Maßregelvollzug: Kein Ende in Sicht

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Sabine

Maßregelvollzug: Kein Ende in Sicht

Die Unterbringung nach §63 StGB dauert oft länger als gedacht – im Schnitt sechs bis zehn Jahre, teils sogar deutlich länger. Für viele Betroffene ist das belastender als eine Haftstrafe.

Maßregelvollzug in Deutschland: Grafik von Deutschland in Bundesländer aufgeteilt. Am Rand steht pro Bundesland die durchschnittliche Haftzeit in forensischen Psychiatrien.

Je nach Bundesland dauert die Unterbringung nach §63 StGB im Maßregelvollzug in Deutschland unterschiedlich lange.

Wie lange dauert die Unterbringung nach §63 StGB im Maßregelvollzug in Deutschland? Durchschnittlich zwischen 6,03 und 10,35 Jahre blieben Patienten bis zu ihrer Entlassung im Maßregelvollzug. Das ergab eine Umfrage des WEISSER RING Magazins bei allen 16 Bundesländern. Die Unterbringung nach §63 StGB ist keine Haftstrafe, sondern eine Maßnahme zur Behandlung psychisch erkrankter Straftäter. Sie wird angeordnet, wenn jemand eine schwere Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder mit erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat und als gefährlich gilt.

Immer wieder flammt die Diskussion auf, ob die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung milder ist als eine Haftstrafe. „Das ist nicht miteinander vergleichbar, weil es im Maßregelvollzug um kranke Menschen geht“, sagt Professor Dr. Jürgen Leo Müller. Der Chefarzt der Asklepios Fachklinik Göttingen leitet das Fachreferat Forensische Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Es gibt im Maßregelvollzug viele Patienten, die lieber in Haft sitzen würden. Weil sie dann wüssten, wie lange sie hinter Gittern sind.“ Im Maßregelvollzug ist das anders.

Denn die Dauer der Unterbringung ist bei erheblichen Straftaten nicht begrenzt. „Menschen im Maßregelvollzug haben eine schwere psychische Störung. Sie müssen so lange in der Klinik bleiben, bis sie keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellen“, erklärt Müller. Mehr als jeder Vierte verbringe mehr als zehn Jahre im Maßregelvollzug.

Schleswig-Holstein versucht, die Rückfallquote mit Prävention zu verringern: Forensische Institutsambulanzen der beiden Maßregelvollzugskliniken betreuen Patientinnen und Patienten während der Bewährungs- und Führungsaufsicht nach der Entlassung, und zwar auch aufsuchend. Außerdem wird nach Angaben des Justizministeriums derzeit ein „Handlungskonzept“ für Menschen in der Bewährungshilfe entwickelt, die sich in besonders problematischen Lebenslagen befinden und nach der Zeit im Vollzug womöglich Schwierigkeiten haben, Zugang zu einer geregelten sozialen und psychologischen Nachsorge zu bekommen. Geplant sei ein „Fallmanagement“ mit individuellen Hilfen. Zur Zielgruppe könnten auch aus dem Maßregelvollzug entlassene Personen gehören.

Die Daten aller Bundesländer des Jahres 2023 zeigen deutliche Unterschiede bei den durchschnittlichen Verweildauern. In Hessen war sie mit 6,03 Jahren am kürzesten, gefolgt von Bremen mit 6,29 Jahren und Baden-Württemberg mit 6,38 Jahren. Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete 9,81 Jahre, Brandenburg 9,82 Jahre und Schleswig-Holstein 10,35 Jahre. Anders als bei der Betrachtung aller Insassen zu einem Stichtag, bei denen die endgültige Verweildauer noch nicht feststeht, werden in unserer Grafik nur Patienten betrachtet, deren Maßregel im Jahr 2023 beendet wurde. Es handelt sich also um abgeschlossene Fälle, deren Dauer rückblickend gemessen wurde.

„Trotz intensiver therapeutischer Angebote gelingt es nicht immer, die Rückfallgefahr auf ein hinnehmbares Maß zu reduzieren“, teilte das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt (durchschnittliche Verweildauer: 6,81 Jahre) dem WEISSER RING Magazin mit. „Daher ist ein längerer Verbleib in einer Maßregelvollzugseinrichtung zum Schutz der Allgemeinheit nicht auszuschließen.“

Es fehlt an Platz und Personal

Laut DGPPN sind in Deutschland rund 10.000 psychisch oder suchtkranke Straftäter im Maßregelvollzug untergebracht – verteilt auf 78 Einrichtungen. „Mit der Unterbringung dürfen wir die Patienten aber nicht automatisch behandeln“, schildert Müller. Für eine Behandlung gegen ihren Willen sind die rechtlichen Hürden hoch und in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. „Wir beobachten, dass Patienten, denen geholfen werden könnte, keine Therapie annehmen und viele Jahre bleiben müssen.“

Viele der forensisch-psychiatrischen Einrichtungen seien überfüllt, fand die DGPPN bei einer Umfrage heraus: Es fehle an Platz und Personal. Und selbst wenn von einem Patienten keine Gefahr mehr ausgehe, könne es sein, dass eine Entlassung nicht möglich sei, weil es zu wenig Anschlussbehandlungsmöglichkeiten und Wohnangebote gebe.

Psyche & Gewalt

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Selina

Psyche & Gewalt

Nach Messerattacken wie in Hamburg und Amokfahrten wie in Mannheim wird intensiv über Gewalt durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung diskutiert. Sind sie gefährlicher als andere? Falls ja: Wie lässt sich das Risiko senken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, bei Fachleuten aus der Wissenschaft, Betroffenen, Ministerien und in Statistiken.

Was sich nach Attentaten wie in Aschaffenburg, Mannheim und Hamburg ändern muss.

Kapitel 1: Aschaffenburg und Mannheim

Sie legen Kuscheltiere, Blumen und Kerzen nieder. Und Briefe, in denen sie Anteil nehmen. Viele der 3000 Menschen, die sich am Abend des 23.Januar in Aschaffenburg versammeln, sind schockiert, sprachlos und weinen. Ihre Kerzen tauchen den mitten in der Stadt gelegenen Park Schöntal an diesem Winterabend in ein warmes Licht. Manche der Trauernden appellieren auf Transparenten an den Zusammenhalt; es ist ein stilles Gedenken, das seinen Namen verdient. Während in der Bundesrepublik, kurz vor der Wahl, hitzig debattiert wird.

Am Tag zuvor, am Vormittag, hatte ein 28-Jähriger in dem Park ein Messer gezogen und eine Kindergartengruppe angegriffen. Er erstach ein Kleinkind und einen 41-Jährigen, der helfend einschritt. Drei weiteren Menschen, darunter einer Kindergärtnerin, die sich ihm entgegenstellte, fügte er schwere Verletzungen zu. Vorher war der ausreisepflichtige Asylbewerber aus Afghanistan mehrfach straffällig und psychisch auffällig geworden.

Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss an, das forensisch-psychiatrische Gutachten war aber abgeschlossen. Wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mitteilte, geht der Gutachter davon aus, dass dem Beschuldigten „infolge einer psychiatrischen Erkrankung die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gefehlt habe“. Und dass die Erkrankung nicht vorübergehend sei. Falls sie nicht doch geheilt wird, sei „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren, auch hochaggressiven Taten zu rechnen“. Daher deutete alles auf ein Sicherungsverfahren hin, mit dem Ziel, den Mann dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen.

Bereits vor der Attacke im Januar wurde gegen ihn ermittelt – wegen „tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung“. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben, aber ausgesetzt. Der Grund: Der Geflüchtete gab an, freiwillig ausreisen zu wollen. Voraussetzungen für einen Haftbefehl hätten nicht vorgelegen, so die Staatsanwaltschaft.

2018

Münster. Am 7. April 2018 lenkte ein 48-Jähriger in Münster einen Kleinbus in eine Menschenmenge am Kiepenkerl-Denkmal im Stadtzentrum. Vier Menschen starben, mehr als 20 erlitten teils schwere Verletzungen. Der deutsche Täter erschoss sich anschließend selbst. Der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt kannte Jens Alexander R. bereits. Laut Informationen von SZ, WDR und NDR war der Mann bei Polizeieinsätzen als nervenkrank aufgefallen.

Der Angreifer war zu dem Zeitpunkt schon zweimal polizeilich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, am 12. Mai 2024 und im August desselben Jahres. In beiden Fällen wurde der 28-Jährige nach kurzer Zeit entlassen, im letztgenannten Fall soll er in einer Flüchtlingsunterkunft eine Bewohnerin mit einem Messer attackiert haben. Dieser Vorfall sei ihr erst nach dem Attentat vom 23. Januar dieses Jahres bekannt geworden, schreibt die Staatsanwaltschaft. Hier ermittle sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Wenige Wochen nach dem Messerangriff von Aschaffenburg, am Mittag des dritten März, fährt ein 40-Jähriger in Mannheim mit einem Kleinwagen in eine Menschenmenge. Der Deutsche tötet eine 83-Jährige und einen 54-Jährigen und verletzt elf weitere Menschen teils schwer. Ein Taxifahrer mit pakistanischen Wurzeln stellt sich ihm mit seinem Auto in den Weg. Der Angreifer schießt mit seiner Schreckschusspistole und flieht. Als die Polizei ihn festnimmt, schießt er sich in den Mund, überlebt aber.

2019

Frankfurt. Im Juli 2019 stieß der 40-jährige Habte A. eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Der Sohn starb, die Mutter überlebte. Habte A. litt an paranoider Schizophrenie. Das Landgericht Frankfurt am Main ordnete wegen der Schuldunfähigkeit des Eritreers die Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim erklärte auf Anfrage, die Ermittlungen, unter anderem wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes, liefen. Deswegen könne sie weder zum Tatablauf noch zu Motiven nähere Angaben machen. Sie habe ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliege.

Kurz nach der Tat hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund oder mögliche Mittäter gesehen. Wenige Tage später veröffentlichte das Recherchenetzwerk Exif Hinweise darauf, dass der Verdächtige früher der Neonaziszene und der „Reichsbürger“- Bewegung angehört und rechtsradikale Ansichten geteilt haben soll. Im Jahr 2018 war der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er bei Facebook unter ein Foto von Hitler in einem Kommentar „Sieg Heil from Germany“ schrieb.

Bald nach der Amokfahrt vermuteten die Ermittler, dass ein psychischer Ausnahmezustand eine Rolle spielte. Der Fahrer soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, im Jahr vor der Tat auch stationär.

Die mutmaßlichen Täter haben sich laut den Staatsanwaltschaften nicht zu den Vorwürfen geäußert. Noch ist vieles unklar, doch eines haben die Attentate von Mannheim und Aschaffenburg gemeinsam: Die Beschuldigten hatten psychische Probleme, und es gab Warnsignale. Nach Fällen wie diesen werden immer wieder Fragen laut: Wie gefährlich sind psychisch kranke Menschen? Gibt es Schutzlücken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, mit dem Fokus auf eine bessere Prävention.

Kapitel 2: Wahn und Warnsignale

Henning Saß ist einer der erfahrensten forensischen Psychiater Deutschlands. Er hat in vielen aufsehenerregenden Fällen Gutachten erstellt, etwa beim rassistischen, psychisch kranken Attentäter von Hanau oder bei NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Das Haus des emeritierten Professors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule liegt auf einem Hügel und bietet einen guten Blick über Aachen. Saß, ein sportlich wirkender Mann Anfang 80, hat einige wissenschaftliche Aufsätze bereitgelegt und bietet etwas zu trinken an. Mit seiner ruhigen Stimme schafft er auch bei dem komplexen wie brisanten Thema eine entspannte Atmosphäre.

2020

Hanau. Am 19. Februar tötete der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nach seinen Angriffen auf Bars und einen Kiosk tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst. Gutachter Henning Saß sah beim Täter klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie.

Aufmerksam verfolgt der Psychiater, der schnell und präzise antwortet, die Diskussion nach Attentaten wie in Aschaffenburg und Mannheim. „Nach solchen Einzeltaten, die in die Schlagzeilen kommen, betrachte ich die Debatte mit großer Sorge, weil sie zu einer Diskriminierung der psychisch Kranken insgesamt führen kann“, sagt er. „Aussagen wie ,Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlicher‘ sind unsinnig.“ Man müsse differenzieren. Während die meisten Betroffenen nicht gewalttätig seien, bestehe bei bestimmten Krankheiten tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko, „und zwar in doppelter Hinsicht: Gewalt auszuüben und Opfer davon zu werden“. Das treffe insbesondere auf die schizophrenen Psychosen zu, aber etwa auch auf die dissoziale Persönlichkeitsstörung und die Substanzkonsumstörungen.

Die Rechtslage

Wenn bei psychisch kranken Menschen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden. Geregelt ist dies in den Psychisch-Kranken- beziehungsweise Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen der Bundesländer. Ziele seien Gefahrenabwehr und Hilfe für die Erkrankten. Eine Unterbringung – für die es eine ärztliche Einschätzung braucht – wird in der Regel vom Gesundheitsamt beantragt. Die Entscheidung fällt das Amtsgericht. Nur wenn es nicht schnell genug entscheiden kann, kommt eine „vorläufige Unterbringung wegen Gefahr im Verzug“ durch das Amt selbst infrage. Zudem kann eine Unterbringung nach einer Verurteilung oder einem Sicherungsverfahren beschlossen und im Maßregelvollzug vollstreckt werden. Gemäß § 63 Strafgesetzbuch ist dies bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, die zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und bei denen weiter erheblich rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Dauer ist nicht befristet, sondern von der Risikoeinschätzung abhängig, die mindestens einmal pro Jahr erfolgt. Laut § 64 StGB können Menschen mit Suchterkrankungen, die unter Drogeneinfluss oder infolge ihrer Abhängigkeit straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die Unterbringung ist in der Regel auf zwei Jahre befristet. Darüber hinaus können Polizeibehörden psychisch auffällige Personen bei Gefahr im Verzuge festhalten und einem Arzt oder Psychiater vorstellen.

Saß verweist unter anderem auf eine schwedische Studie zum Gewaltrisiko von Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Wissenschaftler betrachteten die Entwicklung von 250.000 Patientinnen und Patienten. Dafür werteten sie Register aus. Insgesamt hatten die Erkrankten demnach ein drei- bis viermal höheres Risiko, gewalttätig zu werden oder Gewalt zu erfahren. Bei einer akuten Schizophrenie kann der Faktor höher liegen. Eine andere Untersuchung fokussierte sich auf diese Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass zehn Prozent der männlichen Patienten eine Gewalttat begangen hatten.

Die psychische Erkrankung, betont der Professor, sei aber jeweils – neben Drogen, Alkohol, männlichem Geschlecht, Jugend und prekären sozialen Bedingungen – nur ein Risikofaktor. Und damit nur eine potenzielle Ursache für Gewalt.

Unsichere Lebensverhältnisse beträfen auch Geflüchtete: „Sie sind sozial und ökonomisch entwurzelt, haben oft keinen Kontakt zu ihrer Familie und wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Das kann sie psychisch labilisieren und anfällig für extremistische Gedanken machen.“

„Am Ende bleibt die Unsicherheit“

Ein Mann schlägt eine Frau brutal zusammen. Er gilt als schuldunfähig. Während die Betroffene um psychologische Hilfe kämpfen muss, bekommt der Täter sofort eine Behandlung.

Ich war auf dem Weg zu meinem Mieter. Als ich das Wohnhaus betrat, kam mir ein Mann entgegen. „Guten Tag“, mehr habe ich nicht zu ihm gesagt. Er fragte, ob ich hier wohne, und ich antwortete, dass ich hier eine Wohnung habe. Er schrie mir hinterher: „Wohnst du hier?“ Dann packte er mich an den Haaren, zog mich die Treppe hinunter und prügelte auf mich ein. Ich kannte den Mann nicht, war ihm nie zuvor begegnet.

Es stellte sich heraus, dass er paranoide Schizophrenie hat. Mir war es wichtig, dass er weggesperrt wird, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie hochgradig gefährlich er ist. Das Gericht war der Meinung, er sei schuldunfähig, und steckte ihn in eine forensische Klinik. Es wertete die Tat als schwere Körperverletzung, aber für mich war es versuchter Mord. Er holte im Laufe der Tat extra einen Metallgegenstand aus seiner Wohnung, um damit weiter auf mich einzuschlagen. Wäre mein Mieter nicht gekommen, hätte er mich getötet.

Meine Anwältin sagte, dass es gut sei und er in der Klinik bleiben werde. Aber im Nachhinein ist da eine Unsicherheit. Was ist, wenn er einen Psychologen hat, der es gut mit ihm meint und ihn früh entlässt? Aus Gerichtsunterlagen kennt er meine Adresse. Was ist, wenn er Rache möchte? Ich werde über eine Entlassung nicht informiert. Dazu kommen die Kosten. Der Mann ist mittellos. Alles musste ich selbst bezahlen, die

Gerichtskosten, die 4000 Euro für die zehn ausgeschlagenen Zähne. Ich bin selbstständig und kann bis heute nur zwei Stunden am Tag arbeiten. Ich habe einen Grad der Behinderung von 40 attestiert bekommen. Meine Wortfindungsstörung ist besser geworden, aber mein Neurologe sagte mir, dass alles an Verbesserung nun ausgeschöpft sei. Nach drei Jahren habe ich eine kleine Rente bekommen. Meine Eigentumswohnung musste ich verkaufen.

Drei Monate habe ich nach einem Therapieplatz gesucht. Der Traumatherapeut war schon kurz vor dem Ruhestand, aber nachdem er vom Fall gehört hatte, nahm er mich auf. Alles musste von mir organisiert werden, mir hat niemand geholfen außer meiner Betreuerin vom WEISSEN RING. Der Täter kam in eine Klinik, bekam ein Therapieangebot, auch für seine Cannabis-Sucht. Um die Täter kümmern sie sich, um die Opfer nicht. Es sollte so etwas wie einen Code für Opfer von solchen Delikten geben. Diesen könnte das Gericht für eine schnelle psychologische Unterstützung an die Krankenkasse weiterleiten. Opfer sollten informiert werden, wenn der Täter wieder freikommt. Und Menschen mit einer solchen Gewaltbereitschaft sollten strenger beobachtet werden.

Petra

Treffen die Risikofaktoren Wahnerkrankung und Extremismus aufeinander, können sie sich vermischen und verstärken, so Saß. Wie im Fall des Hanauer Terroristen, wo bei der posthumen Begutachtung eine „Amalgamierung“ erkennbar war, also eine Verbindung von „Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken“.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren bei der Gewaltkriminalität allein im vergangenen Jahr 217.277 Fälle registriert, bei einem Anstieg von 1,5 Prozent gegenüber 2023. Ob ein Verdächtiger psychisch krank war, wird in der Regel jedoch nicht in der PKS erfasst.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gleich „Gefährder“.

Erste Hinweise auf das Ausmaß des Gewaltproblems bei psychisch Kranken können Statistiken des Maßregelvollzugs geben. Tendenziell ist die Zahl der untergebrachten Straftäter gestiegen, wie aus einer Länderumfrage des WEISSER RING Magazins hervorgeht. In Hessen zum Beispiel nahm die durchschnittliche Belegung von 672,5 Patienten im Jahr 2015 auf 939,2 im Jahr 2024 zu, in Berlin von 801 auf 848, in Rheinland-Pfalz von 604 auf 715. Darunter sind allerdings nicht nur Gewalttäter, sondern auch Menschen, die gemäß Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund einer Suchterkrankung im Maßregelvollzug sind. Bei Personen, die nach § 63 untergebracht worden sind, zählen Körperverletzung, Tötungs- sowie Sexualdelikte zu den häufigsten Taten. Auch bei diesem Paragraphen sind die durchschnittlichen Belegungszahlen in einem Großteil der Bundesländer gestiegen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel von 242 Patienten im Jahr 2015 auf 257 im vergangenen Jahr, in Baden-Württemberg von 535 auf 805 und im Saarland von 89 auf 129.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit: „Die Zahl der schwer psychisch erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Straftaten begangen haben, ist in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren angestiegen.“ Zu den wenigen Bundesländern, die die vor einer Unterbringung begangenen Gewalttaten – etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung und Sexualdelikte – detailliert aufschlüsseln können, zählt Baden-Württemberg: Die Zahl dieser Delikte ist von 523 im Jahr 2013 auf 789 zehn Jahre später gestiegen. Im Jahr 2023 saßen dort 3232 Menschen im Maßregelvollzug. Wie viele Geflüchtete unter den Patienten sind, ist in keiner Länderstatistik erfasst.

2020

Trier. Am 1. Dezember 2020 fuhr ein 51-jähriger Mann mit einem Geländewagen durch die Fußgängerzone von Trier und tötete sieben Menschen, darunter ein Baby. 22 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der deutsche Täter war betrunken und litt an einer paranoiden Schizophrenie. Schuldunfähig sei er zum Tatzeitpunkt jedoch nicht gewesen. Das Landgericht Trier verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Britta Bannenberg empfängt in ihrem auffallend aufgeräumten Büro, wo alles seine Ordnung zu haben scheint, auch dank der unzähligen Ordner. Die Kriminologin war früher Langstreckenläuferin. Bannenberg – offenes Lächeln, starker Händedruck – ist nach wie vor fit und ausdauernd, in mehrfacher Hinsicht: Die Professorin der Universität Gießen, an der sie unter anderem die kurzen Wege schätzt, forscht seit gut 20 Jahren zu Amok und Terror. „Es handelt sich um sehr seltene Taten, die in den vergangenen Jahren aber zugenommen haben“, sagt Bannenberg. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Anschlägen verhindert. Zu den möglichen Gründen für den Anstieg zählten die vielfältigen Herausforderungen in jüngster Zeit, etwa die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die stärkere Zuwanderung seit 2015. All dies könne dazu beitragen, dass manche Menschen in eine Krise geraten, andere dafür verantwortlich machen und einen enormen Hass entwickeln, zum Beispiel auf Zugewanderte.

Bannenberg beschäftigt sich intensiv mit den Attentätern, um Erkenntnisse für die Ursachen und die Prävention zu gewinnen. Sie beobachtet gewisse Nachahmungseffekte beim Zeitpunkt der Tat und bei den Methoden: Täter fühlten sich durch andere Täter und die Berichterstattung über sie angeregt, jetzt zu handeln, hätten oft aber schon vor Jahren über einen Anschlag nachgedacht. Zum Teil seien sie ideologisch, etwa islamistisch oder rassistisch, zum Teil persönlich motiviert.

2021

Witzenhausen. Ein 31-Jähriger fuhr am 29.Oktober 2021 mit einem Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige starb, eine Sieben und eine Achtjährige wurden schwer verletzt. Das Landgericht Kassel ordnete die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an. Aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie galt der Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig.

Die Rechtswissenschaftlerin hat weitere Merkmale gesammelt: Fast alle Täter sind demnach männlich und die meisten psychisch gestört, ein Drittel auch psychisch krank. Dennoch seien sie in der Lage, die Tat detailliert zu planen. Im Gegensatz zu den paranoid schizophrenen Tätern seien die persönlichkeitsgestörten in der Regel schuldfähig und wüssten genau, was sie täten und weshalb. Sie wollten möglichst viele Menschen töten, Aufmerksamkeit und eine Art Heldenstatus bekommen und sich an der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen rächen. Es handele sich um Einzelgänger, die soziale Defizite aufweisen, keine Empathie hätten und sich einerseits überlegen, andererseits gedemütigt fühlten. „Die Kälte zeigt sich im Tötungsakt“, so Bannenberg.

Kapitel 3: Maßregelvollzug und Missstände

Die Sonne scheint auf die graugrüne Fassade, die im Licht beinahe freundlich wirkt. Auf den ersten Blick erinnert das Gebäude an eine moderne Schule – bis Kameras, Sicherheitsdienst und eine drei Meter hohe Hochsicherheitstür klarmachen: Dies ist kein Platz für Kinder. In der forensischen Psychiatrie am Europakanal im bayerischen Erlangen werden Straftäter mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt. Sie sind nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt worden und wurden als schuldunfähig eingestuft. Das Nachbargebäude entspricht eher dem Bild, das viele vom Maßregelvollzug haben: schmutzige Betonwände, ausgebleichtes Orange an den Fensterrahmen – ein Ort, der auf Abstand hält. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Paragraf 64 StGB verurteilt wurden. Sie sind schwer suchtkrank und haben dadurch Straftaten begangen. „Das Gebäude wird noch saniert“, sagt Chefarzt David Janele.

2021

Würzburg. Am 25. Juni 2021 tötete ein 24-jähriger in der Würzburger Innenstadt drei Frauen und verletzte mehrere weitere Personen mit einem Messer. Der Mann war bereits zuvor wegen psychischer Probleme auffällig geworden. Das Würzburger Landgericht, das die Taten unter anderem als dreifachen Mord wertete, ordnete die dauerhafte Unterbringung des zum Tatzeitpunkt wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähigen Somaliers in die Psychiatrie an.

Die Führung beginnt in dem sanierten Gebäude, bei den psychisch erkrankten Straftätern. Pflegekräfte und Patienten sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. „Alle tragen Alltagsklamotten“, erklärt Janele. Dies unterstütze die therapeutische Behandlung, da eine weniger „klinische“ Atmosphäre helfen könne, die Rehabilitation zu erleichtern. Locker geht es hier deshalb nicht zu. Es befinden sich Gitter an den Fenstern, die kleinen Zimmer sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Bett, Tisch, Bad. Und niemand kommt einfach raus. „Paragraf 63 ist unbefristet – das schärfste Schwert der Justiz und der tiefste Eingriff ins Persönlichkeitsrecht.“ Beengt wirkt die Station nicht, obwohl die Zahl der schuldunfähigen Täter gestiegen ist. In Bayern wurden 2015 2.561 Menschen behandelt, zehn Jahre später liegt die Zahl bei rund 3.000. Eine Zunahme um etwa 17 Prozent, die Chefarzt Janele auch in seinem Klinikum wahrnimmt. Aber: „Bei uns, wie auch in ganz Bayern, haben wir im Maßregelvollzug ausreichend Betten sowie Kapazitäten, um alle gut zu versorgen.“

Eine Aussage, die nicht alle Bundesländer treffen. Das WEISSER RING Magazin hat bundesweit Träger forensischer Kliniken angefragt. In Berlin gibt es 549 ordnungsbehördlich genehmigte Betten, im Oktober 2024 waren aber 622 belegt. Im Jahr 2024 kam es wiederkehrend dazu, dass Patienten aufgrund von Platzmangel nicht aufgenommen wurden. Im März 2024 waren nur 75,4 Prozent aller Personalstellen besetzt: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die sich aus der Risiko-Nutzen-Abwägung ergeben und notwendig wären“, sagt die Senatsverwaltung.

2022

Berlin. Am 8. Juni 2022 fuhr ein 29-Jähriger mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Eine Lehrerin starb, 32 Menschen wurden verletzt. Wegen einer gutachterlich bestätigten chronischen paranoiden Schizophrenie wurde der Deutsch-Armenier vom Landgericht Berlin dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.

Und das sind nicht die einzigen Probleme in Berlin. Die räumliche Enge in der Forensik hat in der Vergangenheit zu Konflikten sowie Gewalt beigetragen, was wiederum eine hohe Zahl von isolierten Patienten zur Folge hatte. Ein Umstand, mit dem der ehemalige ärztliche Leiter Sven Reiners aus Gewissensgründen nicht zurechtkam und deshalb kündigte.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist Träger von sechs Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist das Patientenaufkommen in den vergangenen zehn Jahren von 1236 auf 1357 gestiegen. Auf Anfrage entgegnet ein LWL-Sprecher, die Häuser seien gut besetzt. Gleichwohl
räumt er ein: „Der Stellenmarkt der forensischen Kliniken unterliegt mehrfachen Herausforderungen.“ Gründe seien Fachkräftemangel, Stadt Land-Gefälle, Überalterung. Auf die Frage, ob sie in ihrer Einrichtung die Patienten gut versorgen können, antwortet das LWL knapp: „Die Versorgung ist per Gesetz geregelt.“

„Ich fühlte mich verarscht“

Eine Frau wurde vergewaltigt. Für die Betroffene unverständlich: Obwohl ein Gutachten den Täter als schuldfähig einstufte, möchte der Richter ihn in eine forensische Klinik schicken.

Er hätte mich getötet, wenn niemand gekommen wäre. Er sagte es mir auch immer wieder, während er mich vergewaltigte und würgte. Dabei wollte ich nur auf die Toilette gehen. Es war morgens, um neun Uhr, in einer Kneipe. Meine Freundin wartete draußen. Als ich nicht wiederkam, ging sie hinein, um nach mir zu sehen. Der Täter floh. Später werde ich erfahren, dass er an diesem Tag noch eine weitere Frau vergewaltigt hat.

Vor Gericht hörte ich das Gutachten eines Psychologen: Er erklärte, warum der Täter zu beiden Tatzeitpunkten schuldfähig war. Der Gutachter betonte, dass er die Taten nicht aufgrund eines Alkoholproblems begangen hat. Der Täter sei bei mir so brutal gewesen, das hätte er auch nüchtern gemacht, sagte der Gutachter. Laut ihm war er auch nicht betrunken, da er motorisch nicht eingeschränkt war. Ich roch auch keinen Alkohol während der Tat. Der Barkeeper sagte mir später, er gab dem Mann nur zwei Bier und einen Kurzen.

Acht Jahre Haft bekam der Täter. Nach zwei Jahren und neun Monaten soll er in eine Entzugsklinik, bis sein Alkoholproblem gelöst sei. Ein Alkoholproblem, das laut Gutachter gar nicht existiert. Ich fühlte mich verarscht. Während der acht Prozesstage schien es, als sei der Richter auf der Seite der beiden Opfer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er voreingenommen war. Es kommt mir so vor, dass er in der Akte „morgens in einer Kneipe“ las und dazu seine Vorstrafen: Einmal schlug er einen Mann mit einer Flasche. Das Opfer ist teilerblindet. Auch bei dieser Tat war wohl Alkohol im Spiel, daher sah der Richter trotz des Gutachtens ein Alkoholproblem.

Ich glaube, dass dem Gericht der Schutz von Frauen wichtig ist, aber meine Schädigungen hatten nicht genug Gewicht bei der Urteilsfindung. Der Richter sah die Bisswunden an meinem Körper, die gebrochenen Rippen, die Prellungen – aber nicht, was die Tat nachhaltig für mich bedeutet. Ich bin arbeitsunfähig mit 28 Jahren, habe Ängste und Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln, habe eine posttraumatische Belastungsstörung, ich konnte lange nicht ohne Begleitung auf öffentliche Toiletten gehen.

Ich glaube daran, dass sich Menschen in Haft positiv entwickeln können – aber nicht bei ihm. Er wäre bereit gewesen zu töten. Ich akzeptiere das Urteil nicht. Am 11. Juni wird der Bundesgerichtshof über den Fall diskutieren. Eine erneute Verhandlung bedeutet auch, dass alles noch mal von vorne losgeht. Ich muss wieder jedes intime Detail der Vergewaltigung vor Gericht erzählen.

Nele

Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme

Zurück in Erlangen. Das alte Gebäude mit den Verurteilten nach Paragraf 64 StGB sieht voll belegt aus. Auf den dunklen Gängen tummeln sich viele Männer, im Aufenthaltsraum schaut eine Gruppe fern. „Der Paragraf 64 war lange nicht trennscharf zwischen wirklich schwer Suchtkranken und Menschen, die nur mal Suchtmittel probiert haben. Seit der Reform des Paragrafen 2023 kommen wirklich nur Menschen zu uns, die schwer abhängig sind“, so Janele. Daher sinke die Zahl der Patienten langsam wieder. Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme. Durch medikamentöse, psycho-, störungs- und deliktspezifische Therapien – teils einzeln, teils in Gruppen – sollen Rückfälle verhindert werden. Das Bundesjustizministerium hat 2020 eine bundesweite Untersuchung dazu veröffentlicht. Schuldunfähige Straftäter aus forensischen Kliniken werden demnach seltener rückfällig. Nach drei Jahren liegt die Rückfallquote bei Entlassenen aus Gefängnissen bei 45 Prozent, aus forensischen Kliniken zwischen zehn und 38 Prozent.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt Janele. Unter Suchterkrankten sei das Risiko eines Rückfalls höher als unter psychisch erkrankten Menschen.

Kapitel 4: Prävention und Politik

Nach den jüngsten Attentaten ist der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko haben können, zum Politikum geworden. Auch Union und SPD gehen in ihrem Koalitionsvertrag darauf ein: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen“, heißt es in dem Papier. Die Regierungsparteien planen „eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement“. Viel konkreter werden die Koalitionspartner nicht, ebenso wenig wie bei ihrem Ziel, zu verhindern, dass Waffen legal in die Hände psychisch Kranker gelangen.

Die Bundesländer beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema. Das saarländische Innenministerium beispielsweise teilt auf Anfrage mit, es betrachte „mit Sorge, dass psychisch kranke Gefährder beziehungsweise Gewalttäter wiederholt in Erscheinung getreten sind“. Rheinland-Pfalz stellt auch im Strafvollzug eine „starke Zunahme“ bei den psychisch auffälligen und erkrankten Gefangenen fest. Bremen gibt zu bedenken, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland insgesamt stetig steigt und damit auch der Anteil der von den Betroffenen begangenen Straftaten, ohne dass diese per se mit den Krankheiten zusammenhängen müssten.

2023

Berlin. Am 3. Mai 2023 verletzte ein Mann mehrere Kinder mit einem Messer auf dem Schulhof einer Berliner Grundschule. Der Täter wurde in einem Gutachten als psychisch krank und schuldunfähig eingestuft und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Landgericht Berlin in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Bei der Innenministerkonferenz stehen „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ auf der aktuellen Agenda weit oben. Die Konferenz sieht Lücken in dem Bereich und fordert in erster Linie, bundesweit Sicherheits- und Gesundheitsbehörden sowie Ausländer- und Waffenbehörden miteinander zu vernetzen und den Informationsaustausch zu erleichtern – wenn nötig mithilfe von Gesetzesänderungen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt auf Anfrage, Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Störungen seien nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Das BKA beteiligt sich an einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, deren Ziel die Früherkennung schwerer Gewalttaten ist. Auch das Bundeskriminalamt betont, dass nur wenige Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für Gewalt einhergehen. Und dass eine Erkrankung in der Regel höchstens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren Gewalt auslösen könne.

Schon jetzt können Polizeibehörden Personengebundene Hinweise (PHW) sammeln, darunter Psychische und Verhaltensstörung (PSYV), wenn das für die Eigensicherung der Beamten und zum Schutz der Person nötig ist. Im bundesweiten Informationssystem der Polizei waren zuletzt etwa 16.000 Menschen mit einer psychischen Störung erfasst. Die Hinweise sind umstritten, auch aus Datenschutzgründen. In Hessen, teilt das Innenministerium mit, wurden im Jahr 2024 307 Tatverdächtige mit dem Hinweis „Psychische oder Verhaltensstörung“ registriert, darunter 21 Asylsuchende. Im Jahr 2019 waren es 255 Verdächtige mit PSYV, drei Jahre zuvor 154. Wie die Polizei diese Hinweise nutzt, werde wie in anderen Ländern nicht statistisch erfasst.

„Aufgrund der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten“ hat das Bundesland beim Landeskriminalamt die Task Force Psychisch Auffällige/Vielschreiber/Gewalttäter (PAVG) eingerichtet. Sie sei Teil der polizeilichen Gefahrenabwehr und prüfe zunächst alle in den Informationssystemen erfassten Personen mit dem Hinweis „Psychische und Verhaltensstörung“. Dabei prüfe die Task Force „Risiko- und Schutzfaktoren“, beispielsweise die Wohnsituation und die familiäre Struktur, Alkohol- und Drogenkonsum, Suizidgefahr, Waffenaffinität und Gewaltneigung. Kritik an der Datenbank und der neuen Einheit weist das Ministerium zurück: Es würden lediglich auffällige, polizeibekannte Personen registriert, bei denen durch ein ärztliches Gutachten oder Attest eine psychische Erkrankung beziehungsweise Auffälligkeit festgestellt worden sei. Im Fokus stünden Menschen, die eine schwere Gewalttat begehen könnten. Dadurch sei der Personenkreis „stark begrenzt“, weshalb Erkrankte weder stigmatisiert noch unter Generalverdacht gestellt würden. Mittlerweile sei die Prüfung zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie betrifft rund 1600 Menschen.

2024

München. Ein Mann hat am 23. Juli 2024 in einer Einkaufsstraße im Münchner Stadtteil Pasing einen 18- und einen 25-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter war nach Angaben der Justiz zum Zeitpunkt des Angriffs aufgrund einer paranoiden Schizophrenie von dem Gedanken beherrscht gewesen, Deutschland müsse von Muslimen befreit werden. In einem sogenannten Sicherungsverfahren ordnete das Landgericht München 1 die Unterbringung des Mannes in einer Psychiatrie an.

Die Task Force solle Behörden und andere Institutionen informieren, etwa Gesundheitsämter, Gerichte und Ausländerämter. Als Handlungsoptionen nennt das Ministerium Gefährderansprachen, Kontakt-, Annäherungsverbote, bei einer konkreten Gefahr auch Observationen und Gewahrsam oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Nordrhein-Westfalen hat ein ähnliches Konzept: „PeRisikoP“ (Personen mit Risikopotenzial). Dabei arbeiten ebenfalls verschiedene Stellen, darunter Justizbehörden und Gesundheitsämter zusammen, um Straftaten psychisch auffälliger Personen zu verhindern. Das ist in einigen Fällen gelungen, in anderen nicht. So zündete in Krefeld Hasan N., den Mitarbeitende des Präventionsprojekt auf dem Schirm hatten, ein Kino an.

Mehrere Länder, darunter Bayern, Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, erwägen oder planen, ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz zu ändern, um die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu erweitern. Im hohen Norden wird dabei zum Beispiel auch über die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug diskutiert, um chronischen Erkrankungen und einer möglichen „langanhaltenden Selbst- und/oder Fremdgefährdung“ entgegenzuwirken.

Die Pläne und Maßnahmen haben Lob, aber auch Kritik hervorgerufen: Einige Rechtswissenschaftler sehen die Freiheitsrechte in Gefahr. Und der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen warnte bereits nach dem Attentat von Aschaffenburg vor „schnellen Lösungen wie Zwangsmaßnahmen“. Er forderte stattdessen: „Eine menschenwürdige psychiatrische Versorgung muss gestärkt werden, insbesondere durch den Ausbau von Krisendiensten und ambulanter Hilfe.“

„Die beste Prävention“, sagt der forensische Psychiater Henning Saß in seinem Haus in Aachen, „ist eine gute psychiatrische Versorgung und eine konsequente Behandlung, die sich nicht nur auf die Akutphase beschränkt, sondern so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist.“ Er macht eine kurze Pause und wiederholt seine Aussage sinngemäß, mit Nachdruck, weil sie ihm so wichtig ist. Im Zweifelsfall, so Saß, könnten Patienten nach einer Unterbringung etwa unter der Auflage entlassen werden, regelmäßig in der Ambulanz oder beim sozialpsychiatrischen Dienst zu erscheinen. Grundsätzlich, betont der Psychiater, brauche es mehr als Neuroleptika und Antidepressiva, etwa Soziotherapie. „Man muss sich zum Beispiel auch um die sozialen Beziehungen der Menschen kümmern, um ihre Wohn- und Arbeitssituation, um sie zu reintegrieren.“

Beim Waffenrecht rät er, psychische Erkrankungen intensiv zu berücksichtigen. Dafür müssten Daten von Gesundheitsämtern ausreichend lange gespeichert und ein Austausch zwischen Behörden über Ländergrenzen hinweg ermöglicht werden. Der Hanau-Attentäter war 2002 in Bayern in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden. Als er gut 15 Jahre später im hessischen Main-Kinzig-Kreis eine Waffenerlaubnis beantragte, lag diese Information der zuständigen Behörde offenbar nicht vor.

Ansonsten ist Saß kritisch, was das Sammeln von Daten angeht. Ein in den vergangenen Monaten diskutiertes Zentralregister für psychisch kranke Menschen lehnt er ab, warnt davor: „Das würde zur Stigmatisierung beitragen und die Schwellenangst, sich bei psychischen Problemen behandeln zu lassen, erhöhen.“ Was wiederum die Prävention behindern würde.

2025

Aschaffenburg. Ein 28-Jähriger hat am 22. Januar in einem Park in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann mit einem Messer getötet und drei Menschen schwer verletzt. Ermittler hatten schnell Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gefunden, etwa entsprechende Medikamente in seinen Wohnräumen. Er wurde in der Psychiatrie untergebracht. Laut Gutachten war der Mann zum Tatzeitpunkt schuldunfähig.

Auf dem Campus in Gießen will Kriminologin Britta Bannenberg dazu beizutragen, Amoktaten und Anschläge zu verhindern. Das treibt sie an. Sie hat regelmäßig Kontakt mit Opfern und weiß, was diese durchmachen. Bannenberg hat herausgefunden, dass vor solchen Verbrechen „klare Warnsignale“ zu erkennen sind. „Die Gedanken an die Tat sind jahrelang da, die Tatvorbereitungen geschehen vor allem in den letzten vier bis acht Wochen.“ Dann komme es im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, bei Behörden oder im Netz vermehrt zu verdächtigen Aussagen. Die Täter bekunden beispielsweise ihre Sympathie für andere Attentäter oder werden konkreter. Gleichzeitig bereiten sie die Attentate intensiv vor, kundschaften mögliche Tatorte aus. Als Beispiel nennt Bannenberg die mehr als 100 Drohungen und anderen bedenklichen Äußerungen des Magdeburg-Attentäters, bei dem mehrere Gefährderansprachen stattfanden, allerdings ohne weitere Konsequenzen. „Manche werden als Querulanten eingestuft und früher oder später nicht mehr ernstgenommen. Das ist falsch. Gerade wenn explizite Aussagen fallen, müssen sie intensiv abgeklärt werden.“ Wichtig sei es herauszufinden, in welcher Verfassung sich ein Mensch befinde, ihn deutlich mit seinen problematischen Aussagen zu konfrontieren und ihn eventuell in der Psychiatrie vorzustellen. Eine Gefährderansprache reiche dazu oft nicht.

Die Polizei sei „ein wichtiges Einfallstor“, helfe in vielen Fällen, müsse aber noch stärker sensibilisiert werden, um gefährliche Personen zu erkennen, ebenso wie andere Behörden und die allgemeine Psychiatrie. „Im Gegensatz zur Forensik gehören dort etwa fremdgefährliche, persönlichkeitsgestörte Menschen nicht zum Alltag.“ Bei der Polizei komme es darauf an, dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen in Verdachtsfällen auch in der „letzten Polizeistation“ ernstgenommen und die Gefährdung intern abgeklärt werde.

Um in konkreten Fällen zu helfen, hat Bannenberg das Beratungsnetzwerk Amokprävention entwickelt. Eine Art Hotline für Menschen, die befürchten, jemand aus ihrem Umfeld könnte ein Attentat begehen. Die Ratsuchenden erhalten dort eine erste Einschätzung zur Lage und Hinweise zum Umgang mit dem potenziell gefährlichen Menschen. „Gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“, sagt Bannenberg und fügt hinzu, dass die Sorge von etwa 80 Prozent der Anrufenden berechtigt sei.

2025

Mannheim. Am 3. März 2025, Rosenmontag, fuhr ein 40-jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge in der Mannheimer Innenstadt. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Es gibt laut Staatsanwaltschaft Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters sowie einen psychischen Ausnahmezustand zur Tatzeit. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ein weiteres Präventionsangebot hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOSBW) geschaffen, eine beim Oberlandesgericht Karlsruhe ansässige gemeinnützige Einrichtung. „Unser Ziel ist immer der Opferschutz, auch wenn wir Täter behandeln“, sagt Sylvia Kubath-Heimann, Fachpsychologin für Rechtspsychologie bei BIOS. „Im Rahmen der Führungsaufsicht bei therapeutischer Anbindung können eventuelle Krisen schneller erkannt und es kann eingegriffen werden. So lässt sich auch das Rückfallrisiko begrenzen.“

Darüber hinaus hat BIOS eine Anlaufstelle für Menschen, die Angst haben, ein Gewalt- oder Sexualdelikt zu begehen. BIOS-Sprecherin Sabrina Sengler erinnert an das Attentat in Mannheim: „Der Täter hatte Gewaltfantasien, und es ist bekannt, dass er nach Hilfe suchte“, sagt sie. Er hätte an BIOS vermittelt werden sollen. „Hilfe suchen und Hilfe bekommen ist ein großer Teil bei der Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten“, sagt Sengler. Wöchentlich melden sich circa fünf Personen aus Angst, zum Täter werden zu können. Doch aufgrund fehlender Fördermittel könne das Angebot nicht offensiver beworben werden, da es an Therapeuten mangele.

Kapitel 5: Versorgung und Mangel

Prävention bedeutet nicht nur, straffällig gewordene psychisch Kranke zu therapieren, sondern auch, Menschen frühzeitig zu behandeln, damit es nicht erst zu einer Tat kommt. Das WEISSER RING Magazin hat eine Länderumfrage zur Versorgung gemacht. Die Gesundheitsministerien sprechen in ihren Antworten meist von einer Überversorgung bei Psychotherapeutenplätzen. Und von einer Wartezeit auf einen Therapieplatz von vier Wochen.

„Die beste Prävention ist eine gute psychiatrische Versorgung, die so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist“

Professor Henning Saß

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die Rahmenrichtlinien für die Bedarfsplanung fest – auf dieser Grundlage entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) über die Zahl der Kassensitze in einer Region. Eine Überversorgung bedeutet, dass die Sitze belegt sind. Aber ob das den tatsächlichen Bedarf deckt, bezweifeln Experten. „Zum Beispiel können nicht alle Einwohner das gesamte Angebot nutzen, da es unter den Psychotherapeuten Spezialisierungen gibt“, sagt der Erlanger Chefarzt Janele. In Sachsen herrscht laut KV eine Überversorgung mit 1.103 Psychotherapeuten, die auf 4,05 Millionen Einwohner kämen. Das entspricht einem Therapeuten für fast 3.700 Einwohner. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.

Nordrhein-Westfalen findet klare Worte: „Die rechnerisch gute Versorgungslage steht im Widerspruch zu den Wartezeiten auf eine Richtlinientherapie.“ Bayern bestätigt, dass die Lage schon lange angespannt sei und die Vorgaben der Planung nicht den tatsächlichen Bedarf abbildeten.

Der G-BA erklärt auf Anfrage, nach den Hausärzten habe keine fachliche Berufsgruppe so viele Kassensitze wie Psychotherapeuten. Studien hätten ergeben, dass es nicht mehr Plätze brauche, sondern eine Umverteilung. Mehr Therapeuten müssten aus der Stadt aufs Land ziehen.

Die Diskussion um Kassensitze betrachtet Janele als nicht zielführend: „Am Ende ist es doch so: Die Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung wie paranoide Schizophrenie gehen damit nicht zu einem einfachen Psychotherapeuten. Der könnte sie nicht allein zielführend behandeln.“ Dazu brauche es eine Mitbehandlung durch einen niedergelassenen Psychiater und mehr ambulante psychiatrische Anlaufstellen für solche Fälle. Darüber hinaus fordert Janele einen Ausbau der rechtlichen Rahmenbedingungen beispielsweise für behandlungsunwillige Patienten mit einem hohen Gefährdungspotential.

2025

Hamburg. Eine 39-jährige Frau stach am 23. Mai im Hauptbahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende ein. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Ein Haftrichter ordnete an, die Verdächtige in einer Psychiatrie unterzubringen. Sie war erst am Tag vor der Tat aus einer solchen Einrichtung entlassen worden. Die Frau soll bereits im Februar auf einem Spielplatz a Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben.

BIOS-Psychologin Sylvia Kubath-Heimann mahnt, eines nicht zu vergessen: „Bei der psychischen Erkrankung Schizophrenie kriminalisieren sich nur drei bis zehn Prozent der Betroffenen überhaupt.“ In Deutschland ist laut Schätzungen etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt.

 

Psychisch kranke Menschen: Ein illustrierter Mensch mit einem Riss im Kopf.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt David Janele.

Clara (Name geändert) hat eine psychische Erkrankung. „Es hat Jahre gedauert, bis ich meine Borderline-Diagnose annehmen konnte“, sagt sie. Ein Grund sei das gesellschaftliche Stigma gewesen. Selbst unter Fachleuten gälten Menschen mit der Krankheit oft als „unberechenbar“. Mit 17 Jahren war sie erstmals in der Psychiatrie, seitdem regelmäßig. Die Aufenthalte hälfen ihr, aber es gebe viel Verbesserungsbedarf: Eine psychotherapeutische Behandlung finde kaum statt, meist böten die Kliniken nur Gruppengespräche mit Sozialarbeitern oder Beschäftigungstherapie. Patientinnen und Patienten auf einer geschützten Station dürften teils nicht allein ins Bad, seien darauf angewiesen, dass das Personal „Zeit hat“ für alltägliche Bedürfnisse wie Zähneputzen. Das könne auch mal Stunden dauern. „Vermutlich wegen der Überforderung der Pflegekräfte aufgrund des Personalmangels“, sagt Clara.

Der Personalmangel wird auch in Zahlen deutlich

Laut dem zweiten Quartalsbericht 2024 des Institutes für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfüllten nur rund ein Drittel der Einrichtungen die Personalstandards: 34,7 Prozent der Erwachsenenpsychiatrien, 34,6 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und 33 Prozent der psychosomatischen Kliniken. Die Daten basieren auf Auswertungen von 1.090 Standorten. Kurz gesagt: Es fehlen 500.000 Pflegepersonal-Arbeitsstunden.

Der Sprecher des LWL in Nordrhein- Westfalen sieht prekäre Situationen in den Allgemeinpsychiatrien: Es sei zu beobachten, dass immer häufiger Menschen aus den Kliniken im Maßregelvollzug landen, weil sie zuvor nicht intensiv genug behandelt worden seien. Der LWL-Maßregelvollzug fordert mit weiteren Trägern forensischer Kliniken eine Reform der Versorgung von Menschen mit schweren Erkrankungen unter dem Titel „Weckruf“.

Als besonders belastend beschreibt Clara den Übergang von der Klinik in den Alltag – oft ohne Anschlussbehandlung: „Ich musste mich immer selbst um einen Therapieplatz kümmern, nach meinem aktuellen habe ich eineinhalb Jahre gesucht.“ Das Problem: Viele Psychotherapeuten behandeln so schwere psychische Erkrankungen wie Borderline nicht. Über die von den Gesundheitsministerien angegebene vierwöchige Wartezeit lacht sie nur müde.

Transparenzhinweis:
Der Artikel wurde am 26. Juni bearbeitet. In einer früheren Version war fälschlicherweise die Rede davon, dass sich zwei Tötungsdelikte im Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik im Bad Zwischenahner Ortsteil Wehnen ereignet hätten. Tatsächlich geschahen die Vorfälle in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Den entsprechenden Absatz haben wir deshalb gelöscht.

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Juliane

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Alle Jahre wieder: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt und umgehend emotional diskutiert. Das eine Medium schreibt in großen Lettern, wie gefährlich doch alles geworden sei, und das andere versucht, mithilfe von Kriminologen zu erklären, dass das gar nicht stimme mit der Gefährlichkeit. Wer hat recht? Und welche Aussagen trifft überhaupt die PKS? Eine kleine Analyse.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Arbeitsbericht. Das ist ein Begriff, den Kriminologen gerne nutzen, wenn es um die PKS geht. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist keine verlässliche Grundlage für irgendeine Aussage“, warnt Thomas Feltes. Der Kriminologe hatte bis 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Denn die PKS erfasst keine gerichtlich bestätigten Straftaten, sondern sogenannte Verdachtsfälle – also Anzeigen, unabhängig davon, ob es zur Anklage oder Verurteilung kommt. Laut Statistischem Bundesamt wird weniger als ein Drittel aller Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt. Die PKS spiegelt also nicht die Kriminalitätswirklichkeit wider – anhand ihrer Daten können keine Aussagen über aktuell lauernde Gefahren im deutschen Alltag getroffen werden.

Registrierte Gewaltdelikte steigen weiter

In diesem Jahr hat besonders die hohe Zahl der angezeigten Gewaltdelikte 2024 Wellen geschlagen. Während die Gesamtzahl aller Verdachtsfälle seit 2009 stetig sinkt, ist die Zahl der angezeigten Gewaltdelikte zuletzt tatsächlich gestiegen – auf 217.277 Fälle. Das liegt nur knapp unter dem Höchststand im Jahr 2007 mit 217.923 Fällen. Die Zahl ist also sehr hoch. Aber wird das Leben auf unseren Straßen tatsächlich immer gefährlicher, wie die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite schrieb? Sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt weiter? Das sind Fragen, die die PKS nicht beantworten kann.

Wird das Leben auf den Straßen tatsächlich immer gefährlicher?

Denn es gibt bei den gestiegenen Zahlen einiges zu beachten: Wo mehr angezeigt wird, steigen auch die Zahlen. Im ersten Moment bedeutet es lediglich, dass 2024 mehr Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht wurden – und das ist sogar etwas Gutes. Sensibilisierung, Aufklärung und der Ausbau von Opferschutzstellen haben beispielsweise dafür gesorgt, dass mehr Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt werden. Der aktuellste Periodische Sicherheitsbericht des BKA (2021) zeigt, dass die Anzeigerate bei Körperverletzungen zwischen 2012 und 2017 von 32,9 auf 36,6 Prozent gestiegen ist. Das veränderte Anzeigeverhalten kann direkten Einfluss auf die Statistik haben – ohne dass sich das reale Geschehen im gleichen Maß verändert haben muss. Darauf verweist die PKS 2024 selbst immer wieder. Zahlen zum aktuellen Anzeigeverhalten gibt es allerdings nicht. Natürlich ist es trotzdem wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo benötigt es jetzt besonders Prävention? Und da kann die PKS durchaus eine Unterstützung sein.

Migration und Kriminalität: Die Faktenlage

Besonders brisant wird die PKS im Zusammenhang mit Migration interpretiert – oft fälschlicherweise. Die „Bild“-Zeitung etwa suggeriert regelmäßig, die Statistik zeige eine klare Verbindung zwischen Migration und Kriminalität. Dabei betonte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der PKS 2024 ausdrücklich: „Es liegt nicht an der Herkunft.“ Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München kommt in seiner aktuellen Studie „Steigert Migration die Kriminalität?“ zu einem eindeutigen Ergebnis: „(Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität.“ Dies entspricht dem internationalen Forschungsstand.

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 36 %.

Zuwanderer machen weniger als 20 % aller Tatverdächtigen aus.

Amnesty International hat Anfang April einen offenen Brief mit dem Titel „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet“ gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen und Initiativen veröffentlicht, um gegen das verbreitete Narrativ von den „kriminellen Migrant*innen“ vorzugehen.

Auch ist die Kategorie „Nichtdeutsche“ wenig aussagekräftig. Sie umfasst nämlich sehr unterschiedliche Gruppen – von Touristen und reisenden Straftätern über Geflüchtete bis hin zu dauerhaft hier lebenden Personen ohne deutschen Pass.

Die Fakten: Trotz eines Anstiegs der ausländischen Bevölkerung um 72 Prozent zwischen 2005 und 2023 lag die Zahl der allgemeinen registrierten Straftaten 2024 laut PKS rund 11,7 Prozent unter dem Niveau von 2005, wie der Mediendienst Integration veröffentlichte. Die gestiegene Zuwanderung hat also – anders als häufig behauptet – nicht zu einem gleichzeitigen Anstieg von erfassten Straftaten geführt.

Erheblich verzerrt wird die PKS durch sogenanntes Racial Profiling

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 3,6 Prozent. Das Bundeskriminalamt weist zudem darauf hin, dass die nichtdeutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Entsprechend sei es statistisch zu erwarten, dass auch die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger absolut steigt. Zuwanderer machen weniger als 20 Prozent aller Tatverdächtigen
aus. In Deutschland leben 83,6 Millionen Menschen, von denen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,3 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte haben und 12,3 Millionen Ausländer sind.

Bei den Gewaltdelikten allerdings stieg die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen um 7,5 Prozent auf 85.012. Aber auch
diese Zahl muss eingeordnet und sollte nicht absolut betrachtet werden. Erheblich verzerrt wird die PKS nämlich durch sogenanntes Racial Profiling: Laut einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration werden Personen, die als „ausländisch“ wahrgenommen werden, etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie als „deutsch“ wahrgenommene Menschen. Auch BKA-Präsident Holger Münch spricht von einem Verzerrungseffekt und sagt: „Wenn uns jemand sehr fremd erscheint, neigen wir eher dazu, Anzeige zu erstatten.“

„Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden“

 

Schlagzeilen über die Polizeiliche Kriminalstatistik

Auch die Lebenssituation spiele eine Rolle: In Massenunterkünften für Geflüchtete leben meist junge Männer teilweise Jahre auf engstem Raum zusammen. Kriminologin Gina Wollinger verweist darauf, dass es in Unterkünften häufiger zu Kontrollen komme oder bei Konflikten die Polizei gerufen werde als in privaten Kontexten. Sie sagt: „Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden.“

Pandemie-Effekte und ihre Spätfolgen

Ein weiteres großes Thema in den Medien war nach der Vorstellung der PKS 2024 die gestiegene Zahl der Verdachtsfälle im Bereich Gewaltkriminalität, bei denen der mutmaßliche Täter ein Kind oder Jugendlicher war. Oft wurde der Begriff „junge Täter“ verwendet. Auch diese Aussage ist auf Grundlage der PKS nicht korrekt. Schließlich fehlt die juristische Schuldfeststellung, und solange gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung der Zahlen: Die Folgen der Corona-Pandemie wirken bis heute nach, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastung gerade bei Kindern und Jugendlichen über diese Zeit der Beschränkung hinauswirkt, also aktuell noch andauert“, so BKA-Chef Münch. Solche Ausnahmesituationen beeinflussen die Kriminalitätszahlen. Dank der PKS wird deutlich, dass die betroffene Altersgruppe weiterhin Unterstützung benötigt, um die psychische Belastung durch die Pandemie zu verarbeiten. Panikmache durch stigmatisierende Aussagen wie „Kinder und Jugendliche werden immer gefährlicher“ helfen nicht.

Mehr Prävention statt Schuldzuweisung

Fazit: Die Diskussion über Kriminalität braucht mehr Sachlichkeit. Weitere Stigmatisierung von Menschen mit einer Migrationsgeschichte führt nicht zu einem gewaltfreien Miteinander. Kaum eine Rolle spielt in der aufgeheizten Diskussion, dass Migranten zunehmend Zielscheibe von Gewalt und Hass werden. Die erfassten rechten Delikte sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und erlangten 2024 einen neuen Rekord mit 42.788 Verdachtsfällen. Beratungsstellen für Opfer von rassistischer Gewalt verzeichnen immer mehr Betroffene. Dazu benötigt es weiter Präventionsarbeit: Psychologische Betreuung, Integrationsarbeit und Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind wirksamer als pauschale Schuldzuweisungen. Die PKS kann Hinweise geben, wo es Handlungsbedarf gibt, etwa bei Gewaltdelikten oder Jugendkriminalität – aber sie ist kein Spiegel objektiver Realität. Kriminalität ist komplexer, als sie in Zeitungsschlagzeilen oft dargestellt wird.

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

„ Ohne Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS eine Arbeitsstatistik.“

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins. Jörg Ziercke

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

Sie haben als BKA-Präsident lange die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verantwortet und vorgestellt. Was ist die PKS für Sie?

Die Kriminalstatistik ist eine valide Annäherung an die reale Wirklichkeit – allerdings ohne zu wissen, wie nah man herankommt. Um zu verstehen, was die tatsächliche Situation ist, müssen das Hellfeld – also polizeilich registrierte Fälle – und das Dunkelfeld betrachtet werden. Bei der Internetkriminalität etwa gibt es ein großes Dunkelfeld. Ohne mehr Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS lediglich eine Arbeitsstatistik der Polizei. Die Ergebnisse hängen zudem stark von der Bevölkerung ab, da nur fünf bis acht Prozent der Anzeigen durch die Polizei erstattet werden. Die PKS ist eng mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Kriminalität und dem Vertrauen in die Polizei verknüpft.

Lassen sich mit der PKS Schlagzeilen wie „Das Leben auf unseren Straßen wird immer gefährlicher“ begründen?

Nicht wirklich. Man kann sagen, dass die Zahlen gestiegen oder örtliche Brennpunkte erkannt worden sind. Aber ich bin gegen dramatisierende Schlagzeilen wie die von Ihnen genannte, da sie das Sicherheitsgefühl der Menschen stark beeinflussen können. Die Person, die nachts auf der Straße
bei einem Überfall um Hilfe ruft, bekommt eventuell keine Hilfe, weil die Angst die Straßen leergefegt hat. Zivilcourage braucht Unterstützung auch durch andere Personen. Bei der Vorstellung der Statistik werden die Trends und Schwerpunkte der Arbeit der Polizei durch den Bundesinnenminister und das Bundeskriminalamt der Öffentlichkeit ausführlich erläutert. Erfahrene Journalistinnen und Journalisten bewerten die Zahlen und Aussagen zusätzlich. Das Hauptproblem ist die reißerische Überschrift.

Welche Zahlensammlung bräuchten wir, um ein genaueres Bild von der Sicherheit zu bekommen?

Eine Gewichtung der Straftaten wäre sinnvoll. Ein Mord wird statistisch genauso gezählt wie ein Diebstahl. Die enorme Anzahl der Ladendiebstähle oder Sachbeschädigungen relativiert das Gesamtbild der Kriminalität. Die Zahl der Straftaten ist zwar insgesamt höher, aber die Schwere der verschiedenen Straftaten wie zum Beispiel durch einen Mordfall geht in den Gesamtzahlen unter. Ferner müsste die Polizei- mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz im Zusammenhang betrachtet werden. Das Problem ist, dass alles zeitversetzt stattfindet: Eine Tat, die jetzt passiert, wird nicht sofort abgeurteilt. Zu bedenken ist auch,
dass die Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften bei polizeilich durchermittelten Fällen aus unterschiedlichen Gründen hoch sind, circa 60 Prozent. Neben den deliktischen Verurteilungsquoten der Gerichte sollte man sich die Rückfallquoten der verurteilten Täter anschauen. Mit dieser Bewertung kämen wir der Realsituation ein ganzes Stück näher. Sinnvoll wäre auch eine Verlaufsstatistik für Beschuldigte – von der Anzeige bis zur Verurteilung –, aus der sich die Wirksamkeit der Maßnahmen von Polizei und Justiz ablesen ließe.

Wie sicher leben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland?

Wir leben immer noch in einem der zehn sichersten Länder der Welt. Diese Bewertung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Staaten. Eines sollten wir aber nicht übersehen: Die täglichen Nachrichten liefern uns die besonders schwere Kriminalität aus aller Welt ins Wohnzimmer. Auch das beeinflusst unsere Angst vor Kriminalität!

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

“Aussage hat mich und meine Familie sehr befremdet“

Erstellt am: Donnerstag, 27. Februar 2025 von Sabine

Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Datum: 27.02.2025

“Aussage hat mich und meine Familie sehr befremdet“

Walter Lübcke war 2019 aufgrund seines Einsatzes für Geflüchtete von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Seine Witwe Irmgard Braun-Lübcke kritisiert aktuelle Äußerungen von Merz und ruft zu Engagement für die Demokratie auf.

Mainz – „Die Aussage von Friedrich Merz am Samstag beim gemeinsamen Wahlkampfabschluss der CSU und CDU in München hat meine Familie und mich sehr befremdet und ich möchte sie so nicht stehen lassen“, schreibt Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des von einem Rechtsextremisten ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke, in einer aktuellen Stellungnahme. Anders als Merz behauptete, habe es nach der Ermordung ihres Mannes „ein starkes, gesellschaftlich breites Bekenntnis zu unserer Demokratie und ihren Werten“ gegeben.

Merz hatte bei seinem Auftritt als Spitzenkandidat der CDU gesagt: „Ich frage mal die Ganzen, die da draußen rumlaufen, Antifa und gegen Rechts: Wo waren die denn, als Walter Lübcke in Kassel ermordet worden ist von einem Rechtsradikalen? Wo waren die da?“

Braun-Lübcke stellt klar: In ihrer Heimatstadt Wolfhagen, in Kassel und in vielen weiteren Städten und Gemeinden in ganz Deutschland gingen viele Menschen auf die Straße – linke, liberale und konservative Demokraten: „Gemeinsam haben sie sich klar gegen Gewalt, Hass und Hetze sowie eindeutig für Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit positioniert. Dies gab uns als Familie sehr viel Kraft und zeigte, wir sind nicht allein, du bist nicht allein, wir treten gemeinsam ein für den Bestand unserer Demokratie“, erklärt die Frau des früheren Kasseler Regierungspräsidenten, die als Lehrerin arbeitete. Sie waren fast 40 Jahre verheiratet und haben zwei gemeinsame Söhne.

Engagierte Frau mit Haltung: Hier nimmt Irmgard Braun-Lübcke an einem Runden Tisch zu politisch motivierter Gewalt teil, bei dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Eröffnungsrede hielt. Foto: Annette Riedl/dpa

Walter Lübcke war 2019 aufgrund seines Einsatzes für Geflüchtete von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Zuvor war im Netz gegen ihn gehetzt und zu Gewalt aufgerufen worden. Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte den Mörder 2021 zu lebenslanger Haft und stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Während ihrer Aussage vor Gericht mahnte Irmgard Braun-Lübcke: „Aus Worten werden Taten.“

Jetzt stellt sie Merz’ Äußerungen und rhetorische Fragen nicht nur richtig, sondern sendet auch einen starken Appell: „Heute, in dieser schwierigen Zeit, in der so Vieles, was bisher selbstverständlich war, ins Wanken gerät oder keine Gültigkeit mehr hat, sind wir alle mehr denn je gefordert, insbesondere die Politik, die Menschen zusammenzuführen und gemeinsam für Werte einzutreten, wie es mein Mann getan hat.“

Noch mehr Attacken auf die Demokratie

Erstellt am: Samstag, 22. Februar 2025 von Sabine

Noch mehr Attacken auf die Demokratie

Die Zahl der Angriffe auf Amts- und Mandatsträger ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, um 20 Prozent. Worin liegen die Ursachen und Folgen, und was sollte sich ändern? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat mit Betroffenen, Fachleuten und der Politik gesprochen.

Pflastersteine zerstörten das Partei-Büro der Grünen. Foto: Die Grünen München

Es war Lenny Roths Wahlkampfpremiere. Der heute 22-Jährige kandidierte 2024 bei der Kommunalwahl in Sachsen für die CDU und warb erstmals auf Plakaten für sich und seine Partei. Am 9. Mai ist Roth gerade mit dem Aufhängen beschäftigt, als sich ein Mann vor ihm und einem Unterstützer aufbaut und fragt, ob sie für die AfD plakatieren. Sie verweisen auf die CDU – woraufhin der 31-Jährige noch aggressiver wird. Er nötigt sie, keine weiteren Plakate zu befestigen. Zerstört eines und stößt Roth. Scheucht ihn und dessen Begleiter um das Auto, in dem sie schließlich Schutz finden. Und schlägt noch gegen den Außenspiegel.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte“, erinnert sich Roth im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS. Nach „einem Schockmoment“ sei alles relativ schnell gegangen, habe sich aber viel länger angefühlt, „wie in einem Fiebertraum“. Zwei Fragen beschäftigen ihn danach: Was hätte noch alles passieren können? Und: Wieso tue ich mir das eigentlich an? Doch er sagt sich: „Wenn ich aufhöre, tue ich genau das, was solche Leute wollen. Ich darf mich nicht einschüchtern lassen.“ Roth setzt den Wahlkampf fort, berichtet dabei auch von seiner Gewalterfahrung und hat Erfolg. Mit guten Ergebnissen wird er in den Kreistag des Vogtlandkreises und den Stadtrat Auerbach gewählt.

So wie Lenny Roth sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Politikerinnen und Politiker Opfer von Attacken geworden – Tendenz steigend. Wie das Bundesinnenministerium kürzlich auf eine Anfrage der Abgeordneten Martine Renner (Linke) mitteilte, hat die Zahl der Angriffe auf Amts- und Mandatsträger im vergangenen Jahr um 20 Prozent gegenüber 2023 zugenommen, auf 4923 (Stichtag 31. Dezember 2024). Die Zahlen könnten noch steigen, weil die Länder Fälle nachmelden konnten, bei denen beispielsweise Stadtverordnete, Gemeinderatsmitglieder, Landräte oder Bürgermeister das Angriffsziel waren. Bei 99 der erfassten Taten – fünf mehr als im Vorjahr – handelte es sich um Gewaltdelikte, beim Großteil etwa um Sachbeschädigung, Beleidigung oder Propagandadelikte.

„Mein Wille, etwas zu bewegen, gibt mir Kraft.“

Lenny Roth

Demokratie müsse verteidigt werden

Die meisten Angriffe wurden den Angaben zufolge in Bayern (747), Baden-Württemberg (633), Nordrhein-Westfalen (540) und Berlin (533) verübt, die wenigsten in Bremen (55), Sachsen-Anhalt (105), im Saarland (108) sowie in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern (jeweils 119). In Bayern wurden bereits 2023 die meisten Taten gezählt (864), gefolgt von Baden-Württemberg (494) und Niedersachsen (406).

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte der Redaktion des WEISSEN RINGS: „Die Verteidigung unserer Demokratie beginnt mit dem Schutz derer, die Tag für Tag für sie eintreten. Wir erleben immer stärkere Bedrohungen, Einschüchterungsversuche und Übergriffe.“ Um unmissverständlich zu zeigen, dass der Rechtsstaat das nicht hinnehme, gehe das Bundeskriminalamt massiv gegen Hasskriminalität vor, weil diese den Nährboden für Gewalttaten bereite. Vielerorts seien polizeiliche Schutzkonzepte hochgefahren, Streifen verstärkt und feste Ansprechstellen für Betroffene geschaffen worden. Und Anfang August 2024 habe die „Starke Stelle“, die bundesweite Ansprechstelle zum Schutz von Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern, ihre Arbeit aufgenommen, womit auch der Bund einen wichtigen Beitrag leiste. Darüber hinaus, so die Bundesinnenministerin, brauche es „ein deutliches Stopp-Signal gegen Bedrohungen und Gewalt für die Täter: durch schnelle und spürbare Strafen. Damit sie nicht den Mut verlieren, müssen die Betroffenen sehen, dass ihre Strafanzeigen Folgen haben und die Täter ermittelt werden.“

Zuletzt waren die Grünen am häufigsten Opfer: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2024 gegen Abgeordnete, Mitglieder und Mitarbeiter der Grünen rund 1190 polizeilich erfasste Straftaten verübt. Danach folgten die AfD (1030), SPD (780), CDU (420), FDP (320) und Linke (130).

Anfang dieses Jahres hat die „Starke Stelle“ eine erste Bilanz ihrer Arbeit vorgestellt. Bis dahin hat sie nach eigenen Angaben mehr als 120 Anfragen bearbeitet – die die Betroffenen oft erst nach einem längeren „Leidensweg“ gestellt hätten. Zumeist sei es um verbale oder schriftliche Anfeindungen, Verleumdungen, Beleidigungen oder Bedrohungen gegangen, die zum Teil aus den jeweiligen kommunalen Gremien kamen. Auffällig: Darunter waren eine ganze Reihe von „Doxing“-Fällen. Dabei werden persönliche Daten von Betroffenen gegen deren Willen öffentlich gemacht, oft, um sie einzuschüchtern.

Heftige Beleidigungen im Internet

Am Demokratiezentrum, das an der Philipps-Universität Marburg angesiedelt ist, promoviert Nora Zado über Bedrohungen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Hessen. 20 Betroffene hat die empirische Kulturwissenschaftlerin intensiv befragt. Die Studie soll bald veröffentlicht werden. Mit der Redaktion des WEISSEN RINGS sprach sie vorab über ihre wesentlichen Erkenntnisse.

Der aktuelle Anstieg bei den Angriffen, sagt Zado, resultiere zum einen daraus, dass sich das Problem zuspitze: Immer mehr Menschen glaubten, sie müssten sich gerade im Netz nicht an Gesetze halten. „Teilweise werden heftige Beleidigungen mit Klarnamen gepostet.“ Zum anderen „verstehen Betroffene zunehmend: Die Attacken sind nicht Teil ihres Amtes, und es ist wichtig, Anzeige zu erstatten – auch um demokratische Werte zu verteidigen.“

Die Angriffe gegen die kommunalen Amts- und Mandatsträger kommen aus verschiedenen Richtungen, hat Zado herausgefunden: von sogenannten Reichsbürgern und anderen Rechtsextremen. Von unzufriedenen Bürgern und Initiativen, die sich keinem politischen Spektrum zuordnen ließen. Und auch von anderen Amts- und Mandatsträgern. Der Ton untereinander sei manchmal heftig. Teilweise verstünden die Täter gar nicht, was sie falsch gemacht haben, andere hingegen wüssten es sehr wohl, gingen methodisch vor. Wieder andere seien psychisch auffällig.

Die Kulturwissenschaftlerin sieht einen gesellschaftlichen Wandel, bei dem die Streitkultur und der Respekt für Ämter verloren gegangen seien: „Es gibt immer mehr ,Ichlinge‘, die besonders die Kommunalpolitik als Dienstleister betrachten, der alles sofort für sie tun muss. Wenn nicht, werden sie aggressiv“, erklärt Zado. Die Folgen? Die von Zado Befragten trotzten den Angriffen, ließen sich bei ihrer Arbeit nicht davon beeinflussen. Aber ihre Lebensqualität leide. „Und wir stellen fest, dass Parteien immer mehr Probleme haben, Kandidaten zu finden.“

Pflastersteine zerstörten Partei-Büro

Zu den Betroffenen des vergangenen Jahres zählen auch die Münchner Grünen. Die Scheiben ihres Büros am Nordbad wurden in der Nacht auf den 1. November 2024, gegen 23.20 Uhr, mit einer ganzen Ladung Pflastersteinen zerstört. Als Svenja Jarchow, Vorsitzende des Kreisverbandes München, davon erfährt, ist sie schockiert: „Alles war zersplittert, obwohl die Scheiben dick waren. Meine erste Sorge damals: War noch jemand drin?“ Glücklicherweise nicht. Dann habe sie darüber nachgedacht, was jetzt zu tun sei, wie sich das Risiko verringern und der Schutz verbessern lasse, blickt Jarchow zurück. „Es war eine geplante Aktion. Die Steine lagen nicht in der Gegend herum.“ Die Partei hat eine „Handreichung“ für ihre Mitglieder zusammengestellt, mit Informationen zu Anlaufstellen und Hinweisen wie jenem, nicht alleine im Wahlkampf unterwegs zu sein.

Es war nicht der erste Angriff auf die Münchner Grünen. Einmal wurde Kleister in ein Schloss gefüllt. Eine Parteikollegin Jarchows, die im Landtagswahlkampf plakatierte, wurde erst rassistisch beleidigt, dann mit einer Flüssigkeit bespritzt, die sich zur Erleichterung der Grünen als harmlos herausstellte. Ein anderes Mal wurde ein Infostand zusammengetreten.

„Die Stimmung ist sehr aufgeheizt, es hat sich etwas verschoben bei der Frage: Wie kann ich mit anderen umgehen?“, sagt Jarchow. Die Grünen würden immer wieder mal als Schuldige in den Vordergrund geschoben, als Feindbild „markiert“. Es treffe aber auch andere Parteien. Die Kreisverbandsvorsitzende kritisiert einen grundsätzlichen Mangel an Respekt, der sich auch in den vielen verbalen Attacken im Netz spiegele.

„Wofür machen wir das? Ist es das wert?“ Auch Jarchow hat sich diese Fragen schon gestellt. Sie konzentriere sich dann auf die positiven Erfahrungen und die Solidarität: „Unsere Mitglieder sagen: Wir weichen nicht, sondern halten zusammen. Nachbarn haben nach dem Anschlag auf unser Büro schnell die Polizei gerufen und standen an unserer Seite.“

Zu den zahlreichen Angriffen in Bayern teilt das dortige Innenministerium auf Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS mit, „abschließende und valide Zahlen“ für 2024 lägen voraussichtlich Anfang des zweiten Quartals vor. Das Ministerium bestätigt aber, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gab. Die Corona-Pandemie und auch vergangene Wahlen hätten dies begünstigt. Hinzukomme, dass Bayern zu den bevölkerungsstärksten Ländern zähle.

Die Aufklärungsquote sei ebenfalls gestiegen, auf 70 Prozent, weshalb das Ministerium an Betroffene appelliere, immer Anzeige zu erstatten. Außerdem verweist es auf ein 2020 aufgebautes Schutzkonzept mit Präventionsveranstaltungen und Sicherheitsberatung der Kriminalpolizei.

Das bayerische Justizministerium nennt auf Anfrage spezielle Ansprechpartner bei den Staatsanwaltschaften sowie ein vereinfachtes Online-Verfahren für Kommunalpolitiker und Abgeordnete bei Straftaten im Netz. Die bayerische Staatsregierung „nimmt diese Attacken auf unseren Rechtsstaat und seine demokratischen Repräsentanten nicht hin“, sagt Justizminister Georg Eisenreich (CSU). „Der Fall Walter Lübcke und die aktuellen Fälle zeigen: Aus Worten können auch Taten werden.“ Lübcke wurde 2019 von einem Rechtsextremisten ermordet. Zuvor war er im Netz aufgrund seines Einsatzes für Geflüchtete zum Feindbild erklärt worden.

Nach Ansicht des Ministeriums bildet das Strafrecht die derzeitige Bedrohung für Mandatsträger, aber auch für Ehrenamtliche nicht angemessen ab. Bayern habe sich deshalb schon 2023 für eine Strafschärfung im Bundesrat eingesetzt, um vor allem gegen Körperverletzung und Nötigung härter vorgehen zu können.

„Es ist entscheidend, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen, auch für die Statistik. Erst dann wird das Ausmaß klar.“

Svenja Jarchow

Politikwissenschaftler Andreas Blätte von der Universität Duisburg-Essen und sein Team haben bereits 2022 eine umfangreiche Studie zum Thema veröffentlicht, für die sie Amts- und Mandatsträger in Großstädten befragt hatten. Der Titel: „Vielfältige Repräsentation unter Druck: Anfeindungen und Aggressionen in der Kommunalpolitik“. Zur derzeitigen Entwicklung sagt Blätte: „Konflikte werden zunehmend im Freund-Feind-Modus ausgetragen. Gerade in den sozialen Medien, die Treiber dieser Entwicklung sind, ,radikalisieren‘ sich Menschen und fühlen sich zu verbalen oder sogar tätlichen Angriffen ermächtigt.“

Die Gesellschaft, erklärt Blätte, „steht unter Stress. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Menschen dünnhäutiger sind, eine kürzere Zündschnur haben, auch aufgrund einer durch Corona, Klimawandel und andere Faktoren ausgelösten Veränderungserschöpfung.“ Gemütslagen schaukelten sich schnell hoch. Die Eskalationsspirale lasse sich nur beenden, wenn die Ächtung von Gewalt in politischen Debatten wieder Konsens werde.

Ein wichtiger Befund von Blättes Studie war, dass Vertreter aller Parteien von den Attacken betroffen sind. Die Intensität hänge davon ab, inwieweit eine Partei zum politischen Feindbild stilisiert worden ist, sagt der Professor. Täter fühlten sich dadurch ermächtigt, beispielsweise Hassmails zu schreiben.

Viele Amts- und Mandatsträger seien resilient, trotzten den Angriffen, sagt Andreas Blätte, obwohl sie im Kern mit einer terroristischen Strategie konfrontiert seien: Es handele sich um Signaltaten, die auch nicht-unmittelbar Betroffene treffen sollen. Manche zermürbe der Hass; sie fühlten sich alleingelassen.

„Die Parteien merken, was ihr Personal durchmacht, es gibt Notfallmechanismen und Sicherheitsmaßnahmen, gerade in Wahlkampfzeiten“, so Blätte. Besonders auf kommunaler Ebene müssten die Probleme noch ernster genommen werden, damit „das Fundament der Demokratie nicht erodiert“. Dort seien die Betroffene schon aufgrund der Nähe exponierter und weniger geschützt.

Zudem spricht sich Blätte für einen verstärkten Kampf gegen sexualisierte Gewalt gegen Amts- und Mandatsträgerinnen aus. Die zahlreichen, massiv belastenden Fälle würden seltener angezeigt. „Es fehlt an spezialisierten Hilfsangeboten.“

Es benötige mehr Personal und Eingriffsmöglichkeiten

In den vergangenen Jahren sei die Hilfe für Betroffene insgesamt durchaus verbessert worden, zum Beispiel durch mehr Melde- und Beratungsstellen, sagt Kulturwissenschaftlerin Nora Zado. Die Sicherheits- und Justizbehörden nähmen das Problem ernst. Es gebe aber noch Verbesserungsbedarf. So bräuchten insbesondere ehrenamtliche Amts- und Mandatsträger mehr juristische Unterstützung, Polizei sowie Staatsanwaltschaft wiederum mehr Personal und schnellere Eingriffsmöglichkeiten für solche Fälle. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit erfuhr Zado, dass manche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister regionale informelle Netzwerke parteiübergreifend bilden, um sich auszutauschen und Tipps zu geben. Eine Art Selbsthilfegruppe, in der sie sich gegenseitig stärken.

Svenja Jarchow hält gegenseitige Unterstützung – auch über Parteigrenzen hinweg – ebenfalls für wertvoll. Polizei und Staatsanwaltschaft seien mittlerweile sensibilisiert für die Problematik, kümmerten sich darum. „Es ist entscheidend, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen, auch für die Statistik. Erst dann wird das Ausmaß klar“, so Jarchow. Um Betroffenen besser zu helfen, brauche es schnellere Verfahren und ein engmaschigeres Netz an Beratungsstellen. Hier sei Bayern nicht optimal aufgestellt.

Der Angreifer von Lenny Roth ist im Januar unter anderem wegen Nötigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung verurteilt worden. Die viermonatige Haftstrafe resultiert auch aus früheren Taten und Vorstrafen. „Das Einzige, was abschreckt, sind Strafen“, sagt Roth. Es brauche Konsequenz – und ein Umdenken: Der Nachwuchspolitiker beobachtet eine zunehmende Verrohung und „zu viel Schwarz und Weiß, zu wenig Grautöne, vor allem in sozialen Medien“. Gleichzeitig müssten Leute, die eine Meinung hätten, Gegenmeinungen aushalten.

Roth betont, er werde sich auch künftig nicht verunsichern lassen: „Mein Wille, etwas zu bewegen, gibt mir Kraft.“

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Erstellt am: Montag, 22. Juli 2024 von Sabine

Die Bebilderung dieses Textes wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.

Datum: 22.07.2024

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Ein Jugendamt-Mitarbeiter findet ein beleidigendes Tiktok-Video über seine Arbeit im Netz – und fühlt sich damit alleingelassen. Anlass für eine bundesweite Umfrage der Opferschutzorganisation.

Mainz – Beleidigungen und Angriffe: Der Ton gegenüber Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Behörden hat sich verschärft. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Opferhilfsorganisation WEISSER RING in zahlreichen deutschen Stadtverwaltungen.

Danach haben die allermeisten Kommunen schon einmal digitale Gewalt erlebt. Viele berichteten auch von körperlichen Angriffen auf Beschäftigte innerhalb der vergangenen zwölf Monate, teilte der Weiße Ring mit. Repräsentativ ist die Umfrage allerdings nicht. Von 82 angefragten Verwaltungen hätten sich 44 zurückgemeldet. Für die Auswertung wurden 38 Antworten berücksichtigt, weil die anderen lückenhaft waren.

Beleidigende oder bedrohliche Nachrichten

In den vergangenen zwölf Monaten gab es in 29 Verwaltungen körperliche Angriffe auf Beschäftigte. 35 Städte registrierten Fälle digitaler Gewalt. Dazu gehörten vor allem beleidigende oder bedrohliche Nachrichten über Mail, Messenger-Dienste und in den sozialen Medien. Dazu kamen negative oder beleidigende Rezensionen sowie die Verbreitung privater Informationen ohne Zustimmung.

„Auf die zunehmende Verrohung eingestellt sind die Kommunen oftmals nicht“, stellt der WEISSE RING fest. Lediglich die Hälfte der Behörden habe angegeben, intern über spezielle Richtlinien oder Verfahren im Umgang mit digitaler Gewalt gegen Mitarbeitende zu verfügen (19 Städte).

Im Kampfgebiet Lokalpolitik

Erstellt am: Mittwoch, 4. August 2021 von Torben

Im Kampfgebiet Lokalpolitik

2017 wird Bürgermeister Andreas Hollstein in der Kleinstadt Altena mit einem Messer attackiert. Hätte er keine Hilfe bekommen, wäre er jetzt tot. Die Attacke war der Gipfel einer langsamen Entwicklung.

Ein Mann mit Brille hält ein Sakko über der Schulter.

Politiker Andreas Hollstein. Foto: Paul Schneider

Wenn er aus seinem Wohnzimmer schaut, den Kopf nach rechts neigt, den Blick schweifen lässt über die Schieferdächer und den kleinen Fluss, dann sieht er da auf der anderen Seite des Hangs seine eigene Vergangenheit stehen. In dem alten Rathaus, das dort steht, ein Gründerzeitbau, hat Andreas Hollstein das Städtchen Altena seit 1999 als Bürgermeister regiert. Er war der erste Bürger einer schrumpfenden Stadt. Das gibt den Ton vor, denn in einer wachsenden Gemeinde regiert es sich vermutlich anders als in einer, in der Niedergang die Rahmenbedingungen setzt.

Die Drahtproduktion hatte Altena einst groß werden lassen, Wohlstand und Arbeitsplätze in diesen Ort am nördlichen Rand des Sauerlands gebracht. Als die Drahtproduktion der Welt umzog, da nahm sie viele Arbeitsplätze mit. Mit ihnen gingen viele Perspektiven und das Geld und in der Folge Menschen. In Blütezeiten wohnten in Altena rund 30.000 Menschen, heute sind es noch gut 17.000. Im Jahr 1999, als Hollstein seine erste Wahl gewann und das bis dahin rote Städtchen schwarz wurde, lebten noch 22.000 Menschen in der Stadt.

Andreas Hollstein wurde 1963 in Altena geboren und war zwischen 1999 und 2020 Bürgermeister der Kleinstadt in Westfalen.

In Altena steht eine hübsche Burg auf dem Klusenberg, sie ist ein beliebtes Ausflugsziel in der Region. Von der rund 900 Jahre alten Burg führt ein Aufzug durch das Gestein des Berges zum Ufer des Flusses in die Innenstadt, was praktisch ist für die, die den steilen Weg zur Burg hinauf nicht zu Fuß gehen möchten. Auf halbem Weg zur Burg wohnt Hollstein in einem historischen Haus, verwinkelt, selber ein bisschen eine Burg. Weiter unten in der Stadt wurde er niedergestochen, damals, als er noch Bürgermeister war. Das war 2017. Die Messerattacke war der Gipfel einer Entwicklung von Hass und Hetze, die Hollstein über Jahre gespürt hatte. Dass sie ihn in so einer Konsequenz treffen würde, hätte er sich dennoch nicht vorstellen können. Heute, im Rückblick, sieht Hollstein drei verschiedene Phasen dieser Entwicklung.

Phase 1: 1999 – 2005

Wer sich umhört in Altena, wie Hollstein 1999 loslegt als Bürgermeister, der bekommt das Bild eines Mannes vermittelt, der Unangenehmes ausspricht, bevor er gewählt wird. Und der das dann umsetzt, auch im eigenen Beritt: Die Verwaltung wird verkleinert, von 180 auf 120 Vollzeitstellen. Hollstein schafft den Dienst-Mercedes samt Chauffeur ab und fährt fortan im Dienst-Polo selbst durch die Kleinstadt. Was viel über den politischen Instinkt von Hollstein verrät. Das, was man sagt, auch selber vorzuleben, erhöht die Akzeptanz. Gelingen garantiert es nicht und Schwimmbad-, Schul- und Kindergartenschließungen bleiben kein Spaß, sondern hochemotionale Angelegenheiten.

Aber was soll man machen, wenn man Konkursverwalter einer klammen Gemeinde ist, die zum Beispiel zwei Schwimmbäder unterhält? Man kann sie beide verrotten lassen, was am Anfang ein bisschen Ruhe bringt, aber in der Konsequenz zu gar keinem Schwimmbad mehr führt. Oder man schließt ein Schwimmbad und saniert das andere. Hollstein sagt, man habe sich damals für Variante zwei entschieden.

Hollsteins Kinder werden beschimpft

Es werden 3.000 Unterschriften gegen die Schließung gesammelt, es wird ein Bürgerbegehren eingeleitet, ein Rechtsstreit folgt und letztlich wird ein Bad geschlossen. Die Kinder von Hollstein werden daraufhin in der Grundschule beschimpft: „Dein Vater zerstört unsere Stadt, dein Vater lässt uns nicht mehr schwimmen, dein Vater ist ein Unmensch.“ Nicht so schön sei das gewesen, sagt Hollstein rückblickend, und dass es eine Menge solcher Entscheidungen und entsprechender Folgen gegeben habe. Vielleicht hat es so etwas bei unbeliebten Entscheidungen aber schon immer gegeben.

Wer den Menschen etwas zumutet, muss mit der Konsequenz leben, dass er eventuell respektiert, aber nicht zwingend geliebt wird. Für Hollstein zeigt sich das – wir sind hier im Sauerland – zunächst ganz vereinzelt bei den Schützenfesten: Alkohol, Menschen, die sich und vor allen Dingen anderen etwas beweisen wollen, gelöste Zungen, Konsequenzen für den Moment egal – in der Summe führt das gelegentlich zu Pöbeleien. Wenn es einmal im Jahr vorkam, sei das schon viel gewesen. Nichts, worüber man lange nachdenken muss. Das hat es wohl immer schon gegeben. Hat es?

Ein Mann spaziert durch eine Fußgängerzone

Im Jahr 2020 kandidierte Andreas Hollstein, der CDU-Mann, als Oberbürgermeister in Dortmund. Foto: Paul Schneider

Stutzen lässt Hollstein dagegen ein Brief, den er recht bald nach seiner Amtsübernahme bekommt. In dem Schreiben geht es um eine Seitenstraße mit vielleicht 150 Anwohnern, unter ihnen 20, 25 Kinder. Die Straße hat mindestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs keinen befestigten Gehweg, auf ihr wird schnell gefahren, alles in allem ein Problem. Dazu Post samt Unterschriftenliste zu bekommen, ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Ungewöhnlich kommt dem Juristen Hollstein der Ton des Anschreibens vor. Darin steht nichts von einer Bitte um Überprüfung der Verkehrssituation, stattdessen wird dem Bürgermeister eine Ansage gemacht: Wenn einem unserer Kinder etwas passiert, steht da geschrieben, dann machen wir Sie persönlich dafür haftbar. Der Ton ist neu, vielleicht auch befremdlich, die Sache geht dann ihren verwaltungstechnischen Gang und wird überprüft.

Gute zwei Jahre später soll die Straße dann saniert werden – mit Eigenmitteln der Anlieger. Es wird eine Einwohnerversammlung einberufen. „Und da schlug mir zum allerersten Mal Hass entgegen“, sagt Hollstein heute im Rückblick. Die Stimmung sei massiv hochgekocht: „Du kannst hier doch nicht plötzlich eine Straße bauen, wir brauchen die doch gar nicht“, habe man ihm entgegengebrüllt. Er habe dann das Schreiben gezeigt, das er bekommen habe. So habe man das doch gar nicht gemeint, sei ihm entgegnet worden.

Rechte vor Pflichten

Hollstein lernt in diesem Moment etwas, was ihm noch häufiger begegnen sollte: „Straßenausbau ist, das können Kollegen bestätigen, ein riesiger Aufreger.“ Er nennt das heute einen „kriegsauslösenden Zustand“, in dem die Fronten sehr schnell verhärten und nicht mehr miteinander gesprochen wird. Andere „kriegsauslösende Zustände“ sind Natur und Ökonomie, Migration und grundsätzlich neue Investitionen.

Die Straße ist inzwischen ausgebaut, der Zorn verraucht, die Straße ist eine Straße mit Bürgersteig. Man kann in ihr, wenn man ihre Geschichte im Kopf hat, aber auch mehr sehen: Die Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Aufbau in den Wirtschaftswunderjahren angefangen, in einer Wohlstandsblase zu leben. Alle wesentlichen Kennziffern zeigten immer nur nach oben, die Blase „haben wir immer weiter aufgepumpt“, sagt Hollstein. Jeder Mensch hat seine Nische gefunden, sich darin eingerichtet und die Eigeninteressen zum Daseinszweck erhoben. Das Wissen von Rechten und Pflichten wird vorrangig zum Wissen um die eigenen Rechte. Die Anerkennung der Pflichten rückt in den Hintergrund. Oder, anders formuliert: Wir machen Dich verantwortlich, wenn einem unserer Kinder etwas passiert. Aber lass bloß die Finger von unserem Geld.

Phase 2: 2005 – 2012

Das sogenannte Abstandsgebot besagt, dass Arbeit stets mehr einbringen muss als Nichtarbeit. Dieses Abstandsgebot ist Anfang der Nullerjahre verletzt, nachdem die Bundesrepublik ihre Arbeitslosen mit Unterstützungszahlungen und Lohnersatzleistungen viele Jahre weit über dem europäischen Durchschnitt versorgt hat. Als Konsequenz daraus verabschieden Bundesrat und Bundestag 2005 die sogenannten Hartz-IV-Reformen, was zu schmerzhaften Einschnitten in der Arbeitslosenhilfe führt.

Dagegensein wird zum Prinzip

Die Hartz-Gesetzgebung wird heute noch harsch kritisiert, der Umgang mit finanzschwachen Menschen ist in Deutschland kein Ruhmesblatt. Aber auch wenn Bundesrat und Bundestag und vor allen Dingen der damalige Kanzler Gerhard Schröder für die Hartz-Gesetze verantwortlich zeichnen, haben in dieser Zeit die Rathäuser vor Ort, die Sachbearbeiter mit dem Zorn darüber zu leben. Beleidigungen im Sozialamt zum Beispiel nehmen damals, so sieht es Hollstein heute, deutlich zu. „Ab 2005 veränderte sich das Klima weiter, es wurde heftiger.“

Ein Mann mit verschränkten Armen unterhält sich mit einer Person, die eine medizinische Maske trägt. Im Hintergrund stehen eine Frau und ein Kind

Andreas Hollstein während des Wahlkampfs 2020 in Dortmund. In der sogenannten Herzkammer der Sozialdemokratie erreichte Hollstein die Stichwahl und unterlag dort knapp. Foto: Paul Schneider

Erstmals geht es nicht permanent weiter aufwärts, es hakt deutlich. Und jeder, dem etwas weggenommen wird, wehrt sich dagegen. Man habe manchmal den Eindruck gehabt, sagt Hollstein, dass damals in Folge der Hartz-Reformen alles, was von „oben“ kommt, in Zweifel gezogen und für falsch gehalten wird. „Dagegensein“ wird zum Prinzip und Kommunen sind die, die für den Bürger erreichbar sind. Angst ist eine starke Triebfeder, das gilt auch für die Angst vor dem finanziellen Abstieg.

Verbale Drohungen nehmen damals zu, ab und an seien Stühle im Rathaus geflogen. Wobei nicht nur, aber eben auch die Rathäuser ihren Teil zur allgemeinen Stimmung beitragen. Häufig sei der Fehler gemacht worden, in die Abteilungen mit den meisten Bürgerkontakten nicht die kommunikativ stärksten Mitarbeiter zu setzen. Die braucht man in anderen Abteilungen, dort, wo ein Rathaus glänzen kann oder will, in der Außendarstellung etwa. Und so sehen sich also diejenigen mit den meisten Bürgerkontakten einer veränderten Erwartungshaltung gegenüber, mit der sie nur schwer umgehen können.

Attacken gegen Politiker nehmen zu

Im Jahr 1970 zum Beispiel hätte ein Bürger beim Sozialamt vermutlich gesagt: „Ich brauche, ich möchte, prüfen Sie bitte.“ Heute ist der Ton laut Hollstein ein anderer: „Ich brauche jetzt, warum prüfen Sie eigentlich noch, her damit.“ Seit den 1970er-Jahren hat die Bevölkerung sich emanzipiert, die Menschen werden zu mündigen Bürgern, Dialogprozesse kommen in Gang, Mitwirkungen, Beteiligungsverfahren. Dinge, die in einer sich verändernden Demokratie alle auch ihre Berechtigung haben. Hollstein findet aber, dass sich die Situation aus Perspektive der Rathäuser so darstelle, dass die Bürger oder zumindest ein nicht unerheblicher Teil von ihnen davon ausgeht, bestimmen zu können, was ist – und die da in ihren Räten und Amtsstuben machen können, was sie wollen.

2012 kamen die ersten Drohmails bei Hollstein an

Kollegen schildern ihm damals ähnliche Erfahrungen. Wie sie in Einwohnerversammlungen gar nicht mehr zu Wort kommen. Attacken gegen Mandatsträger etwa hatte es schon vorher gegeben. Aber so ab 2005 habe das dann langsam, aber kontinuierlich zugenommen, auch wenn nicht alle offen darüber gesprochen hätten. Vielschichtiger, massiver, sei das zunehmend geworden, bis dann 2012 die ersten Drohmails bei Hollstein ankommen. Hier beginnt für ihn die dritte Phase, die heute noch anhält und mit der wir in der Gegenwart angekommen sind.

Phase 3: 2012 – heute

Die erste Drohmail, die an ihn gerichtet ist, schmeißt Hollstein weg, die zweite auch, dann die dritte und so weiter. Er ist damals ein nach wie vor anerkannter Bürgermeister – bürgernah. Einer, der gut mit den Menschen kann, der sich regelmäßig mit einem Tisch auf den Marktplatz stellt, um ins Gespräch zu kommen. Hören, wo der Schuh drückt. Das ist die eine Seite – die öffentliche.

Die digitale Seite aber verändert sich: Während er in den ersten Mails angegangen oder beschimpft wurde, wird der Charakter der Mails langsam ein anderer, ein orchestrierter. Menschen beginnen, sich digital zusammenzuschließen. Plötzlich bekommt er nicht mehr nur unangenehme Mails, die sich auf singuläre Ereignisse vor Ort beziehen. 2014 beginnt Hollstein öffentlich darauf hinzuweisen, dass Angriffe auf Mandatsträger zunehmen, und nicht nur auf sie. Ein Ordnungsamtsmitarbeiter soll eine Straßensperrung anlässlich eines Mittelalterfestes kontrollieren. Ein Autofahrer hält mit seinem Wagen auf den Mitarbeiter zu und fährt ihm letztlich über den Fuß. Das endete dann in einem Gerichtsverfahren samt Verurteilung.

In der „Brennglasphase“

Hollstein nennt diese dritte Phase eine „Brennglasphase“, die sich 2015 im Zuge der Migration noch einmal hoch emotionalisiert. Menschen auf der Flucht, die zu Hunderttausenden nach Deutschland kommen. Die erst aufgenommen werden von einem Land, das sich selbst und andere überrascht mit seiner Menschlichkeit und das dann erlebt, wie die AfD erstarkt, wie die Grenzen des Sagbaren zunehmend verschoben werden.

Am 3. Oktober 2015 kommt es in Altena zu einem Brandanschlag auf ein Mehrfamilienhaus, in dem mehrere Migrantenfamilien leben. Wenige Tage vor der Tat hatte Altena öffentlich gemacht, dass es mehr Flüchtlinge aufnehmen werde als die 100, die der Stadt zugewiesen waren. 100 weitere wolle man aufnehmen, wenn es sich einerseits um Bürgerkriegsflüchtlinge und andererseits größtenteils um Familien handle. Brandstifter sind ein Feuerwehrmann und sein Komplize, als Motiv gibt einer der Täter später an, er habe Angst vor „Einbrüchen, Diebstählen, Gewalttaten und auch vor sexuellen Übergriffen“ der Flüchtlinge gehabt.

Noch mehr Attacken auf die Demokratie

Die Zahl der Angriffe auf Amts- und Mandatsträger ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen, um 20 Prozent. Worin liegen die Ursachen und Folgen, und was sollte sich ändern?

Hollstein kennt die Familie des Täters sowie den Täter selbst. Was sich während des Gerichtsverfahrens in den Handyauswertungen zeigt, hätte er nicht für möglich gehalten: Holocaust-Leugnung, SS-Verherrlichung, das ganze Programm. Die Täter waren vernetzt, hier waren Menschen nicht einzeln aktiv. Hier waren Menschen zu Tätern geworden, die sich gegenseitig in ihren Meinungen bestärkten, die davon ausgingen, dass ihre Wahrheit und Weltsicht die einzig richtigen seien.

Messerattacke auf Henriette Reker

Zwei Wochen nach dem Brandanschlag in Altena, am Oktober 2015, wird im Kölner Stadtteil Braunsfeld die damalige Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker mit einem Messer attackiert und schwerst verletzt, sie wird ins künstliche Koma versetzt. Später sollte der Täter, ein Mann mit Kontakten ins neonazistische Milieu, angeben, der Grund für seine Tat sei Rekers Flüchtlingspolitik gewesen. Reker war damals noch Kölner Sozialdezernentin und als solche für die Unterbringung von geflüchteten Menschen zuständig. Der damals 44-jährige Täter soll dem „Spiegel“ zufolge laut Augenzeugenberichten bei der Attacke gerufen haben: „Ich tue es für eure Kinder.“

Hollstein spricht 2016 bei einer Tagung mit Kollegen über die zunehmenden Attacken per Mail und es wird klar, dass nicht nur er angegangen wird. Er ist kein Einzelfall, viele können etwas erzählen: von Beleidigungen, vom Angehen der eigenen Kinder, von abgeschnittenen Weinreben oder gelösten Radmuttern. Und die Situation beruhigt sich nicht. Im Sommer 2017 ist Hollstein bei der Polittalk-Sendung Maybrit Illner zu Gast, im Anschluss explodiert förmlich sein Maileingang. Ein paar wenige positive Mails sind darunter, der Großteil jedoch Attacken, Hass und Hetze. Hollstein beginnt, konsequent anzuzeigen.

„Wir gegen die“ ist immer die Grundlage von Hass und Hetze. „Da ist jemand, der möchte mir etwas wegnehmen, der will etwas verändern, dagegen muss ich mich wehren, mein Verhalten ist Notwehr, ich bin doch hier in der Opferrolle, also muss ich handeln.“ Jede Tat erscheint dem Täter legitimiert, weil er sich selbst für das eigentliche Opfer hält. In seiner Weltsicht muss er die Tat begehen, für sich, sein Volk oder dessen Kinder. Aber wenn alle nur noch Opfer sind, dann ist niemand mehr schuldig, dann wird alles egal.

Diese Phase, in der sich unsere Gesellschaft gerade befindet, nennt Hollstein die „Brennglasphase“. Es wird immer hitziger. Jeder, der als Kind in einem heißen Sommer mit einem Brennglas und trockenem Gras hantiert hat, weiß, was dann passiert. „Brennt uns gleich die Hütte ab, weil das Gras davor schon in Flammen steht, Herr Hollstein?“

„Als positiv denkender Mensch, der politisch tätig ist, würde ich sagen, da sind wir noch lange nicht. Man kann Prozesse ja auch verändern und Menschen überzeugen. Aber es wird nicht leichter, wenn man nicht genau genug hinsieht.“ Das sei, sagt er, ähnlich wie ein Krankheitsverlauf: Am Anfang einer Erkrankung kann man in der Regel am einfachsten heilen. Wenn Symptome ignoriert werden, hat man schnell ein Problem. Dann ist man irgendwann tot. Interessant, dass er den Tod erwähnt, denn der Krankheitsverlauf der Diagnose Hass und Hetze trifft ihn selbst massiv, damals, am 27. November 2017 in einem Döner-Imbiss, als auch er mit einem Messer attackiert wird.

Angriff im Dönerladen

An dem Abend kommt Hollstein aus dem Rathaus. Er fährt mit dem Wagen nach Hause, seine Ehefrau ist krank. Dann geht er noch einmal kurz bei einem Dönerladen vorbei, um ein gemeinsames Abendessen zu holen. Es ist ungefähr 20 Uhr, kurz nach ihm betritt ein weiterer Mann den Laden. Er hat einen Jutebeutel dabei und fragt Hollstein: „Sind Sie der Bürgermeister?“ „Ich kenne die Frage, sie ist oft eine Brücke“, sagt Hollstein, „und habe geantwortet: ‚Ja, warum?‘, um zu signalisieren: Haben Sie etwas für mich, kann ich etwas für Sie tun?“

Statt zu antworten, zieht der Mann ein Messer. Dann schreit er: „Du lässt mich verdursten und holst 200 Ausländer rein.“ Das Messer am Hals Hollsteins, Handgemenge, der Dönerladenbetreiber und sein Sohn eilen zu Hilfe. Ein vierminütiger Kampf, Geschrei, es fließt Blut, das von Hollstein. Aus einer Wunde am Hals. Letztlich ist der Täter fixiert, die Polizei wird gerufen. Als eine junge Polizistin – die Polizeiwache ist um die Ecke – in den Laden stürmt, eine gezogene Waffe in der Hand, schreit der Täter sie an: „Erschieß mich!“

"Man muss das irgendwann abhaken"

Andreas Hollstein

Im Juni 2018 wird der 56-jährige Täter wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer zweijährigen Haftstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Der Mann, so sah es das Gericht, war psychisch labil und zum Tatzeitpunkt alkoholisiert. Er hatte, so das Gericht, das Messer zur Selbstverteidigung dabei. Auch einen Glasschneider hatte er dabei, was aber bei der Urteilsfindung keine Rolle spielte. Dieser Glasschneider lässt für Andreas Hollstein noch eine andere Interpretation zu: Was, wenn der Mann gar nicht in den Dönerladen wollte? Was, wenn er den Glasschneider dabeihatte, um in Hollsteins Wohnhaus einzudringen?

Das hätte auch ganz anders ausgehen können, meint Hollstein heute. Er ist davon überzeugt, dass er, hätten Vater und Sohn in dem Imbissladen nicht eingegriffen, heute nicht mehr leben würde. Seine Kraft habe nicht ausgereicht, sich zu wehren. Ein Bürgermeister wäre heute tot – als letzte Konsequenz von Hass und Hetze. Das Gericht war anderer Ansicht, der Angreifer habe den Bürgermeister erschrecken wollen. Aber ruft einer, der nur erschrecken will, den zum Tatort kommenden Polizisten dann „Erschieß mich!“ zu? Hollstein findet das alles unlogisch. „Aber das ist gelaufen“, sagt er nach einer längeren Pause. „Man muss das irgendwann abhaken.“

Andreas Hollstein im Wahlkampf 2020 in Dortmund: Ende 2020 endete seine Amtszeit als Bürgermeister von Altena. Foto: Paul Schneider

Für Hollstein ist der Mann der Täter, aber eben auch ein Werkzeug der, so nennt er es, „digitalen Brunnenvergifter“. Denen, die die Echokammern des Internets füllen, die rechte Parolen endlos wiederholen, die den Verwirrten und Verirrten das Gefühl geben, nicht alleine zu sein, sondern zu einer schweigenden Mehrheit zu gehören. Und praktischerweise kommt das ja alles auf den eigenen Bildschirm, in die eigenen vier Wände. Keiner muss mehr aktiv werden, alles kommt von ganz allein und wird immer mehr, wenn man einmal damit begonnen hat. Wenig Freunde habe der Mann gehabt, aber im Netz sei er aktiv gewesen. In sozialen Netzwerken, auch den einschlägigen, war er viel unterwegs – und in einer entsprechenden Kneipe.

Entscheidend sei dann gewesen, dass der Mann persönliche Probleme gehabt habe. Darin sieht Hollstein den „Auslöser von Gedankengängen in die Tat“: Frau weg, von der Welt verraten gefühlt, Jobverlust, Alkohol, Verwahrlosung, am Ende eine Kurzschlussreaktion. Auch hier wieder die Opferrolle, andere sind schuld für eigenes Versagen, man muss sich wehren. „Mir geht es scheiße und du bist schuld“ quasi als Lebensentwurf. Wobei schuldig hier vermutlich der ist, den man erwischen kann.

Hollstein, Reker – Einzelfälle?

Hollstein, Reker, in der Dimension sind die beiden Fälle singulär. Aber Einzelfälle? „Kommunal“ ist eine monatlich erscheinende Zeitschrift für Bürgermeister und Kommunalpolitiker. Auf der dazugehörigen Online-Plattform www.kommunal.de wird im März 2020 eine Umfrage veröffentlicht, an der 2.494 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister teilgenommen haben. 64 Prozent geben an, im Rahmen ihrer Tätigkeit „beleidigt, beschimpft, bedroht oder tätlich angegriffen“ worden zu sein. Das sei, so die Publikation, schon lange kein Großstadtphänomen mehr.

Und diese Umfrage war ausgearbeitet worden, bevor Corona ins Spiel kam. Ende Januar 2021 berichtet „kommunal“, dass nun 27 Prozent der Stadtoberhäupter angäben, wegen der Corona-Krise habe die Zahl der Anfeindungen und Beleidigungen noch einmal weiter zugenommen.

29 Prozent

der befragten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister waren sich im März 2020 laut „kommunal“ sicher, nicht für eine weitere Amtszeit antreten zu wollen

Demokratie lebt von der Beteiligung. Aber was passiert, wenn sich immer mehr Menschen nicht beteiligen wollen, weil sie lieber ihre Ruhe haben und nicht angegangen werden wollen? Laut „kommunal“ waren sich bereits im März 2020 29 Prozent der befragten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sicher, nicht für eine weitere Amtszeit antreten zu wollen. Besonders hoch sei dieser Wert bei den meist ehrenamtlichen Bürgermeistern in kleinen Gemeinden. An dieser Stelle zeigen Hass und Hetze sich als das, was sie sind: demokratiegefährdend.

Es scheint nicht wahrscheinlich, dass die erschreckenden Prozentzahlen aus der Umfrage in der näheren Zukunft sinken werden. Kinderbetreuung in Corona-Zeiten, Impfstoffvergabe-Ärger, die wirtschaftlichen Existenzängste von Einzelhändlern, all das steigert den Druck auf die Kommunalpolitik. Und das ist nicht alles: Mit den prognostiziert einbrechenden Steuereinnahmen der Kommunen sinkt auch deren Handlungsspielraum. Im Moment etwa sind Schwimmbäder coronabedingt geschlossen. Aber werden sie auch wieder öffnen?

Eine Illustration zeigt einen Mann, der erschrocken auf sein Handy schaut.

Hass aus dem Handy

Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Wieso löscht TikTok es nicht?

Andreas Hollstein, 57 Jahre alt, ist momentan Privatier. Er war im Sommer 2020 als CDU-Oberbürgermeisterkandidat für die benachbarte Großstadt Dortmund ins Rennen gegangen und hatte dort im Herbst die Stichwahl gegen den SPD-Kandidaten knapp verloren. Ende Oktober 2020 endete seine Zeit als Bürgermeister in Altena. Was die Zukunft für ihn bringen wird, weiß er noch nicht genau, es gibt verschiedene Gedanken, aber noch nichts Spruchreifes. Er ist jetzt ein Veteran der Lokalpolitik, übergriffige Mails hat er länger nicht mehr bekommen.

Was rät er Menschen, die sich politisch engagieren wollen aus seiner Perspektive?

Sich zurückzuziehen sei keine Option, sagt er. Ansprechen müsse man Hass und Hetze immer wieder, dadurch Standfestigkeit zeigen, sich gesellschaftlich engagieren. Wenn alle, die es könnten, den Mund nicht aufmachen, werde der Effekt immer stärker und an Dynamik gewinnen. Gegenhalten, ja schon, aber auch einfach wieder diskutieren, sich über politische Lager hinweg austauschen. Heute werde ja über Politik kaum noch gesprochen, um keinen Streit zu bekommen. Oder man sei sich ohnehin einig, weil man sich nur noch mit Menschen austauscht, die die eigene Meinung teilen.

Austausch, Diskussion, ringen mit Worten, all das klingt richtig und gut. Und ist in Corona-Zeiten natürlich hochproblematisch, weil ein normaler Austausch im Privatleben gar nicht möglich ist. Geht ja alles nur noch im Netz. Und da sind die Algorithmen vor. Die, die Emotionen belohnen und jeden immer tiefer in das bringen, was man selber für richtig hält.

Alles nur noch schwarz und weiß.