. galt längst als Hochrisikofall. Bei der letzten Risikokonferenz war auch wieder Heinz Pollini dabei, Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS in Germersheim. Er erinnert sich: „Alle sagten: Da wird etwas passieren.“

Nur wenige Wochen nach der Konferenz stach der Mann Frau S. auf offener Straße nieder, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retteten ihr das Leben.

 

„Warum ist so eine Tat nicht zu verhindern?“

Fragt Frau S.

Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon. In Berlin hatte sich die sechsfache Mutter Zohra Mohammad Gul mehrfach an die Behörden gewandt, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt erstattet und eine Gewaltschutzanordnung für ihren Ex-Mann erwirkt. Trotzdem wurde sie am 29. April 2022 von ihm in Pankow mit 13 Messerstichen und -schnitten ermordet. Die Geschwister der Getöteten schrieben in einem offenen Brief: „Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte.“

Ein Kontakt- und Annäherungsverbot gab es auch im Fall des Zahnarztes, der am 19. Mai 2021 in Dänischenhagen bei Kiel seine getrennt lebende Ehefrau mit 50 Schüssen aus einer Maschinenpistole niedermetzelte und zwei weitere Männer tötete – den neuen Lebensgefährten und einen gemeinsamen Bekannten, den er wohl für die Trennung verantwortlich gemacht hatte. Der Täter wurde wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt. Vor den Morden – so wurde es im Gericht vorgetragen – hatte er seiner Ex-Partnerin nachgestellt, ihr Auto mit einem GPS-Sender verfolgt und das Annäherungsverbot einfach ignoriert.

In Freiburg stellte eine Gerichtsvollzieherin im Mai 2017 einem drohenden Mann ein im Eilverfahren beschlossenes Kontakt- und Annäherungsverbot „durch Einlegen in den Briefkasten“ zu. Nur wenige Wochen später rammte der Mann auf offener Straße den Wagen seiner Ex-Partnerin Anne, erstach zunächst sie und anschließend den gemeinsamen vierjährigen Sohn Noah, der auf dem Rücksitz saß.

Frankfurt am Main (Hessen), Juli 2023

Eine dreifache Mutter (40) wird im Stadtteil Frankfurter Berg von ihrem Ehemann getötet. Zwei Monate zuvor hatte das Amtsgericht Frankfurt ein Annäherungs- und Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Mann beschlossen.

Die Berliner Opferrechtsanwältin Asha Hedayati schreibt in ihrem Buch „Die stille Gewalt – Wie der Staat Frauen alleinlässt“: „Demonstrierende Klimaaktivist*innen werden in Präventivhaft genommen, und es ist frustrierend zu sehen, dass der Staat sich in manchen Bereichen sehr konsequent zeigen kann. Wenn Mandant*innen nach der Trennung von ihrem Ex-Partner gestalkt und bedroht werden und sich an die Polizei wenden, hören sie fast immer, es müsse ,erst etwas passieren‘, bevor sie aktiv werden könne.“

Christina Clemm ist Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und vertritt seit fast dreißig Jahren Gewaltopfer. In ihrem aktuellen Buch „Gegen Frauenhass“ schreibt sie über Gewaltschutzanordnungen: „Es gibt Täter, die halten sich daran. Meist sind es die, die nicht besonders gefährlich sind. Die anderen verstoßen dagegen, erhalten eine Strafanzeige nach der anderen, ein Ordnungsgeld nach dem anderen. Bezahlen Ordnungsgelder, warten auf Strafverfahren und machen weiter.“ Einmal, schreibt Clemm, habe sie für eine Mandantin 85 Strafanzeigen erstattet. „Es half gar nichts.“

III. Alarm im Hochsicherheitstrakt

Es wäre falsch zu sagen, niemand habe Frau S., ihre Angst und die Drohungen ihres Mannes ernst genommen. Die Polizei kam wieder und wieder. „Er ist gefährlich“, sagte schließlich ein Polizist zu ihr, „Sie müssen hier weg.“ Frau S. kam in ein Schutzprogramm. Sie musste ihr Mobiltelefon abgeben, Polizisten brachten sie an einen unbekannten Ort.

Es gibt zwei Sachen im Leben, die Frau S. wirklich wichtig sind. Die erste Sache ist ihr Job im Markt. Die zweite und noch wichtigere Sache sind ihre Kinder. Im Schutzprogramm durfte Frau S. nicht mehr arbeiten, und sie durfte ihre Kinder nicht mehr sehen. Sie konnte lediglich mit ihnen telefonieren, nicht einmal Videoschaltungen durfte sie nutzen. Jeden Tag rief sie an. „Ich musste ihre Stimmen hören“, sagt sie. „Ich hatte so Angst, dass er ihnen etwas antut, wenn er mich nicht kriegen kann.“ Jeden Tag weinte sie. „Der Preis für den Schutz der unschuldigen Frauen ist viel zu hoch“, sagt sie.

Der WEISSE RING hat 2021 den Freiburger Mordfall Anne und Noah zum Anlass genommen, einen Brandbrief an 70 hochrangige Politiker zu schreiben, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz schützen niemanden, wenn sie nicht kontrolliert werden“, hieß es in dem Schreiben. Der Verein forderte die Politik zum sofortigen Handeln auf und empfahl dringend eine elektronische Aufenthaltsüberwachung für Gewalttäter, landläufig „Fußfessel“ genannt, nach dem Vorbild Spaniens.

Der Einsatz der elektronischen Fußfessel ist in Deutschland seit 2011 im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht erlaubt, um Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüßung ihrer Haftstrafen oder ihrer Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu überwachen, sofern von ihnen noch eine Gefahr ausgeht. Die bis dahin übliche deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 für rechtswidrig erklärt. Zwei Jahre später bewertete auch das Bundesverfassungsgericht die Regelungen als verfassungswidrig. In Deutschland mussten Dutzende Sexual- und Gewaltstraftäter in die Freiheit entlassen werden, obwohl sie weiter als gefährlich galten. Sie wurden damals rund um die Uhr von der Polizei überwacht. Die elektronische Fußfessel sollte für Entlastung sorgen.

Seit dem Neujahrstag 2012 überwacht die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder (GÜL) alle Personen, die in Deutschland eine Fußfessel tragen. Ursprünglich in Bad Vilbel, Hessen, gegründet, zog die GÜL in ein Hochsicherheitsgefängnis in Weiterstadt um, als sie damit begann, auch islamistische Gefährder zu überwachen. Dieser Umzug auf die grüne Wiese in der Nähe von Darmstadt war aus Sicherheitsgründen notwendig.

Bei der Anfahrt zur GÜL steigt Besuchern der beißendsüßliche Geruch des nahen Kompostwerks in die Nase. An der Pforte müssen sie Ausweis und Autoschlüssel abgeben, Smartphones sind verboten. GÜL-Leiterin Alma Friedrichs muss auf dem Weg in ihr Büro mit einem großen Schlüssel schwere Gittertüren auf- und hinter sich wieder zuschließen. Im Innenhof der JVA erinnern aufgetürmte Mauerreste an einen Anschlag im Jahr 1993. Damals hatten RAF-Terroristen den nahezu fertigen JVA-Bau in die Luft gesprengt.

Bonndorf (Baden-Württemberg), Juni 2023

Eine 35-jährige Frau wird von ihrem Ex-Partner mit mehreren Messerstichen getötet. Erst im Mai 2023 hatte die Frau gegen den Mann ein familiengerichtliches Annäherungsverbot erwirkt.

Die Büros der GÜL befinden sich im ersten Stock des Verwaltungstraktes der JVA. Wären da nicht die Gitter vor den Fenstern, könnte es jedes andere Büro in Deutschland sein. Große Pflanzen auf den Fensterbänken sorgen für eine freundliche Atmosphäre. Ein Mann und eine Frau, die aus Sicherheitsgründen ihren Namen nicht in diesem Text lesen möchten, sitzen in dick gepolsterten Gaming-Stühlen an ihren Schreibtischen. Sie haben jeweils drei Monitore vor sich.

Plötzlich herrscht Hochbetrieb, rote Flecken im Gesicht der Mitarbeiter verraten die Anspannung: Soeben hat eine Fußfessel Alarm geschlagen! Ihr Träger befindet sich an einem Ort, an dem er nicht sein dürfte. Die Mitarbeiterin versucht sofort, ihn über das Handy zu erreichen, das er mit seiner Fußfessel von der GÜL bekommen hat. Doch er geht nicht dran. Also informiert die GÜL die Polizei, gibt die Koordinaten der Fußfessel durch. Dann heißt es: warten.

Der Vorfall lässt sich auf zwei großen Bildschirmen an der Wand neben der Eingangstür beobachten: Zeitstempel des Alarms, Status des Vorfalls, die Fußfesselträger (und nur verschwindend wenige Fußfesselträgerinnen) sind anonymisiert und tragen hier Kürzel wie „BY1234“ oder „NW5432“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen nur das Nötigste über ihre „Probanden“, wie sie die Fußfesselträger nennen. Für den Fall eines Internetausfalls hängen alle notwendigen Akten und Kontaktdaten als Papier-Backup in Hängeregistern im Regal. Die Zentrale ist ganzjährig rund um die Uhr jeweils mit zwei Mitarbeitenden besetzt, zwölf Stunden dauert eine Schicht. „Hier ist sich jeder seiner großen Verantwortung bewusst“, sagt Friedrichs.

Jeder muss in der Lage sein, in wenigen Sekunden von 0 auf 100 zu sein, um bei einem Alarm adäquat reagieren zu können. Bis zu 1.000 Alarme erleben die 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GÜL jeden Monat. Rund 30 davon, schätzt Alma Friedrichs, enden mit einem Polizeieinsatz. Die meisten Alarme gehen auf das Konto schwacher Batterien.

Die elektronische Fußfessel einzusetzen, um Kontakt und Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz zu überwachen, ist eine politische und rechtliche Frage. „Technisch ist das kein Problem, auch das spanische Modell nicht“, sagt Alma Friedrichs. „Das ließe sich zeitnah hier bei uns in der GÜL einrichten.“ Bei der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) seien die entsprechenden Geräte bereits getestet worden.

Die Polizei meldet sich in der GÜL-Zentrale zurück: Sie hat den vermissten Fußfesselträger angetroffen. Er warte auf den Fahrdienst, der unpünktlich sei. Sein GÜL-Handy habe er in der Einrichtung vergessen, in der er lebe, deshalb habe er den Anruf nicht annehmen können.

Fesseln für mehr Freiheit

Die Diskussion über die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Deutschland geht weiter. Das spanische Modell gilt Befürwortern als erfolgreiches Vorbild.

IV. Hunderte gerettete Frauenleben – in Spanien

Frau S. brach das Schutzprogramm nach wenigen Wochen ab. Sie hatte ihren Sohn drei Tage lang nicht erreichen können, sie wurde halb wahnsinnig vor Angst um ihn. Sie fragt: „Warum darf ich meine Kinder nicht mehr sehen? Warum muss ich weg, nicht der Mann? Warum wird er nicht überwacht oder eingesperrt?“

Spanien setzt seit 2009 die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Vor allem umfangreiche Studien der spanischen Kriminologin Lorea Arenas García bescheinigen dem Modell großen Erfolg: Es sei im Rahmen des Programms in den ersten zehn Jahren keine Frau getötet worden. Entweder weil die Schutzzone eingehalten worden sei oder weil die Polizei rechtzeitig habe eingreifen können, wenn ein Fußfesselträger die Zone betreten habe. Rund 95 Prozent der zu schützenden Personen hätten zudem angegeben, dass sie sich mit dem Gerät sicher und geschützt gefühlt hätten, beschreibt García. Ihre bislang letzte Studie ist im Jahr 2019 erschienen, dutzendfach zitiert und in Teilen frei im Internet recherchier- und lesbar.

Laut der seriösen spanischen Tageszeitung El País ist das Fußfessel-Programm bis heute zu 100 Prozent erfolgreich. „Die sogenannten Anti-Missbrauchs-Bänder, die die Polizei alarmieren, wenn sich der Täter dem Opfer nähert, wurden bereits in mehr als 12.300 Hochrisikofällen eingesetzt, und keine Frau wurde getötet , während sie es trug“, heißt es dort in einem Artikel vom 25. November 2022. Zum Vergleich schreibt der Autor, dass seit 2006 in Spanien 107 Frauen ermordet worden seien, während eine Schutzanordnung in Kraft war, diese aber nicht mit einer Fußfessel überwacht worden ist.

In Deutschland wird das Instrument der Fußfessel selten genutzt. Seit der Einführung geschah das bis zum 31. Oktober 2023 nur 425-mal, fast ausschließlich im Rahmen der Führungsaufsicht oder bei extremistischen Tätern. Seit 2017 kann die Fußfessel in ganz Deutschland nicht nur verurteilten Straftätern im Zuge der Führungsaufsicht angelegt werden, sondern auch islamistischen Tätern. Weiter darf das Bundeskriminalamt die Fußfessel bei Gefährdern einsetzen, um Terroranschläge zu verhindern.

Wenn es aber um häusliche Gewalt geht wie in Spanien, wird die (Rechts-)Lage unübersichtlich. Bislang kann in solchen Fällen eine elektronische Aufenthaltsüberwachung in sieben Bundesländern angeordnet werden, geregelt ist das rechtlich zumeist über das Polizeigesetz. In einem weiteren Bundesland, in Brandenburg, befindet sich eine solche Regelung aktuell im Gesetzgebungsprozess.

In Hamburg zum Beispiel legt Paragraf 30 des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei fest, dass zu diesem Mittel gegriffen werden darf, wenn „dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist und die zu verpflichtende Person für die Gefahr verantwortlich ist“. Die Anordnung könne insbesondere mit einem Betretungs-, Aufenthalts-, Kontakt- oder Näherungsverbot verbunden werden.

Aber nur ein einziges Mal ordnete Hamburg seit Ende 2019 das Tragen einer Fußfessel wegen Beziehungsgewalt an. Der vorbestrafte Gewalttäter wehrte sich dagegen vor Gericht – und er bekam recht. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg liest sich wie ein Krimi. Das Gericht listet mehr als 20 Gewalttaten, Drohungen und Stalking-Taten des Mannes gegenüber der Frau auf, darunter Faustschläge ins Gesicht und Sätze wie „Ich bring sie um“, außerdem mehr als zehn Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, Haftbefehle und verhängte Bewährungsstrafen. Dennoch kommt das Gericht zu dem Schluss: „Die Voraussetzungen für die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung liegen nicht vor.“

Kiel/Rendsburg (Schleswig-Holstein), September 2023

Die Polizei befreit eine 29-jährige Rendsburgerin in Kiel vom Gelände einer ehemaligen Kaserne. Ihr Entführer hatte zuvor Bilder der gefesselten Frau auf Instagram gepostet. Gegen ihn bestand ein Annäherungs- und Kontaktverbot, weil er die Frau im Frühjahr vergewaltigt und mit einem Cricket-Schläger verletzt haben soll. „Muss das Messer erst stecken, bevor ich keine Angst mehr haben muss?“, hatte die Betroffene im Juli auf Instagram um Hilfe gebeten.

Die Leiterin der Überwachungsstelle, Alma Friedrichs, in ihrem Büro im hessischen Weiterstadt. Im Vordergrund: Fußfesseln. Foto: Christoph Klemp

Vielleicht auch deshalb verweist Jan Hieber, Chef des Landeskriminalamtes Hamburg, im Interview mit dem WEISSEN RING auf die „extrem hohen Hürden“, die mit der elektronischen Fußfessel verbunden sind, und sagt: „In Hamburg treffen wir in der Regel andere Maßnahmen.“

Bayern, Nordrhein-Westfalen und jüngst auch Hessen haben den Einsatz der elektronischen Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt als „gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme“ in ihren Landespolizeigesetzen ermöglicht. In Hessen kann seit dem Sommer 2023 nach dem Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen ein polizeilicher Platzverweis mit der Fußfessel verbunden und so konsequenter überwacht werden. Das sind jedoch nur kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahmen für Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewaltschutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.

In Nordrhein-Westfalen hat es in den 47 Kreispolizeibehörden des Bundeslandes seit der Gesetzesnovelle im Jahr 2018 nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem die Polizei die elektronische Fußfessel im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt eingesetzt hat. Dies teilt das Landeskriminalamt auf Nachfrage des WEISSEN RINGS mit.

„Bayern hat nun das schärfste Polizeigesetz in Deutschland“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ im Mai 2018. Tatsächlich nutzt Bayern die elektronische Aufenthaltsüberwachung, im Behördendeutsch kurz EAÜ genannt, von allen Ländern am häufigsten zum Schutz vor Gewalttätern. Seit Einführung gab es in immerhin 24 Fällen „Beschlüsse zur Durchführung einer präventiv-polizeilichen EAÜ“, teilt das Innenministerium in München auf Nachfrage mit. „Insbesondere im Hinblick auf festgelegte Verbotszonen, die der Betroffene nicht betreten darf, stellt sich die Umsetzung der Überwachung der Maßnahme problemlos dar“, heißt es weiter. Die bisherigen Erfahrungen mit der Fußfessel wertet das Ministerium „durchgängig als positiv“.

München (Bayern), November 2023

Bedroht, geschlagen und bestohlen wurde eine Frau im November 2023 durch ihren Ex-Partner, obwohl gegen den Mann seit Juli eine gerichtliche Schutzanordnung bestand. Von August bis Anfang Oktober hatte er wiederholt gegen die Schutzanordnung verstoßen und der Frau das Leben zur Hölle gemacht.

V. Kurz vorm Schreien

Frau S. lebt in Rheinland-Pfalz, in ihrem Fall gab es die Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht. Vielleicht wäre sie ein bisschen besser dran gewesen, wenn sie in Bayern gemeldet gewesen wäre. Sehr viel besser wäre sie wohl dran gewesen, wäre sie Spanierin.

Der hessische Justizminister Professor Roman Poseck sagt im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS, er sei offen für das spanische Modell. „Spanien macht gute Erfahrungen mit diesem Modell, und deshalb sollten wir uns damit beschäftigen, weil jede Annäherung auffällt – beispielsweise auch beim Einkaufen oder an anderen Orten“, sagt er. „Warum sollten wir nicht von Spanien lernen und uns die guten Erfahrungen nicht uns zunutze machen?“ Auf Initiative Hessens hat die Justizministerkonferenz den Bundesjustizminister Ende Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der elektronischen Fußfessel bundesweit rechtlich verbunden werden können.

Im November 2023 hat das Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) fertig geprüft. Ergebnis: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre aus Sicht des Ministeriums „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“. Das Ministerium verweist auf die „zeitlichen Verzögerungen“, die die familiengerichtlichen Gewaltschutzanordnungen oft mit sich bringen, und auf die Zuständigkeit der Polizei. „In einigen Polizeigesetzen der Länder ist die Befugnis zur Anordnung einer elektronischen Fußfessel zur Flankierung von Schutzmaßnahmen auch bereits verankert, so in § 34c des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“, schreibt das Ministerium und gibt das Thema damit zurück an die Länder.

Nordrhein-Westfalen. Anzahl der Fußfessel-Anordnungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt: null.

Altena (Nordrhein-Westfalen), August 2023

Eine Polizistin wird durch einen Mann verletzt, der in der Fußgängerzone randaliert. Der Mann war trotz gerichtlichen Annäherungsverbots in einem Geschäft aufgetaucht, in dem seine Ex-Partnerin arbeitet.

Wir haben das Buschmann-Ministerium auch konkret nach dem Vorbild Spanien gefragt. Antwort: „Das von Ihnen angesprochene spanische Modell ist dem Bundesministerium der Justiz bekannt.“

Beim spanischen Modell müssen für die Überwachung beide, Mann und Frau, ein GPS-Gerät tragen: der Mann zwangsweise, die Frau freiwillig. Bei der Frau ist es eine Art Handy. Frau S. sagt: „Aber natürlich hätte ich das gern getragen!“

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) hat sich in einem Positionspapier für den Einsatz der elektronischen Fußfessel ausgesprochen: „Als Straf- wie auch mögliche Präventionsmaßnahme gegen Täter, bei denen der Verdacht auf Gewaltbereitschaft besteht und die bereits gegen eine Gewaltschutzanordnung verstoßen haben, sollte deshalb die elektronische Fußfessel ermöglicht werden. Sie sollte die Behörden alarmieren, sobald der vom Gericht angeordnete Mindestabstand zum (potenziellen) Opfer unterschritten wird.“

Elektronische Fußfessel: Grafik zeigt die Karte von Deutschland und Bundesländer.

Die Anwältin Asha Hedayati schreibt: „Ich bin wütend darüber, dass arme migrantische Frauen noch schlechteren Zugang zu Schutz haben, dass jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners stirbt. Der einzige Grund, warum ich nicht regelmäßig in Gerichtsverhandlungen vor Ohnmacht und Wut anfange zu schreien, ist die gut erlernte Fähigkeit, meine Gefühle im Griff zu behalten.“

Der Mann von Frau S. sitzt im Gefängnis, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstraße. Er ist weg, die Angst ist geblieben; das Revisionsverfahren läuft noch. „Er hat gesagt: Du wirst mich niemals los, ich werde immer da sein“, sagt Frau S.

Das Gespräch im Stadthaus ist beendet, Frau S. hat alles gesagt. Sie will nach Hause gehen, „ich schaffe das“, sagt sie. Die Außenwelt ist nur ein paar hundert Meter groß, Germersheim ist eine kleine Stadt, Frau S. hat es nicht weit nach Hause. Auch der Tatort liegt nicht weit entfernt. Eng in ihren dicken Mantel geschnürt, macht sie sich auf den Weg, eine kleine, tapfere Frau mit eingezogenem Kopf. Sie geht eng an den Mauern der Häuser entlang, ihre Schultern berühren fast den Stein.

Transparenzhinweis:
Nachtrag vom März 2024: zukünftig kann die Polizei in Brandenburg einem Täter untersagen, sich dem Opfer zu nähern oder Kontakt mit ihm aufzunehmen. In besonders schwerwiegenden Fällen sollen es außerdem möglich sein, eine elektronische Fußfessel anzuordnen. In seinen Strafrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen.

Hilf(e)los und gottverlassen

Erstellt am: Mittwoch, 31. Mai 2023 von Sabine

Hilf(e)los und gottverlassen

Hedwig T. sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verjährung nicht. Ein Text über eine monatelange Suche nach Antworten, über hilflose Institutionen und über Frau T., die hilfelos bleibt.

Illustration: Alexander Lehn

Eine Frau sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Der Pfarrer streitet alles ab. Juristisch ist die Tat verjährt, der Staat ermittelt nicht. Aber die Frau und der Vorwurf sind trotzdem da. Wer geht der Sache jetzt nach? Wer sorgt für Aufklärung? Wer prüft, ob es vielleicht andere Betroffene gibt?

Ein Text über eine monatelange Suche nach Antworten, über hilflose Institutionen und über eine Frau, die hilfelos bleibt.

Sie sieht noch alles vor sich: den Kindergarten, den Raum mit Tisch und Stuhl, die brennende Kerze auf dem Tisch. Den Pfarrer in seinem schwarzen Anzug. Die Mutter, die sie allein zum Pfarrer hineinschickt. Sie sieht sich selbst, sieben Jahre alt: ein kleines Mädchen voller Angst, das seine erste Beichte vor der Erstkommunion ablegen soll.

Was in dem Raum passiert, sieht sie nicht.

Ihre Erinnerung setzt erst am Abend wieder ein. Sie liegt im Bett mit ihrer kleinen Schwester und zeigt ihr die Verletzungen, diese großen roten Flecken. Sie erzählt ihr von den Schmerzen und vom Brennen im Intimbereich. Die Schwester sagt, das musst du der Mutter sagen! Als die Mutter zum Abendgebet zu ihr ans Bett kommt, fasst sie sich ein Herz. Sie bittet die Mutter: „Der Papa muss dem Pfarrer sagen, dass er so etwas nie wieder machen darf!“

Sie hört noch die Antwort der Mutter: „Über so etwas darfst du mit niemandem reden! Über so etwas musst du für immer schweigen!“

45 Jahre später sitzt das kleine Mädchen von damals vor einem Nürnberger Altstadtcafé in der Sonne und spricht. Hedwig T. ist 53 Jahre alt, sie hat alle Verbindungen abgebrochen zu dem kleinen Dorf im Norden des Bistums Münster, wo sie damals auf den Pfarrer traf. „Ausgelöscht“ hätten sie die Sätze ihrer Mutter. „Mein bisheriges Leben war von nun an vorbei. Es fühlte sich an, als hätte ich ein schlimmes Verbrechen begangen.“ Sie zog sich zurück. Die anderen Kinder im Dorf sagten über sie: Mit der kannst du nichts anfangen, die guckt nur aus dem Fenster, die ist so still.

Sie war still. Bis zu dem Tag, als sie nach 44 Jahren zufällig den Namen des Pfarrers in einem Zeitungs­artikel las und Wut in ihr aufstieg.

Das Bistum

Als Frau T. nicht länger schweigen will, geht sie zu einer Rechtsanwältin. Die Anwältin setzt am 23. Februar 2021 ein Schreiben ans Bistum Münster auf, in dem sie die Erinnerungen von Frau T. schildert. Sie erklärt, dass Frau T. ihr jahrzehntelanges Schweigen nun brechen und den Missbrauch öffentlich machen wolle.

Der Interventionsbeauftragte des Bistums, Peter Frings, reagiert postwendend. Er hat vor allem Fragen: Wird Frau T. die Staatsanwaltschaft einschalten? Gibt es Zeugen der Tat? Was ist mit Mutter und Schwester, könnten sie Auskunft geben?

Die Interventionsstelle hat in den vergangenen drei Jahren Hunderte von Missbrauchsvorwürfen bearbeitet. Fast schon routiniert befolgen die Mitarbeiter die „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger“, eine Arbeitsanweisung, die der Bischof 2019 für derartige Fälle erlassen hat. Sie befolgen Ziffer 33 der „Ordnung“: Am 18. März leitet das Bistum die Anzeige von Frau T. an die Staatsanwaltschaft Münster weiter. Die Staatsanwaltschaft Münster leitet die Anzeige am 13. April wiederum weiter an die Staatsanwaltschaft Oldenburg, in deren Zuständigkeits­bereich das kleine Dorf im Norden des Bistums fällt.

Das Bistum befolgt Ziffer 36: Ebenfalls am 13. April setzt der Bischof von Münster per Dekret Herrn B., einen pensionierten Kriminalhauptkommissar, als Voruntersuchungsführer ein. B. soll prüfen, ob der Pfarrer im Fall T. möglicherweise gegen das Kirchenrecht verstoßen hat, indem er „mit Gewalt oder durch Drohungen oder Missbrauch seiner Autorität (…) jemand gezwungen hat, sexuelle Handlungen vorzunehmen oder zu ertragen“.

Aber vorerst gibt es die Voruntersuchung nur auf dem Papier: „Während staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen hält sich ein Voruntersuchungsführer stets zurück“, teilt der Interventionsbeauftragte Frau T. mit.

Hilf(e)los und gottverlassen

Eine Frau sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Der Pfarrer streitet alles ab. Juristisch ist die Tat verjährt, der Staat ermittelt nicht. Aber die Frau und der Vorwurf sind trotzdem da. Wer geht der Sache jetzt nach? Wer sorgt für Aufklärung? Wer prüft, ob es vielleicht andere Betroffene gibt?

Die Staatsanwaltschaft

Für die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten ist in Deutschland die Staatsanwaltschaft zuständig, so sieht es nicht nur das Bistum, so regelt es die Strafprozessordnung. Allerdings sind der Staatsanwaltschaft enge Grenzen gesetzt: Sie darf nur dann aufklären und verfolgen, wenn ein sogenannter Anfangsverdacht vorliegt. Ohne diesen Anfangsverdacht darf sie keine Zeugen hören, keine Beschuldigten vernehmen, keine Durchsuchungen anordnen.

Wörtlich heißt es in der Strafprozessordnung: Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, bei „verfolgbaren Straftaten“ einzuschreiten, „sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“.

Nicht „verfolgbar“ ist eine Straftat zum Beispiel, wenn sie verjährt ist. Juristen sprechen in solch einem Fall von einem „Strafverfolgungshindernis“. Wenn bei der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige wie die von Frau T. eingeht, prüft sie deshalb zunächst, ob eine Ver­jährungsfrist für die angezeigte Tat gilt.

Illustration Alexander Lehn

Im Fall von Frau T. ist das nicht so einfach. Weil Frau T. sich nicht erinnert, was genau 1977 in dem Kindergarten geschah, kann die Staatsanwaltschaft keinen konkreten Tatvorwurf benennen, den sie verfolgen könnte. Für die Berechnung einer möglichen Verjährung nimmt der zuständige Staatsanwalt deshalb „die schwerste denkbare Sexualstraftat nach damaligem Recht“ zum Maßstab, wie er der Anwältin von Frau T. später mitteilt: Vergewaltigung. Seine Berechnung ergibt, dass diese Tat im Jahr 2007 verjährt gewesen wäre.

Am 10. Mai 2021, zweieinhalb Monate nach der Anzeige von Frau T., verschickt der Staatsanwalt einen Ein­stellungsbescheid. „Von der Aufnahme von Ermittlungen habe ich abgesehen, da Verjährung eingetreten ist“, schreibt er.

Weil die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln darf, spricht sie nicht mit dem Beschuldigten und nicht mit Frau T., sie hört keine Zeugen und sichtet keine Akten. Sie prüft nicht, ob der Vorwurf von Frau T. zutrifft oder nicht.

Die Staatsanwaltschaft kann Frau T. keine Aufklärung geben. Aber sie gibt ihr etwas, das viele Missbrauchsopfer kennen: das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Im Einstellungsbescheid spricht der Staatsanwalt nicht von einer Tat, sondern von einem „vermuteten Vorfall“.

Das Bistum, noch einmal

Wenn die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt, muss sich der Voruntersuchungsführer des Bistums nicht länger zurückhalten.

Wie ein Voruntersuchungsführer ermittelt, das bestimmt er selbst. Der Interventionsbeauftragte des Bistums sagt: „Wir lassen diese Voruntersuchungsführer laufen.“

Im Fall T. läuft der Voruntersuchungsführer so: Er spricht nicht mit Frau T., die den Missbrauchsvorwurf erhoben hat. Er spricht nicht mit dem Pfarrer, gegen den sich der Missbrauchsvorwurf richtet. Er ermittelt nicht in dem kleinen Dorf, wo sich der Missbrauch zugetragen haben soll. Der Voruntersuchungsführer sichtet die Schriftwechsel mit den Ausführungen von Frau T. und Dokumente wie die Personalakte des beschuldigten Pfarrers. In einem Aktenvermerk hält B. fest: „Hinweise auf Beschwerden oder den Verdacht übergriffigen Verhaltens oder gar sexuellen Missbrauchs sind der Personalakte nicht zu entnehmen.“

Als Frau T. den Schlussbericht liest, hat sie nicht mehr nur das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Sie weiß es jetzt.

Am 18. Juni 2021 liefert der Voruntersuchungsführer seinen dreieinhalbseitigen Schlussbericht ab, so wie es Ziffer 37 der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch“ vorschreibt. „Die Äußerungen von Frau T. deuten stark auf eine Fiktion hin“, berichtet er. Er schreibt von „bloßen Vermutungen“ und „fiktive(n) Vorstellungen, die sie für Erinnerung hält“, er nennt die Schilderung von Frau T. „nicht glaubwürdig“.

Auf der Internetseite des Bistums zum Thema sexueller Missbrauch steht: „Für das Bistum Münster gilt, dass es den Betroffenen grundsätzlich glaubt!“ Doch so einfach ist das mit dem Glauben in der Kirche nicht. Als Frau T. den Schlussbericht liest, hat sie nicht mehr nur das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Sie weiß es jetzt.

Die Opferanwältin

Antje Steiner, Rechtsanwältin in der Nürnberger Kanzlei Zäh Rechtsanwälte, wundert sich. Nicht darüber, dass ihre Mandantin Frau T. eine Erinnerungslücke hat und nicht mehr beschreiben kann, was sich damals im Zimmer mit dem Pfarrer zugetragen hat; das kommt häufig vor bei traumatisierten Menschen. Nein, sie wundert sich über die Schlussfolgerungen des Vor­unter­suchungsführers nach Aktenlage. „Welchen Grund sollte diese Frau haben, mehr als 40 Jahre später sich so etwas auszudenken und diesen Pfarrer anzuzeigen?“, fragt sie.

Bei Vorwürfen sexuellen Missbrauchs ist die Beweisführung häufig schwierig, weil es keine Tatzeugen gibt. Frau T. nennt in ihrer Schilderung zwar zwei mögliche Zeugen, ihre Mutter und ihre kleine Schwester. Aber die Mutter lebt nicht mehr, und die Schwester gibt an, keine Erinnerung mehr an das abendliche Gespräch zu haben. Das hat Frau T. dem Bistum so mitgeteilt.

610

Missbrauchsbetroffene und 196 beschuldigte Kleriker wurden bei einer Studie im Bistum ermittelt.

Aber, sagt Antje Steiner, die Rechtsanwältin: Die Schilderungen von Frau T. beschränken sich ja nicht nur auf Vermutungen. Frau T. nennt einen konkreten Ort, ein Datum, einen Namen. Sie liefert Details: die erste Beichte vor der Erstkommunion, den Kindergarten, die Beschreibung des Raums. „Man hätte doch wenigstens die objektiv überprüfbaren Tatsachenschilderungen ermitteln müssen, bevor man von Fiktion spricht“, sagt sie.

Der Voruntersuchungsführer hat im zuständigen Offizialat nachgefragt, wie denn 1977 in dem kleinen Dorf die Vorbereitung auf die Erstkommunion ausgesehen habe. Die Antwort fiel kurz aus: „Leider mussten wir feststellen, dass vor 1978 keine Listen der Erstkommunionsjahrgänge geführt wurden. Die erste überlieferte Liste ist die von der Erstkommunion am 21. Mai 1978 (…).“ In seinem Bericht hält der Voruntersuchungs­führer fest: „Warum die erste Beichte in einem Kinder­garten abgenommen wurde, kann heute nicht mehr geklärt werden und ist auch ohne Belang.“

„Ich habe keine Worte dafür“, wundert sich Anwältin Steiner.

Die Wissenschaft

Ein fünfköpfiges Team der Universität Münster, größten­teils Historiker, hat im Oktober 2019 begonnen, sexuellen Missbrauch im Bistum seit 1945 zu erforschen. In Auftrag gegeben und finanziert hat die Studie das Bistum – wie andere Bistümer auch sah sich Münster nach zahlreichen Missbrauchsvorwürfen und anhaltender Kritik in der Pflicht, die Dimension der Taten und mögliches Fehlverhalten von Kirchenverantwortlichen extern aufarbeiten zu lassen. Frau T. wendet sich 2021 deshalb auch an die Universität und schildert ihre Erinnerung. Der Leiter der Forschungsgruppe antwortet per E-Mail: „Wir werden die Informationen in unser Forschungsprojekt einfließen lassen“.

Als die Forscher im Juni 2022 ihre Studie veröffentlichen, haben sie 610 Missbrauchsbetroffene und 196 beschuldigte Kleriker ermittelt. „Die Diskrepanz zwischen dem so gewonnenen Hellfeld und dem Dunkelfeld der Taten, die unentdeckt bleiben, ist jedoch groß“, schreiben die Wissenschaftler. Die Zahl der „tatsächlichen Taten“ schätzen sie „auf acht- bis zehnmal höher als die, die hier nachgewiesen sind“. Im Mittelpunkt ihrer Studie stehen zwölf ausführliche Fallstudien.

Der Fall T. wurde nicht zur Fallstudie, Frau T. bleibt im Dunkelfeld.

Der Beschuldigte

Der Pfarrer ist ein alter Mann von mittlerweile 94 Jahren. Gleich im Februar 2021 sucht ihn der Weihbischof auf, um ihn über den Vorwurf zu informieren, der das Bistum erreicht hat; so schreibt es Ziffer 26 der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch“ vor. Der Weihbischof trägt dem Pfarrer auf, keine öffentlichen Gottes­dienste mehr zu feiern. Der Pfarrer zeigt sich einverstanden, er sei altersbedingt ohnehin nicht mehr dazu in der Lage. Den Vorwurf selbst weise er aber „deutlich“ zurück, so hält es der Weihbischof in seinem kurzen Bericht fest.

Nach dem Gespräch mit dem Weihbischof sucht sich der Pfarrer einen Anwalt. Ein bekannter Strafverteidiger aus der Region übernimmt den Fall, er setzt ein Schreiben an die Anwältin von Frau T. auf. Darin finden sich Formulierungen wie „ungeheuerliche Behauptung“ und „unzutreffende Anschuldigungen“. Der Anwalt des Pfarrers schreibt, dass seinem Mandanten durch die „falschen Anschuldigungen“ „erhebliche Nachteile“ entstanden seien, etwa die Auflage, keine öffentlichen Gottesdienste mehr zu feiern. Sein Mandant sei durch „derart unrichtige Behauptungen psychisch sehr belastet“ worden.

Er deutet an, dass Frau T. an einer „krankhaften Störung“ leide.

Illustration: Alexander Lehn

Sein Schreiben schließt der Anwalt mit einer Ankündigung: Sollte Frau T. weiter an ihrer Behauptung festhalten, werde sich „die Einleitung zivil- und auch strafrechtlicher Schritte nicht vermeiden lassen“.

Wieder hört Frau T., dass ihre Aussagen unwahr seien. Und wie 44 Jahre zuvor von ihrer Mutter hört sie, dass sie schweigen soll.

Die Gemeinde

Frau T. will aber nicht mehr schweigen. Sie will sich auch nicht „einschüchtern“ lassen, so empfindet sie die Hinweise auf mögliche rechtliche Konsequenzen.

Wenn die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt, wenn das Bistum von „Fiktion“ ausgeht, wenn die Universität keine weiteren Anhaltspunkte findet, dann bleibt ihr nur die Möglichkeit, selbst Belege und Zeugen zu suchen.

Sie schreibt einen „Brief an die Gemeinde“. In dem Brief schildert sie ihre Erinnerungen, sie nennt Ort und Zeit. Der Brief schließt: „Sollte es unter Ihnen Menschen geben, denen es ähnlich wie mir ergangen ist, bitte ich Sie, sich beim Interventionsbeauftragten des Bistums Münster, mit dem ich weiterhin in Kontakt stehe, zu melden.“ Sie hat gehört, dass es Fälle gab, in denen vergleichbare Briefe in der Kirche verlesen worden sind. Ihre Anwältin leitet den Brief an das Bistum weiter.

Der Inventionsbeauftragte antwortet. „Den Brief würden wir seitens des Bistums oder der Gemeinde in dieser Form nicht veröffentlichen“, schreibt er. „Es wäre sehr schnell klar, um welchen Priester es sich handelt. (…) Eine Verleumdungsklage gegen Ihre Mandantin, aber auch das Bistum wäre nicht auszuschließen.“

Die Medien

Frau T. nimmt Kontakt zur Lokalzeitung auf. Wenn die über den Fall berichtete, würden sich dann vielleicht weitere Opfer des Pfarrers melden? Oder Mitwisser? Wenigstens Zeitzeugen, die Erinnerungen an Frau T., den Pfarrer und die Erstkommunion 1977 haben?

Vor wenigen Wochen erst hatte die Zeitung nach einem anderen Missbrauchsvorwurf Schlagzeilen gemacht. Den Leiter der Lokalredaktion hatte ein Schreiben erreicht, in dem ein anonymer Absender Vorwürfe gegen einen längst verstorbenen Pfarrer erhob. Der Redakteur fragte beim Bistum nach, ob dort weitere Vorwürfe bekannt seien. Das Bistum bejahte dies. Es liege ein Vorwurf gegen den Pfarrer vor – von einem anderen Betroffenen, der von einer anderen Tat zu einer anderen Zeit berichtete.

 

„Bei einer fehlenden Tatsachengrundlage überwiegt das Schutzgut Persönlichkeitsrecht.“

Ursula Meschede, Justiziarin des DJV in Hannover

Eine journalistische Grundregel besagt, dass eine Information veröffentlicht werden kann, wenn zwei voneinander unabhängige Quellen sie bestätigen. Diese zwei Quellen hatte der Redakteur jetzt im Fall des verstorbenen Pfarrers. Er veröffentlichte den Vorwurf, er nannte den Namen des beschuldigten Pfarrers. Nach der Veröffentlichung meldeten sich weitere Betroffene, die Missbrauch durch den Pfarrer in den 50er- und 60er-Jahren erlebt hatten. Einige hatten wie Frau T. jahrzehntelang geschwiegen und sprachen zum ersten Mal über die Taten.

Journalisten sprechen gern von einem Stein, den sie mit so einer Veröffentlichung ins Wasser werfen. Manchmal zieht so ein Steinwurf Kreise. Auf solche Kreise hofft auch Frau T.

Ihr Fall ist aber anders. Dem Redakteur liegt allein die Aussage von Frau T. vor, der Beschuldigte streitet die Tat ab. Der Journalist macht seinen Job, er recherchiert: Er spricht mit dem Bistum in Münster, mit dem Offizialat in Vechta, mit der Staatsanwaltschaft, mit den Histo­rikern der Universität in Münster, mit der Betroffenen-Initiative im Bistum. Niemand kann ihm weitere Belege geben. Am Ende hat er noch immer nur eine einzige Quelle: die Aussage von Frau T. „Das ist mir zu dünn“, sagt er. Er entscheidet sich gegen eine Veröffent­lichung, er wirft keinen Stein ins Wasser. Zu groß erscheint ihm die Gefahr, dass ihn die Wellen selbst treffen.

Aus Sicht des Deutschen Journalistenverbands (DJV), Landesverband Niedersachsen, hat der Lokalredakteur presserechtlich richtig entschieden. Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung gelten strenge Regeln, eine davon lautet, dass ein Mindestbestand an Beweistatsachen erforderlich ist. „Bei einer fehlenden Tatsachengrundlage überwiegt das Schutzgut Persönlichkeitsrecht“, sagt Ursula Meschede, Justiziarin des DJV in Hannover.

Das Persönlichkeitsrecht des beschuldigten Pfarrers ist auch der Grund dafür, warum in diesem Text weder der Name des Pfarrers noch der Ort oder der Titel der Zeitung genannt werden.

 

Frau T.

Bei unserem zweiten Treffen in Nürnberg im Sommer 2022 ist Frau T. wütend. Sie hat wieder einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich; immer wieder verbringt sie Zeit damit, ihre Traumatisierung therapeutisch be­handeln zu lassen. Ihren erlernten Beruf als Kranken­schwester kann sie nicht mehr ausüben. Wie bei allen Treffen ist ihr Ehemann dabei; ohne ihn würde sie das alles nicht schaffen, sagt sie.

Sie hat mittlerweile den Schlussbericht des Voruntersuchungsführers gelesen mit dem Wort „Fiktion“. „Sprachlos“ mache sie das, sagt sie, „mir stockt der Atem“. Sie hat den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft gesehen und den Begriff „vermuteter Vorfall“. Sie weiß, dass die Gemeinde ihren Brief nicht lesen und die Zeitung keinen Artikel veröffentlichen wird. Der Weg in die Öffentlichkeit ist ihr verstellt – es sei denn, sie würde das rechtliche Risiko einer Verleumdungsklage auf sich nehmen. Schon jetzt tragen sie und ihr Mann eine vierstellige Summe an Anwaltskosten, sagt sie.

Herr T., ihr Ehemann, berichtet, er habe sich neulich den Podcast des Bistums Münster angehört, „Kannste glauben“ lautet der Titel. Peter Frings war dort zu Gast, der Interventionsbeauftragte, es ging um das Thema Missbrauch. Frings sagt in dem Podcast, dass er den Opfern glaube. Herr T. sagt, seiner Frau glaube das Bistum aber nicht.

Das Bistum, zum dritten Mal

Münster im Sommer 2022. Hinter dem Dom, gleich neben dem Kreuzgang, ist im Haus des Kirchlichen Arbeitsgerichts die Interventionsstelle untergebracht. Im Besprechungsraum sitzt unter einem großen Wandkreuz Peter Frings, laut Internetseite weisungsunabhängiger Interventionsbeauftragter des Bistums. Frings, 64 Jahre alt, Jurist und Katholik, stammt vom Niederrhein und sagt Sätze wie: „Ich bin nicht angestellt, um eine Imagekampagne der Kirche zu starten.“ Seit drei Jahren leitet er nun die Interventionsstelle – eine Stelle, die es vorher nicht gab im Bistum. Im Podcast „Kannste glauben“ sagt er: „Mir kann noch nicht mal der Bischof was sagen.“

Was glaubt der Interventionsbeauftragte, wenn sich jemand wie Hedwig T. an ihn wendet? „Warum sollte jemand auf die Kirche zugehen und so etwas Schlimmes aus seinem Leben erzählen?“, fragt Frings zurück. „Ich gehe davon aus, dass so jemand einen Grund dafür hat.“

Früher, sagt Frings, habe sich die Kirche schützend vor die Täter gestellt. Heute sagt Frings: „Ich bin nicht dafür da, Schaden von den Beschuldigten abzuhalten.“ Er verweist darauf, dass er Frau T. Akteneinsicht ermöglicht habe – ein datenschutzrechtlich immer noch kompliziertes Thema; im Mai 2023 plant er ein Rechts­forum zu dem Thema in Münster. Er verweist auf die Möglich­keit für Missbrauchsbetroffene, „materielle Leistungen in Anerkennung des Leids“ zu beantragen. Er verweist darauf, dass das Bistum die Kosten für eine anwaltliche Beratung übernehme; auch einen Teil der Anwaltskosten von Frau T. trägt das Bistum.

Aber Frings sagt auch, dass ihn Fälle wie der von Frau T. „ratlos“ machen. „Was können wir tun, ohne den Beschuldigten öffentlich vorzuverurteilen? Wir können nicht in die Gemeinde gehen und dort fragen: Wer weiß was? Dann riskieren wir eine Verleumdungsklage!“ Deshalb rate er den Betroffenen, sich unbedingt einen Anwalt zu nehmen, „um so etwas wie Waffen­gleichheit zu schaffen“. Von guten Opferanwälten erwarte er dann aber auch, dass sie ihren Mandanten sagen, was in so einem Verfahren auf sie zukomme und wann ihre rechtlichen Möglichkeiten erschöpft seien.

Aber bei allen Zweifeln und fehlenden Belegen, bei allen Vorgaben zu Persönlichkeitsrecht oder Datenschutz – muss nicht irgendjemand aufklären, was damals geschehen ist? Muss nicht irgendwer Frau T. helfen, Antworten auf ihre Fragen zu finden?

Frings kennt die Kritik an der Voruntersuchung im Auftrag des Bistums. Die Zweifel an der Ernsthaftigkeit kirchlicher Ermittlungen generell. Den immer wieder erhobenen Vorwurf der Parteilichkeit. Den vorwurfsvollen Satz „Ihr macht das ja alles selbst!“ Ja, sagt er, das sei richtig, „wir machen das alles selbst! Aber außer uns macht keiner was!“

Auch das ist richtig.

Die Betroffenen-Initiative

Dr. Hans Jürgen Hilling, 56 Jahre alt, Wirtschaftsanwalt und Partner einer renommierten Hamburger Anwaltssozietät, erlebte als Jugendlicher selbst sexualisierte Gewalt durch einen Pfarrer im Bistum Münster. Nach 35 Jahren Schweigen machte er den Übergriff 2019 öffentlich. Seither sieht er seine Rolle darin, dem Bistum mit seiner juristischen Erfahrung „als ziemlich starke Persönlichkeit“ gegenüberzutreten, wie er einmal in einem Interview sagte. Er engagiert sich in der Betroffenen-Initiative, er berät Opfer, führt immer wieder harte Auseinandersetzungen mit Bistum und Bischof. Aber er billigt der Bistumsleitung ausdrücklich auch Lern­willigkeit und Lernfähigkeit zu.

Hilling fragt mit Blick auf den Fall T.: Wenn nur die Kirche selbst ermittelt nach solch einem Missbrauchsvorwurf, müssten dann nicht wenigstens verbindliche Mindeststandards für die Voruntersuchung gelten? „Was muss so ein Vorunter­suchungsführer konkret machen, und wer legt die Mindeststandards fest? Das Bistum etwa selbst?“, fragt Hilling weiter. „Wer überprüft eigentlich das Vorgehen des Voruntersuchungsführers und dessen Ergebnisse? Wem ist er rechenschaftspflichtig? Nur dem Bischof?“

Hilling hat noch mehr Fragen: „Wer ist überhaupt kompetent für so eine Voruntersuchung? Ein ehemaliger Kommissar, der kriminalistisch oder strafprozessual denkt und nach einem Anfangsverdacht sucht? Oder eher jemand, der wie ein Investigativ­journalist denkt und arbeitet? Führt die Einsetzung von ehemaligen Polizisten nicht zu einer Verengung auf strafrechtlich relevante Sachverhalte? Die Unter­suchung der Uni Münster hat doch gerade gezeigt, dass das Missbrauchs- und Vertuschungsgeschehen mit juristisch oder kriminalistisch verengten Fragestellungen weder erschöpfend erhellt noch verstanden werden kann!“

Wenn wie im Fall T. nach einer Voruntersuchung nur das Wort „Fiktion“ für die Betroffene bleibe, „dann ist das jedenfalls nicht befriedend“, sagt Hilling.

Der Politiker

An einem Vormittag im Frühsommer 2022 tritt Prof. Dr. Lars Castellucci, 48 Jahre alt, in der Malzfabrik in Berlin-Tempelhof ans Rednerpult. Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter für den Rhein-Neckar-Kreis, ist Gast einer Tagung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs; er soll die Eröffnungsrede halten. Er sagt: „Es reicht nicht. Es geht nicht einfach so weiter wie bisher. Oder es geht noch 100 Jahre so weiter wie bisher.“

Castellucci hat ein Zehn-Punkte-Papier mit nach Berlin gebracht. Punkt neun lautet: „Niemand sollte mit seinem Anliegen auf die Organisation verwiesen bleiben, in deren Rahmen die Taten geschehen sind. Die Aufarbeitung von Einzelfällen braucht einen verbindlichen Rahmen. Mindestens braucht es eine unabhängige Clearingstelle.“

„Ich glaube, dass wir so etwas wie ein Recht auf Aufarbeitung formulieren müssen.“

Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter

Wie könnte das aussehen? Wo könnte eine solche Stelle angesiedelt sein? Seine Gedanken seien noch nicht fertig gedacht, sagt Castellucci einige Wochen später am Telefon, es ist ein eiliges Gespräch zwischen zwei Terminen. „Aber ich glaube, dass wir so etwas wie ein Recht auf Aufarbeitung formulieren müssen.“

Ein verbindlicher Rahmen. Das Recht auf Akteneinsicht. Feste Fristen. Und, Punkt zehn seines Papiers: „Betroffene sind zu beteiligen, aber sie haben keine Verantwortung für das, was geschehen ist. Folglich sollten sie auch keine Verantwortung für die Aufarbeitung übertragen bekommen.“

Es sind Begegnungen mit Betroffenen, die ihn zu der Einsicht gebracht haben, „dass wir an dem Thema anders arbeiten müssen, als es bisher geschehen ist. Diese Ohnmacht, dieses Gegen-Wände-Rennen.“

Er freue sich, wenn Menschen seine Vorschläge weiter­denken. „Aber nicht mehr so arg lange“, sagt Castellucci am Telefon.

Die Wissenschaft, noch einmal

In der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sagt Prof. Dr. Klaus Große Kracht, 53 Jahre alt, Historiker mit Schwerpunkt Religionsgeschichte und Mitglied der Forschungsgruppe zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster: „Das Thema Missbrauch hat Ränder – ich will nicht sagen Ränder der Glaubwürdig­keit, sondern der Informationsdichte. Dem muss sich die Kirche stellen.“

Der Fall T. habe ihn nach der Anfrage 2021 lange gedanklich beschäftigt, sagt Große Kracht. Er fragte sich: Was kann man tun? Wie kann man in so einem Fall die Beweislast von den Schultern der Betroffenen nehmen?

„Wir haben in unserer Studie versucht zu vermeiden, Gerüchte in die Gemeinden zu tragen.“

Prof. Dr. Klaus Große Kracht

Wenn der Staat nicht ermittelt, könnten möglicherweise Anhörungen ein Mittel sein, überlegte er: „respektvolle Hearings an verschiedenen Orten in einem geschlossenen Rahmen, als Substitut für eine Gerichtsverhandlung“. Er denkt an Beispiele wie die Wahrheits­kommissionen nach dem Ende der Apartheid in Südafrika: Es ging dabei nicht um Bestrafung der Täter, es ging um Aufklärung, um Dokumentation, um Dialog, um Anerkennung von Leid. „Vielleicht ist das etwas, was auch den Betroffenen von sexuellem Missbrauch hilft“, sagt Große Kracht. „Und vielleicht ist das etwas, was jemand wie der beschuldigte Pfarrer über sich ergehen lassen muss.“ Die Kirche könnte den Rahmen schaffen und die Kosten tragen, die Betroffene könnte ihre Erinnerungen schildern, der Beschuldigte könnte Stellung nehmen und seine Erinnerung schildern, man könnte dokumentieren und „Anerkennung geben“.

Große Kracht sieht aber auch die Schwierigkeit solcher Anhörungen, solange jeder Missbrauchsvorwurf gesellschaftlich bereits einem Schuldspruch gleichkommt. Hilfreich wäre weniger „Skandalisierung“, so Große Kracht, vor allem in der Presse. „Wir haben in unserer Studie versucht zu vermeiden, Gerüchte in die Gemeinden zu tragen. Wir haben immer wieder gesehen, was es bedeutet, wenn sich ein Priester solchen Anschuldigungen ausgesetzt sah. Denn auch die Gläubigen in den betroffenen Pfarreien werden lernen müssen, dass sich nicht mehr alle Missbrauchsvorwürfe vollständig werden klären lassen.“

Die Gutachter

Dr. Ulrich Wastl hat keinen Zweifel. „Wir hätten in Deutschland bis zum heutigen Tag wohl kaum ein Missbrauchsgutachten, wenn es nicht die Presse gäbe“, sagt er. Der Rechtsanwalt sitzt in einem Besprechungsraum der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl in München, auf dem Tisch Konferenztechnik und Kaffee, an den Wänden Strafrecht, Zivilrecht, Kirchenrecht zwischen Buch­deckeln. Neben ihm sitzt sein Kollege Dr. Martin Pusch und sagt: „Es braucht Druck.“

„Unbeliebte Aufklärer“, so hat die „Süddeutsche Zeitung“ einen Text über die Kanzlei überschrieben. Westpfahl Spilker Wastl hat Missbrauchsgutachten verfasst, die Schlagzeilen machten: für die Bistümer München-Freising, Köln, Aachen. In Fachvorträgen und Fachartikeln diskutieren die Anwälte der Kanzlei kritisch Fragen des Äußerungsrechts und des Persönlichkeitsrechts, weil beides immer wieder angebracht wird, um Verdachtsberichterstattung und ganze Gutachten zu verhindern. Oder zu Datenschutz und Archivrecht, weil es genutzt wird, um Akteneinsicht zu erschweren. Und immer wieder zum Problem der Glaubhaftigkeit von Opferzeugen. Die Anwälte sprechen von einer „tatsächlichen Unterlegenheit“ der Opfer im Bemühen um Aufarbeitung.

Das Schweigen der Gemeinden

Missbrauch im Bistum Münster

„Den Opfern wird immer erklärt, was nicht geht“, sagt Ulrich Wastl. Viel wichtiger ist aber doch die Frage: Was geht?

Die Anwälte haben für ihre Missbrauchsgutachten zahlreiche Akten durchforscht. „Die ,Smoking Gun‘ findet sich selten in der Akte“, sagt Martin Pusch. „Es mag sein, dass sich dort nichts findet“, sagt Wastl. „Aber wir sind doch immer wieder überrascht, was man dort so lesen kann.“ Er spricht von „kreativer Aktenführung“, Pusch hat immer wieder „Codewörter“ entdeckt.

Noch etwas ist den Anwälten aufgefallen: „Es finden sich vor Ort fast immer Leute, die etwas mitbekommen haben“, sagt Wastl. „Ich hänge der These an, dass es den Einmal-Täter nicht gibt.“

Deshalb hat er auch keinen Zweifel: Zur Antwortsuche muss man in die Gemeinden gehen. „Das wird viel zu wenig gemacht“, so Wastl.

In den Gemeinden müsse dann Folgendes geschehen:

  • Man muss Opfer zusammenbringen.
  • Dafür braucht man einen Raum, in dem sich die Opfer völlig geschützt fühlen und Stärke entwickeln können. „Der Raum darf nichts mit Kirche zu tun haben“, sagt Wastl.
  • Man braucht unabhängige professionelle Unterstützung, am besten mit psychologischer Ex­pertise.

So, sagt Wastl, können Opfer Vertrauen aufbauen. Kann sich eine Eigendynamik entwickeln. Kann ein Schneeball­effekt entstehen, der weitere Leute mit ihren Geschichten in den Raum holt.

Bloß: Wer organisiert das für Menschen wie Frau T.? In dem kleinen Dorf, in der zuständigen Kirchen­gemeinde weiß mehr als eineinhalb Jahre nach ihrer Anzeige immer noch niemand von dem Missbrauchsvorwurf.

„Mein Eindruck ist, dass den Menschen im ersten Schritt schon geholfen ist, wenn da jemand sitzt und sagt: Ich glaube Ihnen“, sagt Wastl.

Frau T., zum Schluss

In Nürnberg versteckt sich die Sonne hinter Altstadttürmen. Die nahe Lorenzkirche wirft lange Schatten, aber Frau T. erreichen sie nicht.

„Wenn jemand sich nach einem Autounfall nicht erinnern kann, sagt jeder: Ja klar, verständlich, das ist ein Selbstschutz“, sagt sie. „Beim Missbrauch aber wird das gegen das Opfer verwendet.“ Nur mühsam unterdrückt sie ihre Wut. „Missbrauchsopfer erleiden einen Totalschaden!“, sagt sie.

Frau T. hat bei der Kirche inzwischen einen Antrag auf „materielle Anerkennung des Leids“ gestellt, die Entscheidung steht aus. Ihre Anwältin hat Beschwerde gegen die Voruntersuchung des Bistums eingelegt.

In den vergangenen 22 Monaten hat niemand zu Frau T. gesagt: Ich glaube Ihnen. Im Gegenteil, man sagte und schrieb ihr immer wieder: Wir glauben Ihnen nicht.

Frau T. ringt um Worte. „Wer diesen Weg geht, muss neue Demütigungen und Verletzungen aushalten“, sagt sie. Aber sie sagt auch: „Ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin und den Missbrauch angezeigt habe. Das Schweigen war wie Luftanhalten. Jetzt atme ich.“