Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Erstellt am: Donnerstag, 3. April 2025 von Selina

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung ist groß, nachdem vor zwei Wochen bekannt geworden ist, dass der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) auslaufen soll. Ein Papier aus den Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD lässt jetzt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds tatsächlich bleibt, ist ungewiss. Beratungsstellen und Betroffene mahnen, die niedrigschwelligen Hilfen in vollem Umfang zu erhalten.

Manche Opfer brechen Jahrzehnte nach dem Missbrauch zusammen. Mit Hilfe des Fonds kann ihr Leid gelindert werden. Foto: dpa

Manche Opfer brechen Jahrzehnte nach dem Missbrauch zusammen. Mit Hilfe des Fonds kann ihr Leid gelindert werden. Foto: dpa

Bernd Weiland (Name geändert) wurde jahrelang von seinem Vater missbraucht. Er verlor das Gleichgewicht und bekam als Erwachsener auch Geldsorgen, weil er beruflich nicht richtig Fuß fassen konnte. Um wenigstens etwas Abstand zu der Tat und zu dem Mann zu bekommen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, wollte er seinen Nachnamen ändern. Später hatte er noch einen kleinen Wunsch: sich einmal elegant einkleiden, von Kopf bis Fuß, um sich „nicht so ärmlich und erbärmlich“ zu fühlen, sagte er. Keine teure Designerkleidung, aber ordentliche Klamotten. Als der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seinen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Namensänderung und die Kleidung bewilligte, war er sprachlos und brach in Tränen aus, vor Freude.

Die Kleidung habe für ihn eine tiefere Bedeutung gehabt, erklärt Ingeborg Altvater, die beim WEISSEN RING mehr als 100 Beratungen zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS) gemacht hat, das hinter dem Fonds steht. „Die Garderobe stärkte sein Selbstbewusstsein. Das ist ganz wichtig, weil er wie andere Opfer mit dem Gefühl kämpfte, minderwertig und hilflos zu sein“, erinnert sich Altvater.

In der Regel ist eine Unterstützung bis 10.000 Euro möglich

Der Fonds kann Hilfen gewähren, die die Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht nicht abdecken. In der Regel ist eine Unterstützung in Höhe von 10.000 Euro, für Betroffene mit Behinderung bis zu 15.000 Euro möglich. Kürzlich ist bekannt geworden, dass das Ergänzende Hilfesystem und der FSM Ende 2028 auslaufen sollen. Demnach können Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt noch bis Ende August 2025 eingereicht und Zusagen nur bis Jahresende erteilt werden.

Das noch amtierende Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte diesen Schritt mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 bemängelt hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht darüber einigen können, wie sie das EHS neu aufstellen können. Das sei Aufgabe der neuen Bundesregierung. Der WEISSE RING und fünf Fachorganisationen, darunter die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), kritisierten die Entscheidung und forderten in einer gemeinsamen Erklärung: „Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden.“

Derzeit verhandeln CDU und SPD über eine Koalition. Ein dort erarbeitetes Papier macht Hoffnung. Es heißt darin: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“ Doch ob der FSM als Teil des EHS tatsächlich bestehen bleibt und in welcher Form, ist noch unklar.

Leistungen können Folgen des Missbrauchs lindern

Beratende wie Ingeborg Altvater mahnen, den Fonds in vollem Umfang zu erhalten. Sie beschreibt das Hilfesystem als „sehr niedrigschwellige Möglichkeit zu helfen – und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, um die Folgen des Missbrauchs zu lindern“.

Das System bietet aus Sicht der Opfer eine Reihe von Vorteilen: Die Verfahren sind nicht so lang und belastend wie beim Entschädigungsrecht, und die Anträge werden viel häufiger genehmigt. Betroffene müssen glaubwürdige Angaben machen, etwa zu ihrer Person und zu den Taten, letztere jedoch nicht detailliert in Worte gefasst schildern. Sie können auch durch Ankreuzen Informationen geben, beispielsweise dazu, ob sie angefasst worden sind. „Das entlastet Opfer. Sie schaffen es dadurch eher, einen Antrag auf Unterstützung zu stellen“, weiß Altvater. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Beratung sagt Altvater: „Menschen, die in jungen Jahren von ihren Nächsten missbraucht wurden und dadurch einen großen Vertrauensbruch erlitten haben, sind eine besonders belastete Opfergruppe. Sie haben viele Ängste und Schamgefühle.“ Teilweise sind sie beruflich erfolgreich, haben aber privat Probleme. Mitunter verdrängen sie die Tat jahrzehntelang – und brechen dann zusammen.

Der FSM kümmert sich weitgehend um Fälle von sexualisierter Gewalt im familiären Bereich. Zudem übernimmt er Fälle in Institutionen, die sich an ihm beteiligen, etwa der Caritasverband und die Bundeswehr. Laut den jüngsten Zahlen ist der monatliche Schnitt an Erstanträgen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen, auf 412. Das geht aus dem Jahresbericht des Fonds hervor. Der Großteil der Antragstellenden hat sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld angegeben (96,2 Prozent). In etwa 98 Prozent der Fälle wurden Mittel aus dem FSM bewilligt. Im Jahr 2023 flossen Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent), der Bund zahlte in dem Jahr 32 Millionen ein. Nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Hilfen durch den Fonds. Den größten Anteil im vorvergangenen Jahr hatten Leistungen, die der „individuellen Aufarbeitung“ dienen, etwa Hilfen zur sozialen Teilhabe oder Entspannungsverfahren (8 Millionen Euro), gefolgt von therapeutischen Hilfen (7,7 Millionen Euro).

Beratungsstellen warnen vor Aus

Auch in der Fachberatung aktive Einrichtungen kritisieren das drohende Aus bundesweit. Lilo Löffler, geschäftsführender Vorstand beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer Mettmann, warnt zum Beispiel vor einem „fatalen Schritt“ der Politik. Die individuellen Hilfeleistungen seien eine wichtige Anerkennung für Betroffene und „tragen erheblich zur Linderung des erlebten Leids bei.“

Der Fonds Sexueller Missbrauch kann einspringen, wenn gesetzliche Leistungen nicht reichen, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Oder wenn das Fortsetzen gesetzlicher Leistungen abgelehnt oder durch eigentlich vorrangige Leistungsträger erschwert wird. So kann der Fonds beispielsweise eine Behandlung in den sogenannten psychotherapeutischen Richtlinienverfahren über die Stundenobergrenze hinaus ermöglichen. Weitere Beispiele sind Physiotherapie, Ergotherapie, Zahnbehandlungen, Aus- und Fortbildung oder Umzüge, etwa wenn der Tatort auch der Wohnort ist.

Wenn Altvater Betroffene berät, erklärt sie ihnen zu Beginn den Aufbau des Antrags, klärt formale Dinge: „Das verringert die Anspannung.“ Es geht erst um Daten zur Person, später um Tatzeit und Tatort, die Tat, die nicht beschrieben werden muss, dann um seelische und körperliche Folgen sowie die konkreten Leistungen, die das Leid lindern und den Heilungsprozess fördern sollen. Die Sachbearbeiter müssen erkennen, weshalb etwas beantragt wird und inwiefern es helfen kann. „Wir überlegen, was den Opfern guttun, was ihnen eine neue Perspektive eröffnen würde.“ Ein wichtiges Ziel sei, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen, da sie sich häufig machtlos fühlen. Auch deshalb habe der Fonds eine große Bedeutung: „Wenn Betroffene aktiv werden, aus der Opferrolle treten können und schließlich lesen, dass der Staat ihr Leid anerkennt und sie unterstützt, brechen sie manchmal in Tränen aus. Manchen hat ihr Umfeld viele Jahre lang nicht geglaubt.“

Unruhe und Sorgen bei Betroffenen

Ein Ende des Fonds wäre verheerend, sagt Altvater. Die Ankündigung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Teil des EHS nicht weiterzuführen, hat bereits negative Folgen gehabt. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, nicht wahrgenommen. Aufgrund der aktuell geltenden Fristen müssen sie schnell handeln – was für schwer traumatisierte Menschen eine große Herausforderung ist. Ein weiteres Problem: Es gibt keine Vorauszahlungen mehr. Wenn also jemand zum Beispiel das Geld für ein Fahrrad nicht vorstrecken kann und der Händler nicht mit sich reden lässt, muss er aufgrund der aktuellen Antragsflut auf die bewilligte Leistung verzichten. „Das ist alles belastend, sorgt für Unruhe“, so Altvater.

Sie, ihre beratenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer hoffen, dass der Fonds bestehen bleibt, gestärkt wird, und dass bald Klarheit herrscht. Was das Ergänzende Hilfesystem leisten kann, zeigt ein weiterer Fall, der Altvater besonders gut im Gedächtnis geblieben ist: Annette Weber (Name geändert) hatte der Missbrauch so aus der Bahn geworfen, dass sie kaum in der Lage war, ihre Wohnung zu verlassen und unter Leute zu gehen. Die Rollläden in ihrer Zweizimmerwohnung ließ sie zumeist unten. In der EHS-Beratung nannte sie zwei Anliegen: ein Rudergerät, gegen ihre Rückenschmerzen und ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer, wo sie schlief statt im Schlafzimmer. Beim zweiten Wunsch war Altvater der Grund zunächst nicht klar, für den Antrag musste sie ihn aber kennen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fragte Altvater: „Hat der Missbrauch in einem Schlafzimmer stattgefunden?“

Weber nickte, erleichtert darüber, dass die Beraterin es ausgesprochen hatte. Altvater ergänzte den Antrag und er wurde bewilligt. Weber war „einfach nur glücklich“. Sowohl über den Ersatz für die alte, durchgelegene Couch als auch über das Rudergerät. Es half ihrem Rücken, und sie mochte die gleichmäßige, beruhigende Bewegung, die sich so anfühlte, als wäre sie auf dem Wasser.