Der lange Kampf des Andreas S.

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Sabine

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde Andreas S. in Holzminden mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht. Als Erwachsener kämpft er seit einem Vierteljahrhundert für Aufklärung. Jetzt steht er kurz vor seinem Ziel: Im Frühjahr 2025 beginnt ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung des Leids, das ihm und vielen weiteren Kindern widerfahren ist.

Ein Mann mit Glatze schaut gerade aus. Das Bild ist stark belichtet so dass der Mann nicht komplett zu erkennen ist. Auf dem Foto ist Andreas S.. ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit.

Andreas S. spricht offen über seine Geschichte und lässt sich auch fotografieren. Er möchte aber nicht erkannt werden, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen. Foto: Erik Hinz

Eine Stadt im Münsterland, im Januar 2025. Andreas S. sitzt an seinem Küchentisch und sagt, dass es ihm heute gut gehe und er offen über all das sprechen könne, was jetzt folgt, ohne dass ihm der Boden unter den Füßen wegbricht. „Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir widerfahren ist“, sagt der 51-Jährige. „Man muss sich nicht für etwas schämen, was einem widerfährt. Man kann sich doch nur für etwas schämen, was man getan hat. Ich habe aber nichts getan.“

Jahrelang hat ein Kinder- und Jugendpsychiater Andreas S. in seiner Sprechstunde missbraucht. Viele Jahre konnte S. das Erlebte nicht einordnen. Erst als junger Erwachsener wehrte er sich, auch um andere zu schützen. Er spricht offen über seinen einsamen Kampf, möchte aber nicht, dass sein vollständiger Name in diesem Text genannt wird, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen.

Das Trauma hat seinen Ursprung in den 1980er-Jahren in der kleinen Stadt Holzminden im südlichen Niedersachsen. Der Kinder- und Jugendpsychiater war damals Chefarzt des Albert-Schweitzer-Familientherapeutikums „Lustiger Bach und als Freund der Familie häufig zu Besuch im Elternhaus von Andreas S., dessen Mutter ebenfalls Ärztin war. Bei so einem Besuch habe seine Mutter dem Psychiater von Andreas‘ Konzentrations- und Einschlafstörungen erzählt. Der antwortete: „Bring den Jungen mal vorbei.“ Das Therapeutikum befand sich damals noch im Aufbau. Andreas S. erinnert sich, dass die erste Sprechstunde in provisorischen Baucontainern stattfand. Dort habe der Arzt nicht nur seinen Blutdruck gemessen und die Reflexe getestet, sondern ihn auch aufgefordert, sich nackt auszuziehen. Er musste nackt Liegestütze und eine Brücke machen, der Arzt habe ihn fotografiert und an den Genitalien manipuliert. „Ich war damals zehn Jahre alt und fand das unangenehm.“

Als er davon zu Hause erzählte, entgegnete seine Mutter: „Hab dich nicht so.“

Sein Vater meinte später, er steigere sich da in etwas hinein. Wer soll einem glauben, wenn einem nicht einmal die eigenen Eltern glauben?

1984

Insgesamt 156-mal fuhr Andreas S. als Kind in die Klinik. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt – und meinte damit einen separaten Raum, in dem eine Liege mit einem Heizlüfter stand.

Andreas S. sagt, er habe immer darunter gelitten, dass seine Eltern wenig Zeit hatten. Durch die Arztbesuche habe er die Aufmerksamkeit seiner Mutter bekommen. Also fuhr er jahrelang weiter mit dem Fahrrad in die Klinik. Insgesamt 156-mal, immer mittwochs, jeweils für 50 Minuten. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt. „In einem separaten Raum stand eine Liege mit einem Heizlüfter, da haben dann die körperlichen Untersuchungen stattgefunden.“ Als Andreas S. im Jahr 2023 die Klinik in Holminden noch einmal mit zwei Journalisten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ besuchte, die seine Geschichte recherchierten, traf ihn fast der Schlag. „Die alte Liege von damals stand immer noch in dem Behandlungsraum.“

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde Andreas S. in Holzminden mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht. Als Erwachsener kämpft er seit einem Vierteljahrhundert für Aufklärung. Jetzt steht er kurz vor seinem Ziel: Im Frühjahr 2025 beginnt ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung des Leids, das ihm und vielen weiteren Kindern widerfahren ist.

Mit 14 sei er wegen der voranschreitenden Pubertät uninteressant geworden für den Psychiater, der Missbrauch endete. Lange Zeit verdrängte Andreas S. die Gedanken an das Geschehen. Erst als er Mitte der 1990er-Jahre im Fernsehen einen Bericht über den belgischen Sexualmörder Marc Dutroux sah, da sei ihm schlagartig klar geworden: Das, was ihm als Kind im „Lustigen Bach“ widerfahren ist, das war Missbrauch.

Es ist nicht ungewöhnlich, so etwas spät zu erkennen. Die meisten Menschen wenden sich erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach einem Missbrauch an Beratungsstellen. „Es war schrecklich. Ich war über mehrere Tage in einer Art Trancezustand, habe fast nichts gegessen und sehr viel geweint.“ Er suchte Hilfe, fand sie zunächst bei einer Freundin und dann professionell. Dort riet man ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern. Andreas S. sagt: „Als mir bewusst wurde, dass womöglich andere Kinder immer noch missbraucht werden, habe ich beschlossen, etwas zu unternehmen. Der Arzt praktizierte ja noch.“ Das habe ihm Antrieb gegeben, sich aus seiner Ohnmacht und Opferrolle zu befreien.

Man riet ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern.

Andreas S. kontaktierte nun die Ärztekammer Niedersachsen, die Bezirksregierung Hannover und die Staatsanwaltschaft Hildesheim. Unangemeldet besuchte eine Delegation der Bezirksregierung die Klinik und stellte fragwürdige Behandlungs- und Untersuchungsmethoden fest. Sie informierte das Familienwerk im Dezember 1996 darüber. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wussten die Verantwortlichen in Holzminden von den Vorwürfen. Im März 1997 untersagte das Familienwerk nach eigenen Angaben dem Arzt sämtliche körperlichen Untersuchungen, die nicht zum Standard bei psychiatrischen Behandlungen zählen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber wieder ein. Es sei nicht Aufgabe der Justiz, ärztliche Untersuchungsmethoden zu bewerten, hieß es. Im Oktober 1997 beauftragte die Bezirksregierung Hannover den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Professor Dr. Jörg Fegert, heute Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder-​ und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, die Untersuchungsmethoden des Arztes in Holzminden zu prüfen.

1999

Die Staatsanwaltschaft erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben.

Parallel dazu wandte sich Andreas S. an das Magazin „Der Spiegel“, um die Geschichte publik zu machen. Als dann Fegerts Gutachten sowie Artikel in der „Neuen Westfälischen“ und im „Spiegel“ erschienen, ging alles ganz schnell: Die Bezirksregierung Hannover entzog dem Arzt die Approbation, weil das Gutachten zu dem Schluss gelangt war, dass der Psychiater in Holzminden seine Stellung als „Tarnung“ genutzt habe, sein Handeln klassische Muster pädophiler Handlungen aufweise und er den Kindern nachhaltig geschadet habe. Es meldeten sich weitere Jungen, die Staatsanwaltschaft ermittelte erneut: Bei einer Razzia entdeckten die Ermittler bei dem Psychiater Bilder, Videos und Tagebuchaufzeichnungen mit sexuellen Fantasien, die zu den Kindern passten.

„Damit war klar, dass es kein ärztliches Handeln war, sondern dass der Arzt seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt hat auf Kosten seiner Patienten“, sagt Andreas S. heute. Das sah damals auch die Staatsanwaltschaft so und erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben. Doch vorher schickte er Andreas S. noch eine Postkarte.

Auf dem Foto ist Andreas S. von hinten fotografiert worden.

Empathische Geste: Der Gutachter Prof. Dr. Jörg Fegert hat einen Ring für Andreas S. anfertigen lassen – als Anerkennung für dessen intensiven Kampf um die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Der Ring zeigt einen Menschen, der sich vor Schmerz krümmt, aber gleichzeitig stolz aufrichtet.

Auf der Karte, das wird Andreas S. niemals vergessen, stand unter einem Totenkopf in lateinischer Sprache: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Es ist ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium. „Ich habe die Postkarte verbrannt. Aber ich hatte tatsächlich viele Jahre wahnsinnige Schuldgefühle“, schildert der 51-Jährige. „Vermutlich würde der Mann noch leben, wenn ich das nicht ins Rollen gebracht hätte. Aber ich weiß nicht, wie viele Kinder er dann noch missbraucht hätte.“ In den 14 Jahren, die der Psychiater in Holzminden wirkte, waren rund 7.500 Kinder und Jugendliche bei ihm in Behandlung. Andreas S. ist sich sicher, dass der Missbrauch weitergelaufen wäre, denn schon damals hätten trotz vieler Hinweise alle weggesehen, weil der Arzt zu den Honoratioren der Stadt gehörte. Die Lokalzeitung „Täglicher Anzeiger Holzminden“ schrieb im Juni 1998: „Offensichtlich wussten viele Holzmindener von den Vorwürfen gegen den Mediziner, nur wenige sprachen darüber.“ Noch kurz bevor dem Arzt die Approbation entzogen wurde, war er feierlich aus der Klinik verabschiedet worden.

Manchmal klingelt während des knapp vierstündigen Gesprächs in der Küche von Andreas S. das Telefon. Er wechselt dann mühelos vom Deutschen ins Englische. Er spricht mehrere Sprachen verhandlungssicher und hat beruflich Karriere gemacht.

Der alleinerziehende Vater ist Führungskraft in einer gemeinnützigen Organisation. Der sexuelle Missbrauch durch den Psychiater in seiner Kindheit beherrschte nicht seinen Alltag, aber die Erlebnisse meldeten sich immer wieder, besonders in Krisensituationen. Andreas S. hatte Panikattacken und Flashbacks. Ein bestimmter Geruch, der ihn an den Arzt erinnerte, löste sofort Brechreiz bei ihm aus. Er machte Psychotherapien, doch keine führte zur Linderung. Bis zur Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und einer professionellen Behandlung vergingen noch viele Jahre.

Und immer wieder stellte sich Andreas S. diese bohrenden Fragen: Warum lässt das Albert-Schweitzer-Familienwerk dieses Unrecht nicht aufarbeiten? Wie vielen Kindern ist es noch so ergangen wie mir? Haben die Menschen Hilfe?

Im Jahr 2016 schrieb er dann einen Brief an das Familienwerk und bat um Aufarbeitung und die Übernahme institutioneller Verantwortung. Die Antwort kam zwei Jahre später. Darin hieß es, man könne „eine öffentliche Klarstellung von Recht und Unrecht“ nicht leisten. „Der Brief war schrecklich für mich“, sagt Andreas S., er bittet jetzt um eine kurze Gesprächspause. Er möchte jetzt erstmal eine dampfen. Er holt sich seine E-Zigarette und nimmt einen tiefen Zug. Und noch einen zweiten.

2025

Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer- Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 ein externes Institut, den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Das Institut soll im Mai 2025 einen Aufruf an Betroffene starten.

Andreas S. erzählt von einer weiteren Grenzerfahrung auf seinem langen Leidensweg: 2019 hatte er während einer Zugfahrt nach Berlin eine heftige Panikattacke und rief den Krisendienst in Berlin-Charlottenburg an. Heute sagt er: „Erst da ist mir klargeworden, dass ich dieses Trauma nicht loswerde, ohne es vernünftig aufzuarbeiten.“ Ein Freund empfahl ihm eine Tagesklinik für Traumatherapie. „Das hat mir sehr geholfen.“ In der Therapie rekonstruierte ein Parfümeur sogar den Geruch, der die Übelkeit bei ihm auslöste. Er roch so lange daran, bis er sich nicht mehr davor ekeln musste.

Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall.

Seine persönliche Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in seiner Kindheit hat Andreas S. damit vorangebracht. Doch er wollte auch eine offizielle Anerkennung als Opfer. Er hörte vom Opferentschädigungsgesetz (OEG), mit dem sich der Staat verpflichtet, Opfern zu helfen, die er nicht vor Gewalt schützen konnte. „Ich wusste ja nicht, was mir blüht“, sagt Andreas S. heute über den langen Weg zur Entschädigung. Vor allem die Fragen, die er sich vom Sachbearbeiter des zuständigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) gefallen lassen musste, nach sexuellen Vorlieben und was er dabei empfinde, seien eine absolute Zumutung gewesen. „Es war die Hölle.“ Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall. „Mir geht es nicht ums Geld. Aber dieser Mann konnte über viele Jahre agieren und ist immer wieder geschützt worden. Die Staatsanwaltschaft war involviert. Die Anstalten körperlichen Rechts waren involviert. Das Gesamtsystem hat versagt.“ Und dafür sei das OEG eigentlich gemacht. „Ich würde den OEG-Antrag nicht noch einmal stellen“, sagt er rückblickend.

2023 wendet sich Andreas S. erneut an das Familienwerk, jetzt an das Kuratorium. Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer-Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Damals sei deutlich geworden, „dass wir aus Sicht der Opferperspektive zu wenig getan haben und eine professionelle und unabhängige Aufarbeitung notwendig ist“, teilte das Familienwerk auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mit. Bislang habe es Kontakt zu vier Personen gegeben, die konkretes Interesse an einer Aufarbeitung signalisiert hätten. Das IPP werde im Mai 2025 einen Aufruf starten, der sich sowohl an Betroffene richtet als auch an Menschen, die vom Missbrauch wussten. Die Ergebnisse des Instituts sollen im Jahr 2027 veröffentlicht werden.

Die Berichterstattung, sagt Andreas S., habe nicht nur den Druck auf das Familienwerk erhöht, sondern sei auch sehr heilsam für ihn gewesen. Deshalb spreche er über seine Geschichte. Seine Mitarbeitenden haben ihn auf den Fotos in den Artikeln erkannt, obwohl er sich, wie auch für diese Geschichte im WEISSER RING Magazin, nur so fotografieren lässt, dass er eigentlich nicht sofort erkannt werden kann. „Man empfindet Scham, natürlich. Die Arbeit ist doch der letzte Ort, an dem man so etwas teilen möchte. Aber: Es war richtig. Der positive Zuspruch hat gutgetan und die Scham ist weg.“ Andreas S. geht es um die Anerkennung von Unrecht, um Empathie und die Übernahme von Verantwortung. „Ich hätte vermutlich längst klein beigegeben, wenn das Familienwerk in irgendeiner Form uns Betroffene um Verzeihung gebeten hätte.“ Das sei aber bis heute nicht geschehen.

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Sabine

Der Bundestag beschloss, dass die Pille danach für Vergewaltigungsopfer kostenfrei wird. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 31.01.2025

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt, beschloss der Bundestag. Das ist vor allem einer Betroffenen zu verdanken.

Mainz – In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt. Das beschloss der Bundestag in der Nacht zu Freitag. Die bisherige Regelung sah eine regelhafte Kostenübernahme nur dann vor, wenn die Betroffene 22 Jahre oder jünger ist.

Der Beschluss ist nicht nur eine gute Nachricht für alle Opfer sexualisierter Gewalt, sondern auch ein Erfolg für Gudrun Stifter. Sie hatte die Debatte angestoßen, nachdem sie selbst vergewaltigt wurde. Stifter erhielt damals eine Rechnung von ihrer Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen, wurde ihr damals mitgeteilt. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern. Das wollte sie nicht akzeptieren.

 

Gudrun Stifter (Foto: Christian J. Ahlers)

2021 hatte Stifter eine Petition vor den Bayerischen Landtag gebracht, in der sie die Übernahme der Kosten forderte. In einer Beschlussempfehlung hatte sich der Landtag dafür ausgesprochen, dass sich die bayerische Staatsregierung für eine Änderung auf Bundesebene einsetzen soll. Jetzt, fast vier Jahre später, wurde ihre Hartnäckigkeit und Engagement von Erfolg gekrönt.

Es war nicht die erste Petition von Gudrun Stifter: Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die Münchenerin im Jahr 2023 begleitet, als sie in bundesweiten Petitionen Verbesserungen bei der Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG, seit 2024: Sozialgesetzbuch XIV) forderte. Damals sagte sie: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht.“

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern.

Exklusiv: Interview mit dem Vater des Opfers

Erstellt am: Montag, 13. Januar 2025 von Sabine

Foto: dpa

Datum: 13.01.2025

Exklusiv: Interview mit dem Vater des Opfers

Der Fall bewegte Deutschland: Auf dem Schulweg wurde im September 2023 in Edenkoben eine Zehnjährige von einem verurteilten Sexualstraftäter entführt und missbraucht. Gegenüber unserer Redaktion äußert sich erstmals der Vater des Kindes.

Mainz/Edenkoben – Mit der Verurteilung des Sexualstraftäters von Edenkoben ist in der Familie des minderjährigen Opfers nach den Worten seines Vaters „wieder viel Normalität eingekehrt“. In einem exklusiven Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS bezeichnete der Mann aus der Pfalz das inzwischen rechtskräftige Urteil als „vollen Erfolg für uns“, berichtete vom schlimmsten Tag seines Lebens, wehrte sich gegen Beschuldigung von Opfern und machte Vorschläge.

Der mehrfach auch wegen Sexualstraftaten verurteilte Angeklagte hatte das Mädchen am 11. September 2023 auf dem Schulweg in sein Auto gezerrt und missbraucht. Nach einer Verfolgungsfahrt wurde er festgenommen und das Kind befreit. Die Tat hatte Diskussionen etwa über das zwangsweise Anlegen einer elektronischen Fußfessel ausgelöst.

„Grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde Realität“

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde bei uns Realität“, sagte der Vater im Interview mit dem WEISSEN RING über den Tag. „Angst griff nach mir, Angst und Ohnmacht.“

Der Täter war erst Mitte Juli aus der Haft entlassen worden, wurde engmaschig von der Polizei überwacht und musste sich an zahlreiche Weisungen halten. Dagegen verstieß er jedoch und weigerte sich unter anderem, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Wenige Tage vor der Tat beantragte die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl, weil der Mann gegen diese Auflagen verstoßen hatte. Die Akten kamen aber zu spät beim Amtsgericht an.

Maximale Unterstützung und Empathie bekommen

Polizei und andere Institutionen hätten maximale Unterstützung und Empathie gezeigt, berichtete der Vater. Die Familie habe auch therapeutische Hilfe erhalten. Er kritisierte jedoch die Stigmatisierung des Opfers mit Aussagen wie „Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben“. Der Mensch verfüge auch über viele Ressourcen, „mittel- bis langfristig mit so einer Erfahrung umgehen zu können und einem Schaden vorzubeugen“.

Der Vater wehrte sich gegen „Victim-Blaming“ (deutsch Opfer-Beschuldigung), das auch seine Familie getroffen habe, weil die Zehnjährige allein zur Schule gegangen sei. „An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand.“

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Im Entführungs- und Missbrauchsfall Edenkoben spricht der Vater des betroffenen Mädchens erstmals über die Geschehnisse.

Zwölf Jahre Haft für Täter

Das Landgericht Landau verurteile den Angeklagten zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung. Eine solche Strafe sei „doch eher selten nach solchen Taten“, sagte der Vater.

„Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat.“ Die Führungsaufsicht, die rückfallgefährdete Täter nach der Haftentlassung betreue, sei „das falsche Instrument, mit einem Straftäter dieses Kalibers umzugehen.“

„Ich bin Fachkrankenpfleger auf einer Intensivstation, für mich klingt das so, als würde man einen kritisch kranken Intensivpatienten nicht auf die Intensivstation legen, sondern auf Normalstation“, sagte der Vater. „Und wenn der Patient dann abends tot im Bett liegt, dann wundert man sich.“

„Im Endeffekt behandeln wir Symptome“

Statt Kritik an den Institutionen forderte er grundsätzliche Änderungen von der Politik. „Im Endeffekt behandeln wir Symptome. Ich kann mir vorstellen, dass härtere Strafen ein Mittel gegen Sexualstraftäter sind. Häufiger verhängte Sicherungsverwahrungen. Fußfesselzwang. Weniger Datenschutz. Aber das müssen Fachleute beantworten.“

Der Vater verfolgte das Verfahren als Nebenkläger. Das sei sein Weg gewesen, sich „nach dem schrecklichen Angriff auf meine Familie zur Wehr setzen“ zu können. Er blicke nun „total optimistisch in die Zukunft“.

Pornografisches im Posteingang

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Juliane

Pornografisches im Posteingang

Studierende erleben an deutschen Hochschulen digitale Gewalt – per E-Mail, in sozialen Netzwerken und auf Lernplattformen im Internet. Drei junge Frauen wollen das ändern.

Mitten in der Vorlesung erscheint eine Nachricht auf dem Display ihres Handys. Sie ist von ihrem Dozenten. Inhalt: ein Penis-Foto, ein sogenanntes Dick-Pic. Sie erstarrt, darf sich aber vor ihren Kommilitonen nichts anmerken lassen. Ekel steigt in ihr auf.

Das ist der Bericht einer Studentin, die digitale Gewalt erlebt hat. Sie hat um Anonymität gebeten. Denn wie so viele Gewaltopfer empfindet sie große Scham. Trotzdem möchte sie erzählen, damit Verantwortliche an Hochschulen erfahren, was digitale Gewalt für die Betroffenen bedeuten kann.

Herausforderungen für „Digital Natives“

Das Handy immer griffbereit, per Smartwatch erreichbar und in den sozialen Medien gut vernetzt – für die 18- bis 30-Jährigen von heute ist das selbstverständlich. Mühelos jonglieren sie mit privaten Messengern, privaten und universitären E-Mail-Accounts und Lernplattformen wie Moodle oder Blackboard. Was dieser Generation mehr zu schaffen macht, ist der Missbrauch, der über diese Plattformen möglich ist. Übergriffige Nachrichten, ungewollte Nacktbilder. Videoaufnahmen, die auf Partys oder während Vorlesungen stattfinden und dann ohne das Wissen, geschweige denn das Einverständnis der abgebildeten Person geteilt werden. Kontaktaufnahme über die Handynummer, weil diese für alle sichtbar in einer Uni-WhatsApp-Gruppe abgelegt ist.

Jegliche beleidigende, diskriminierende oder sexuelle Grenzüberschreitung gilt als digitale Gewalt. Aber ist das den sogenannten Digital Natives bewusst, denjenigen, die mit der Digitalisierung aufgewachsen sind? Der WEISSE RING hat über die sozialen Medien eine Umfrage unter Studierenden durchgeführt. Von 140 Studenten gaben 55 an, diesen Begriff noch nie gehört zu haben. 72 Prozent der Studierenden, die angaben, bereits digitale Gewalt erfahren zu haben, hatten keine Unterstützung gesucht.

P*rnografisches im Posteingang

Digitale Gewalt an der Uni

Paula Paschke, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Religionspädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, hat dieses Phänomen sowohl als Studentin als auch als Lehrende beobachtet und ist besorgt über das Ausmaß und die Intensität der digitalen Grenzüberschreitungen. Sie sagt: Die Betroffenen stehen den Angriffen im Netz oft sehr hilflos gegenüber. „Ich bin Mitte 20 und als Teenager mit Medien aufgewachsen. Ältere Generationen gehen einfach davon aus, dass junge Heranwachsende gut damit umgehen können. Und das ist sicher auch der Fall, dass wir uns schnell zurechtfinden. Aber wie sieht es mit den Sicherheitsaspekten aus?“ Seit fast drei Jahren setzt sich Paula Paschke deshalb dafür ein, dass bundesweit Hochschulen diskriminierende und Gewalt ermöglichende Strukturen in ihren digitalen Räumen ernst nehmen.

Besorgt über das Ausmaß digitaler Gewalt: Paula Paschke. Foto: Julia Zipfel

Universitäten galten lange Zeit als eine Art Elfenbeinturm, in dem man sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigt und von den Problemen der restlichen Welt ein wenig abgekoppelt ist. Im Jahr 2019 stürzte dieser Elfenbeinturm im Zuge der Me-too-Bewegung krachend ein. Hierarchische Beziehungen, in denen Betroffene kaum Möglichkeiten haben, sich gegen Vorgesetzte zu wehren, ohne Job und Karriere zu gefährden, gelangten an die Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Doktorandinnen und Professorinnen sprachen öffentlich über Machtmissbrauch, Mobbing und sexuelle Übergriffe durch Vorgesetzte und Kollegen. Als Konsequenz überarbeiteten Verantwortliche die Richtlinien und setzten Ergänzungen der Hochschulgesetze durch. Auf vielen Hochschulwebseiten wurden neue Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes veröffentlicht, um Schutz vor Diskriminierung jeglicher Art zu bieten. Für Paula Paschke aber blieben zwei große Probleme ungelöst: „In der Diskussion wird kaum berücksichtigt, welche Rolle die digitale Komponente spielt. Auch die Hochschulen sind stark von der Digitalisierung betroffen. Und damit nimmt auch die Gewalt neue Formen an.“

Am meisten betroffen, am wenigsten geschützt

Ein Semester zuvor. Aus heiterem Himmel schreibt der Studentin ein Dozent abseits der Uni-Kommunikationswege. Eine kurze Anfrage zu einem Thema, an dem sie gerade arbeitet. Das ist ihr unangenehm, aber nach einigem Zögern antwortet sie. Er schreibt zurück. Sie antwortet wieder. Will nicht unhöflich sein. Ein Gespräch entwickelt sich, er fragt nach ihren beruflichen Plänen, ihrem Beziehungsstatus. Dann will er ihre Telefonnummer.

Mittlerweile lässt sich digitale Gewalt an Hochschulen in Zahlen darstellen. Laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften aus dem Jahr 2022 hat fast ein Drittel der Studierenden und Beschäftigten sexuelle Belästigung im Studium oder am Arbeitsplatz erlebt – auch online. Im gleichen Jahr führt das Projekt UniSAFE europaweit Umfragen an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch, um Maßnahmen gegen geschlechtsbezogene Gewalt zu entwickeln. In den Ergebnissen tauchen vermehrt digitale Komponenten der Belästigung an Hochschulen auf, darunter Cybermobbing und die Verbreitung pornografischer Bilder oder Texte ohne Einverständnis des Empfängers. In der Umfrage des WEISSEN RINGS unter Studierenden gaben elf der 140 Befragten an, digitale Gewalt erlebt zu haben, 28 Befragte hatten Vorfälle von digitaler Gewalt beobachtet. Bei sieben Betroffenen ging die digitale Gewalt von Dozierenden aus. Vier Studierende gaben an, digitale Gewalt von Mitarbeitern der Universitäten erfahren zu haben. 31 Studierende waren durch Kommilitonen digital angegriffen worden.

Wem das zu abstrakt ist, der braucht nur einen Blick in die Presse zu werfen, um anschauliche Beispiele zu finden. Im April 2024 berichten Medien von einem Professor der Fachhochschule Gelsenkirchen, der nach Aussagen männlicher Studierender diese sexuell belästigt und bedroht sowie intensiv über WhatsApp kontaktiert und unter Druck gesetzt haben soll. Im Juni 2024 wird ein 22-jähriger Informatikstudent der RWTH Aachen exmatrikuliert, weil er in digitalen Hochschulgruppen frauenfeindliche Nachrichten gepostet, Studentinnen und Dozentinnen aufgelauert und sie mit Drohbotschaften und Bildern belästigt hat.

Die Vernetzung über soziale Netzwerke gehört dazu. Digitale Gewalt damit leider auch.

Nach Meinung von Paula Paschke vernachlässigen die Hochschulen beim Kampf gegen digitale Gewalt eine weitere Komponente: den Schutz der Studierenden. Laut einer aktuellen Studie der gemeinnützigen Organisation HateAid ist die Altersgruppe der 18- bis 27-Jährigen am stärksten von digitaler Gewalt betroffen. Fast ein Drittel der befragten Betroffenen gab an, schon einmal Opfer von digitaler Gewalt geworden zu sein. Ein Rückzug aus der digitalen Welt ist aber keine Option. Vorlesungs- und Seminarmaterial wird heute vermehrt online zur Verfügung gestellt, Referatsgruppen koordinieren sich über WhatsApp, die Vernetzung über soziale Netzwerke wie Instagram, Snapchat oder TikTok gehört zum studentischen Leben einfach dazu. Digitale Gewalt damit leider auch.

Regeln für digitale Räume

Der Dozent tritt immer fordernder auf. Die Studentin traut sich nicht, Nein zu sagen. „Er war eine Autoritätsperson, bei der ich noch mehrere Prüfungen ablegen musste. Und durch diese Nähe und unsere unterschiedlichen Positionen hatte ich gar nicht die Möglichkeit, so zu reagieren wie zum Beispiel in der Freizeit. Wenn mich da jemand anspricht und ich will das nicht, dann sage ich: ‚Lass mich in Ruhe.‘“

Paula Paschke ist noch Studentin, als sie von der Initiative Digital Change Maker erfährt. Das Programm bietet Studierenden aus ganz Deutschland die Möglichkeit, die digitale Transformation an Hochschulen aktiv mitzugestalten. 2021 wird Paschke Teil der bundesweiten studentischen Denkfabrik. Sie lernt die Philosophiestudentin Lea Bachus aus Berlin kennen. Gemeinsam beschließen sie, Verantwortliche für das Thema zu sensibilisieren und für ein sicheres digitales Hochschulumfeld zu kämpfen. Frei von Hassrede, Diskriminierung und sexuellen Übergriffen.

Im Oktober 2022 berichten Paschke und Bachus auf dem „Let’s Talk:Campus“-Festival über den Status quo von Studierenden und digitaler Gewalt. Die anschließende Fragerunde dauert länger als geplant. „Viele Lehrende waren sehr überrascht und haben uns gesagt, dass sie das Thema gar nicht auf dem Schirm hatten. Sie waren dankbar, dass wir sie darauf aufmerksam gemacht haben“, berichtet Paula Paschke. „In weiteren Gesprächen kam immer wieder die Frage auf, ob man präventiv etwas in die Lehre einbauen könnte. Das hat uns motiviert, eine Netiquette zu verfassen und zur Verfügung zu stellen.“

Eine Netiquette legt die Regeln im Netz fest, an die sich alle Beteiligten halten müssen. In der Vorlage für die pädagogische Praxis haben Paschke und Bachus Eckpunkte festgehalten, die aus ihrer Sicht für ein gewaltfreies Miteinander wesentlich sind:

• Digitale Räume sollen Safe Spaces sein, verletzendes Verhalten wie Hate Speech oder Beleidigungen werden nicht akzeptiert.

• Die Kommunikation im Rahmen der Lehrveranstaltung hat über die digitalen Kanäle der Hochschule zu erfolgen. Ausnahme: In privaten Messenger-Diensten wie WhatsApp werden private Kontaktdaten sensibel behandelt und wird niemand ohne Zustimmung der Gruppe hinzugefügt.

• Audio- und Bildschirmaufnahmen von Personen sind verboten.

Die Netiquette verweist bei Verstößen gegen diese Regeln an die universitäre Anlaufstelle gegen Diskriminierung oder für Gleichstellung. Bei Zuwiderhandlung drohen Sanktionen seitens der Hochschule.

Nehmen die Studierenden diese Regeln wahr und vor allem ernst? Paula Paschke sagt: Es funktioniert. „Ich habe zum Beispiel mitbekommen, dass Studierende meiner Veranstaltung eine WhatsApp-Gruppe gegründet haben. Ich habe noch einmal auf die Netiquette hingewiesen und deutlich gemacht, dass das freiwillig ist und wir für die Veranstaltung eine andere Form der Kommunikation haben. Tatsächlich wurde viel expliziter gefragt, ob die Studierenden in diese Gruppe aufgenommen werden wollen, anstatt sie einfach hinzuzufügen, wie es sonst üblich ist.“

Allerdings ist die Netiquette nur ein kleiner Baustein im großen Ganzen dessen, was eine Hochschule zum Schutz vor digitaler Gewalt tun sollte. Aufklärung und Beratung für Studierende haben bislang kaum einen Stellenwert, wie eine Analyse der Redaktion zeigt. Dafür wurden die Webseiten der 100 größten Hochschulen in Deutschland dahingehend durchsucht, welche Beratungsstellen explizit Hilfsangebote zu digitaler Gewalt machen oder zumindest Informationen wie Veranstaltungen oder Broschüren dazu anbieten. Das Ergebnis: An lediglich 15 Universitäten ist dies der Fall. Paschke und Bachus sehen das größte Problem in der rechtlichen Stellung der Studierenden.

Rechtsschutz nur für Angestellte

Die Studentin ist überfordert damit, dem Mann einerseits als Dozenten und Vorgesetzten zu begegnen, andererseits als Verführer, der sich als potenzieller Partner sieht. „Vielleicht redet man sich selbst auch ein: Ich kann das irgendwie noch handhaben, ich kann damit umgehen. Und trotzdem quält einen die Frage: Ist das noch okay? Ab wann meldet man das? Und wem?“ Schließlich ist es heutzutage normal, ständig Nachrichten zu bekommen. Und blockieren? „Das wäre ja unhöflich, schließlich kommuniziert man mit einem Lehrenden einer Universität.“

Für Beschäftigte an Hochschulen gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Sie haben das Recht, sich bei sexueller Belästigung beim Arbeitgeber zu beschweren und, wenn keine geeigneten Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen werden, „ihre Tätigkeit ohne Benachteiligung zu beenden“. Studierende sind in solchen Fällen auf sich allein gestellt, erklärt Lea Bachus 2022 im Rahmen eines Talks: „Wären Studierende an der Hochschule angestellt, hätten sie andere Möglichkeiten. Für sie gilt das AGG nicht.“ Erlebt beispielsweise eine Studentin Belästigung, Diskriminierung oder digitale Gewalt durch den Dozenten und bleibt deshalb der Veranstaltung fern, wird diese nicht für das Studium anerkannt. Da ist es besser, sich mit dem Dozenten gut zu stellen, einen unpassenden Kommentar zu überhören oder zu überlesen, als die Zulassung zur Abschlussprüfung zu riskieren.

Es verändert sich etwas

Die Situation überschattet alles. „Der Sicherheitsraum, der die Universität eigentlich auch sein sollte, ist nicht mehr da. Und das erschwert natürlich das Ziel, irgendwie sein Studium zu beenden.“ Das liegt auch an ihren Selbstvorwürfen. „Wenn man Opfer einer Gewalttat wird, stellt man auch ganz viel die eigenen Fähigkeiten infrage.“ Dem Täter die Schuld für ihre Situation zu geben, kommt ihr lange gar nicht in den Sinn. Denn „sexuelle Gewalt geht mit Erniedrigung einher, und die besteht lange weiter“.

Paschke und Bachus veröffentlichen einen Forderungskatalog. Darin führen sie unabhängige Anlaufstellen für Betroffene auf, kostenlose Rechtsberatung für betroffene Studierende, leicht zugängliche Informationsmöglichkeiten und eine Verantwortung von Lehrenden und Hochschulleitungen für digitale Gewalt im Hochschulkontext.

Will Studierende aufklären und sensibilisieren: Laura Mößle. Foto: Julia Zipfel

Große Forderungen, die viel Umstrukturierung erfordern. Allerdings scheint man sie zu hören, wie ein Blick in die Landesgesetze annehmen lässt: In neun Bundesländern wurde das AGG inzwischen auf Studierende ausgeweitet. Damit gelten für sie an den Hochschulen dieser Länder die gleichen rechtlichen Möglichkeiten wie für Beschäftigte. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz oder die Hochschule Merseburg haben eigene Antidiskriminierungsrichtlinien verabschiedet, die ausdrücklich auch für Studierende gelten, und zwar sowohl im analogen als auch im digitalen Raum. Ob weitere Hochschulen nachziehen werden, bleibt abzuwarten. Allerdings: 77 Prozent der Studierenden gaben bei der Stichprobenumfrage des WEISSEN RINGS an, dass ihnen keine einschlägigen Maßnahmen an ihrer Universität bekannt seien.

Der WEISSE RING hakte mit einer weiteren Befragung bei den Pressestellen der 100 größten Hochschulen Deutschlands nach. Lediglich 17 Universitäten nahmen an der Umfrage teil. An acht Hochschulen waren Fälle digitaler Gewalt den Verantwortlichen bekannt. Allerdings fielen die Fallzahlen niedrig aus: An vier Universitäten waren insgesamt neun Dozierende betroffen.

Zwei Hochschulen meldeten zwei und sieben Studierende als Betroffene. Dazu schrieb ein Pressesprecher bei der Befragung: „Wir vermuten eine sehr hohe Dunkelziffer, da sich nur in seltenen Fällen Personen an uns wenden.“ Und die Universität Mannheim schreibt auf ihrer Website „Informationen und Hilfe bei Gewalt“: „Viele Betroffene nutzen die Möglichkeit zur Hilfe bei Anlaufstellen oder Beratung an der Universität Mannheim (noch) nicht.“

Es bleibt also viel zu tun. Obwohl Paula Paschke als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr beschäftigt ist, will sie das Projekt gemeinsam mit Lea Bachus weiter vorantreiben. So viel Zeit fürs Ehrenamt muss sein, denn: Studierende müssen darüber aufgeklärt werden, was sie im digitalen Raum erwarten können, und lernen, wie sie sich schützen können. „Ich weiß nicht, wie viele Studierende sich darüber Gedanken machen, was mit ihren Kontaktdaten passiert, was mit eventuellen Fotos passiert und wie sie im digitalen Hochschulraum auftreten. Das erfordert Medienkompetenz oder Mediensozialisation. Und die ist in der Schulbildung nicht vorgesehen.“

Und wenn es gar nicht so weit käme?

Über diesen Bildungsweg denkt Laura Mößle nach, als sie eine Lehrveranstaltung für das Sommersemester 2024 plant. Mößle, Anfang 30, hat in Religionspädagogik promoviert und beendet gerade einen zweijährigen Aufenthalt als Research Fellow am Safeguarding Institut an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, als sie einen Lehrauftrag aus Frankfurt am Main erhält. Sie soll am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität ein Seminar zu digitalen Grenzverletzungen für Lehramtsstudierende halten. Dabei fallen ihr die immer häufigeren Berichte aus Schulen ein, in denen pornografisches Material unter Jugendlichen kursiert. Auch wenn die angehenden Lehrerinnen und Lehrer das vielleicht nicht wahrhaben wollen, ist es Laura Mößle wichtig, „ihnen die Angst vor dem ganzen Themenbereich Missbrauch zu nehmen und sie stattdessen in ihrer Kompetenz zu stärken. Das Ziel ist es, dass die Studierenden sagen: ‚Jetzt kann ich mit den Kindern und Jugendlichen darüber sprechen, wie sie ihre Grenzen setzen können, wie sie diese auch einhalten können.‘ Viele Lehrerinnen und Lehrer gehen der Thematik lieber aus dem Weg.“ Ein besonderer Schwerpunkt der Religionspädagogik in Frankfurt liegt auf dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht – für eine praktische Medienkompetenz. „Es braucht aber auch eine reflexive Medienkompetenz, damit unsere angehenden LehrerInnen wissen, wie gute Verhaltensformen im Netz aussehen.“

Was für die heutigen Studierenden noch ungewöhnliche Erfahrungen sein mögen, findet laut Laura Mößle bei den Jüngsten bereits statt. Einige ihrer Studierenden arbeiten nebenbei in Kindertagesstätten oder Horten und berichten in der Uni von ihren Erfahrungen dort.

„Eine Studentin hat heute erzählt, dass sich ihr eines der Kinder, die sie nachmittags betreut, anvertraut hat. Das Mädchen erklärte, dass ihr jemand komische Nachrichten auf Snapchat schreibe. Das Mädchen wollte die Nachrichten erst gar nicht zeigen. Die Studentin blieb jedoch am Ball und fragte immer wieder nach. Schließlich durfte sie den Chat sehen. Die Nachrichten waren sexualisiert und grenzüberschreitend. Mit Hilfe der Studentin gelang es dem Mädchen, den Kontakt abzubrechen.“

 

Was früher als Mutprobe auf dem Schulhof ausgetragen wurde, findet heute als sogenannte Challenge im digitalen Raum statt.

Mößle sagt, dass Kinder und Jugendliche oft das Bedürfnis haben, mit jemandem über ihre digitalen Erfahrungen zu sprechen, aber nicht wissen, wem sie sich anvertrauen können. „Da braucht es ein Gesprächsangebot von Pädagoginnen und Pädagogen und Lehrkräften, die das im Blick haben.“ Der Druck, den die Jugendlichen durch die sozialen Medien verspüren, ist enorm. Was früher als Mutprobe auf dem Schulhof ausgetragen wurde, findet heute als sogenannte Challenge im digitalen Raum statt. Wie zuletzt bei der „Hot Chip Challenge“, bei der man vor laufender Kamera extrem scharfe Chips essen musste. In Bayern kamen eine 13- und eine 14-Jährige nach dem Verzehr mit Magenkrämpfen und Atemnot ins Krankenhaus. Die Challenge ging weiter. Dann starb in den USA ein 14-Jähriger, woraufhin der Hersteller die Chips vom Markt nahm.

Auch Mobbing erreicht neue Dimensionen. Mitschüler werden nach dem Sport in der Umkleidekabine in peinlichen Situationen fotografiert und dann mit den Fotos erpresst. Sie brauchen jemanden, der den Ernst der Lage versteht. Eine Vertrauensperson, die weiß, welche Katastrophe ein peinliches Bild für einen Jugendlichen im Internet sein kann. Und die den Tätern auch deutlich macht, ab wann sie sich strafbar machen und welche Folgen das unbedachte Posten für alle haben kann.

 

Medienkompetenz als Prävention

Ein Nebeneffekt der Präventionsarbeit ist die Sensibilisierung der Studierenden. Vielleicht erkennt der eine oder andere Teilnehmer nach dem Seminar von Mößle, dass das komische Gefühl, dass er nach einer digitalen Begegnung hatte, gerechtfertigt war. Denn die Befragung des WEISSEN RINGS unter den Studierenden hat gezeigt: Viele sind zwar dem gesamten Onlineerlebnis ständig ausgesetzt, können aber mit dem Begriff „Digitale Gewalt“ nichts anfangen. Für die Kinder wird im Unterricht ein Grundgedanke gelegt, der ihnen noch im Erwachsenenalter helfen kann. „Es kann sein, dass man die ganze Kindheit und Jugend nicht von digitaler Gewalt betroffen ist. Dann merkt man irgendwann als Erwachsener: Man ist in eine komische Situation geraten, in der man sich nicht wohlfühlt“, sagt Laura Mößle. „Und dann gibt es andere, die auch dieses Wissen haben und einem sagen: Das ist Erpressung oder Grenzüberschreitung, was diese Person mit dir macht.“

Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer können mit diesem Wissen Kindern die nötigen Kompetenzen vermitteln, um im Netz sicher zu sein und sich im Notfall selbstbewusst abzugrenzen oder Hilfe zu suchen. Vielleicht wächst so eine Generation heran, die digitale Gewalt im Keim erstickt. Die sich traut, sich auch an Universitäten ganz selbstverständlich gegen solche Übergriffe zu wehren, und damit eine neue Normalität schafft: die eines sicheren digitalen Raumes, in dem klare Regeln für alle Studierenden, Forschenden und Lehrenden gelten.

Digitale Gewalt wirkt genauso nach wie analoge. Die Situation der anonymen Studentin hat sich aufgelöst, sie hat keinen Kontakt und keine Berührungspunkte mehr mit dem Dozenten. Das Geschehene verfolgt sie aber noch. „Man hat schon so eine Art Verfolgungswahn, vielleicht auch, weil man keine Kontrolle darüber hat, welche Verbreitung dieser Kommunikation vielleicht stattgefunden hat. Und welche Folgen das für mein weiteres Leben haben könnte.“ Denn vielleicht existieren die digitalen Grenzverletzungen, die sie erlebt hat, auf irgendeinem Server oder Handy noch weiter.

Lebensrettende Fußfessel

Erstellt am: Dienstag, 5. Dezember 2023 von Karsten

Lebensrettende Fußfessel

Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Männern zu schützen, das ist das Ziel von gerichtlichen Annäherungsverboten. Aber die werden in Deutschland tausendfach ignoriert – und Frauen deshalb bedroht, verletzt, getötet. Dabei könnten diese Frauen geschützt werden. Spanien macht vor, wie es funktionieren kann, während sich in Deutschland Bund und Länder gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Eine Recherche aus der Redaktion des WEISSEN RINGS.

Elektronische Fußfessel nach spanischem Modell: Eine Grafik von zwei Beinen. Eine Frau steht gegenüber einem Mann, der eine Fußfessel trägt.

Wie der Staat Frauen besser vor Gewalt schützen könnte.

I. Die rote Warnlampe

Frau S. reicht zur Begrüßung die linke Hand, ihr rechter Arm ist taub seit dem Messerangriff. Fast 40-mal stach ihr Ehemann auf sie ein, nachdem er ihr an jenem Donnerstagabend im Juli 2021 auf offener Straße aufgelauert hatte. Ihr Körper ist nun narbenübersät, am Arm, auf dem Bauch, im Gesicht, aber die tiefsten Narben trägt Frau S. unter der Haut: Sie schläft schlecht, sie verlässt kaum das Haus, in ihr tobt permanent die Angst. „In meinem Kopf brennt immer eine rote Warnlampe“, sagt sie: „Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr!“

Trotzdem ist Frau S., 49 Jahre alt, heute zum Gespräch ins Germersheimer Stadthaus gekommen. Ihre Tochter hat sie mit dem Auto hergefahren, damit die Mutter nicht allein durch die Außenwelt gehen muss. „Ich will, dass die ganze Welt meine Geschichte hört“, sagt Frau S.

Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Und das sind nur die bekannten Fälle, die der Polizei angezeigt werden; das Dunkelfeld ist Schätzungen zufolge vier- bis fünfmal so groß. Eigentlich muss der Satz lauten: Alle 45 Sekunden wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt.

Für viele Frauen endet diese Gewalt tödlich. Jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. Im vergangenen Jahr waren es 133 tote Frauen.

Essen (Nordrhein-Westfalen), Januar 2023

Eine 50-jährige Frau wird von ihrem Schwiegersohn mit dem Küchenmesser erstochen; ihre Tochter hatte sich wenige Tage zuvor von dem Mann getrennt und war zu ihrer Mutter gezogen. Wegen gewaltsamer Übergriffe gab es gegen den Mann ein gerichtliches Annäherungsverbot.

Häufig hatten sich die Frauen vor der Tat hilfesuchend an die Behörden gewandt. Oft sprach ein Gericht ein Kontakt- und Näherungsverbot gegen den prügelnden oder drohenden Mann aus, manchmal per Eilentscheid noch am Tag der Antragstellung. Doch die Gewalttäter ignorieren diese Verbote immer häufiger. Die offizielle Kriminalstatistik notierte im Jahr 2017 für Deutschland 5.932 Fälle, in denen gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz verstoßen wurde. Im Jahr 2022 waren es 6.587 Verstöße, ein Anstieg um elf Prozent binnen fünf Jahren.

Wie oft es trotz eines bestehenden Kontaktverbots zu einer schweren Gewalttat bis zum Mord kam, erfasst die Kriminalstatistik nicht. Auch eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS an die einzelnen Bundesländer brachte kein Ergebnis. Wir haben deshalb versucht, uns mittels einer aufwändigen Google-Recherche einen Eindruck von der Dimension zu verschaffen. Dabei haben wir nach im Jahr 2023 veröffentlichten Presseartikeln gesucht, in denen über schwerste Gewalttaten gegen Frauen im Zusammenhang mit einem bestehenden Kontaktverbot berichtet wird. Zum Zeitpunkt unserer Suche Mitte Oktober 2023 waren 109 verschiedene Texte online über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden – von Männern, die sich ihnen laut Gerichtsbeschluss nie hätten nähern dürfen.

Sembach (Rheinland-Pfalz), Februar 2023

Eine 48-jährige Frau stirbt, nachdem ihr Mann ihr im Auto auflauerte, ihren Wagen auf einer Hauptstraße rammte und sie mit 15 Schüssen tötete. Das Opfer hatte nach der Trennung ein Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Ex-Partner erwirkt.

II. „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“

Frau S. war 14, als sie ihrem Mann versprochen wurde. Mit 15 heiratete sie, mit 16 bekam sie das erste Kind. Drei weitere Kinder folgten. Die Kinder, sie sind ihr Ein und Alles, Frau S. erzählt viel von ihnen. „Nur ihretwegen habe ich das alles 30 Jahre lang ertragen“, sagt sie. Sie meint die Angst vor ihrem Mann. Den ständigen psychischen Druck. Die Ehe, die sie nie wollte.

Als die Kinder erwachsen waren, wollte Frau S. sich trennen. 2019 erfuhr ihr Mann von ihren Scheidungsplänen, er griff sie körperlich an. Die Situation eskalierte. Frau S. zeigte ihn an, immer wieder. Die Polizei verwies ihn der Wohnung. Nachts um drei brach der Mann wieder ins Haus ein, er hatte eine Schusswaffe dabei. Der Sohn rang den Mann nieder, „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“, schrie er.

Der Sohn baute ein neues Sicherheitsschloss ein, der Mann versuchte mehrfach, sich bei der Sicherheitsfirma den Zugangscode zu erschleichen. Er bedrohte Frau S., „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Er stalkte sie, saß am Straßenrand im Auto und beschimpfte sie: „Hure! Schlampe!“ Er tauchte bei der Arbeit im Markt auf, er bekam Hausverbot. Er ortete ihr Auto mit einem GPS-Gerät. Er verfolgte sie und versuchte sie von der Straße zu drängen. Frau S. erwirkte Annäherungs- und Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz, der Mann hielt sich nicht daran, das Stalking ging weiter. Ein Gericht verurteilte ihn deswegen zu neun Monaten Haft auf Bewährung, er hörte auch danach nicht auf.

Elektronische Fußfessel liegt auf einem Tisch. Davor steht ein Laptop und auf dem Bildschirm sieht man geografische Angaben.

Auf dem Monitor können die Überwacher Verbotszonen sehen, aber auch Details wie die Geschwindigkeit, mit der die Fußfessel bewegt wird. Foto: Christoph Klemp

In Rheinland-Pfalz gibt es ein sogenanntes Hochrisikomanagement für schwere Fälle von häuslicher Gewalt. Der Fall S. galt längst als Hochrisikofall. Bei der letzten Risikokonferenz war auch wieder Heinz Pollini dabei, Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS in Germersheim. Er erinnert sich: „Alle sagten: Da wird etwas passieren.“

Nur wenige Wochen nach der Konferenz stach der Mann Frau S. auf offener Straße nieder, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retteten ihr das Leben.

 

„Warum ist so eine Tat nicht zu verhindern?“

Fragt Frau S.

Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon. In Berlin hatte sich die sechsfache Mutter Zohra Mohammad Gul mehrfach an die Behörden gewandt, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt erstattet und eine Gewaltschutzanordnung für ihren Ex-Mann erwirkt. Trotzdem wurde sie am 29. April 2022 von ihm in Pankow mit 13 Messerstichen und -schnitten ermordet. Die Geschwister der Getöteten schrieben in einem offenen Brief: „Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte.“

Ein Kontakt- und Annäherungsverbot gab es auch im Fall des Zahnarztes, der am 19. Mai 2021 in Dänischenhagen bei Kiel seine getrennt lebende Ehefrau mit 50 Schüssen aus einer Maschinenpistole niedermetzelte und zwei weitere Männer tötete – den neuen Lebensgefährten und einen gemeinsamen Bekannten, den er wohl für die Trennung verantwortlich gemacht hatte. Der Täter wurde wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt. Vor den Morden – so wurde es im Gericht vorgetragen – hatte er seiner Ex-Partnerin nachgestellt, ihr Auto mit einem GPS-Sender verfolgt und das Annäherungsverbot einfach ignoriert.

In Freiburg stellte eine Gerichtsvollzieherin im Mai 2017 einem drohenden Mann ein im Eilverfahren beschlossenes Kontakt- und Annäherungsverbot „durch Einlegen in den Briefkasten“ zu. Nur wenige Wochen später rammte der Mann auf offener Straße den Wagen seiner Ex-Partnerin Anne, erstach zunächst sie und anschließend den gemeinsamen vierjährigen Sohn Noah, der auf dem Rücksitz saß.

Frankfurt am Main (Hessen), Juli 2023

Eine dreifache Mutter (40) wird im Stadtteil Frankfurter Berg von ihrem Ehemann getötet. Zwei Monate zuvor hatte das Amtsgericht Frankfurt ein Annäherungs- und Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Mann beschlossen.

Die Berliner Opferrechtsanwältin Asha Hedayati schreibt in ihrem Buch „Die stille Gewalt – Wie der Staat Frauen alleinlässt“: „Demonstrierende Klimaaktivist*innen werden in Präventivhaft genommen, und es ist frustrierend zu sehen, dass der Staat sich in manchen Bereichen sehr konsequent zeigen kann. Wenn Mandant*innen nach der Trennung von ihrem Ex-Partner gestalkt und bedroht werden und sich an die Polizei wenden, hören sie fast immer, es müsse ,erst etwas passieren‘, bevor sie aktiv werden könne.“

Christina Clemm ist Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und vertritt seit fast dreißig Jahren Gewaltopfer. In ihrem aktuellen Buch „Gegen Frauenhass“ schreibt sie über Gewaltschutzanordnungen: „Es gibt Täter, die halten sich daran. Meist sind es die, die nicht besonders gefährlich sind. Die anderen verstoßen dagegen, erhalten eine Strafanzeige nach der anderen, ein Ordnungsgeld nach dem anderen. Bezahlen Ordnungsgelder, warten auf Strafverfahren und machen weiter.“ Einmal, schreibt Clemm, habe sie für eine Mandantin 85 Strafanzeigen erstattet. „Es half gar nichts.“

III. Alarm im Hochsicherheitstrakt

Es wäre falsch zu sagen, niemand habe Frau S., ihre Angst und die Drohungen ihres Mannes ernst genommen. Die Polizei kam wieder und wieder. „Er ist gefährlich“, sagte schließlich ein Polizist zu ihr, „Sie müssen hier weg.“ Frau S. kam in ein Schutzprogramm. Sie musste ihr Mobiltelefon abgeben, Polizisten brachten sie an einen unbekannten Ort.

Es gibt zwei Sachen im Leben, die Frau S. wirklich wichtig sind. Die erste Sache ist ihr Job im Markt. Die zweite und noch wichtigere Sache sind ihre Kinder. Im Schutzprogramm durfte Frau S. nicht mehr arbeiten, und sie durfte ihre Kinder nicht mehr sehen. Sie konnte lediglich mit ihnen telefonieren, nicht einmal Videoschaltungen durfte sie nutzen. Jeden Tag rief sie an. „Ich musste ihre Stimmen hören“, sagt sie. „Ich hatte so Angst, dass er ihnen etwas antut, wenn er mich nicht kriegen kann.“ Jeden Tag weinte sie. „Der Preis für den Schutz der unschuldigen Frauen ist viel zu hoch“, sagt sie.

Der WEISSE RING hat 2021 den Freiburger Mordfall Anne und Noah zum Anlass genommen, einen Brandbrief an 70 hochrangige Politiker zu schreiben, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz schützen niemanden, wenn sie nicht kontrolliert werden“, hieß es in dem Schreiben. Der Verein forderte die Politik zum sofortigen Handeln auf und empfahl dringend eine elektronische Aufenthaltsüberwachung für Gewalttäter, landläufig „Fußfessel“ genannt, nach dem Vorbild Spaniens.

Der Einsatz der elektronischen Fußfessel ist in Deutschland seit 2011 im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht erlaubt, um Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüßung ihrer Haftstrafen oder ihrer Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu überwachen, sofern von ihnen noch eine Gefahr ausgeht. Die bis dahin übliche deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 für rechtswidrig erklärt. Zwei Jahre später bewertete auch das Bundesverfassungsgericht die Regelungen als verfassungswidrig. In Deutschland mussten Dutzende Sexual- und Gewaltstraftäter in die Freiheit entlassen werden, obwohl sie weiter als gefährlich galten. Sie wurden damals rund um die Uhr von der Polizei überwacht. Die elektronische Fußfessel sollte für Entlastung sorgen.

Seit dem Neujahrstag 2012 überwacht die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder (GÜL) alle Personen, die in Deutschland eine Fußfessel tragen. Ursprünglich in Bad Vilbel, Hessen, gegründet, zog die GÜL in ein Hochsicherheitsgefängnis in Weiterstadt um, als sie damit begann, auch islamistische Gefährder zu überwachen. Dieser Umzug auf die grüne Wiese in der Nähe von Darmstadt war aus Sicherheitsgründen notwendig.

Bei der Anfahrt zur GÜL steigt Besuchern der beißendsüßliche Geruch des nahen Kompostwerks in die Nase. An der Pforte müssen sie Ausweis und Autoschlüssel abgeben, Smartphones sind verboten. GÜL-Leiterin Alma Friedrichs muss auf dem Weg in ihr Büro mit einem großen Schlüssel schwere Gittertüren auf- und hinter sich wieder zuschließen. Im Innenhof der JVA erinnern aufgetürmte Mauerreste an einen Anschlag im Jahr 1993. Damals hatten RAF-Terroristen den nahezu fertigen JVA-Bau in die Luft gesprengt.

Bonndorf (Baden-Württemberg), Juni 2023

Eine 35-jährige Frau wird von ihrem Ex-Partner mit mehreren Messerstichen getötet. Erst im Mai 2023 hatte die Frau gegen den Mann ein familiengerichtliches Annäherungsverbot erwirkt.

Die Büros der GÜL befinden sich im ersten Stock des Verwaltungstraktes der JVA. Wären da nicht die Gitter vor den Fenstern, könnte es jedes andere Büro in Deutschland sein. Große Pflanzen auf den Fensterbänken sorgen für eine freundliche Atmosphäre. Ein Mann und eine Frau, die aus Sicherheitsgründen ihren Namen nicht in diesem Text lesen möchten, sitzen in dick gepolsterten Gaming-Stühlen an ihren Schreibtischen. Sie haben jeweils drei Monitore vor sich.

Plötzlich herrscht Hochbetrieb, rote Flecken im Gesicht der Mitarbeiter verraten die Anspannung: Soeben hat eine Fußfessel Alarm geschlagen! Ihr Träger befindet sich an einem Ort, an dem er nicht sein dürfte. Die Mitarbeiterin versucht sofort, ihn über das Handy zu erreichen, das er mit seiner Fußfessel von der GÜL bekommen hat. Doch er geht nicht dran. Also informiert die GÜL die Polizei, gibt die Koordinaten der Fußfessel durch. Dann heißt es: warten.

Der Vorfall lässt sich auf zwei großen Bildschirmen an der Wand neben der Eingangstür beobachten: Zeitstempel des Alarms, Status des Vorfalls, die Fußfesselträger (und nur verschwindend wenige Fußfesselträgerinnen) sind anonymisiert und tragen hier Kürzel wie „BY1234“ oder „NW5432“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen nur das Nötigste über ihre „Probanden“, wie sie die Fußfesselträger nennen. Für den Fall eines Internetausfalls hängen alle notwendigen Akten und Kontaktdaten als Papier-Backup in Hängeregistern im Regal. Die Zentrale ist ganzjährig rund um die Uhr jeweils mit zwei Mitarbeitenden besetzt, zwölf Stunden dauert eine Schicht. „Hier ist sich jeder seiner großen Verantwortung bewusst“, sagt Friedrichs.

Jeder muss in der Lage sein, in wenigen Sekunden von 0 auf 100 zu sein, um bei einem Alarm adäquat reagieren zu können. Bis zu 1.000 Alarme erleben die 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GÜL jeden Monat. Rund 30 davon, schätzt Alma Friedrichs, enden mit einem Polizeieinsatz. Die meisten Alarme gehen auf das Konto schwacher Batterien.

Die elektronische Fußfessel einzusetzen, um Kontakt und Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz zu überwachen, ist eine politische und rechtliche Frage. „Technisch ist das kein Problem, auch das spanische Modell nicht“, sagt Alma Friedrichs. „Das ließe sich zeitnah hier bei uns in der GÜL einrichten.“ Bei der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) seien die entsprechenden Geräte bereits getestet worden.

Die Polizei meldet sich in der GÜL-Zentrale zurück: Sie hat den vermissten Fußfesselträger angetroffen. Er warte auf den Fahrdienst, der unpünktlich sei. Sein GÜL-Handy habe er in der Einrichtung vergessen, in der er lebe, deshalb habe er den Anruf nicht annehmen können.

Fesseln für mehr Freiheit

Die Diskussion über die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Deutschland geht weiter. Das spanische Modell gilt Befürwortern als erfolgreiches Vorbild.

IV. Hunderte gerettete Frauenleben – in Spanien

Frau S. brach das Schutzprogramm nach wenigen Wochen ab. Sie hatte ihren Sohn drei Tage lang nicht erreichen können, sie wurde halb wahnsinnig vor Angst um ihn. Sie fragt: „Warum darf ich meine Kinder nicht mehr sehen? Warum muss ich weg, nicht der Mann? Warum wird er nicht überwacht oder eingesperrt?“

Spanien setzt seit 2009 die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Vor allem umfangreiche Studien der spanischen Kriminologin Lorea Arenas García bescheinigen dem Modell großen Erfolg: Es sei im Rahmen des Programms in den ersten zehn Jahren keine Frau getötet worden. Entweder weil die Schutzzone eingehalten worden sei oder weil die Polizei rechtzeitig habe eingreifen können, wenn ein Fußfesselträger die Zone betreten habe. Rund 95 Prozent der zu schützenden Personen hätten zudem angegeben, dass sie sich mit dem Gerät sicher und geschützt gefühlt hätten, beschreibt García. Ihre bislang letzte Studie ist im Jahr 2019 erschienen, dutzendfach zitiert und in Teilen frei im Internet recherchier- und lesbar.

Laut der seriösen spanischen Tageszeitung El País ist das Fußfessel-Programm bis heute zu 100 Prozent erfolgreich. „Die sogenannten Anti-Missbrauchs-Bänder, die die Polizei alarmieren, wenn sich der Täter dem Opfer nähert, wurden bereits in mehr als 12.300 Hochrisikofällen eingesetzt, und keine Frau wurde getötet , während sie es trug“, heißt es dort in einem Artikel vom 25. November 2022. Zum Vergleich schreibt der Autor, dass seit 2006 in Spanien 107 Frauen ermordet worden seien, während eine Schutzanordnung in Kraft war, diese aber nicht mit einer Fußfessel überwacht worden ist.

In Deutschland wird das Instrument der Fußfessel selten genutzt. Seit der Einführung geschah das bis zum 31. Oktober 2023 nur 425-mal, fast ausschließlich im Rahmen der Führungsaufsicht oder bei extremistischen Tätern. Seit 2017 kann die Fußfessel in ganz Deutschland nicht nur verurteilten Straftätern im Zuge der Führungsaufsicht angelegt werden, sondern auch islamistischen Tätern. Weiter darf das Bundeskriminalamt die Fußfessel bei Gefährdern einsetzen, um Terroranschläge zu verhindern.

Wenn es aber um häusliche Gewalt geht wie in Spanien, wird die (Rechts-)Lage unübersichtlich. Bislang kann in solchen Fällen eine elektronische Aufenthaltsüberwachung in sieben Bundesländern angeordnet werden, geregelt ist das rechtlich zumeist über das Polizeigesetz. In einem weiteren Bundesland, in Brandenburg, befindet sich eine solche Regelung aktuell im Gesetzgebungsprozess.

In Hamburg zum Beispiel legt Paragraf 30 des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei fest, dass zu diesem Mittel gegriffen werden darf, wenn „dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist und die zu verpflichtende Person für die Gefahr verantwortlich ist“. Die Anordnung könne insbesondere mit einem Betretungs-, Aufenthalts-, Kontakt- oder Näherungsverbot verbunden werden.

Aber nur ein einziges Mal ordnete Hamburg seit Ende 2019 das Tragen einer Fußfessel wegen Beziehungsgewalt an. Der vorbestrafte Gewalttäter wehrte sich dagegen vor Gericht – und er bekam recht. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg liest sich wie ein Krimi. Das Gericht listet mehr als 20 Gewalttaten, Drohungen und Stalking-Taten des Mannes gegenüber der Frau auf, darunter Faustschläge ins Gesicht und Sätze wie „Ich bring sie um“, außerdem mehr als zehn Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, Haftbefehle und verhängte Bewährungsstrafen. Dennoch kommt das Gericht zu dem Schluss: „Die Voraussetzungen für die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung liegen nicht vor.“

Kiel/Rendsburg (Schleswig-Holstein), September 2023

Die Polizei befreit eine 29-jährige Rendsburgerin in Kiel vom Gelände einer ehemaligen Kaserne. Ihr Entführer hatte zuvor Bilder der gefesselten Frau auf Instagram gepostet. Gegen ihn bestand ein Annäherungs- und Kontaktverbot, weil er die Frau im Frühjahr vergewaltigt und mit einem Cricket-Schläger verletzt haben soll. „Muss das Messer erst stecken, bevor ich keine Angst mehr haben muss?“, hatte die Betroffene im Juli auf Instagram um Hilfe gebeten.

Die Leiterin der Überwachungsstelle, Alma Friedrichs, in ihrem Büro im hessischen Weiterstadt. Im Vordergrund: Fußfesseln. Foto: Christoph Klemp

Vielleicht auch deshalb verweist Jan Hieber, Chef des Landeskriminalamtes Hamburg, im Interview mit dem WEISSEN RING auf die „extrem hohen Hürden“, die mit der elektronischen Fußfessel verbunden sind, und sagt: „In Hamburg treffen wir in der Regel andere Maßnahmen.“

Bayern, Nordrhein-Westfalen und jüngst auch Hessen haben den Einsatz der elektronischen Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt als „gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme“ in ihren Landespolizeigesetzen ermöglicht. In Hessen kann seit dem Sommer 2023 nach dem Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen ein polizeilicher Platzverweis mit der Fußfessel verbunden und so konsequenter überwacht werden. Das sind jedoch nur kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahmen für Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewaltschutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.

In Nordrhein-Westfalen hat es in den 47 Kreispolizeibehörden des Bundeslandes seit der Gesetzesnovelle im Jahr 2018 nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem die Polizei die elektronische Fußfessel im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt eingesetzt hat. Dies teilt das Landeskriminalamt auf Nachfrage des WEISSEN RINGS mit.

„Bayern hat nun das schärfste Polizeigesetz in Deutschland“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ im Mai 2018. Tatsächlich nutzt Bayern die elektronische Aufenthaltsüberwachung, im Behördendeutsch kurz EAÜ genannt, von allen Ländern am häufigsten zum Schutz vor Gewalttätern. Seit Einführung gab es in immerhin 24 Fällen „Beschlüsse zur Durchführung einer präventiv-polizeilichen EAÜ“, teilt das Innenministerium in München auf Nachfrage mit. „Insbesondere im Hinblick auf festgelegte Verbotszonen, die der Betroffene nicht betreten darf, stellt sich die Umsetzung der Überwachung der Maßnahme problemlos dar“, heißt es weiter. Die bisherigen Erfahrungen mit der Fußfessel wertet das Ministerium „durchgängig als positiv“.

München (Bayern), November 2023

Bedroht, geschlagen und bestohlen wurde eine Frau im November 2023 durch ihren Ex-Partner, obwohl gegen den Mann seit Juli eine gerichtliche Schutzanordnung bestand. Von August bis Anfang Oktober hatte er wiederholt gegen die Schutzanordnung verstoßen und der Frau das Leben zur Hölle gemacht.

V. Kurz vorm Schreien

Frau S. lebt in Rheinland-Pfalz, in ihrem Fall gab es die Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht. Vielleicht wäre sie ein bisschen besser dran gewesen, wenn sie in Bayern gemeldet gewesen wäre. Sehr viel besser wäre sie wohl dran gewesen, wäre sie Spanierin.

Der hessische Justizminister Professor Roman Poseck sagt im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS, er sei offen für das spanische Modell. „Spanien macht gute Erfahrungen mit diesem Modell, und deshalb sollten wir uns damit beschäftigen, weil jede Annäherung auffällt – beispielsweise auch beim Einkaufen oder an anderen Orten“, sagt er. „Warum sollten wir nicht von Spanien lernen und uns die guten Erfahrungen nicht uns zunutze machen?“ Auf Initiative Hessens hat die Justizministerkonferenz den Bundesjustizminister Ende Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der elektronischen Fußfessel bundesweit rechtlich verbunden werden können.

Im November 2023 hat das Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) fertig geprüft. Ergebnis: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre aus Sicht des Ministeriums „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“. Das Ministerium verweist auf die „zeitlichen Verzögerungen“, die die familiengerichtlichen Gewaltschutzanordnungen oft mit sich bringen, und auf die Zuständigkeit der Polizei. „In einigen Polizeigesetzen der Länder ist die Befugnis zur Anordnung einer elektronischen Fußfessel zur Flankierung von Schutzmaßnahmen auch bereits verankert, so in § 34c des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“, schreibt das Ministerium und gibt das Thema damit zurück an die Länder.

Nordrhein-Westfalen. Anzahl der Fußfessel-Anordnungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt: null.

Altena (Nordrhein-Westfalen), August 2023

Eine Polizistin wird durch einen Mann verletzt, der in der Fußgängerzone randaliert. Der Mann war trotz gerichtlichen Annäherungsverbots in einem Geschäft aufgetaucht, in dem seine Ex-Partnerin arbeitet.

Wir haben das Buschmann-Ministerium auch konkret nach dem Vorbild Spanien gefragt. Antwort: „Das von Ihnen angesprochene spanische Modell ist dem Bundesministerium der Justiz bekannt.“

Beim spanischen Modell müssen für die Überwachung beide, Mann und Frau, ein GPS-Gerät tragen: der Mann zwangsweise, die Frau freiwillig. Bei der Frau ist es eine Art Handy. Frau S. sagt: „Aber natürlich hätte ich das gern getragen!“

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) hat sich in einem Positionspapier für den Einsatz der elektronischen Fußfessel ausgesprochen: „Als Straf- wie auch mögliche Präventionsmaßnahme gegen Täter, bei denen der Verdacht auf Gewaltbereitschaft besteht und die bereits gegen eine Gewaltschutzanordnung verstoßen haben, sollte deshalb die elektronische Fußfessel ermöglicht werden. Sie sollte die Behörden alarmieren, sobald der vom Gericht angeordnete Mindestabstand zum (potenziellen) Opfer unterschritten wird.“

Elektronische Fußfessel: Grafik zeigt die Karte von Deutschland und Bundesländer.

Die Anwältin Asha Hedayati schreibt: „Ich bin wütend darüber, dass arme migrantische Frauen noch schlechteren Zugang zu Schutz haben, dass jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners stirbt. Der einzige Grund, warum ich nicht regelmäßig in Gerichtsverhandlungen vor Ohnmacht und Wut anfange zu schreien, ist die gut erlernte Fähigkeit, meine Gefühle im Griff zu behalten.“

Der Mann von Frau S. sitzt im Gefängnis, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstraße. Er ist weg, die Angst ist geblieben; das Revisionsverfahren läuft noch. „Er hat gesagt: Du wirst mich niemals los, ich werde immer da sein“, sagt Frau S.

Das Gespräch im Stadthaus ist beendet, Frau S. hat alles gesagt. Sie will nach Hause gehen, „ich schaffe das“, sagt sie. Die Außenwelt ist nur ein paar hundert Meter groß, Germersheim ist eine kleine Stadt, Frau S. hat es nicht weit nach Hause. Auch der Tatort liegt nicht weit entfernt. Eng in ihren dicken Mantel geschnürt, macht sie sich auf den Weg, eine kleine, tapfere Frau mit eingezogenem Kopf. Sie geht eng an den Mauern der Häuser entlang, ihre Schultern berühren fast den Stein.

Transparenzhinweis:
Nachtrag vom März 2024: zukünftig kann die Polizei in Brandenburg einem Täter untersagen, sich dem Opfer zu nähern oder Kontakt mit ihm aufzunehmen. In besonders schwerwiegenden Fällen sollen es außerdem möglich sein, eine elektronische Fußfessel anzuordnen. In seinen Strafrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen.

Hilf(e)los und gottverlassen

Erstellt am: Mittwoch, 31. Mai 2023 von Sabine

Hilf(e)los und gottverlassen

Hedwig T. sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verjährung nicht. Ein Text über eine monatelange Suche nach Antworten, über hilflose Institutionen und über Frau T., die hilfelos bleibt.

Illustration: Alexander Lehn

Eine Frau sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Der Pfarrer streitet alles ab. Juristisch ist die Tat verjährt, der Staat ermittelt nicht. Aber die Frau und der Vorwurf sind trotzdem da. Wer geht der Sache jetzt nach? Wer sorgt für Aufklärung? Wer prüft, ob es vielleicht andere Betroffene gibt?

Ein Text über eine monatelange Suche nach Antworten, über hilflose Institutionen und über eine Frau, die hilfelos bleibt.

Sie sieht noch alles vor sich: den Kindergarten, den Raum mit Tisch und Stuhl, die brennende Kerze auf dem Tisch. Den Pfarrer in seinem schwarzen Anzug. Die Mutter, die sie allein zum Pfarrer hineinschickt. Sie sieht sich selbst, sieben Jahre alt: ein kleines Mädchen voller Angst, das seine erste Beichte vor der Erstkommunion ablegen soll.

Was in dem Raum passiert, sieht sie nicht.

Ihre Erinnerung setzt erst am Abend wieder ein. Sie liegt im Bett mit ihrer kleinen Schwester und zeigt ihr die Verletzungen, diese großen roten Flecken. Sie erzählt ihr von den Schmerzen und vom Brennen im Intimbereich. Die Schwester sagt, das musst du der Mutter sagen! Als die Mutter zum Abendgebet zu ihr ans Bett kommt, fasst sie sich ein Herz. Sie bittet die Mutter: „Der Papa muss dem Pfarrer sagen, dass er so etwas nie wieder machen darf!“

Sie hört noch die Antwort der Mutter: „Über so etwas darfst du mit niemandem reden! Über so etwas musst du für immer schweigen!“

45 Jahre später sitzt das kleine Mädchen von damals vor einem Nürnberger Altstadtcafé in der Sonne und spricht. Hedwig T. ist 53 Jahre alt, sie hat alle Verbindungen abgebrochen zu dem kleinen Dorf im Norden des Bistums Münster, wo sie damals auf den Pfarrer traf. „Ausgelöscht“ hätten sie die Sätze ihrer Mutter. „Mein bisheriges Leben war von nun an vorbei. Es fühlte sich an, als hätte ich ein schlimmes Verbrechen begangen.“ Sie zog sich zurück. Die anderen Kinder im Dorf sagten über sie: Mit der kannst du nichts anfangen, die guckt nur aus dem Fenster, die ist so still.

Sie war still. Bis zu dem Tag, als sie nach 44 Jahren zufällig den Namen des Pfarrers in einem Zeitungs­artikel las und Wut in ihr aufstieg.

Das Bistum

Als Frau T. nicht länger schweigen will, geht sie zu einer Rechtsanwältin. Die Anwältin setzt am 23. Februar 2021 ein Schreiben ans Bistum Münster auf, in dem sie die Erinnerungen von Frau T. schildert. Sie erklärt, dass Frau T. ihr jahrzehntelanges Schweigen nun brechen und den Missbrauch öffentlich machen wolle.

Der Interventionsbeauftragte des Bistums, Peter Frings, reagiert postwendend. Er hat vor allem Fragen: Wird Frau T. die Staatsanwaltschaft einschalten? Gibt es Zeugen der Tat? Was ist mit Mutter und Schwester, könnten sie Auskunft geben?

Die Interventionsstelle hat in den vergangenen drei Jahren Hunderte von Missbrauchsvorwürfen bearbeitet. Fast schon routiniert befolgen die Mitarbeiter die „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger“, eine Arbeitsanweisung, die der Bischof 2019 für derartige Fälle erlassen hat. Sie befolgen Ziffer 33 der „Ordnung“: Am 18. März leitet das Bistum die Anzeige von Frau T. an die Staatsanwaltschaft Münster weiter. Die Staatsanwaltschaft Münster leitet die Anzeige am 13. April wiederum weiter an die Staatsanwaltschaft Oldenburg, in deren Zuständigkeits­bereich das kleine Dorf im Norden des Bistums fällt.

Das Bistum befolgt Ziffer 36: Ebenfalls am 13. April setzt der Bischof von Münster per Dekret Herrn B., einen pensionierten Kriminalhauptkommissar, als Voruntersuchungsführer ein. B. soll prüfen, ob der Pfarrer im Fall T. möglicherweise gegen das Kirchenrecht verstoßen hat, indem er „mit Gewalt oder durch Drohungen oder Missbrauch seiner Autorität (…) jemand gezwungen hat, sexuelle Handlungen vorzunehmen oder zu ertragen“.

Aber vorerst gibt es die Voruntersuchung nur auf dem Papier: „Während staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen hält sich ein Voruntersuchungsführer stets zurück“, teilt der Interventionsbeauftragte Frau T. mit.

Hilf(e)los und gottverlassen

Eine Frau sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Der Pfarrer streitet alles ab. Juristisch ist die Tat verjährt, der Staat ermittelt nicht. Aber die Frau und der Vorwurf sind trotzdem da. Wer geht der Sache jetzt nach? Wer sorgt für Aufklärung? Wer prüft, ob es vielleicht andere Betroffene gibt?

Die Staatsanwaltschaft

Für die Aufklärung und Verfolgung von Straftaten ist in Deutschland die Staatsanwaltschaft zuständig, so sieht es nicht nur das Bistum, so regelt es die Strafprozessordnung. Allerdings sind der Staatsanwaltschaft enge Grenzen gesetzt: Sie darf nur dann aufklären und verfolgen, wenn ein sogenannter Anfangsverdacht vorliegt. Ohne diesen Anfangsverdacht darf sie keine Zeugen hören, keine Beschuldigten vernehmen, keine Durchsuchungen anordnen.

Wörtlich heißt es in der Strafprozessordnung: Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, bei „verfolgbaren Straftaten“ einzuschreiten, „sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“.

Nicht „verfolgbar“ ist eine Straftat zum Beispiel, wenn sie verjährt ist. Juristen sprechen in solch einem Fall von einem „Strafverfolgungshindernis“. Wenn bei der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige wie die von Frau T. eingeht, prüft sie deshalb zunächst, ob eine Ver­jährungsfrist für die angezeigte Tat gilt.

Illustration Alexander Lehn

Im Fall von Frau T. ist das nicht so einfach. Weil Frau T. sich nicht erinnert, was genau 1977 in dem Kindergarten geschah, kann die Staatsanwaltschaft keinen konkreten Tatvorwurf benennen, den sie verfolgen könnte. Für die Berechnung einer möglichen Verjährung nimmt der zuständige Staatsanwalt deshalb „die schwerste denkbare Sexualstraftat nach damaligem Recht“ zum Maßstab, wie er der Anwältin von Frau T. später mitteilt: Vergewaltigung. Seine Berechnung ergibt, dass diese Tat im Jahr 2007 verjährt gewesen wäre.

Am 10. Mai 2021, zweieinhalb Monate nach der Anzeige von Frau T., verschickt der Staatsanwalt einen Ein­stellungsbescheid. „Von der Aufnahme von Ermittlungen habe ich abgesehen, da Verjährung eingetreten ist“, schreibt er.

Weil die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln darf, spricht sie nicht mit dem Beschuldigten und nicht mit Frau T., sie hört keine Zeugen und sichtet keine Akten. Sie prüft nicht, ob der Vorwurf von Frau T. zutrifft oder nicht.

Die Staatsanwaltschaft kann Frau T. keine Aufklärung geben. Aber sie gibt ihr etwas, das viele Missbrauchsopfer kennen: das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Im Einstellungsbescheid spricht der Staatsanwalt nicht von einer Tat, sondern von einem „vermuteten Vorfall“.

Das Bistum, noch einmal

Wenn die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt, muss sich der Voruntersuchungsführer des Bistums nicht länger zurückhalten.

Wie ein Voruntersuchungsführer ermittelt, das bestimmt er selbst. Der Interventionsbeauftragte des Bistums sagt: „Wir lassen diese Voruntersuchungsführer laufen.“

Im Fall T. läuft der Voruntersuchungsführer so: Er spricht nicht mit Frau T., die den Missbrauchsvorwurf erhoben hat. Er spricht nicht mit dem Pfarrer, gegen den sich der Missbrauchsvorwurf richtet. Er ermittelt nicht in dem kleinen Dorf, wo sich der Missbrauch zugetragen haben soll. Der Voruntersuchungsführer sichtet die Schriftwechsel mit den Ausführungen von Frau T. und Dokumente wie die Personalakte des beschuldigten Pfarrers. In einem Aktenvermerk hält B. fest: „Hinweise auf Beschwerden oder den Verdacht übergriffigen Verhaltens oder gar sexuellen Missbrauchs sind der Personalakte nicht zu entnehmen.“

Als Frau T. den Schlussbericht liest, hat sie nicht mehr nur das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Sie weiß es jetzt.

Am 18. Juni 2021 liefert der Voruntersuchungsführer seinen dreieinhalbseitigen Schlussbericht ab, so wie es Ziffer 37 der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch“ vorschreibt. „Die Äußerungen von Frau T. deuten stark auf eine Fiktion hin“, berichtet er. Er schreibt von „bloßen Vermutungen“ und „fiktive(n) Vorstellungen, die sie für Erinnerung hält“, er nennt die Schilderung von Frau T. „nicht glaubwürdig“.

Auf der Internetseite des Bistums zum Thema sexueller Missbrauch steht: „Für das Bistum Münster gilt, dass es den Betroffenen grundsätzlich glaubt!“ Doch so einfach ist das mit dem Glauben in der Kirche nicht. Als Frau T. den Schlussbericht liest, hat sie nicht mehr nur das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt. Sie weiß es jetzt.

Die Opferanwältin

Antje Steiner, Rechtsanwältin in der Nürnberger Kanzlei Zäh Rechtsanwälte, wundert sich. Nicht darüber, dass ihre Mandantin Frau T. eine Erinnerungslücke hat und nicht mehr beschreiben kann, was sich damals im Zimmer mit dem Pfarrer zugetragen hat; das kommt häufig vor bei traumatisierten Menschen. Nein, sie wundert sich über die Schlussfolgerungen des Vor­unter­suchungsführers nach Aktenlage. „Welchen Grund sollte diese Frau haben, mehr als 40 Jahre später sich so etwas auszudenken und diesen Pfarrer anzuzeigen?“, fragt sie.

Bei Vorwürfen sexuellen Missbrauchs ist die Beweisführung häufig schwierig, weil es keine Tatzeugen gibt. Frau T. nennt in ihrer Schilderung zwar zwei mögliche Zeugen, ihre Mutter und ihre kleine Schwester. Aber die Mutter lebt nicht mehr, und die Schwester gibt an, keine Erinnerung mehr an das abendliche Gespräch zu haben. Das hat Frau T. dem Bistum so mitgeteilt.

610

Missbrauchsbetroffene und 196 beschuldigte Kleriker wurden bei einer Studie im Bistum ermittelt.

Aber, sagt Antje Steiner, die Rechtsanwältin: Die Schilderungen von Frau T. beschränken sich ja nicht nur auf Vermutungen. Frau T. nennt einen konkreten Ort, ein Datum, einen Namen. Sie liefert Details: die erste Beichte vor der Erstkommunion, den Kindergarten, die Beschreibung des Raums. „Man hätte doch wenigstens die objektiv überprüfbaren Tatsachenschilderungen ermitteln müssen, bevor man von Fiktion spricht“, sagt sie.

Der Voruntersuchungsführer hat im zuständigen Offizialat nachgefragt, wie denn 1977 in dem kleinen Dorf die Vorbereitung auf die Erstkommunion ausgesehen habe. Die Antwort fiel kurz aus: „Leider mussten wir feststellen, dass vor 1978 keine Listen der Erstkommunionsjahrgänge geführt wurden. Die erste überlieferte Liste ist die von der Erstkommunion am 21. Mai 1978 (…).“ In seinem Bericht hält der Voruntersuchungs­führer fest: „Warum die erste Beichte in einem Kinder­garten abgenommen wurde, kann heute nicht mehr geklärt werden und ist auch ohne Belang.“

„Ich habe keine Worte dafür“, wundert sich Anwältin Steiner.

Die Wissenschaft

Ein fünfköpfiges Team der Universität Münster, größten­teils Historiker, hat im Oktober 2019 begonnen, sexuellen Missbrauch im Bistum seit 1945 zu erforschen. In Auftrag gegeben und finanziert hat die Studie das Bistum – wie andere Bistümer auch sah sich Münster nach zahlreichen Missbrauchsvorwürfen und anhaltender Kritik in der Pflicht, die Dimension der Taten und mögliches Fehlverhalten von Kirchenverantwortlichen extern aufarbeiten zu lassen. Frau T. wendet sich 2021 deshalb auch an die Universität und schildert ihre Erinnerung. Der Leiter der Forschungsgruppe antwortet per E-Mail: „Wir werden die Informationen in unser Forschungsprojekt einfließen lassen“.

Als die Forscher im Juni 2022 ihre Studie veröffentlichen, haben sie 610 Missbrauchsbetroffene und 196 beschuldigte Kleriker ermittelt. „Die Diskrepanz zwischen dem so gewonnenen Hellfeld und dem Dunkelfeld der Taten, die unentdeckt bleiben, ist jedoch groß“, schreiben die Wissenschaftler. Die Zahl der „tatsächlichen Taten“ schätzen sie „auf acht- bis zehnmal höher als die, die hier nachgewiesen sind“. Im Mittelpunkt ihrer Studie stehen zwölf ausführliche Fallstudien.

Der Fall T. wurde nicht zur Fallstudie, Frau T. bleibt im Dunkelfeld.

Der Beschuldigte

Der Pfarrer ist ein alter Mann von mittlerweile 94 Jahren. Gleich im Februar 2021 sucht ihn der Weihbischof auf, um ihn über den Vorwurf zu informieren, der das Bistum erreicht hat; so schreibt es Ziffer 26 der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch“ vor. Der Weihbischof trägt dem Pfarrer auf, keine öffentlichen Gottes­dienste mehr zu feiern. Der Pfarrer zeigt sich einverstanden, er sei altersbedingt ohnehin nicht mehr dazu in der Lage. Den Vorwurf selbst weise er aber „deutlich“ zurück, so hält es der Weihbischof in seinem kurzen Bericht fest.

Nach dem Gespräch mit dem Weihbischof sucht sich der Pfarrer einen Anwalt. Ein bekannter Strafverteidiger aus der Region übernimmt den Fall, er setzt ein Schreiben an die Anwältin von Frau T. auf. Darin finden sich Formulierungen wie „ungeheuerliche Behauptung“ und „unzutreffende Anschuldigungen“. Der Anwalt des Pfarrers schreibt, dass seinem Mandanten durch die „falschen Anschuldigungen“ „erhebliche Nachteile“ entstanden seien, etwa die Auflage, keine öffentlichen Gottesdienste mehr zu feiern. Sein Mandant sei durch „derart unrichtige Behauptungen psychisch sehr belastet“ worden.

Er deutet an, dass Frau T. an einer „krankhaften Störung“ leide.

Illustration: Alexander Lehn

Sein Schreiben schließt der Anwalt mit einer Ankündigung: Sollte Frau T. weiter an ihrer Behauptung festhalten, werde sich „die Einleitung zivil- und auch strafrechtlicher Schritte nicht vermeiden lassen“.

Wieder hört Frau T., dass ihre Aussagen unwahr seien. Und wie 44 Jahre zuvor von ihrer Mutter hört sie, dass sie schweigen soll.

Die Gemeinde

Frau T. will aber nicht mehr schweigen. Sie will sich auch nicht „einschüchtern“ lassen, so empfindet sie die Hinweise auf mögliche rechtliche Konsequenzen.

Wenn die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt, wenn das Bistum von „Fiktion“ ausgeht, wenn die Universität keine weiteren Anhaltspunkte findet, dann bleibt ihr nur die Möglichkeit, selbst Belege und Zeugen zu suchen.

Sie schreibt einen „Brief an die Gemeinde“. In dem Brief schildert sie ihre Erinnerungen, sie nennt Ort und Zeit. Der Brief schließt: „Sollte es unter Ihnen Menschen geben, denen es ähnlich wie mir ergangen ist, bitte ich Sie, sich beim Interventionsbeauftragten des Bistums Münster, mit dem ich weiterhin in Kontakt stehe, zu melden.“ Sie hat gehört, dass es Fälle gab, in denen vergleichbare Briefe in der Kirche verlesen worden sind. Ihre Anwältin leitet den Brief an das Bistum weiter.

Der Inventionsbeauftragte antwortet. „Den Brief würden wir seitens des Bistums oder der Gemeinde in dieser Form nicht veröffentlichen“, schreibt er. „Es wäre sehr schnell klar, um welchen Priester es sich handelt. (…) Eine Verleumdungsklage gegen Ihre Mandantin, aber auch das Bistum wäre nicht auszuschließen.“

Die Medien

Frau T. nimmt Kontakt zur Lokalzeitung auf. Wenn die über den Fall berichtete, würden sich dann vielleicht weitere Opfer des Pfarrers melden? Oder Mitwisser? Wenigstens Zeitzeugen, die Erinnerungen an Frau T., den Pfarrer und die Erstkommunion 1977 haben?

Vor wenigen Wochen erst hatte die Zeitung nach einem anderen Missbrauchsvorwurf Schlagzeilen gemacht. Den Leiter der Lokalredaktion hatte ein Schreiben erreicht, in dem ein anonymer Absender Vorwürfe gegen einen längst verstorbenen Pfarrer erhob. Der Redakteur fragte beim Bistum nach, ob dort weitere Vorwürfe bekannt seien. Das Bistum bejahte dies. Es liege ein Vorwurf gegen den Pfarrer vor – von einem anderen Betroffenen, der von einer anderen Tat zu einer anderen Zeit berichtete.

 

„Bei einer fehlenden Tatsachengrundlage überwiegt das Schutzgut Persönlichkeitsrecht.“

Ursula Meschede, Justiziarin des DJV in Hannover

Eine journalistische Grundregel besagt, dass eine Information veröffentlicht werden kann, wenn zwei voneinander unabhängige Quellen sie bestätigen. Diese zwei Quellen hatte der Redakteur jetzt im Fall des verstorbenen Pfarrers. Er veröffentlichte den Vorwurf, er nannte den Namen des beschuldigten Pfarrers. Nach der Veröffentlichung meldeten sich weitere Betroffene, die Missbrauch durch den Pfarrer in den 50er- und 60er-Jahren erlebt hatten. Einige hatten wie Frau T. jahrzehntelang geschwiegen und sprachen zum ersten Mal über die Taten.

Journalisten sprechen gern von einem Stein, den sie mit so einer Veröffentlichung ins Wasser werfen. Manchmal zieht so ein Steinwurf Kreise. Auf solche Kreise hofft auch Frau T.

Ihr Fall ist aber anders. Dem Redakteur liegt allein die Aussage von Frau T. vor, der Beschuldigte streitet die Tat ab. Der Journalist macht seinen Job, er recherchiert: Er spricht mit dem Bistum in Münster, mit dem Offizialat in Vechta, mit der Staatsanwaltschaft, mit den Histo­rikern der Universität in Münster, mit der Betroffenen-Initiative im Bistum. Niemand kann ihm weitere Belege geben. Am Ende hat er noch immer nur eine einzige Quelle: die Aussage von Frau T. „Das ist mir zu dünn“, sagt er. Er entscheidet sich gegen eine Veröffent­lichung, er wirft keinen Stein ins Wasser. Zu groß erscheint ihm die Gefahr, dass ihn die Wellen selbst treffen.

Aus Sicht des Deutschen Journalistenverbands (DJV), Landesverband Niedersachsen, hat der Lokalredakteur presserechtlich richtig entschieden. Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung gelten strenge Regeln, eine davon lautet, dass ein Mindestbestand an Beweistatsachen erforderlich ist. „Bei einer fehlenden Tatsachengrundlage überwiegt das Schutzgut Persönlichkeitsrecht“, sagt Ursula Meschede, Justiziarin des DJV in Hannover.

Das Persönlichkeitsrecht des beschuldigten Pfarrers ist auch der Grund dafür, warum in diesem Text weder der Name des Pfarrers noch der Ort oder der Titel der Zeitung genannt werden.

 

Frau T.

Bei unserem zweiten Treffen in Nürnberg im Sommer 2022 ist Frau T. wütend. Sie hat wieder einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich; immer wieder verbringt sie Zeit damit, ihre Traumatisierung therapeutisch be­handeln zu lassen. Ihren erlernten Beruf als Kranken­schwester kann sie nicht mehr ausüben. Wie bei allen Treffen ist ihr Ehemann dabei; ohne ihn würde sie das alles nicht schaffen, sagt sie.

Sie hat mittlerweile den Schlussbericht des Voruntersuchungsführers gelesen mit dem Wort „Fiktion“. „Sprachlos“ mache sie das, sagt sie, „mir stockt der Atem“. Sie hat den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft gesehen und den Begriff „vermuteter Vorfall“. Sie weiß, dass die Gemeinde ihren Brief nicht lesen und die Zeitung keinen Artikel veröffentlichen wird. Der Weg in die Öffentlichkeit ist ihr verstellt – es sei denn, sie würde das rechtliche Risiko einer Verleumdungsklage auf sich nehmen. Schon jetzt tragen sie und ihr Mann eine vierstellige Summe an Anwaltskosten, sagt sie.

Herr T., ihr Ehemann, berichtet, er habe sich neulich den Podcast des Bistums Münster angehört, „Kannste glauben“ lautet der Titel. Peter Frings war dort zu Gast, der Interventionsbeauftragte, es ging um das Thema Missbrauch. Frings sagt in dem Podcast, dass er den Opfern glaube. Herr T. sagt, seiner Frau glaube das Bistum aber nicht.

Das Bistum, zum dritten Mal

Münster im Sommer 2022. Hinter dem Dom, gleich neben dem Kreuzgang, ist im Haus des Kirchlichen Arbeitsgerichts die Interventionsstelle untergebracht. Im Besprechungsraum sitzt unter einem großen Wandkreuz Peter Frings, laut Internetseite weisungsunabhängiger Interventionsbeauftragter des Bistums. Frings, 64 Jahre alt, Jurist und Katholik, stammt vom Niederrhein und sagt Sätze wie: „Ich bin nicht angestellt, um eine Imagekampagne der Kirche zu starten.“ Seit drei Jahren leitet er nun die Interventionsstelle – eine Stelle, die es vorher nicht gab im Bistum. Im Podcast „Kannste glauben“ sagt er: „Mir kann noch nicht mal der Bischof was sagen.“

Was glaubt der Interventionsbeauftragte, wenn sich jemand wie Hedwig T. an ihn wendet? „Warum sollte jemand auf die Kirche zugehen und so etwas Schlimmes aus seinem Leben erzählen?“, fragt Frings zurück. „Ich gehe davon aus, dass so jemand einen Grund dafür hat.“

Früher, sagt Frings, habe sich die Kirche schützend vor die Täter gestellt. Heute sagt Frings: „Ich bin nicht dafür da, Schaden von den Beschuldigten abzuhalten.“ Er verweist darauf, dass er Frau T. Akteneinsicht ermöglicht habe – ein datenschutzrechtlich immer noch kompliziertes Thema; im Mai 2023 plant er ein Rechts­forum zu dem Thema in Münster. Er verweist auf die Möglich­keit für Missbrauchsbetroffene, „materielle Leistungen in Anerkennung des Leids“ zu beantragen. Er verweist darauf, dass das Bistum die Kosten für eine anwaltliche Beratung übernehme; auch einen Teil der Anwaltskosten von Frau T. trägt das Bistum.

Aber Frings sagt auch, dass ihn Fälle wie der von Frau T. „ratlos“ machen. „Was können wir tun, ohne den Beschuldigten öffentlich vorzuverurteilen? Wir können nicht in die Gemeinde gehen und dort fragen: Wer weiß was? Dann riskieren wir eine Verleumdungsklage!“ Deshalb rate er den Betroffenen, sich unbedingt einen Anwalt zu nehmen, „um so etwas wie Waffen­gleichheit zu schaffen“. Von guten Opferanwälten erwarte er dann aber auch, dass sie ihren Mandanten sagen, was in so einem Verfahren auf sie zukomme und wann ihre rechtlichen Möglichkeiten erschöpft seien.

Aber bei allen Zweifeln und fehlenden Belegen, bei allen Vorgaben zu Persönlichkeitsrecht oder Datenschutz – muss nicht irgendjemand aufklären, was damals geschehen ist? Muss nicht irgendwer Frau T. helfen, Antworten auf ihre Fragen zu finden?

Frings kennt die Kritik an der Voruntersuchung im Auftrag des Bistums. Die Zweifel an der Ernsthaftigkeit kirchlicher Ermittlungen generell. Den immer wieder erhobenen Vorwurf der Parteilichkeit. Den vorwurfsvollen Satz „Ihr macht das ja alles selbst!“ Ja, sagt er, das sei richtig, „wir machen das alles selbst! Aber außer uns macht keiner was!“

Auch das ist richtig.

Die Betroffenen-Initiative

Dr. Hans Jürgen Hilling, 56 Jahre alt, Wirtschaftsanwalt und Partner einer renommierten Hamburger Anwaltssozietät, erlebte als Jugendlicher selbst sexualisierte Gewalt durch einen Pfarrer im Bistum Münster. Nach 35 Jahren Schweigen machte er den Übergriff 2019 öffentlich. Seither sieht er seine Rolle darin, dem Bistum mit seiner juristischen Erfahrung „als ziemlich starke Persönlichkeit“ gegenüberzutreten, wie er einmal in einem Interview sagte. Er engagiert sich in der Betroffenen-Initiative, er berät Opfer, führt immer wieder harte Auseinandersetzungen mit Bistum und Bischof. Aber er billigt der Bistumsleitung ausdrücklich auch Lern­willigkeit und Lernfähigkeit zu.

Hilling fragt mit Blick auf den Fall T.: Wenn nur die Kirche selbst ermittelt nach solch einem Missbrauchsvorwurf, müssten dann nicht wenigstens verbindliche Mindeststandards für die Voruntersuchung gelten? „Was muss so ein Vorunter­suchungsführer konkret machen, und wer legt die Mindeststandards fest? Das Bistum etwa selbst?“, fragt Hilling weiter. „Wer überprüft eigentlich das Vorgehen des Voruntersuchungsführers und dessen Ergebnisse? Wem ist er rechenschaftspflichtig? Nur dem Bischof?“

Hilling hat noch mehr Fragen: „Wer ist überhaupt kompetent für so eine Voruntersuchung? Ein ehemaliger Kommissar, der kriminalistisch oder strafprozessual denkt und nach einem Anfangsverdacht sucht? Oder eher jemand, der wie ein Investigativ­journalist denkt und arbeitet? Führt die Einsetzung von ehemaligen Polizisten nicht zu einer Verengung auf strafrechtlich relevante Sachverhalte? Die Unter­suchung der Uni Münster hat doch gerade gezeigt, dass das Missbrauchs- und Vertuschungsgeschehen mit juristisch oder kriminalistisch verengten Fragestellungen weder erschöpfend erhellt noch verstanden werden kann!“

Wenn wie im Fall T. nach einer Voruntersuchung nur das Wort „Fiktion“ für die Betroffene bleibe, „dann ist das jedenfalls nicht befriedend“, sagt Hilling.

Der Politiker

An einem Vormittag im Frühsommer 2022 tritt Prof. Dr. Lars Castellucci, 48 Jahre alt, in der Malzfabrik in Berlin-Tempelhof ans Rednerpult. Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter für den Rhein-Neckar-Kreis, ist Gast einer Tagung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs; er soll die Eröffnungsrede halten. Er sagt: „Es reicht nicht. Es geht nicht einfach so weiter wie bisher. Oder es geht noch 100 Jahre so weiter wie bisher.“

Castellucci hat ein Zehn-Punkte-Papier mit nach Berlin gebracht. Punkt neun lautet: „Niemand sollte mit seinem Anliegen auf die Organisation verwiesen bleiben, in deren Rahmen die Taten geschehen sind. Die Aufarbeitung von Einzelfällen braucht einen verbindlichen Rahmen. Mindestens braucht es eine unabhängige Clearingstelle.“

„Ich glaube, dass wir so etwas wie ein Recht auf Aufarbeitung formulieren müssen.“

Lars Castellucci, SPD-Bundestagsabgeordneter

Wie könnte das aussehen? Wo könnte eine solche Stelle angesiedelt sein? Seine Gedanken seien noch nicht fertig gedacht, sagt Castellucci einige Wochen später am Telefon, es ist ein eiliges Gespräch zwischen zwei Terminen. „Aber ich glaube, dass wir so etwas wie ein Recht auf Aufarbeitung formulieren müssen.“

Ein verbindlicher Rahmen. Das Recht auf Akteneinsicht. Feste Fristen. Und, Punkt zehn seines Papiers: „Betroffene sind zu beteiligen, aber sie haben keine Verantwortung für das, was geschehen ist. Folglich sollten sie auch keine Verantwortung für die Aufarbeitung übertragen bekommen.“

Es sind Begegnungen mit Betroffenen, die ihn zu der Einsicht gebracht haben, „dass wir an dem Thema anders arbeiten müssen, als es bisher geschehen ist. Diese Ohnmacht, dieses Gegen-Wände-Rennen.“

Er freue sich, wenn Menschen seine Vorschläge weiter­denken. „Aber nicht mehr so arg lange“, sagt Castellucci am Telefon.

Die Wissenschaft, noch einmal

In der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sagt Prof. Dr. Klaus Große Kracht, 53 Jahre alt, Historiker mit Schwerpunkt Religionsgeschichte und Mitglied der Forschungsgruppe zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster: „Das Thema Missbrauch hat Ränder – ich will nicht sagen Ränder der Glaubwürdig­keit, sondern der Informationsdichte. Dem muss sich die Kirche stellen.“

Der Fall T. habe ihn nach der Anfrage 2021 lange gedanklich beschäftigt, sagt Große Kracht. Er fragte sich: Was kann man tun? Wie kann man in so einem Fall die Beweislast von den Schultern der Betroffenen nehmen?

„Wir haben in unserer Studie versucht zu vermeiden, Gerüchte in die Gemeinden zu tragen.“

Prof. Dr. Klaus Große Kracht

Wenn der Staat nicht ermittelt, könnten möglicherweise Anhörungen ein Mittel sein, überlegte er: „respektvolle Hearings an verschiedenen Orten in einem geschlossenen Rahmen, als Substitut für eine Gerichtsverhandlung“. Er denkt an Beispiele wie die Wahrheits­kommissionen nach dem Ende der Apartheid in Südafrika: Es ging dabei nicht um Bestrafung der Täter, es ging um Aufklärung, um Dokumentation, um Dialog, um Anerkennung von Leid. „Vielleicht ist das etwas, was auch den Betroffenen von sexuellem Missbrauch hilft“, sagt Große Kracht. „Und vielleicht ist das etwas, was jemand wie der beschuldigte Pfarrer über sich ergehen lassen muss.“ Die Kirche könnte den Rahmen schaffen und die Kosten tragen, die Betroffene könnte ihre Erinnerungen schildern, der Beschuldigte könnte Stellung nehmen und seine Erinnerung schildern, man könnte dokumentieren und „Anerkennung geben“.

Große Kracht sieht aber auch die Schwierigkeit solcher Anhörungen, solange jeder Missbrauchsvorwurf gesellschaftlich bereits einem Schuldspruch gleichkommt. Hilfreich wäre weniger „Skandalisierung“, so Große Kracht, vor allem in der Presse. „Wir haben in unserer Studie versucht zu vermeiden, Gerüchte in die Gemeinden zu tragen. Wir haben immer wieder gesehen, was es bedeutet, wenn sich ein Priester solchen Anschuldigungen ausgesetzt sah. Denn auch die Gläubigen in den betroffenen Pfarreien werden lernen müssen, dass sich nicht mehr alle Missbrauchsvorwürfe vollständig werden klären lassen.“

Die Gutachter

Dr. Ulrich Wastl hat keinen Zweifel. „Wir hätten in Deutschland bis zum heutigen Tag wohl kaum ein Missbrauchsgutachten, wenn es nicht die Presse gäbe“, sagt er. Der Rechtsanwalt sitzt in einem Besprechungsraum der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl in München, auf dem Tisch Konferenztechnik und Kaffee, an den Wänden Strafrecht, Zivilrecht, Kirchenrecht zwischen Buch­deckeln. Neben ihm sitzt sein Kollege Dr. Martin Pusch und sagt: „Es braucht Druck.“

„Unbeliebte Aufklärer“, so hat die „Süddeutsche Zeitung“ einen Text über die Kanzlei überschrieben. Westpfahl Spilker Wastl hat Missbrauchsgutachten verfasst, die Schlagzeilen machten: für die Bistümer München-Freising, Köln, Aachen. In Fachvorträgen und Fachartikeln diskutieren die Anwälte der Kanzlei kritisch Fragen des Äußerungsrechts und des Persönlichkeitsrechts, weil beides immer wieder angebracht wird, um Verdachtsberichterstattung und ganze Gutachten zu verhindern. Oder zu Datenschutz und Archivrecht, weil es genutzt wird, um Akteneinsicht zu erschweren. Und immer wieder zum Problem der Glaubhaftigkeit von Opferzeugen. Die Anwälte sprechen von einer „tatsächlichen Unterlegenheit“ der Opfer im Bemühen um Aufarbeitung.

Das Schweigen der Gemeinden

Missbrauch im Bistum Münster

„Den Opfern wird immer erklärt, was nicht geht“, sagt Ulrich Wastl. Viel wichtiger ist aber doch die Frage: Was geht?

Die Anwälte haben für ihre Missbrauchsgutachten zahlreiche Akten durchforscht. „Die ,Smoking Gun‘ findet sich selten in der Akte“, sagt Martin Pusch. „Es mag sein, dass sich dort nichts findet“, sagt Wastl. „Aber wir sind doch immer wieder überrascht, was man dort so lesen kann.“ Er spricht von „kreativer Aktenführung“, Pusch hat immer wieder „Codewörter“ entdeckt.

Noch etwas ist den Anwälten aufgefallen: „Es finden sich vor Ort fast immer Leute, die etwas mitbekommen haben“, sagt Wastl. „Ich hänge der These an, dass es den Einmal-Täter nicht gibt.“

Deshalb hat er auch keinen Zweifel: Zur Antwortsuche muss man in die Gemeinden gehen. „Das wird viel zu wenig gemacht“, so Wastl.

In den Gemeinden müsse dann Folgendes geschehen:

  • Man muss Opfer zusammenbringen.
  • Dafür braucht man einen Raum, in dem sich die Opfer völlig geschützt fühlen und Stärke entwickeln können. „Der Raum darf nichts mit Kirche zu tun haben“, sagt Wastl.
  • Man braucht unabhängige professionelle Unterstützung, am besten mit psychologischer Ex­pertise.

So, sagt Wastl, können Opfer Vertrauen aufbauen. Kann sich eine Eigendynamik entwickeln. Kann ein Schneeball­effekt entstehen, der weitere Leute mit ihren Geschichten in den Raum holt.

Bloß: Wer organisiert das für Menschen wie Frau T.? In dem kleinen Dorf, in der zuständigen Kirchen­gemeinde weiß mehr als eineinhalb Jahre nach ihrer Anzeige immer noch niemand von dem Missbrauchsvorwurf.

„Mein Eindruck ist, dass den Menschen im ersten Schritt schon geholfen ist, wenn da jemand sitzt und sagt: Ich glaube Ihnen“, sagt Wastl.

Frau T., zum Schluss

In Nürnberg versteckt sich die Sonne hinter Altstadttürmen. Die nahe Lorenzkirche wirft lange Schatten, aber Frau T. erreichen sie nicht.

„Wenn jemand sich nach einem Autounfall nicht erinnern kann, sagt jeder: Ja klar, verständlich, das ist ein Selbstschutz“, sagt sie. „Beim Missbrauch aber wird das gegen das Opfer verwendet.“ Nur mühsam unterdrückt sie ihre Wut. „Missbrauchsopfer erleiden einen Totalschaden!“, sagt sie.

Frau T. hat bei der Kirche inzwischen einen Antrag auf „materielle Anerkennung des Leids“ gestellt, die Entscheidung steht aus. Ihre Anwältin hat Beschwerde gegen die Voruntersuchung des Bistums eingelegt.

In den vergangenen 22 Monaten hat niemand zu Frau T. gesagt: Ich glaube Ihnen. Im Gegenteil, man sagte und schrieb ihr immer wieder: Wir glauben Ihnen nicht.

Frau T. ringt um Worte. „Wer diesen Weg geht, muss neue Demütigungen und Verletzungen aushalten“, sagt sie. Aber sie sagt auch: „Ich bin froh, dass ich diesen Weg gegangen bin und den Missbrauch angezeigt habe. Das Schweigen war wie Luftanhalten. Jetzt atme ich.“

Das Schweigen der Gemeinden

Erstellt am: Freitag, 2. April 2021 von Juliane

Das Schweigen der Gemeinden

Drei Männer, die in jungen Jahren Missbrauch in Kirchen des Bistums Münster erlebten, erzählen ihre Geschichten. Es geht ums Schweigen, Reden, Kämpfen – und um den Umgang mit den Tätern von damals.

Foto: Hauke-Christian Dittrich

Am Abend lag er im Bett und betete: „Lieber Gott, bitte sei doch auch mal lieb zu mir.“ Aber Gott hörte ihn nicht, vielleicht gab es ihn auch gar nicht. Am nächsten Tag ging es jedenfalls weiter, der Kaplan missbrauchte ihn wieder, „heftiger als je zuvor“, sagt Martin Schmitz viele Jahre später.

Er war zehn, höchstens elf Jahre jung damals. Heute ist er 58 Jahre alt.

Manchmal holte ihn der Pfarrer morgens aus dem Bett, Bernd wohnte ja gleich bei der Kirche. Er wartete im Kinderzimmer, bis der Junge angezogen war, dann nahm er ihn mit ins Pfarrhaus. Dort schloss er alle Fensterläden, verriegelte die beiden Türen zum Pfarrbüro, legte die Hörer seiner zwei Telefone neben die Gabel. „Weißt du, wie man sich unkeusch an­­fasst?“, fragte der Pfarrer das Kind.
„Mann“, sagt Bernd Theilmann viele Jahre später. Er trinkt einen Schluck Wasser, er schüttelt den Kopf. „Was man da erlebt hat, wenn man zu ihm kommen sollte… Ich war doch erst zehn!“ Jetzt ist er 68.

Er saß auf der Orgelbank und übte, als der Pfarrer ihn von hinten umschlang, ach was: als der Pfarrer ihn von hinten anfiel. Hände. Speichel. Geräusche, Marcus Fischer* hatte so etwas noch nie gehört. Er war ein Junge von vielleicht 15 Jahren, er erstarrte vor Schreck und Ekel. „Jedes widerliche Detail von damals hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt“, sagt er viele Jahre später. 54 Jahre alt ist Fischer heute.

*Name geändert

I. Schweigen

Martin Schmitz war Messdiener in Rhede, Westfalen, dort fiel er dem pädokriminellen Kaplan Heinz Pottbäcker zum Opfer. Der Geistliche missbrauchte in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren Dutzende Kinder, allein in Rhede dürften es 20 bis 30 Betroffene sein. Aber Pottbäcker beging seine Verbrechen nicht nur in Rhede; er missbrauchte Kinder in Waltrop, in Bockum-Hövel, in Recklinghausen. Möglicherweise missbrauchte er Kinder auch in anderen Orten, er war eingesetzt in Dinslaken, Bösensell, Marl, Münster, Rheinberg und zuletzt als Krankenhausseelsorger in Neuenkirchen, Niedersachsen.

Dass Pottbäcker sich so viele Jahre lang an so vielen Kindern vergehen konnte, hat damit zu tun, dass ihn die Personalverantwortlichen im Bistum Münster immer wieder versetzten. Sie versetzten ihn, nachdem er 1968 zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden war, wegen „Unzucht mit einem abhängigen Kind“ in Waltrop. Sie versetzten ihn, als 1973 der Missbrauch eines Brüderpaares gemeldet wurde. Sie versetzten ihn, nachdem er 1983 eine Geldstrafe in Höhe von 12.500 Mark zahlen musste; er hatte in Recklinghausen drei kleine Jungen missbraucht. Die Kirche versetzte ihn auch im Anschluss immer wieder, weil er sich nicht an die bischöfliche Auflage hielt, sich von Kindern fernzuhalten.

Das Schweigen der Gemeinden

Missbrauch im Bistum Münster

„Ich konnte darüber nicht reden“

Der Messdiener Martin Schmitz wusste von all dem natürlich nichts.

Herr Schmitz, gab es damals, als Sie ein Kind waren, irgendjemanden, mit dem Sie über den Missbrauch hätten sprechen können? Einen anderen Messdiener vielleicht, der ebenfalls betroffen war?

„Ich weiß, dass ein Junge mir mal etwas gesagt hat. Dass ihm, wie er sagte, der Kaplan ‚in die Hose gefasst‘ habe. Bei mir hat das nur Panik ausgelöst. Ich bin weggerannt, ich konnte darüber nicht reden.“

Der andere Junge fand demnach auch niemanden, mit dem er reden konnte.

Tatort: Kirche St. Ludger in Neuscharrel (Landkreis Cloppenburg). Foto: Martin Remmers / NWZ

„Ja. Mit meinen Eltern habe ich nicht darüber geredet, das wäre gar nicht gegangen. Als der Kaplan dann versetzt wurde, als es aufhörte mit dem Missbrauch, als der Missbrauch nur noch in meinem Kopf weiterging, habe ich versucht, alles mit mir auszumachen.“

Wie alt waren Sie, als der Kaplan versetzt wurde?

„Zwölf.“

Schmitz versuchte, alle Erinnerungen an den Kaplan zu verdrängen. Das funktionierte einigermaßen, auch wenn es „einige Eskapaden“ gab, wie er heute sagt, „als Jugendlicher habe ich zum Beispiel eine Weile fürchterlich gesoffen“. Er ging dann nach Kassel, um Architektur zu studieren und ein normales Leben zu beginnen. Bis zur nächsten buchstäblichen Eskapade.

Sie haben Ihr Studium abgebrochen.

3.677

minderjährige Missbrauchsopfer und 1.670 beschuldigte Geistliche identifizierten die Forscher der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen im Zuge ihrer Studie für die Deutsche Bischofskonferenz.

„Im Studium tauchte jemand auf, der mich so massiv an diesen Kaplan erinnert hat, dass ich Panik bekommen habe. Das weiß ich heute, damals habe ich das nicht begriffen. Ich habe von jetzt auf gleich mein Studium abgebrochen und bin für drei oder vier Jahre mit dem Fahrrad durch die Welt gefahren. Von Kanada nach Feuerland, solche Sachen habe ich gemacht. Als ich von meinen Reisen zurück war, da hatte ich das so weit verdrängt.“

Wann haben Sie zum ersten Mal über den Missbrauch gesprochen?

„Kurz bevor wir geheiratet haben, habe ich meiner Frau davon erzählt. Aber auch nur in einem Nebensatz. Ich hatte zu der Zeit auch wirklich keine konkrete Erinnerung daran. Erst als unsere Kinder geboren wurden, kamen die Erinnerungen zurück. Zuerst stückchenweise, nachts in irgendwelchen Albträumen, dann auch tagsüber. Ich bekam Flashbacks. Ich bekam Krampfanfälle. Ich bekam Depressionen, die fast meinen wirtschaftlichen Ruin bedeutet hätten. 2012 bin ich komplett zusammengebrochen. Ich hatte massive Selbstmordgedanken.“

Hilf(e)los und gottverlassen

Hedwig T. berichtet von sexuellem Missbrauch durch einen Pfarrer in ihrer Kindheit. Die Taten sind verjährt.

Es gibt Dutzende Opfer des Täters Pottbäcker. Es gibt Tausende Täter wie den Kaplan Pottbäcker: Im Zuge ihrer Studie für die Deutsche Bischofskonferenz identifizierten die Forscher der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen 1.670 beschuldigte Geistliche und 3.677 minderjährige Missbrauchsopfer. Es gibt ein Dunkelfeld, das sehr viel größer ist als das von den Forschern untersuchte Hellfeld mit den in den Kirchenarchiven dokumentierten Missbrauchsfällen: Eine Studie des Ulmer Kinderpsychiaters Jörg Fegert geht von 114.000 Missbrauchsopfern aus.

Das wiederum sind Zahlen, die den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche beziffern. Missbrauch geschah und geschieht aber auch in der evangelischen Kirche, in Internaten und Heimen, in Sportvereinen, in Chören, in der Familie. Vor allem in der Familie.

15.936 Missbrauchsfälle im Jahr 2019

Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet 15.936 Missbrauchsfälle für das Jahr 2019, ein Anstieg von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und das sind nur die Taten, die der Polizei bekannt geworden sind. Würde man die Dunkelfeld-Schätzung des Ulmers Jörg Fegert auf die Kriminalstatistik übertragen, käme man auf fast 500.000 Missbrauchsfälle allein im Jahr 2019.

Täglich melden sich Missbrauchsopfer am Opfer-Telefon, bei der Onlineberatung oder in den Außenstellen des WEISSEN RINGS, manchmal 30, 40 oder sogar 50 Jahre nach den Taten. Ein Großteil von ihnen hat die Taten nie angezeigt.

Martin Schmitz war nicht allein, er ist nicht allein.

Bernd Theilmann: „Was man da erlebt hat, wenn man zu ihm kommen sollte … Ich war doch erst zehn!“ Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Der kleine Bernd Theilmann sprach nicht über das, was er im Pfarrhaus von Neuenkirchen, Niedersachsen, erlebte. Es ging nicht, der Pfarrer hatte ihm gedroht: „Wenn du einem davon erzählst, dann tritt der Satan zwischen uns!“ Vielleicht muss man katholisch erzogen worden sein, um die Wucht dieses Satzes zu verstehen. Theilmann jedenfalls rüttelt es heute noch durch, wenn er daran zurückdenkt: „Wie er das sagte: ,Der Satan‘…“ Theilmann zischt das S, es klingt wie bei einer Schlange.

Der Pfarrer hieß Bernhard Janzen, er starb 1972 als Ehrenbürger. Ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte der Rat der Gemeinde ihn ausgezeichnet: als Dankeschön für seine Verdienste um den Schulausbau, die Klinikgründung, den sozialen Wohnungsbau. In einem halbseitigen Nachruf auf Janzen in der Kirchenzeitung dankt Neuenkirchen Pfarrer Janzen für „33 Jahre eines äußerst segensreichen Schaffens“, „sein priesterliches Wirken und sein Andenken werden fortleben“.

Theilmann weiß heute, dass er nicht das einzige Opfer des Pfarrers war. Damals ahnte er es nur. Es gab halbstarke Sprüche auf dem Bolzplatz, hilflose Warnungen auch: „Zu dem geh’ lieber nicht allein.“ Aber das Erlebte aussprechen? Über Sexualität reden? Den mächtigen Pfarrer beschuldigen? Undenkbar.

Als Theilmann älter wurde und Neuenkirchen verlassen hatte, um zunächst Bäcker zu werden und später Lehrer, sprach er erstmals über den Missbrauch, „mit wenigen Vertrauten“, wie er sagt. Was die Vertrauten mit dem Wissen anstellten, weiß er nicht. „Womöglich nichts“, sagt er.

Als der Pfarrer in der Kirche von Neuscharrel, Niedersachsen, von ihm abließ, sagte er zu Marcus Fischer*, er dürfe niemandem erzählen, dass „wir ein bisschen geschmust“ hätten. Marcus hält sich daran.

Eine mutige Mutter

Er erfährt nicht, dass an einem Frühjahrstag des Jahres 1983 eine Mutter all ihren Mut zusammenrafft und sich beim zuständigen Dechanten meldet. Sie informiert ihn darüber, dass Pfarrer Helmut Behrens ihren neunjährigen Sohn sexuell missbraucht habe. Fischer erfährt auch nicht, dass an diesem Tag im nördlichsten Teil des Bistums Münster zahlreiche Telefone klingeln. Der Dechant ruft den Weihbischof an und fragt ihn, was er denn nun mit dem Pfarrer tun solle. Der Weihbischof bittet ihn, den katholischen Generalstaatsanwalt im Nachbarort um Rat zu fragen. Der katholische Generalstaatsanwalt antwortet: „Bringt ihn da weg, sonst holen wir ihn!“ So erinnert sich der Dechant noch 2018, da ist er weit über 80.

Noch am selben Tag ruft der Dechant den Pfarrer an und teilt ihm mit, dass er ihn gleich abholen werde. Als er eine halbe Stunde später beim Pfarrhaus eintrifft, hat Helmut Behrens seine Koffer bereits gepackt. Über das, was dem Pfarrer vorgeworfen wird, sprechen die Männer nicht; auch während der Autofahrt fällt kaum ein Wort. Der Dechant fährt Behrens in das nahe Benediktinerinnen-Kloster; er tut das, was ihm aufgetragen wurde: „Bringt ihn da weg!“ Nachdem der Pfarrer plötzlich verschwunden ist, hört Marcus Fischer „wilde Gerüchte“ auf dem Schulhof. Der Satz eines Mitschülers brennt sich ihm ins Gedächtnis: „Jetzt ist der schwule Bock endlich weg!“ Fischer studiert, er wird Anwalt, heute ist er Partner einer großen Hamburger Wirtschaftskanzlei. Die Erinnerung an den Nachmittag in der Pfarrkirche St. Ludger vergräbt er tief in seinem Innern.

II. Reden

35 Jahre später liest Fischer in der Zeitung von der Studie zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche, die die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat. Sein Blick bleibt an dieser Zahl hängen: 3.677 Opfer. Wut steigt in ihm auf. Nein, denkt er, so kommt ihr mir nicht davon! Es sind nicht 3.677 Opfer, es sind mehr! Ich bin Opfer Nr. 3.678! Zum ersten Mal spricht Fischer über jenen Nachmittag in der Kirche. Er erzählt seiner Familie davon, Freunden – und er informiert die Kirche, er schreibt einen Brief an den Bischof von Münster. Als die Kirche ihm zu langsam reagiert, ruft er einen Journalisten an. Fischer fängt etwas an, das bis heute nicht aufgehört hat.

Bernd Theilmann lebt schon lange als Lehrer im niedersächsischen Oldenburg, als ihn im Herbst 1994 Nachrichten aus der alten Heimat erreichen: Die Haupt- und Realschule Neuenkirchen soll einen neuen Namen bekommen – „Bernhard-Janzen-Schule“. Bei einer Umfrage unter Schülern, Eltern und Lehrern hat sich der Vorschlag durchgesetzt, vor „Richard-von-Weizsäcker-Schule“ und „Anne-Frank-Schule“.
Theilmann platzt der Kragen.

Hilf(e)los und gottverlassen

Eine Frau auf der Suche nach Antworten

„Das geht ja gar nicht!“, schimpft er. Er hat lange Therapien hinter sich, um den Missbrauch zu verarbeiten und die Scham zu überwinden, die Schuldgefühle, die Selbstzweifel. „Mein ganzes Leben ist durch diese Geschichte in Unordnung geraten“, sagt er.

Erstmals erzählt er seinen Eltern von dem Geschehen im Pfarrbüro, danach geht er zum Bürgermeister. Der Bürgermeister informiert den aktuellen Pfarrer. Es geschieht: nichts. Der Gemeinderat erfährt nicht von Theilmanns Vorwürfen. Mit großer Mehrheit stimmen die Ratsmitglieder dafür, die Schule nach dem toten Pfarrer und Ehrenbürger zu benennen.

Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Aber für Theilmann ist die Zeit des Schweigens und Stillhaltens vorbei. Er nimmt Kontakt zu anderen Opfern auf, bald sind sie zu fünft. Sie schreiben die Schulbehörde an, sie wenden sich an den Weihbischof. Der Weihbischof – es ist derselbe Mann, der elf Jahre zuvor den Abzug von Pfarrer Helmut Behrens aus Neuscharrel organisierte – empfängt Theilmann am Bischofssitz in Vechta zum Gespräch. Als er die doppelwandigen Türen schließen will, sagt Theilmann: „Herr Bischof, lassen Sie bitte die Türen auf… das ist ja schon wieder wie damals in Neuenkirchen!“ Der Weihbischof sagt, in den Personalakten finde sich kein Hinweis auf Verfehlungen von Pfarrer Janzen. „Wir müssen von der Unschuldsvermutung ausgehen.“

Theilmann informiert die Presse. Als die Lokalzeitungen im Sommer 1995 über die Vorwürfe gegen Janzen berichten, beginnt endlich eine öffentliche Diskussion. Sie dreht sich aber nicht um den Missbrauch an sich. Der Rat streitet über Politik. Warum hat der Bürgermeister sein Wissen über die Vorwürfe für sich behalten? Die Opposition stellt einen Misstrauensantrag. Der Bürgermeister erklärt, es habe sich um einen „diffusen und vor allem nicht nachweisbaren Vorwurf“ gehandelt. Er sagt: „Für mich stellt sich die Frage, warum sich die Leute nicht gemeldet haben, als Janzen vor rund 20 Jahren Ehrenbürger der Gemeinde wurde?“

Ein Kirchenbild, aufgenommen in Münster. Alle drei in diesem Text vorkommenden Missbrauchsfälle spielten sich im Bistum Münster ab. Foto: Erik Hinz

Andere Neuenkirchener rechnen in Leserbriefen mit den Opfern ab. „Sind sich die jungen Männer dessen bewusst, was sie ihrer Heimatgemeinde angetan haben?“, fragt ein Ehepaar, das nach eigenen Angaben „im Namen vieler“ spricht. Theilmann ist froh, dass er sich in der Presse nur unter Pseudonym zitieren ließ. Im September 1995 beschließt der Rat, den Namen „Bernhard-Janzen-Schule“ zurückzuziehen. Die CDU betont, dass die Entscheidung nicht als inhaltliche Bewertung der Vorwürfe zu verstehen sei. Eine Klärung der Anschuldigungen sei nach mehr als 30 Jahren „nicht mehr möglich“ und „nicht erstrebenswert“.

Erst 2010, nachdem zuerst der jahrelange sexuelle Missbrauch von Kindern am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde und in der Folge immer neue Missbrauchsvorwürfe gegen Kirchenmitarbeiter laut werden, lässt die Kirche den Fall Janzen offiziell prüfen.

Der Pfarrer ist inzwischen 38 Jahre tot, auch der Weihbischof lebt nicht mehr. Zeugen werden gesucht, gefunden und gehört; auch Bernd Theilmann sagt aus. Im Bericht der Prüfkommission heißt es: „Es kann mit moralischer Gewissheit festgestellt werden, dass Pfr. Bernhard Janzen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sexuell missbraucht hat.“

Das Bistum hat Theilmann ein paar Tausend Euro als Entschädigung gezahlt. Er gab das Geld schnell an eine bedürftige Familie weiter, „ich wollte das nicht haben“. Theilmann sagt: „Mein Ziel war es, dass die Schule nicht nach ihm benannt wird. Das habe ich erreicht.“

Eine Anzeige beim Bistum

Rhede, 2012: Martin Schmitz möchte weiterleben. Er holt sich Hilfe, er begibt sich in Therapie. Und er tut noch etwas: Er zeigt den Missbrauch beim Bistum Münster an.

Wie hat die Kirche auf Ihre Anzeige reagiert, Herr Schmitz?

„Der damalige Missbrauchsbeauftragte des Bistums kam zu mir nach Rhede. Ich habe ihm so viel oder auch so wenig erzählt, wie ich damals erzählen konnte. Er hat mir dann einen Antrag dagelassen auf ‚Anerkennung des Leids‛. Den habe ich tatsächlich irgendwann ausgefüllt. Ich habe zwei Wochen gebraucht, da wieder rauszukommen. Der Antrag ist grauenhaft.“

Ein Mann mit Brille steht in einem Garten und schaut in die Kamera.

Erlebte Missbrauch in seiner Kindheit: Martin Schmitz. Foto: Krogmann

Schmitz will, dass Rhede erfährt, was geschehen ist. Drei Pfarrern muss er seine Geschichte erzählen, „zu einer Zeit, wo ich eigentlich noch nicht darüber reden konnte“, wie er heute sagt.

Der dritte Pfarrer holt sich Unterstützung beim Bistum in Münster, Schmitz muss seine Geschichte ein viertes Mal erzählen.

„Ich wurde dann gefragt, was ich erwarte, und ich habe gesagt: Die Verantwortlichen im Bistum müssen benannt werden. Es hieß dann, ich müsse ein wenig Geduld haben. Da habe ich gesagt: Der Missbrauch ist verdammt lange her! Das Bistum weiß seit 2012 von meinem Fall! Wie lange soll ich denn noch warten? Ich habe gesagt: So, ich fahre jetzt nach Berlin zum öffentlichen Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, da geht es darum, wie die Kirche mit solchen Fällen umgeht. Was soll ich da erzählen? Dass ich seit Jahren verarscht werde?“

Tatort: Kirche St. Bonifatius in Neuenkirchen-Vörden (Landkreis Vechta). Foto: Krogmann/NWZ

Am 27. Juni 2018, 45 Jahre nach dem Missbrauch, sitzt Martin Schmitz in der Berliner Akademie der Künste auf einer kleinen Bühne, hinter ihm steht auf einer blauen Leinwand in schwarzen Lettern: „Geschichten, die zählen“. Schmitz erzählt seine Geschichte. Er spricht über Rhede, über Pottbäcker, über den Missbrauch, über das Versagen der Kirche. Er nennt seinen vollen Namen: Martin Schmitz. Journalisten schreiben über seinen Fall.

III. Kämpfen

Sommer 2020: Martin Schmitz hat viel zu tun, nicht nur in seiner Tischlerei. Er leitet eine Selbsthilfegruppe in Rhede, eine zweite hat er jüngst in Münster gegründet, für viele Missbrauchsopfer im Bistum liegt Rhede zu weit am Rand. Er arbeitet als Betroffener im Beirat der Historikerkommission der Universität Münster mit, die auf Initiative des Bistums, aber unabhängig das Missbrauchsgeschehen im Bistum aufklären soll, darunter den Fall Heinz Pottbäcker.

Er war in der Expertenkommission der Bischofskonferenz dabei, die die Entschädigungszahlungen für Missbrauchsopfer festlegen sollte. Er hat in Mainz demonstriert, er hat im Bistum Limburg am Projekt „Betroffene hören – Missbrauch verhindern“ mitgewirkt, er trat bei der Abschlussveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche auf. In Kürze soll er an der Universität Bonn sprechen. Im Kampf gegen den Missbrauch ist Martin Schmitz innerhalb von zwei Jahren eines der bekanntesten Gesichter Deutschlands geworden.

„Jeder darf meinen Namen wissen“

In der Selbsthilfegruppe in Münster ist auch Bernd Theilmann dabei. Auch er hat mit der Historikerkommission gesprochen, der Fall Bernhard Janzen soll ebenfalls aufgeklärt werden. Eine Podiumsdiskussion in Neuenkirchen, die Theilmann auf den Weg bringen wollte, platzte kurzfristig, aber er konnte ein Gespräch des zuständigen Pfarrers mit seiner über 90-jährigen Mutter arrangieren. „Das war sehr gut“, sagt er. Das Pseudonym, unter dem er damals in der Presse auftrat, hat er inzwischen abgelegt. „Jeder darf meinen Namen wissen“, sagt er heute. „Ich habe nichts falsch gemacht.“ Seither melden sich immer wieder Leute bei ihm, um mit ihm über ihre Erlebnisse mit Pfarrer Janzen zu sprechen.

„Ich würde es genauso wiedermachen.“

Marcus Fischer

Dass die Historikerkommission in Münster überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hat, ist vielleicht auch ein Verdienst von Marcus Fischer. Er, der gewiefte Wirtschaftsanwalt, hat den Bischof mit scharfen Briefen unter Druck gesetzt, den Generalvikar, die Missbrauchsbeauftragten. Er arbeitet nun ebenfalls im Betroffenenbeirat der Historikerkommission mit, denn auch der Fall Helmut Behrens ist Gegenstand der Forschung. Fischer sagt: „Meine Rolle war es, der Kirche, die zunächst so hat nie aufklären wollen, als ziemlich starke Persönlichkeit gegenüberzutreten.“ Es wird kurz still in der Kanzlei in der Hamburger Hafencity. „Es war eine sehr anstrengende Zeit“, sagt er, „und es ist immer noch anstrengend. Aber ich würde es genauso wiedermachen.“ Martin Schmitz, Bernd Theilmann, Marcus Fischer – die Zeit des Schweigens ist für diese drei Männer vorüber.

IV. Epilog

An einem Samstag im Juni 2020 steht Martin Schmitz, 58 Jahre alt, in der Frankfurter Paulskirche. Als Kind konnte er nicht sprechen über den Schrecken, aber er konnte schreiben. Neulich fand er in einem Karton einen Zettel, darin lag ein Papierkügelchen, eng zusammengeknüllt. Es war ein Gedicht, das er als Kind in Rhede geschrieben hat. Lesen sollte es niemand. Jetzt liest er es vor:

„Die Tür fällt dumpf ins Schloss, er ist wieder weg.
Ich spüre nur noch Leere.
Ganz leise fange ich an zu weinen,
so leise, dass es niemand hört.
Man sieht auch keine Tränen,
ich weine in mich hinein,
in meine Leere.
Bis meine kleine Seele darin ertrinkt.“