Deutsches Rotes Kreuz übergibt Spendengeld an WEISSEN RING

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Sabine

„Ich kann Betroffene nur ermutigen: Melden Sie sich bei der Außenstelle Magdeburg, wenn Sie Hilfe brauchen. Der WEISSE RING ist an ihrer Seite.“

Datum: 01.10.2025

Deutsches Rotes Kreuz übergibt Spendengeld an WEISSEN RING

Mit einer symbolischen Übergabe von rund 156.000 Euro an den WEISSEN RING Sachsen-Anhalt schließt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) Sachsen-Anhalt offiziell die landesweite Spendenaktion für die Opfer des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt ab.

Die Spendenübergabe fand am 1. Oktober 2025 in der Landesgeschäftsstelle des DRK Sachsen-Anhalt in Magdeburg statt. Dr. Carlhans Uhle, Landesgeschäftsführer des DRK Sachsen-Anhalt, übergab dabei symbolisch die Spendengelder an Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Sachsen-Anhalt.

„Für uns beim DRK war es Ausdruck unserer Haltung, in einer solchen Ausnahmesituation wie dem Anschlag sofort zu handeln – schnell, pragmatisch und dort, wo die Not am größten war. Das gilt nicht nur für den Einsatz unserer Rettungskräfte am Abend des Anschlags, sondern auch für die Verantwortung, die wir bei der Verwaltung und zügigen Auszahlung der Spendengelder an die direkt Betroffenen übernommen haben“, so Dr. Carlhans Uhle.

Nach der Bearbeitung aller eingegangenen Anträge und der Auszahlung der Spendengelder an die Betroffenen übergab das DRK Sachsen-Anhalt nun den verbleibenden Betrag in Höhe von etwa 156.000 Euro an den WEISSEN RING.

„Mit der heutigen Übergabe der verbleibenden Mittel an den WEISSEN RING setzen wir ein bewusstes Zeichen: Hilfe hört nicht mit dem letzten Spendeneingang auf. Nachhaltige Hilfe braucht einen langen Atem – und verlässliche Partner, die diesen Weg konsequent weitergehen“, ergänzt Dr. Uhle.

Die Spendengelder dienen der Kostendeckung bereits angefallener und vorfinanzierter Hilfsleistungen im Rahmen der Arbeit des WEISSEN RINGS.

Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS Sachsen-Anhalt, dankte dem DRK und unterstrich, wie wichtig die Unterstützung durch Spenden ist. „Für die Betroffenen des grausamen Anschlags konnte der WEISSE RING bislang eine Gesamtsumme an Opferhilfen in Höhe von mehr als 480.000 EUR leisten“, sagt Godenrath. Dazu zählen Soforthilfen und Beratungsschecks für anwaltliche oder psychotraumatologische Erstberatung. Außerdem hat der Verein tatbedingte Bedarfe wie erhöhte Fahrtkosten, Mehrausgaben für die Ausstattung bei Reha- und Krankenhausaufenthalten sowie Mehrausgaben zur Überbrückung bei Einkommensausfall unterstützt. „Wichtig ist hier zu sagen, dass wir über keinen starren Leistungskatalog verfügen, sondern bedarfsgerechte Hilfen im Einzelfall prüfen und so auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen eingehen können“, erklärte die Landesvorsitzende und betonte: „Das alles ist nur möglich, weil so viele Menschen bereit sind, unsere Arbeit für die Opfer finanziell zu unterstützen.“

Der WEISSE RING hat bislang 475 Opfer betreut. Dazu zählen auch anonyme Fälle, die den Verein über das Opfer-Telefon erreichten. „Viele Betroffene werden auch heute noch von uns betreut. Es gibt beispielsweise Menschen, die noch krankgeschrieben sind oder denen noch Operationen bevorstehen. Auch rund um den Prozessbeginn gegen den mutmaßlichen Täter und zum Jahrestag erwarten wir großen Zulauf. Und ich kann Betroffene nur ermutigen: Melden Sie sich bei der Außenstelle Magdeburg, wenn Sie Hilfe brauchen. Der WEISSE RING ist an ihrer Seite“, sagt Kerstin Godenrath.

Die Kontaktdaten der Außenstelle Magdeburg: Telefon 0175/6528447, E-Mail: magdeburg@mail.weisser-ring.de

Wer die Arbeit des WEISSEN RINGS unterstützen möchte, kann hier spenden: https://spenden.weisser-ring.de/

 

Hintergrund
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wurde ein Spendenkonto zur Unterstützung für Betroffene und Angehörige unter Federführung des DRK Sachsen-Anhalt eingerichtet. Die Spendenaktion wurde direkt nach dem Anschlag ins Leben gerufen. Die Initiative dazu kam von der Landesregierung Sachsen-Anhalt.

Auf dem Spendenkonto gingen bis zum Ende der Spendenaktion am 31. Mai 2025 in insgesamt gut 14.400 Einzelspenden mehr als 1,5 Millionen Euro ein. Neben zahlreichen Einzelpersonen beteiligten sich Unternehmen, Vereine und zivilgesellschaftliche Initiativen aus ganz Deutschland. Die eingegangenen Mittel wurden unmittelbar den direkt Betroffenen sowie deren Angehörigen ausgezahlt.

Das gespendete Geld wurde nach einem transparenten Verfahren in enger Abstimmung mit der Landeshauptstadt Magdeburg verteilt. Insgesamt 1068 Auszahlungen an Betroffene wurden vorgenommen.

Der exakte Betrag der Spendensumme an den WEISSEN RING beträgt 156.406,25 Euro.

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Gregor
Das Cover der aktuellen Ausgabe.

Datum: 01.10.2025

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

In der aktuellen Ausgabe setzt sich das WEISSER RING Magazin mit Rechtsextremismus, aber auch mit anderen Formen der Politisch motivierten Kriminalität auseinander. Die Entwicklung ist alarmierend.

Rechtsmotivierte Straftaten werden zunehmend von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen, bundesweit. In Bayern zum Beispiel ist die Zahl der Tatverdächtigen in diesen Altersgruppen von 291 im Jahr 2023 auf 517 im vergangenen Jahr gestiegen, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Hauptsächlich handelt es sich um Propagandadelikte, teilweise aber auch um Gewalttaten: In Nordrhein-Westfalen etwa wurden hierbei im vergangenen Jahr 30 Verdächtige zwischen 14 und 20 Jahren ermittelt, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Diese Zahlen gehen aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Landeskriminalämtern und Innenministerien hervor.

Kritische Medienbildung gegen rechte Tendenzen bei jungen Leuten

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, sagte dem Magazin: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen.“ Es gehe „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“. Zu den Ursachen erklärte der Politikwissenschaftler: „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“ Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert deshalb für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit.

Die Recherche ist Teil eines Schwerpunkts in der aktuellen Ausgabe des WEISSER RING Magazins zu Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Für die Titelgeschichte sprach der auf Rechtsextremismus spezialisierte Autor Michael Kraske mit Betroffenen, Experten sowie Sicherheitsbehörden. Politisch motivierte Kriminalität ist 2024 so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488.

Ausweitung der Gefahrenzonen

Zu den Folgen rechtsextremer Gewalt sagte Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Das Gewaltpotenzial sei stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern. „Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, so Kleffner. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. Andererseits habe sich etwa in Sachsen kaum etwas zum Positiven verändert.

In anderen Bereichen der PMK, etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die PMK ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark. Im Interview warnt Heike Pooth, Referatsleiterin im Polizeilichen Staatschutz des Bundeskriminalamtes: „Entspannung ist nicht in Sicht.“ Konflikte und Ereignisse im Ausland wirkten sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren seien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Nahostkonflikt.

Religiöse Repräsentanten am häufigsten von Attacken betroffen

In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts hätten sie stark zugenommen. Das BKA ergreife deshalb verschiedene Maßnahmen, tausche beispielsweise intensiv Informationen mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden aus und bewerte permanent die Gefährdungslage, vor allem für die besonders bedrohten jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der Politisch motivierten Kriminalität geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben). Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal.

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Zahl der jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen stark gestiegen.

Rechtsradikale Jugendliche in Deutschland

Jugendliche und heranwachsende Verdächtige bei politisch motivierten Straftaten pro Bundesland. *Hier ist die Summe der Straftaten mit jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen angegeben. **Hier ist die Summe der Fälle mit mindestens einem jugendlichen beziehungsweise heranwachsenden Verdächtigen angegeben. Quelle: Länderumfrage des WEISSEN RINGS. Vier Länder haben die Anfrage bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.

Ein hessischer Jugendlicher soll sich rechtsradikal geäußert, Sprengstoff hergestellt und im Wald gezündet haben. In den Räumen eines Vereins in Sachsen, der sich für Demokratie einsetzt, sollen 13- bis 16-Jährige aus der Nazi-Szene eine Frau bedroht haben. Und in Brandenburg verletzten junge Leute zwischen 17 und 19 Jahren offenbar einen 41-Jährigen, nachdem dieser sie aufgefordert hatte, mit dem Grölen rechter Parolen aufzuhören.

Im Jahr 2024 häuften sich die Verfahren mit jungen Tatverdächtigen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts. Eine exklusive Länderumfrage des WEISSER RING Magazins zeigt nun das Ausmaß. Demnach hat die Zahl der Fälle, an denen Jugendliche sowie Heranwachsende beteiligt gewesen sein sollen, stark zugenommen: in Sachsen etwa von 310 Tatverdächtigen zwischen 14 und 20 Jahren im Jahr 2023 auf 1297 Verdächtige im vergangenen Jahr, in Bayern von 291 auf 517, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Die Berliner Statistik differenziert auch nach Geschlecht: Demnach waren 136 der 143 Tatverdächtigen im Jahr 2023 männlich, sieben weiblich. Im Jahr darauf gab es insgesamt 175 Verdächtige, 149 männliche und 26 weibliche.

Männlich dominiert

In Berlin waren im Jahr 2023 von 143 verdächtigen Jugendlichen und Heranwachsenden 136 männlich und 7 weiblich. Im Jahr 2024 wurden 175 Verdächtige gezählt, davon waren 149 männlich und 26 weiblich.

Auch Nordrhein-Westfalen verzeichnet eine deutliche Steigerung, von 247 auf 610 Tatverdächtige in dem Alter. Die Landesregierung sieht dies als „eine zentrale Herausforderung für die innere Sicherheit“ und beobachtet eine „zunehmende Dynamisierung“ von rechtsextrem beeinflussten Jugendmilieus, wobei das „Tatmittel Internet“ weiter an Bedeutung gewinne. Bei der Bekämpfung setze das Land auf einen „Dreiklang von Repression, Prävention und Ausstiegshilfe“. Überwiegend geht es um Propagandadelikte, mitunter aber auch um Gewalt: In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Jahr 30 jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige ermittelt, in Berlin 28, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Bei den Gewalttaten sind die Zahlen tendenziell auch gestiegen.

Die Steigerungen passen zur Gesamtentwicklung. Nach Angaben des BKA sind die rechtsmotivierten Taten 2024 um fast 48 Prozent auf 42.788 angewachsen.

„Rechtsextreme Positionen werden selbstbewusst vertreten“

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, überraschen die Tendenzen nicht: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen“, sagt der Politikwissenschaftler. Es geht „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“.

Die Täter seien jünger geworden; vereinzelt suchten schon Grundschulen Rat. In den vergangenen Jahren hätten sich eher lose, rechte Jugendcliquen gebildet. Sie seien „stark diversifiziert“, auch in ihrem Erscheinungsbild, hätten teils Kontakt zur organisierten Szene und beteiligten sich etwa an Protesten gegen Veranstaltungen zum Christopher Street Day. „Man muss die Bedingungen des Großwerdens, etwa die politische Kultur, das Gemeinwesen, die Eltern, in den Blick nehmen“, so Becker. „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“

Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit: „Sie ist ein Schlüssel. Es kommt darauf an, mit den jungen Leuten im Gespräch zu bleiben, ihnen Angebote zu machen und sie nicht aufzugeben, wenn sie durch rechte Parolen aufgefallen sind. Dazu braucht es Haltung und pädagogisches Wissen.“

Der Flächenbrand

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Sabine

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Das Spektrum reicht von Propaganda über spontane körperliche Attacken bis zu rechtsterroristischen Brandanschlägen – und die Täter werden jünger. Sie verfolgen und greifen Angehörige von Minderheiten an. Opferberatungsstellen schlagen Alarm und fordern den Staat auf, endlich entschlossener zu handeln.

Rechte Gewalt: "Rechts Land" Julius Schien

18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.

Monatelang haben sie sich vorbereitet, die Vorfreude war groß. Zum fünften Mal baute ein breites Bündnis auf dem Marktplatz in Brandenburg Stände, Bänke und eine Bühne auf, um im Juni ein Fest der Vielfalt zu feiern. Darunter eine Trommelschule, der DanceClub vom Jugendzentrum Offi, „Schülis“ und Omas gegen
Rechts. Das Motto: „Bad Freienwalde ist bunt.“ Was dann geschah, hat Tom Kurz beobachtet, der bei der ehrenamtlichen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch Oderland arbeitet: Maskiert mit Sturmhauben, bewaffnet mit Schlagstöcken stürmte eine Gruppe junger Gewalttäter auf den Platz. „Die Neonazis waren erst im Moment des Angriffs sichtbar“, erinnert sich Kurz. „Ich habe sie auf mich zu rennen sehen. Alles ging sehr schnell.“

Vier Personen seien durch Schläge verletzt worden. In einem Video des RBB ist zu sehen, wie ein Angreifer einem Mann gezielt mit der Faust ins Gesicht schlägt. „Mehrere Leute sind dazwischengegangen und haben Schlimmeres verhindert“, sagt Kurz. „Die Neonazis haben wohl nicht mit Gegenwehr gerechnet und mussten
ihren Angriff abbrechen.“ Der orchestrierte Gewaltakt habe viele derjenigen, die unbeschwert feiern wollten, schockiert. „Es waren ja auch Familien da. Viele haben zum ersten Mal so massive rechte Gewalt erfahren.“ Das Fest fand trotzdem statt, aber der brutale Überfall habe den ganzen Tag überschattet.

Der Flächenbrand

Rechtsextreme Straftaten nehmen zu – von Propaganda bis zu Gewaltdelikten. Opferberatungsstellen fordern stärkeres staatliches Gegensteuern.

Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort

Nach der Tat kam Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos) nach Bad Freienwalde. Er sprach von einem „Angriff auf die Art unseres Zusammenlebens“ – ein seltenes Signal der Solidarität mit der queeren Community. Die Veranstalter haben jedoch in einer Stellungnahme klargemacht, dass Betroffenheit nicht ausreicht: „Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort. Die Gefahr, der unsere Veranstaltung ausgesetzt war, wurde falsch eingeschätzt. Das muss sich ändern!“ Tom Kurz kritisiert, dass die Polizei auch gegen diejenigen ermittle, die sich gegen die militanten Neonazis wehrten, um sich und andere zu verteidigen.

Das WEISSER RING Magazin hat die Brandenburger Polizei nach den Gründen dafür gefragt und weshalb trotz Warnungen im Vorfeld keine Beamten vor Ort waren. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung wies ein Polizeisprecher Kritik zurück. Er sagte, die bei der Veranstaltung eingesetzten Beamten seien während des Angriffs nicht am Tatort gewesen, weil sie im Umfeld des Festgeländes unter anderem „Fahrzeugbewegungen“ überprüft hätten Einige Tage nach dem Überfall hat die Polizei die Wohnräume eines mutmaßlichen Angreifers durchsucht.

Für Tom Kurz hat der Angriff eine lange Vorgeschichte. Er beschreibt gefestigte rechtsextreme Strukturen in der Region, mit alten Neonazis aus den 1990er-Jahren, einer stark verankerten AfD und aktionistischen Jugendorganisationen wie der vom III. Weg, einer neonazistischen Kleinstpartei. Nicht rechte Jugendliche würden in Bad Freienwalde zur Zielscheibe der jungen Rechtsextremen. Mitglieder des Bündnisses würden im Ort regelmäßig bepöbelt und bedroht.

Kurz betont, wie wichtig prominente Persönlichkeiten wären, die sich klar positionieren: „Denn die Neonazis sehen sich als ausführende Gewalt eines Volkswillens.“ Stattdessen gab Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) dem RBB nach dem brutalen Überfall ein verstörendes Interview. Der Täter habe zwar „nicht hauen dürfen“, so das Stadtoberhaupt, das Opfer „hätte ihn aber auch nicht festhalten dürfen“. Wie unter einem Brennglas zeigt der Fall die Enthemmung rechter Gewalt – und die Missstände im Umgang damit, wenn Verantwortliche eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben.

2024

haben politisch motivierte Straftaten laut der jährlichen Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht.

84.172

Delikte waren es insgesamt.

42%

als im Jahr zuvor.

42.788

der Delikte waren rechtsextremistisch motiviert.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.

„Rechtes Land“

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch ein Aufhören kommt für ihn nicht infrage, wie er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin erzählt.

Rekordniveau rechter Straftaten

Politisch motivierte Kriminalität ist im vergangenen Jahr so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten, die bereits in den vergangenen Jahren beunruhigende Rekorde erreicht haben, am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488. „Ein Beleg für die hohe und weiterhin zunehmende Gewaltbereitschaft“, erklärt ein BKA-Sprecher.

Noch dramatischer sind die Zahlen, die der Verband der auf rechte Gewalt spezialisierten Opferberatungsstellen (VBRG) erhoben hat. In zwölf von 16 Bundesländern kam es demnach zu 3.453 rechten, rassistischen und antisemitisch motivierten Angriffen mit 4.681 direkt Betroffenen – ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Ländervergleich liegt Berlin mit 9,99 Taten pro 100.000 Einwohner vorn, gefolgt von Sachsen-Anhalt (8,3) und Mecklenburg-Vorpommern (6,59). Bei den absoluten Zahlen steht ebenfalls Berlin mit 366 Angriffen vor Nordrhein-Westfalen mit 294 (1,63 pro 100.000 Einwohner) auf dem ersten Platz. Mehr als die Hälfte aller Taten seien rassistisch motiviert. Gleichwohl hätten die Angriffe auf „politische Gegner“ um zwei Drittel und queerfeindliche um 40 Prozent zugenommen.

2024

Magdeburg. Am Abend des Terroranschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wird ein Student auf dem Nachhauseweg von einer Männergruppe rassistisch beleidigt. „Ihr gehört hier nicht her“, rufen die Männer. Der Student wird mit dem Tod bedroht und geschlagen. Der Terroranschlag des Angreifers saudi-arabischer Herkunft löst in der Stadt eine Welle rassistischer Gewalt aus. So wird ein 13-Jähriger im Fahrstuhl seines Wohnhauses von einem Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt.

Im Gegensatz zum BKA erfassen die Opferberatungen auch Fälle von Nötigung und Bedrohung, was die höheren Fallzahlen teilweise erklärt. Der VBRG notierte 1.212 Bedrohungen/Nötigungen sowie 1.143 einfache und 681 gefährliche Körperverletzungen. Sowohl die Zahlen des VBRG als auch die des Bundeskriminalamtes spiegeln jedoch „nur einen Ausschnitt aus einer sehr bedrohlichen und gewaltvollen Realität für sehr viele Menschen in diesem Land“ wider, betont die Geschäftsführerin des Verbandes, Heike Kleffner. „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Man gehe nicht mehr auf Stadtfeste, verlasse Veranstaltungen früher und bewege sich in Angsträumen und nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Gruppen.

„Das Gewaltpotenzial ist stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern“,
sagt Heike Kleffner. Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, bezogen auf die Einwohnerzahl weiterhin vorn, aber der Westen holt auf. Täter, so Kleffner, griffen dabei auch zu Messern und Schlagwerkzeugen und schlügen auf ihre Opfer ein, selbst wenn diese schon am Boden lägen. Gelegenheitstäter schreckten auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche zu verletzen.

Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, weiterhin vorn, aber der Westen holt auf

In Brandenburg wurde im Dezember ein Schüler auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe junger Rechter so schwer verletzt, dass er unter Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen litt. Diese Täter seien oft in einem Umfeld sozialisiert, in dem Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit mehrheitsfähig seien, sagt Kleffner. Sie nennt Gründe für die gesellschaftliche Klimaverschärfung: „Mit den Wahlerfolgen der AfD geht nicht nur eine Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus einher, sondern auch eine beunruhigende NS-Verherrlichung.“

Kleffner erinnert daran, dass der AfD-Politiker Björn Höcke für den Gebrauch einer SA-Parole verurteilt wurde. Aus diversen Strafverfahren sei bekannt, dass
rechte Täterinnen und Täter „ganz oft nationalsozialistische Propaganda, Hitler-Bilder und SS-Runen konsumieren, liken und teilen“. Man dürfe auch nicht unterschätzen, welche Wirkung ein migrationsfeindlicher gesellschaftlicher Diskurs habe. Eine Studie der Uni Bielefeld belegt zudem, dass Wählerschaft und Sympathisanten der AfD im Vergleich zu anderen Parteianhängern überdurchschnittlich oft Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele befürworten. „Die Wähler*innen radikalisieren die AfD, aber die Partei radikalisiert auch ihre Wählerinnen und Wähler“, so Kleffner.

12

Bundesländer hatten in diesem Jahr ein Rekord an registrierten Fällen bei der Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

3.400

Fälle wurden circa aufgenommen.

20%

als im Vorjahr.

Darüber hinaus greifen AfD-Politiker immer wieder selbst zu Gewalt. So wurde der Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation in NRW, Felix Alexander Cassel, dafür verurteilt, am Rande eines „AfD-Bürgerdialogs“ in Köln einen Gegendemonstranten mit dem Pkw angefahren zu haben. In Berlin wurde der AfD-Bezirksverordnete Kai Borrmann für eine Beiß-Attacke gegen die schwarze Musikjournalistin Steph Karl verurteilt, die er zuvor rassistisch beleidigt hatte. Im November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft drei AfD-Mitglieder festnehmen, die verdächtigt werden, der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Sächsische Separatisten“ angehört zu haben.

Ein BKA-Sprecher verweist darauf, dass rechte Straftaten nicht in jedem Fall tief verinnerlichte rechtsextreme Denkmuster voraussetzen. Nicht selten würden nur „Versatzstücke aus Ideologien“ übernommen: „Rechtsextreme Ideologien und gezielte Mobilisierung durch rechte Akteure schaffen und fördern jedoch Rahmenbedingungen, die an der Motivation zu solchen Straftaten andocken.“ Etwa, indem bestimmten Personengruppen eine Sündenbockfunktion zugeschrieben wird oder sie durch Täter-Opfer-Umkehr als bedrohlich markiert werden.

Immer stärker ins Visier rechter Straftäter geraten queere Menschen, etwa in Sachsen, beobachtet Michel Röhricht vom Bürgerrechtsverband Queere Vielfalt (LSVD): „Die gestiegene Bedrohung ist auf alle Fälle spürbar. Die Lage ist erheblich unsicherer geworden.“ Zwar gibt es auch in kleineren sächsischen Orten wie Döbeln oder Riesa CSD-Veranstaltungen, aber Ankunft und Rückfahrt seien gefährlich, weil Rechtsextremisten die Veranstaltungen systematisch anfeindeten. „Teilnehmende müssen in Gruppen anreisen“, sagt Röhricht. Immer wieder meldeten sich Personen, die berichten, sie seien in ihrem Alltag angegriffen worden. Oftmals scheuten sie sich aber, Straftaten anzuzeigen. Betroffene würden ausgelacht, beleidigt und ausgegrenzt. Auch Schulen seien häufig Tatorte. „Die meisten, die sich an uns wenden, sind voller Angst und fressen das in sich rein“, so Röhricht.

Das Leben der queeren Community werde durch eine feindliche Grundstimmung in der Gesellschaft stark eingeschränkt. Viele täten alles, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. „Die Sichtbarkeit nimmt ab“, so Röhricht. Zwar sei die Lage in ländlichen Regionen noch schwieriger, vor allem für queere migrantische Personen. Dort liege  ein „Mantel des Schweigens“ über Diskriminierung und Gewalt; Hilfsangebote gebe es oftmals nicht. Selbst Großstädte wie Chemnitz bieten Röhricht zufolge keinen Schutz, weil viele Treffpunkte aufgrund mangelnder Förderung weggebrochen seien. „Es gibt queere Menschen, die eine Serie von Angriffen und Beeinträchtigungen erlitten haben“, berichtet er. „Da gibt es ganz viel Hoffnungslosigkeit und Resignation.“

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.

Während sich Opfer zurückziehen, fühlen sich Täter ermutigt. Eine entscheidende Rolle im Radikalisierungsprozess spielen nach Erkenntnissen des BKA die sozialen Medien: mit einer ungefilterten Flut von Hetze, Desinformation und Propaganda. In den digitalen Hasskammern verbreiten Rechtsextremisten toxische Erzählungen über eine angebliche „Umvolkung“, „Gender-Wahn“, „Frühsexualisierung“, „Globalisten“ und „linksgrüne Ökofaschisten“. Menschen werden aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung als Hassobjekte angefeindet.

Ins Visier geraten alle, die nicht der homogenen Norm einer völkisch-deutschen Ideologie entsprechen. Die sozialen Medien bieten Rechtsextremisten und Rassisten dabei nicht nur eine Plattform für niedrigschwellige Kontaktaufnahme, Rekrutierung und Vernetzung, sondern werden auch als Tatort und Labor für politisch motivierte Straftaten genutzt. Hasskriminalität ist im vergangenen Jahr um 28 Prozent auf 21.773 Fälle angestiegen. Mehr als zwei Drittel aller Hassdelikte sind rechts motiviert.

2025

Cottbus. Eine Gruppe greift am 28. März das Hausprojekt „Zelle79“ in Cottbus (Brandenburg) an. Die Täter brüllen rechte Parolen und werfen mit Pflastersteinen. Wenige Stunden später attackieren vermummte Täter das Haus erneut mit Steinen. Im Mai informiert die Polizei über einen weiteren Angriff von fünf Personen mit Böllern und Leuchtfackeln. Dabei werden verfassungsfeindliche Parolen gerufen, Eingangstür und Fassade beschädigt.

Seit Mitte 2024 beobachten die Sicherheitsbehörden einen beunruhigenden Trend. In der Neonazi-Szene treten viele neue Jugendgruppen in Erscheinung, die „Jung und Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ heißen. Rechtsextreme Straftäter werden immer jünger. Nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke im vergangenen Jahr in Dresden wurden vier Minderjährige aus dem Umfeld der rechtsextremen „Elblandrevolte“ als Verdächtige ermittelt.

In einem anderen Fall verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin kürzlich vier mutmaßliche Neonazis aus Sachsen-Anhalt, die im Ortsteil Lichterfelde zwei SPD-Wahlkämpfer brutal attackiert hatten. Die Täter, die auf dem Weg zu einer rechten Demo waren, hatten einen 50-Jährigen mit Springerstiefeln gegen den Kopf getreten. Der Vorsitzende Richter hatte keinen Zweifel an dem politischen Tatmotiv und verurteilte die jungen Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten. Ein Sprecher des BKA warnt angesichts solcher Taten vor der Gewaltbereitschaft der neuen Gruppierungen: Aufgrund permanenter neonazistischer Propaganda bestehe „die Gefahr, dass diese Gruppen weitere Anhänger rekrutieren und sich das Phänomen ausweitet“.

In der Nacht auf den 23. Oktober 2024 brennt in Altdöbern (Brandenburg) das ehemalige Schützenhaus nieder. Durch einen glücklichen Zufall bleibt die Betreiber- Familie des zugehörigen Kulturhauses, die im Gebäude nebenan schläft, unverletzt. Die Polizei teilt wenige Tage später mit, sie gehe nicht von Brandstiftung aus, sondern von einem technischen Defekt. Dies hält sich fortan hartnäckig in der Region und wird Anfang des Jahres korrigiert. Allerdings nicht auf Initiative der Behörden, sondern im Landtag. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der SPD taucht der Brand in Altdöbern überraschend als politisch motivierte Kriminalität von rechts auf, die sich gegen ein angeblich linkes Kulturobjekt richtete. „Links“ war der „Kultberg“ in Altdöbern nicht: Auf der offenen Bühne der Bar konnten alle, die wollten, spontan zur Gitarre greifen. Im Festsaal wurde auch Karneval gefeiert. Im Mai 2025 nimmt der Generalbundesanwalt (GBA) schließlich vier mutmaßliche Mitglieder der selbsternannten „Letzten Verteidigungswelle“ fest.

Der Vorwurf: Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung. Der jüngste der minderjährigen Beschuldigten soll erst 14 Jahre alt sein. Deren Ziel laut Ermittlern: durch Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Migranten und politische Gegner den Zusammenbruch des politischen Systems der Bundesrepublik herbeizuführen.

10.732

Straftaten wurden vom BKA im Bereich Hasspostings registriert. Laut BKA spielt der digitale Raum eine immer größere Rolle in der Politisch Motivierten Kriminalität.

34%

mehr als im Vorjahr. Die meisten Taten sind rechtsmotiviert.

4.760

Fälle wurden insgesamt registriert.

Die Bundesanwaltschaft wirft den Tatverdächtigen vor, einen Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Schmölln (Thüringen) verübt zu haben. Obwohl aus einer Feuerwerksbatterie Pyrotechnik entzündet wurde, kam es dort glücklicherweise nicht zur Katastrophe. Die Beschuldigten sollen während der Tat einschlägige Parolen an die Unterkunft gesprüht haben: „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „NS-Gebiet“, dazu Hakenkreuze und Sieg-Runen. Der Generalbundesanwalt ist zudem davon überzeugt, dass zwei der Verdächtigen den Brand in Altdöbern gelegt haben. Einer von ihnen soll laut GBA ein führendes Mitglied der mutmaßlichen rechtsterroristischen Vereinigung gewesen sein.

Der Jugendliche habe die Tat in einem Video angekündigt, um andere Mitglieder zu ähnlichen Aktionen zu animieren. Bemerkenswert: Ein Terrorverdächtiger lebt mit seiner Familie selbst in Altdöbern. Der Fall schreckte das Land kurz auf, doch viele Medien stürzen sich allein auf das Alter der mutmaßlichen „Teenie-Terroristen“. Hintergrund, Folgen und Konsequenzen? Fehlanzeige.

Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen, schickte die Gemeinde der Familie eine Kündigung

In Altdöbern haben die Täter die Existenz der Betreiber-Familie zerstört. Zwar blieb die Kneipe bei dem Brandanschlag verschont, während das frühere Schützenhaus, das seit 100 Jahren als Mittelpunkt des Dorflebens genutzt wurde, bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dennoch stehen die Brandopfer nach der Tat vor dem Ruin. Im Ort ist die Familie isoliert. Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen und die Kultureinrichtung zu erhalten, schickte die Amtsverwaltung der Gemeinde der Familie eine Kündigung. Obwohl das Feuer nur Teile des Areals zerstört hat, gibt es offenbar Pläne, alles abzureißen. Im Ort kursieren böse Gerüchte über die Gastronomen. Sie hätten ja schon in Berlin eine Kneipe in den Sand gesetzt und seien längst auf dem Absprung in eine andere Stadt. Es hat den Anschein, als wolle man die Opfer des mutmaßlichen Rechtsterrors loswerden.

Das WEISSER RING Magazin hat die Amtsverwaltung von Altdöbern nach den Gründen für die Kündigung und etwaige Abrisspläne gefragt. Die Anfrage blieb unbeantwortet.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Muster der Eskalation

Rechte Gewalt ist kein Zufall. Sie braucht einen Rahmen und einen Nährboden, der sie legitimiert. In den vergangenen Jahren haben sich Vorurteile wie ein Gift auch in gesellschaftlichen Milieus verbreitet, die zuvor aufgrund ihrer Bildung und ihres Einkommens als kaum anfällig galten. Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit oder die Entmenschlichung geflüchteter Menschen sind mittlerweile auch bei jenen anschlussfähig, die sich selbst in der gesellschaftlichen Mitte verorten. Dafür sprechen etwa die Ergebnisse der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Autoritarismus-Studien der Universität Leipzig, die seit Jahren Anstiege der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit messen.

2025

Chemnitz. Am 28. Mai wird eine 56-Jährige in Chemnitz von einem Unbekannten bedrängt, rassistisch beleidigt und attackiert. Die Frau erleidet leichte Verletzungen. Nach Eingreifen einer Zeugin kann der Täter unerkannt flüchten.

In der Vergangenheit folgten die Wellen rechter Gewalt einem auffälligen Muster: In den 1990er-Jahren wurden Geflüchtete von Politik und Medien als „Schein-Asylanten“ dämonisiert, die das Land angeblich wie eine Naturkatastrophe fluteten. In der Folge brannten Asylbewerberheime. Die rassistische Eskalation führte von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bis Mölln und Solingen, von Pogromen bis zu mörderischen Terroranschlägen. In der sogenannten Flüchtlingskrise der Jahre 2015 wiederholten sich unheilvolle Muster einer politisch motivierten Gewaltspirale. Infolge der massiven Mobilisierung der extremen Rechten gegen Geflüchtete, die erneut von rassistischen Diskursen begleitet wurde, stieg die Zahl der Angriffe auf Asylsuchende und deren Unterkünfte drastisch an.

Laut Bundeskriminalamt verfünffachte sie sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr. Öffentliche Entmenschlichung sowie rechtsextreme und rassistische Mobilisierung führen zu rechter Gewalt. Militante Überzeugungstäter lassen radikalen Worten lebensgefährliche Taten folgen. Nach dem Motto: Alle reden nur. Wir handeln.

„Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben entsprechende Gruppierungen im Blick und begegnen der Szene mit hohem Kontrolldruck“, sagt ein BKA-Sprecher. Ein gemeinsamer Maßnahmenplan mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz soll potenzielle Täter schneller erkennen, Netzwerke besser aufklären und Hasskriminalität im Internet effektiver bekämpfen. Dazu sei beim Polizeilichen Staatsschutz die Fachgruppe Internet eingerichtet worden, so der Sprecher.

3.061

rechts motivierte Fälle erfasste die Polizei, bei antisemitischen Straftaten.

1.940

Fälle waren ausländisch motiviert.

Gleichwohl kritisieren die Beratungsgruppen des VBRG seit Jahren: Politische Tatmotive würden bei Ermittlungen weiterhin häufig ignoriert, Betroffene allzu oft nicht ernst genommen oder gar wie Täter behandelt. Strafverfahren wie die gegen jene Neonazis, die bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 gezielt migrantische Menschen und politische Gegner angriffen und verletzt
haben, würden von der Justiz jahrelang verschleppt, bis Angeklagte untertauchen oder aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mit milden Strafen davonkommen. So begann in Chemnitz erst sechs Jahre nach der Tat der erste große Prozess wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Nur drei von ursprünglich neun Angeklagten erhielten überhaupt eine Geldbuße, woraufhin das Verfahren gegen sie eingestellt wurde. Ein weiterer Prozess begann erst im Mai 2025, sieben Jahre nach den Angriffen. Drei Männer wurden vom Vorwurf des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Das Verfahren gegen einen vierten Angeklagten wurde eingestellt.

Schluss mit Sonntagsreden

Seit Jahren wiederholen Innenminister wie Nancy Faeser (SPD) und nun auch Alexander Dobrindt (CSU), Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie. Doch in der Praxis werden Opfer alleingelassen und Täter verschont. Die Gefahr von rechts wird immer noch unterschätzt. Hinzu kommt, dass die Prävention durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine von Politik und Medien infrage gestellt und sogar delegitimiert wird. Anstatt diese Vereine und Bündnisse dauerhaft durch ein Demokratiefördergesetz abzusichern, wird die AfD Erzählung von einem angeblich schädlichen, linken Komplex von Nichtregierungsorganisationen (NGO) befeuert. „Die gefährliche Macht der angeblichen NGOs“, kommentierte etwa die Tageszeitung „Die Welt“. CDU/CSU haben im Bundestag mit 551 teils absurden Fragen zu NGOs Misstrauen gesät. 1.700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Kleine Anfrage der Union in einem offenen Brief scharf kritisiert und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie betont.

 

Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht

Regelmäßig stehen Beratungsstellen für Opfer rechter oder antisemitischer Gewalt sowie mobile Beratungsteams wegen ungeklärter Finanzierung vor dem Aus. Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht. Im Gegenteil sollen Fördermittel für zivilgesellschaftliche Projekte in Hotspots wie Sachsen sogar massiv gekürzt werden, so die Pläne der CDU/SPD-Minderheitsregierung.

 

Nach dem mörderischen NSU-Terror haben Untersuchungsausschüsse wichtige Reformen angemahnt, von denen einige dann auch umgesetzt wurden. So wurde zum Beispiel die Strafzumessung in der Strafprozessordnung so geändert, dass etwa rassistische Tatmotive strafverschärfend berücksichtigt werden können. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios gibt es keinen Grund zur Entwarnung. „Wir sehen einen föderalen Flickenteppich. Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, sagt Heike Kleffner vom VBRG. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. „Da werden Ermittlungsverfahren zügig zu Ende geführt, angeklagt und dann
auch vor Gericht terminiert.“ Auch die Berliner Justiz handelt bei den aktuellen Angriffen junger Neonazi-Gruppen entschlossen und stellt, wie in dem Fall des Angriffs auf die SPD-Wahlhelfer in Lichtenberg, vor Gericht ausdrücklich rechtsextreme Tatmotive fest.

„Andererseits ist in Sachsen seit dem NSU-Komplex gar nichts passiert“, kritisiert Kleffner. So würden Strafverfahren wie jene in Chemnitz weiterhin verschleppt. Auch in NRW seien „jahrelang keine Konsequenzen aus den Versäumnissen und Fehlern im NSU-Komplex gezogen worden“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor Jahren bei einer Gedenkveranstaltung mit den Angehörigen des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau von einer „Bringschuld des Staates“ gegenüber den Angehörigen der Opfer rechter Gewalt gesprochen. Dieses Versprechen ist nicht eingelöst. Der VBRG fordert angesichts der dramatischen Lage einen nationalen Aktionsplan
zur effektiveren Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Wie notwendig das ist, zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen.

Im März 2024 stirbt bei einem verheerenden Brandanschlag in einem Solinger Mehrfamilienhaus eine vierköpfige Familie: die 28-jährige Mutter, der 29-jährige Vater, die fast dreijährige Tochter und ein fünf Monate alter Säugling. Die Opfer, die einer türkischen Minderheit in Bulgarien angehören, waren erst seit einigen Monaten in Deutschland. Insgesamt werden bei dem Anschlag 21 Menschen teils schwer verletzt, darunter ein junges Paar, das mit seinem Baby in Panik aus dem dritten Stock springt, um sich zu retten. Die Familie überlebt mit schweren Brand- und Bruchverletzungen. Vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Wuppertal hat der zur Tatzeit 39-jährige Angeklagte Daniel S. von seinen Anwälten ein Geständnis verlesen lassen. Die Täterschaft scheint also geklärt. Aber was war das Motiv? Schnell teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit, es gebe keine Hinweise auf ein rechtsextremes Tatmotiv. Die Behörden gehen von persönlichen Beweggründen aus.

2025

Chemnitz. Ebenfalls in Chemnitz skandieren Jugendliche und junge Erwachsene am 29. Mai rechte Parolen und zeigen den „Hitlergruß“. Ein junger Mann feuert einen Schuss aus einer Schreckschusspistole ab.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die in dem Mordprozess als Nebenklagevertreterin auftritt, erhebt schwere Vorwürfe. Ihr zufolge wurden eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv von den Ermittlern weder gesichtet noch gesichert. So sei erst ein Jahr nach dem Brand bekannt geworden, dass bei der Durchsuchung des Wohnhauses des Angeklagten eindeutiges politisches Material gefunden wurde, darunter Adolf Hitlers Schrift „Mein Kampf“ und Tonaufnahmen von Hitler-Reden. Die umfangreiche Nazi-Propaganda landete nicht in der Ermittlungsakte. Bei der Hausdurchsuchung hatte die Lebensgefährtin des Beschuldigten behauptet, das Material gehöre dessen Vater. Damit gaben sich die Ermittler offenbar zufrieden. Im Prozess erklärte der Richter, dass plötzlich ein Aktenvermerk der Polizei aufgetaucht sei, wonach der Brandanschlag kurz nach der Tat sehr wohl als rechts motivierte Straftat eingestuft worden war. Die Einstufung sei jedoch nachträglich von einem Beamten gestrichen worden.

Die Nebenklage erwirkte vor Gericht umfangreiche Nachermittlungen, auf ihr Drängen wurden zahlreiche Datenträger ausgewertet. Auf einer Festplatte waren 166 Dateien, „die eindeutig antisemitisch, rassistisch und menschenverachtend sind“, so die Anwältin. Den Ermittlern zufolge gehört die Festplatte der Lebensgefährtin. Başay-Yıldız kritisiert: „Es gab keine Ermittlungen zum Umfeld des Täters.“ Auch belastendes Material aus der Garage des Angeklagten wurde nicht ausgewertet. „An der Wand befand sich ein Gedicht über einen Asylsuchenden, welches den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt“, sagt Başay-Yıldız. Das sei jedoch erst im Prozess durch Vergrößerung eines Fotos entdeckt worden.

Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt

Vor über 30 Jahren, im Mai 1993, wurden bei einem rechten Brandanschlag in Solingen fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen ermordet. Der Anschlag erschütterte das Land. Die Ermittlungen in dem aktuellen Fall erwecken den Anschein, als solle Solingen nicht erneut zum Synonym für einen mörderischen rechtsradikalen Anschlag werden. Im August wurde der Angeklagte wegen vierfachen Mordes und vielfachen Mordversuchs zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest, jedoch kein rassistisches Motiv, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft. Diese begründete ihre Sicht unter anderem damit, dass der Täter keinen Kontakt zu rechten Gruppen gehabt habe.

Der Fall ist alarmierend. Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch – und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt – trotz NSU-Komplex, immer neuen Fällen von Rechtsterrorismus und Rekordzahlen rechter Straf- und Gewalttaten. Alles steht und fällt mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme.

Transparenzhinweis:
Auch der WEISSE RING ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Der Verein erhält keine staatlichen Mittel. Der WEISSE RING finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen.

Helfer in extremen Lagen

Erstellt am: Freitag, 19. September 2025 von Sabine

Helfer in extremen Lagen

Die Messerattacke am Hauptbahnhof, die Schüsse bei den Zeugen Jehovas – der Hamburger Landesverband war zuletzt mehrfach besonders intensiv gefordert, aber mit Kristina Erichsen-Kruse, Werner Springer und ihrem Team gut vorbereitet.

HH Hauptbahnhof

Nach den Gewalttaten am Hauptbahnhof hat Hamburg die Videoüberwachung ausgebaut.

An Gleis 13 und 14 des Hamburger Hauptbahnhofs herrscht an einem späten Freitagabend im Sommer, an dem es immer noch schwülwarm ist, wie so oft Gedränge. Kurz bevor der Zug einfährt, wollen die Wartenden sich gute Plätze am Bahnsteig sichern. Im Bahnhof und um ihn herum erinnert fast nichts an die Attacke im Mai. Auffällig sind aber doch die neuen, KI-gestützten Überwachungskameras
und die Sicherheitskräfte, die präsenter sind als sonst und wieder einen Kontrollgang machen. Und dann ist da noch dieses mulmige Gefühl: „Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass
so etwas wieder passieren könnte“, sagt ein Reisender. Am 23. Mai dieses Jahres stach hier eine 39-Jährige, die kurz zuvor aus einer Psychiatrie entlassen worden war, auf 15 Menschen ein. Vier von ihnen
schwebten zeitweise in Lebensgefahr.

Es braucht mehr Psychologen mit Kassenzulassung

Kristina Erichsen-Kruse setzt sich seit Jahrzehnten für den WEISSEN RING ein, sie ist Vize-Landesvorsitzende, Koordinatorin für sogenannte Großereignisse und in Hamburg bestens vernetzt. An jenem Abend bekam sie früh die ersten Informationen. „Im ersten Moment dachte ich: Wieder eine Tat durch einen psychisch erkrankten Menschen, der offenbar in eine Klinik gehört hätte“, erinnert sie sich. Als frühere langjährige Leiterin des Maßregelvollzugs der Stadt weiß sie aber, wie komplex solche Fälle sind. Erichsen-Kruse konzentrierte sich darauf, die ersten helfenden Schritte einzuleiten: „Wir haben einen sehr guten Hamburger Leitfaden erarbeitet, der für die dann einzusetzenden Kolleginnen und Kollegen sehr hilfreich ist. Ich habe die wichtigsten Schritte verinnerlicht. Dann geht das sehr schnell.“ So benachrichtigte sie die Landesvorsitzende Monika Schorn, bereitete die Außenstellen auf Opferanfragen vor, blieb mit allen Beteiligten in ständigem Austausch, etwa mit dem Büro des Opferbeauftragten und der Polizei.

Kristina Erichsen-Kruse

Als einstige Leiterin des Hamburger Maßregelvollzugs musste Erichsen- Kruse oft in kurzer Zeit schwierige Entscheidungen treffen.

Erichsen-Kruse hat an einem Tisch im Landesbüro Platz genommen, bietet Kaffee und Kekse an. Hinter ihr hängt ein zweiteiliges Kunstwerk, gestaltet von einer Mutter, die ihre Tochter durch eine
Gewalttat verloren hat. Links steht: „O – Ohnmacht, P – Pein, F – Furcht, E – Einsamkeit, R – Ratlosigkeit“. Rechts: „O – Optimismus, P – Präsenz, F – Freunde, E – Engagement, R – Regeneration“.

Zu dieser Entwicklung möchten Erichsen-Kruse und die anderen Ehrenamtlichen beitragen – auch nach besonders schweren Verbrechen, von denen viele Menschen betroffen sind. Die Hamburgerin
mit dem scharfen Verstand scheint kaum etwas aus der Ruhe zu bringen. Das hängt auch mit ihrem Berufsleben zusammen, wo sie mit Menschen zu tun hatte, die schwerste Gewalttaten begangen
hatten, und sie innerhalb kurzer Zeit Entscheidungen treffen musste.

Nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 hat der WEISSE RING ein Konzept für sogenannte Großereignisse entwickelt. Darin wird beispielsweise festgelegt, wann es sich um ein solches Ereignis handelt und was zu tun ist. Ein Großereignis wird unter anderem als Situation definiert, „die durch eine große Anzahl von Verletzten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen einen Betreuungsbedarf verursacht, der die Kapazität der zugehörigen Außenstelle übersteigt“. Eine Konsequenz ist eine größere Unterstützung durch die Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Das Opferreferat  kann dann zum Beispiel Unterlagen zentral bearbeiten, das Team Medien & Recherche die Öffentlichkeitsarbeit koordinieren. Außerdem wird öffentlich kommuniziert, dass der WEISSE RING für die Opfer da ist und wie man ihn erreichen kann.

"Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“

Kristina Erichsen-Kruse

Kristina Erichsen-Kruse legt großen Wert auf die persönliche Begegnung; die aufsuchende Arbeit sei die Seele des WEISSEN RINGS. Als Koordinatorin in Extremlagen ist jedoch in erster Linie Telefonieren angesagt, was sie auch gerne tut: „Die ständige Erreichbarkeit empfinde ich nicht als Problem. Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“

Nach der Messerattacke sorgte sie mit ihrem Team etwa dafür, dass Opfer eine Traumatherapie, Geld für Fahrten und nicht zuletzt im Gespräch das Gefühl bekamen, „dass sie nicht alleine sind, nichts alleine bewältigen müssen, sondern uns jederzeit anrufen und Rat bekommen können.“ Im direkten Kontakt sei ihr bewusst geworden, dass es Angehörigen emotional manchmal schlechter gehe als unmittelbar Betroffenen – so wie einer Frau, die mitansehen musste, wie ihre Mutter niedergestochen wurde.

Erichsen-Kruse hebt hervor, dass der WEISSE RING in Hamburg ein sehr gutes Team habe, natürlich auch für Großereignisse. Das sei in diesen Fällen entscheidend: „Wir haben hier einen Pool von kompetenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die viel Erfahrung gesammelt haben.“ Sie fügt hinzu, dass man aus Großereignissen Erkenntnisse für die Opferhilfe ziehen könne. Lücken könnten dadurch sichtbar werden. Der Stadtstaat Hamburg sei insgesamt gut aufgestellt, es brauche aber mehr Psychologen mit Kassenzulassung, zumindest in den etwas abgelegenen Stadtteilen.

Werner Springer

Werner Springer schätzt die Möglichkeit der Supervision, um seine Einsätze als Opferbetreuer zu reflektieren.

Der Landesverband Hamburg war in den vergangenen Jahren mehrfach besonders stark gefordert. Am Abend des 9. März 2023 eröffnete ein 35-Jähriger im Königreichssaal der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf das Feuer. Bevor das frühere Mitglied der Gemeinde sich selbst erschoss, ermordete er sieben Menschen, darunter ein ungeborenes Kind. Am Tatort, einem schmucklosen Gebäude mit
Flachdach an einer viel befahrenen Straße, sieht heute alles so aus wie vor den tödlichen Schüssen. Keine Gedenkstätte, kein Schild, keine Bilder, keine Blumen. Die Zeugen Jehovas sind umgezogen.

Ein Jahr vor der Amoktat bei den Zeugen Jehovas hatte der Landesverband, als Ergänzung zum bundesweiten Konzept, einen Hamburger Leitfaden für Großereignisse formuliert. Auch hier sind Aufgaben geregelt und die zuständigen Leute beim WEISSEN RING sowie bei den Netzwerkpartnern mit Kontaktmöglichkeiten benannt. Wer zuerst von dem Ereignis erfährt, „informiert unverzüglich alle anderen Ansprechpartner/innen innerhalb des Landesverbandes“, steht darin. Oder: Die bestmögliche Versorgung der Betroffenen erfordere eine „einvernehmliche, ressourcenorientierte und
vernetzte Kooperation“ aller Beteiligten in der Opferhilfe. Zur Nachsorge heißt es, dazu zähle „die proaktive Frage nach Therapiebedarf sowie Unterstützung bei Vermittlung an eine/n Therapeut/in“.

„Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen.“

Werner Springer

Werner Springer, der seit 2010 für den WEISSEN RING aktiv ist, engagiert sich ebenfalls als Koordinator für Großereignisse und hat nach der Tat bei den Zeugen Jehovas auch Betroffene betreut. Wie Erichsen-Kruse hat er die Besonnenheit, die es dafür braucht. Von der Amoktat erfuhr er beim Fernsehen. „Da blieb einem natürlich erst mal das Herz stehen“, blickt er zurück und spricht dabei ruhig, mit Bedacht und leichtem Hamburger Einschlag. Springer war jahrzehntelang Polizist und unter anderem auf St. Pauli und als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft.

Springer war jahrzehntelang Polizist und auf St. Pauli sowie als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft

Kurz nach dem Tatabend saß er an einem Runden Tisch, mit Polizei, Versorgungsamt, Staatsanwaltschaft, Psychotherapeutenkammer, einem Pressesprecher der Zeugen Jehovas und anderen. „Die Kernfragen waren: Wie ist die Lage? Welche Opfer sind bekannt, was brauchen sie jetzt? Ich habe unsere Hilfsmöglichkeiten vorgestellt. Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen, hauptsächlich durch meine Kollegin Cornelia Haverkampf und mich“, sagt der Leiter zweier Außenstellen. Vor den Treffen erkundigten sie sich über die Anschauungen und Rituale der Zeugen Jehovas.

Alsterdorf Hamburg

Am Tatort in Alsterdorf erinnert heute nichts an das tödliche Attentat auf die Zeugen Jehovas.

Manches irritierte sie dennoch. Etwa, dass Vertreter der Glaubensgruppe ihre Beratungsgespräche genau protokollierten, oder dass die Betroffenen sehr sachlich über das Attentat sprachen. Doch Springer und Haverkampf hatten ein wichtiges Prinzip des WEISSEN RINGS im Blick: „Wir helfen allen Betroffenen, individuell, unabhängig von Herkunft, Religion und anderen Dingen, und akzeptieren ihre Bedürfnisse“, so Springer.

Eine Hilfe sei der Leitfaden für Großereignisse gewesen: „Man weiß vorher nicht, ob so etwas wirklich funktioniert. Aber das tat es. Die Hinweise und Informationen gaben uns Sicherheit.“

Die Ehrenamtlichen kümmerten sich bei den Zeugen Jehovas etwa darum, dass die Opfer finanzielle Unterstützung bekamen, erklärten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Weil in der Rechtsmedizin nicht genug Platz war, organisierten und finanzierten sie das Abschiednehmen im Großhamburger Bestattungsinstitut. Später finanzierte der WEISSE RING an Silvester einen Kurzurlaub in Dänemark, wo kein Knall zu hören ist. Solche Geräusche hätten die Betroffenen retraumatisiert. Insgesamt wurden 35 Menschen betreut.

Wichtig ist den Hamburger Ehrenamtlichen die Möglichkeit zur Supervision, die auch Werner Springer genutzt hat: „Das hat mir geholfen, alles besser zu verarbeiten, auch weil ich den Umgang der Zeugen Jehovas mit dem Tod besser verstand. Ihrer Ansicht nach wird Jehova irgendwann die Macht übernehmen und es kommt zur Auferstehung.“

Erichsen-Kruse und Springer werden Betroffenen weiter zur Seite stehen. Sie hoffen, dass die jüngsten „großen Ereignisse“ die letzten bleiben. Sollte es anders kommen, sind sie vorbereitet. Für den Fall appelliert Springer an Medien und Öffentlichkeit: „Nach solchen Taten geht es oft nur um den Täter. Schaut auf die Betroffenen. Schaut auf die Betroffenen!“

Geflüchtet & traumatisiert

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Selina

Geflüchtet & traumatisiert

Nach der tödlichen Messerattacke eines psychisch kranken Geflüchteten in Aschaffenburg flammt erneut die Debatte über psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden auf. Sind traumatisierte Geflüchtete tatsächlich gefährlich? Und wie gut ist ihre Versorgung? Das WEISSER RING Magazin geht diesen Fragen auf den Grund.

Ein migrantischer Junge schaut in ein zerbrochenes Glas.

Seit ein psychisch kranker Asylbewerber am 22. Januar 2025 in Aschaffenburg zwei Menschen mit einem Messer tötete, gibt es in Deutschland wieder eine öffentliche Diskussion über mögliche Gefahren durch traumatisierte Geflüchtete – so wie auch schon nach der Gewalttat von Würzburg im Jahr 2021.

Sind Menschen mit Fluchterfahrung tatsächlich häufiger psychisch schwer belastet als andere? Macht sie das gefährlicher? Wie steht es um die medizinische Versorgung von Geflüchteten? Das WEISSER RING Magazin hat sich in Studien, Statistiken und bei Experten auf Antwortsuche begeben.

Jung, geflüchtet und psychisch krank

87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Das ergab 2019 eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Forschungszentrums des BAMF und des Sozioökonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Eine Auswertung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health aus dem Jahr 2020 zeigt: Rund 30 Prozent der Geflüchteten weltweit haben eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Untersuchung beruht auf Studien aus 15 Ländern, darunter auch Deutschland.

"Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind, aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“

Thomas Hillecke

Zum Vergleich: In der deutschen Bevölkerung liegt der Wert bei 1,5 bis zwei Prozent laut dem Robert Koch-Institut. Geflüchtete in Deutschland haben damit ein 15- bis 20-fach höheres Risiko, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, als Menschen aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung.

Soweit die Zahlen. Aber macht ein höheres Risiko einer Belastungsstörung einen Menschen auch gewaltbereiter?

Thomas Hillecke ist wissenschaftlicher Leiter bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. und Professor für klinische Psychologie. Er verweist im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS auf eine falsche Wahrnehmung: „Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind – aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“ Und so sei es auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte.

„Gewalttätigkeit hängt nicht von Flucht ab“, stellt Hillecke klar. Er hat im Rahmen seiner Arbeit viel mit Geflüchteten zu tun, die eine psychische Erkrankung aufgrund von traumatisierenden Erlebnissen entwickelt hätten. „Faktoren wie jung und männlich spielen bei der Gewaltbereitschaft eine Rolle“, sagt der Psychologe.

Viele Geflüchtete seien minderjährig und männlich. Dazu kämen Rassismus-Erfahrungen, die viele Geflüchtete erleiden. „Es
besteht dadurch die Gefahr der Ausgrenzung sowie der Verbitterung. Das Realempfinden ist, nirgendwo anzukommen, man ist einsam und sieht keinen Weg des Weiterkommens im Leben“, sagt er. Dies begünstige in seltenen Fällen eine Radikalisierung oder eine psychische Erkrankung. Das mache Geflüchtete aber nicht zu „Gefährdern“. Der Psychologe erklärt, dass sie selbst häufiger Opfer von Gewalt würden als zu Tätern. Ein Umstand, den die Psychologin Anikó Zeisler im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS ebenso erwähnt. „Studien zeigen anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass 99,4 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer*innen nicht wegen Gewaltstraftaten registriert sind“, sagt Zeisler. Sie arbeitet bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (Baff).

Eine Frage der Prävention

Wenn aber Geflüchtete überdurchschnittlich häufig psychische Belastungen aufweisen – wie steht es dann um ihre medizinische Versorgung? Wäre das nicht Opferschutz, ja Prävention, wenn sie ausreichende Hilfsangebote und Behandlungen bekämen? Ein wichtiger Faktor, der in der Debatte oft übersehen werde, sagt Zeisler.

Studien zeigen, dass eine gut abgestimmte psychiatrische Versorgung Eskalationen bei Fremdgefährdung vorbeugen kann – insbesondere, wenn individuelle Risikofaktoren frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Geflüchtete sind oft Belastungen ausgesetzt, die ihre seelische Gesundheit langfristig verschlechtern können.

Allein die Lebensumstände in vielen Unterkünften sind prekär. Sieben Doppelstockbetten, dicht an dicht, ein Leben auf wenigen Quadratmetern, kaum Lärmschutz, Privatsphäre und soziale Betreuung, in einer Art Zeltdorf mit insgesamt etwa 7000 Plätzen und Konflikten, Übergriffen gegen Frauen und Nervenzusammenbrüchen: Über das Berliner „Ankunftszentrum Tegel“ gab es schon viele negative Berichte, wobei das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Kritik zurückwies. Ähnlich wie die verantwortlichen Behörden in anderen Orten. Doch die Missstände und Folgen sind offensichtlich. Forscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nannten etwa die beengten Wohnverhältnisse, über Monate, teils Jahre hinweg, sowie die schwierige Lebenssituation, etwa aufgrund des unsicheren Aufenthalts, als Gründe für eine schlechte psychische Gesundheit und Häufung von Gewaltdelikten in manchen Gemeinschaftsunterkünften.

Ein migrantischer Junge schaut in einen zerbrochenen Spiegel.

Vor allem junge Männer flüchten aus ihrem Heimatland vor Krieg und Gewalt nach Deutschland. Hier möchten sie ein neues Leben aufbauen und ihre Familie nachholen. Viele von ihnen werden Opfer von Rassismus. Diese und weitere Faktoren können psychische Erkrankungen fördern.

Durch den jetzigen Versorgungsstand würden Betroffene ständig durch das Raster fallen. Zeisler hat in der Vergangenheit als Psychologin in den zuständigen psychosozialen Zentren (PSZ) gearbeitet. Sie selbst habe häufig Folgendes erlebt: „Wir haben den Notarzt gerufen und die Klienten ins Krankenhaus gebracht – sie wurden gleich wieder entlassen.“

Für die Behandlung mit Medikamenten sind die Zentren auf psychiatrische Krankenhäuser und Fachärzte angewiesen. Da die Kosten aber nur begrenzt über das Asylbewerberleistungsgesetz abgerechnet werden können, haben Geflüchtete oft keinen Zugang zu dieser notwendigen Versorgung.

Ein Fakten-Check zur Versorgung

Um die Versorgung genauer zu verstehen, müssen Gesetze und Zahlen betrachtet werden: Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt nach Paragraf 4 und 6, wer Anspruch auf eine psychologische Versorgung hat. „Laut dem Gesetz dürfen in den ersten 36 Monaten nur Notfälle behandelt werden“, sagt Zeisler. Dazu komme noch, dass die Kostenübernahme von Sprachmittlern nicht geregelt sei.

Die psychosozialen Zentren würden versuchen, den Bedarf an Begleitung und Versorgung durch psychotherapeutische Angebote, psychosoziale Beratungen sowie Gruppenangebote zu decken. Die Versorgung bleibe trotz allem unzureichend. Gründe seien das überlastete Gesundheitssystem, die Hürden beim Zugang zur Regelversorgung und das Asylbewerberleistungsgesetz.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern.“

Anikó Zeisler

Zeisler gibt an, dass die Baff in den psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner 2022 nur 3,1 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs decken konnten. Die Studie „Psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden in Deutschland – Versorgungslücke und Versorgungsbarrieren“ von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat 2020 ergeben, dass 59 Prozent der insgesamt 214 untersuchten Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften Symptome einer psychischen Erkrankung hatten. Doch in den Abrechnungsdaten der Sozialbehörden fand sich nur ein Anteil von 4,9 Prozent, der tatsächlich mit einer entsprechenden Diagnose das Gesundheitssystem kontaktierte.

Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Baff
errechnete Versorgungsquote bei Geflüchteten von
3,1 Prozent ergibt sich aus den folgenden Daten:

3.087.650

geflüchtete Menschen leben in Deutschland.

923.595

geflüchtete Menschen haben eine Traumafolgestörung.

25.861

geflüchtete Menschen waren in psychosozialen Zentren.

2.803

Vermittlungen gab es an weitere Akteure.

Was sich ändern muss

Eine gute psychiatrische sowie psychotherapeutische Anbindung könne einen Beitrag dazu leisten, eine mögliche Fremdgefährdung zu reduzieren, erklären die beiden Experten im Gespräch immer wieder. Um dies zu gewährleisten, brauche es neben einem Zugang zum Gesundheitssystem eine dauerhafte, sichere Förderung der psychosozialen Zentren. Aktuell erhalte die Baff nur für jeweils ein Jahr befristet Fördermittel und müsse jährlich planen, welche psychologischen Angebote sie noch anbieten könnten. Auch BIOS bekomme keine dauerhafte Finanzierung.

Die zuständigen Ministerien der Bundesländer verweisen auf Anfrage des WEISSER RING Magazins auf psychosoziale Zentren als zentrale Anlaufstellen für die Versorgung Geflüchteter. Teilweise gibt es psychologisch geschultes Personal in den Unterkünften. Nordrhein-Westfalen plant darüber hinaus ein Präventionspaket von jährlich 18 Millionen Euro. Meist beziehen sich die Angebote auf Menschen mit laufendem Asylverfahren – für Neuangekommene fehlt oft psychologische Unterstützung. In Berlin hingegen erfolgt ein psychiatrisches Screening bereits bei der Erstuntersuchung; auch Dolmetscher-Leistungen sollen dort flächendeckend finanziert werden.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern“, sagt Zeisler. Die Migrationsforschung zeige, dass dies auf lange Sicht nicht effektiv sei und Fluchtbewegungen immer stattfinden werden. Nachhaltiger sei es, die vorhandenen Ressourcen in die Integration und Versorgung von Geflüchteten zu stecken. „Die Integration wird zu stockend vorangetrieben. Die Menschen müssen schneller ins Arbeiten kommen, Stabilität und Struktur bekommen“, sagt Thomas Hillecke von BIOS.

Und er hat einen Wunsch: Die Gesellschaft müsse den zwischenmenschlichen Umgang ändern. Weniger Ausgrenzung, mehr Miteinander.

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Gregor

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Ein Rassist mit einer paranoiden Schizophrenie ermordete Serpil Temiz Unvars Sohn Ferhat. Sie ist vom ebenfalls psychisch auffälligen Vater des Täters immer wieder gestalkt worden.

Serpil Unvar: Ihr Sohn wurde am 19. Februar von einem Rassisten in Hanau ermordet.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau den Sohn von Serpil Unvar aus rassistischen Motiven.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit mein 22-jähriger Sohn von einem Rassisten erschossen wurde. Einen größeren Schmerz gibt es nicht, er wird nie weggehen. Aber ich fühle, dass Ferhat noch da ist. Es ist, als würde ich weiter mit ihm in unserem Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt leben. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Spuren hinterlassen. Weil ich Ferhat sonst verlassen würde, werde ich auf keinen Fall wegziehen. Obwohl der Vater des Attentäters, der wie sein Sohn rassistisch und psychisch auffällig ist, in der Nähe wohnt. Lange hat er mir nachgestellt und Briefe geschickt, in denen er eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb.

Er stand vor meinem Fenster, verstieß gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot. Sein Psychoterror hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine alleinerziehende, starke Frau bin, die in die Öffentlichkeit geht. In letzter Zeit ist es recht ruhig, doch ich gehe davon aus, dass er uns weiter Angst machen will.

In einem Sammelverfahren wurde er 2024 wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung und anderen Delikten zu einer Geldstrafe von gut 20.000 Euro verurteilt. Mein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Urteil ist nicht hart genug.

Der Anschlag

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau an zwei Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Laut dem forensischen Gutachten von Professor Henning Saß war der Attentäter paranoid-schizophren und rechtsextrem. Der Vater des Täters hat Anfragen bisher nicht beantwortet. In früheren Stellungnahmen wies er alle Vorwürfe zurück und stellte sich und seine Familie als unschuldige Opfer dar. Er tue niemandem etwas Böses. Und für die Morde – auch an seiner Frau und an seinem Sohn – sei eine weltweite Geheimorganisation verantwortlich.

Was muss noch alles passieren? Diese Frage stelle ich nicht nur für mich selbst. Vor allem Frauen werden oft massiv bedroht, etwa vom Ex-Partner, aber die notwendigen Konsequenzen bleiben aus. Trotz Warnsignalen. Diese gab es auch beim Attentäter von Hanau. Er schrieb zum Beispiel Briefe mit Verschwörungstheorien an Behörden, war mal in die Psychiatrie eingewiesen worden – und durfte legal Waffen besitzen. Wir müssen die Prävention verbessern, um solche Taten zu verhindern. Besonders wichtig ist das Waffenrecht. Waffen dürfen nicht in die Hände von Extremisten oder psychisch Kranken gelangen. Alle für Sicherheit zuständigen Stellen sollten Warnzeichen besser erkennen.

Wenige Monate nach dem Mord an meinem Sohn habe ich die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet. Wir haben 45 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die an Schulen Workshops gegen Diskriminierung geben, deutschlandweit. Bald werden wir auch in Grundschulen unterwegs sein. Den Wunsch hatte mein jüngster Sohn, der auch Vorschläge für das Konzept macht.

„Sein Psychoterror gegen mich hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Serpil Temiz Unvar

Ende 2024 haben wir in Hanau eine internationale Konferenz mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Für das Leben“ veranstaltet, inspiriert von Ferhats Worten: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Wir haben mit Betroffenen über Hassverbrechen – antisemitische, islamistische, rechtsextremistische – und Strategien dagegen diskutiert. Alle haben die gleichen Schmerzen; im Endeffekt sind alle Opfer von Menschenfeindlichkeit. Wir müssen gemeinsam dagegen kämpfen. Überlebende und Hinterbliebene aus Utøya waren auch da. Sie haben bei der Prävention den Fokus früh auf Bildung gelegt und neben einem Museum durchgesetzt, dass der Anschlag in Norwegen Teil des Lehrplans ist.

Manchmal bin ich müde und traurig – auch wegen der aktuellen Krisen und rechten Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Aber aufzuhören oder aufzugeben ist keine Option, wir müssen zusammen und dagegenhalten. Ich glaube an das Gute im Menschen und die Möglichkeit zur positiven Veränderung. Was mir – neben Ferhat – Mut macht und mich antreibt, sind die jungen Menschen, die sich bei uns engagieren.

Transparenzhinweis:
Serpil Unvar wurde zeitweise vom WEISSEN RING unterstützt, unter anderem mit einer finanziellen Soforthilfe.

„Zu sehen, wie unsere Tochter läuft, spielt und lacht, hilft uns“

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Gregor

„Zu sehen, wie unsere Tochter läuft, spielt und lacht, hilft uns“

Der Vater des Kleinkindes, das bei der Messerattacke von Aschaffenburg schwer verletzt wurde, spricht im Exklusiv-Interview mit dem WEISSER RING Magazin über die schwere Zeit nach der Tat, die Debatte darüber und Lichtblicke, die ihm Zuversicht geben.

Messerattacke von Aschaffenburg: Menschen haben am Tatort Kuscheltiere und Blumen hingelegt.

Messerattacke von Aschaffenburg: Dutzende Kuscheltiere wurden zum Gedenken an die Opfer am Tatort niedergelegt.

Das zweijährige Mädchen saß in einem Bollerwagen im Aschaffenburger Park Schöntal, als der Angreifer, ein Geflüchteter aus Afghanistan, kam. Es überlebte schwerverletzt. Ein zweijähriger Junge und ein 41-jähriger Mann, der helfend eingeschritten war, wurden getötet. Vier Monate nach der Tat hat sich der Vater des Mädchens, der 2013 aus Syrien nach Deutschland flüchtete, zu einem Interview bereiterklärt. Er antwortet ruhig und reflektiert, ohne Wut.

Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie heute, fast vier Monate nach dem Attentat von Aschaffenburg?

Was passiert ist, kommt immer wieder hoch. Als wir an dem Tag erfahren hatten, dass unsere Tochter attackiert wurde, war das ein Schock. Wir haben nur noch an sie gedacht und eine unfassbare Angst gehabt. Zu erfahren, dass sie überlebt, war eine riesige Erleichterung. Ich bin psychisch relativ stabil, während es meiner Frau nicht so gut geht. Sie ist schwanger und macht sich Sorgen. Es geht emotional hoch und runter, aber wir werden medizinisch und psychologisch sehr gut betreut.

Wie geht es der Kleinen?

Kinder können solche Ereignisse manchmal schneller verarbeiten als Erwachsene. Unsere Tochter hatte am Anfang Angst und konnte nicht schlafen. Jetzt ist sie manchmal etwas zornig, was mit dem Angriff zusammenhängen könnte. Aber insgesamt geht es ihr gut, auch körperlich ist sie fit. Sie hat Energie, spielt wieder, auch mit anderen Kindern, und geht in die Krippe, allerdings in eine andere, damit sie weniger an die Tat erinnert wird. Bei dem Wechsel hat uns Oberbürgermeister Jürgen Herzing geholfen. Wir gehen alle regelmäßig zur Therapie in die Trauma-Ambulanz, was uns hilft.

Was gibt Ihnen Kraft?

Es hilft uns, unsere Tochter anzuschauen. Zu sehen, wie sie läuft, wie sie spielt, wie sie lacht. Sie ist ein sehr aufgewecktes, lebhaftes Mädchen. Ich bin häufiger zu Hause und für meine Frau da. Um zu entspannen, gehen wir zum Beispiel spazieren, in der Stadt oder im Wald. Uns hilft auch die große Solidarität, die wir nach wie vor erleben. Nachbarn, Freunde, Bekannte und viele andere Menschen helfen uns. Sehr viele Leute sind nach der Tat zum stillen Gedenken gekommen, haben gespendet und viel Mitgefühl gezeigt. Wir fühlen uns sehr gut aufgehoben.

Wie versuchen Sie, mit dem Ereignis umzugehen?

Im Leben passiert viel Schönes, aber auch Schreckliches. Wir versuchen, nach vorne zu schauen, und sagen uns: Wenn wir nichts machen, uns zu Hause einsperren würden und Angst hätten, hätte der Täter gewonnen.

Den Kontakt zum Vater hat Rainer Buss, Vize-Leiter der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Aschaffenburg, hergestellt. Er unterstützt die Familie seit der Tat und hat für das Gespräch sein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt.

Ein 41-Jähriger hat sich dem Täter entgegengestellt und wurde ermordet. Was denken Sie über ihn?

Er ist immer in meinem Kopf. Der Mann kannte die Kinder nicht und hat trotzdem mutig eingegriffen und sie geschützt. Auch an den zweijährigen Jungen, der ermordet wurde, denke ich. Wenn ich meine Tochter in die Krippe gebracht oder dort abgeholt habe, habe ich ihn oft gesehen. Es tut mir sehr leid für alle Angehörigen. Für das, was sie durchmachen, gibt es keine Worte.

Schon kurz nach der Tat haben vor allem rechte Akteure und Parteien versucht, die Tat für ihre Zwecke zu benutzen und Ressentiments gegen Geflüchtete geschürt. Die AfD und ihr faschistischer Landeschef aus Thüringen, Björn Höcke, riefen zu einem Gedenken in Aschaffenburg auf. Was halten Sie davon?

Das war schrecklich. Ich bin in der Zeit im Krankenhaus geblieben und habe am Bett meiner Tochter um sie gebangt. Alles andere hat mich nicht interessiert, aber ich habe die Debatte mitbekommen. Dass Leute wie Höcke versuchen würden, die Tat auszunutzen, ihr „Geschäft“ damit zu machen, war zu erwarten. Es ist ganz einfach: Selbstverständlich gibt es Menschen unter Geflüchteten, die Gutes tun, und solche, die Schlechtes tun, genauso wie zum Beispiel unter Deutschen oder Afrikanern. Tragisch ist: Wir sind vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet, und dann werden wir hier Opfer einer grausamen Attacke. Doch so ein Verbrechen hätte uns auch woanders treffen können.

Kritiker sagen, die Tat hätte verhindert werden können. Der Attentäter war vorher schon oft auffällig und gewalttätig geworden.

Man ärgert sich natürlich darüber, auch weil der Täter als gefährlich bekannt war und Deutschland eigentlich hätte verlassen sollen. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Ich hoffe, dass der Angreifer nicht mehr freikommt.

„Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.“

Vater des angegriffenen Mädchens
Messerattacke von Aschaffenburg: Der Park Schöntal liegt mitten in Aschaffenburg. Nach dem Messerangriff entstand am Tatort eine provisorische Gedenkstätte.

Der Park Schöntal liegt mitten in Aschaffenburg. Nach dem Messerangriff entstand am Tatort eine provisorische Gedenkstätte.

Wurde Ihre Familie nach der Messerattacke immer gut unterstützt? Oder gab es auch Fehler oder Versäumnisse?

Nein, wir haben keine schlechten Erfahrungen gemacht. Von der Polizei über die Ärzte, den Oberbürgermeister bis zum WEISSEN RING – alle haben sich sehr gut um uns gekümmert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Markus Söder haben uns Briefe geschrieben. Wir können nur Danke sagen.

Sie haben Ihre eigene Fluchtgeschichte bereits angesprochen. Weshalb und wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Nachdem ich angefangen hatte, Literatur zu studieren, wurde die Lage in Syrien immer schlimmer. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Krieg und Armee oder Flucht. Ich war ein Jahr unterwegs, bin über die Türkei, Griechenland und Italien geflüchtet. Es war eine schwierige Zeit. In Deutschland, wo ich Ende 2013 ankam, habe ich erst in Baden-Württemberg gelebt und bin vor acht Jahren nach Aschaffenburg gezogen. Ich habe die Sprache gelernt, eine Ausbildung gemacht und schon in verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem als Dolmetscher für das Landratsamt. Mittlerweile habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit.

Warum haben Sie sich entschieden, in Aschaffenburg zu bleiben?

Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.

Was wünschen Sie sich für Ihre Familie für die Zukunft?

Wir wollen hier friedlich, sicher und gesund leben. Das ist das Wichtigste.

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Psyche & Gewalt

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Sabine

Psyche & Gewalt

Nach Messerattacken wie in Hamburg und Amokfahrten wie in Mannheim wird intensiv über Gewalt durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung diskutiert. Sind sie gefährlicher als andere? Falls ja: Wie lässt sich das Risiko senken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, bei Fachleuten aus der Wissenschaft, Betroffenen, Ministerien und in Statistiken.

Was sich nach Attentaten wie in Aschaffenburg, Mannheim und Hamburg ändern muss.

Kapitel 1: Aschaffenburg und Mannheim

Sie legen Kuscheltiere, Blumen und Kerzen nieder. Und Briefe, in denen sie Anteil nehmen. Viele der 3000 Menschen, die sich am Abend des 23.Januar in Aschaffenburg versammeln, sind schockiert, sprachlos und weinen. Ihre Kerzen tauchen den mitten in der Stadt gelegenen Park Schöntal an diesem Winterabend in ein warmes Licht. Manche der Trauernden appellieren auf Transparenten an den Zusammenhalt; es ist ein stilles Gedenken, das seinen Namen verdient. Während in der Bundesrepublik, kurz vor der Wahl, hitzig debattiert wird.

Am Tag zuvor, am Vormittag, hatte ein 28-Jähriger in dem Park ein Messer gezogen und eine Kindergartengruppe angegriffen. Er erstach ein Kleinkind und einen 41-Jährigen, der helfend einschritt. Drei weiteren Menschen, darunter einer Kindergärtnerin, die sich ihm entgegenstellte, fügte er schwere Verletzungen zu. Vorher war der ausreisepflichtige Asylbewerber aus Afghanistan mehrfach straffällig und psychisch auffällig geworden.

Psyche & Gewalt

Sind psychisch kranke Menschen gefährlicher als andere? Das WEISSER RING Magazin hat nach Antworten gesucht.

Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss an, das forensisch-psychiatrische Gutachten war aber abgeschlossen. Wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mitteilte, geht der Gutachter davon aus, dass dem Beschuldigten „infolge einer psychiatrischen Erkrankung die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gefehlt habe“. Und dass die Erkrankung nicht vorübergehend sei. Falls sie nicht doch geheilt wird, sei „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren, auch hochaggressiven Taten zu rechnen“. Daher deutete alles auf ein Sicherungsverfahren hin, mit dem Ziel, den Mann dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen.

Bereits vor der Attacke im Januar wurde gegen ihn ermittelt – wegen „tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung“. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben, aber ausgesetzt. Der Grund: Der Geflüchtete gab an, freiwillig ausreisen zu wollen. Voraussetzungen für einen Haftbefehl hätten nicht vorgelegen, so die Staatsanwaltschaft.

2018

Münster. Am 7. April 2018 lenkte ein 48-Jähriger in Münster einen Kleinbus in eine Menschenmenge am Kiepenkerl-Denkmal im Stadtzentrum. Vier Menschen starben, mehr als 20 erlitten teils schwere Verletzungen. Der deutsche Täter erschoss sich anschließend selbst. Der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt kannte Jens Alexander R. bereits. Laut Informationen von SZ, WDR und NDR war der Mann bei Polizeieinsätzen als nervenkrank aufgefallen.

Der Angreifer war zu dem Zeitpunkt schon zweimal polizeilich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, am 12. Mai 2024 und im August desselben Jahres. In beiden Fällen wurde der 28-Jährige nach kurzer Zeit entlassen, im letztgenannten Fall soll er in einer Flüchtlingsunterkunft eine Bewohnerin mit einem Messer attackiert haben. Dieser Vorfall sei ihr erst nach dem Attentat vom 23. Januar dieses Jahres bekannt geworden, schreibt die Staatsanwaltschaft. Hier ermittle sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Wenige Wochen nach dem Messerangriff von Aschaffenburg, am Mittag des dritten März, fährt ein 40-Jähriger in Mannheim mit einem Kleinwagen in eine Menschenmenge. Der Deutsche tötet eine 83-Jährige und einen 54-Jährigen und verletzt elf weitere Menschen teils schwer. Ein Taxifahrer mit pakistanischen Wurzeln stellt sich ihm mit seinem Auto in den Weg. Der Angreifer schießt mit seiner Schreckschusspistole und flieht. Als die Polizei ihn festnimmt, schießt er sich in den Mund, überlebt aber.

2019

Frankfurt. Im Juli 2019 stieß der 40-jährige Habte A. eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Der Sohn starb, die Mutter überlebte. Habte A. litt an paranoider Schizophrenie. Das Landgericht Frankfurt am Main ordnete wegen der Schuldunfähigkeit des Eritreers die Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim erklärte auf Anfrage, die Ermittlungen, unter anderem wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes, liefen. Deswegen könne sie weder zum Tatablauf noch zu Motiven nähere Angaben machen. Sie habe ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliege.

Kurz nach der Tat hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund oder mögliche Mittäter gesehen. Wenige Tage später veröffentlichte das Recherchenetzwerk Exif Hinweise darauf, dass der Verdächtige früher der Neonaziszene und der „Reichsbürger“- Bewegung angehört und rechtsradikale Ansichten geteilt haben soll. Im Jahr 2018 war der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er bei Facebook unter ein Foto von Hitler in einem Kommentar „Sieg Heil from Germany“ schrieb.

Bald nach der Amokfahrt vermuteten die Ermittler, dass ein psychischer Ausnahmezustand eine Rolle spielte. Der Fahrer soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, im Jahr vor der Tat auch stationär.

Die mutmaßlichen Täter haben sich laut den Staatsanwaltschaften nicht zu den Vorwürfen geäußert. Noch ist vieles unklar, doch eines haben die Attentate von Mannheim und Aschaffenburg gemeinsam: Die Beschuldigten hatten psychische Probleme, und es gab Warnsignale. Nach Fällen wie diesen werden immer wieder Fragen laut: Wie gefährlich sind psychisch kranke Menschen? Gibt es Schutzlücken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, mit dem Fokus auf eine bessere Prävention.

Kapitel 2: Wahn und Warnsignale

Henning Saß ist einer der erfahrensten forensischen Psychiater Deutschlands. Er hat in vielen aufsehenerregenden Fällen Gutachten erstellt, etwa beim rassistischen, psychisch kranken Attentäter von Hanau oder bei NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Das Haus des emeritierten Professors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule liegt auf einem Hügel und bietet einen guten Blick über Aachen. Saß, ein sportlich wirkender Mann Anfang 80, hat einige wissenschaftliche Aufsätze bereitgelegt und bietet etwas zu trinken an. Mit seiner ruhigen Stimme schafft er auch bei dem komplexen wie brisanten Thema eine entspannte Atmosphäre.

2020

Hanau. Am 19. Februar tötete der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nach seinen Angriffen auf Bars und einen Kiosk tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst. Gutachter Henning Saß sah beim Täter klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie.

Aufmerksam verfolgt der Psychiater, der schnell und präzise antwortet, die Diskussion nach Attentaten wie in Aschaffenburg und Mannheim. „Nach solchen Einzeltaten, die in die Schlagzeilen kommen, betrachte ich die Debatte mit großer Sorge, weil sie zu einer Diskriminierung der psychisch Kranken insgesamt führen kann“, sagt er. „Aussagen wie ,Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlicher‘ sind unsinnig.“ Man müsse differenzieren. Während die meisten Betroffenen nicht gewalttätig seien, bestehe bei bestimmten Krankheiten tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko, „und zwar in doppelter Hinsicht: Gewalt auszuüben und Opfer davon zu werden“. Das treffe insbesondere auf die schizophrenen Psychosen zu, aber etwa auch auf die dissoziale Persönlichkeitsstörung und die Substanzkonsumstörungen.

Die Rechtslage

Wenn bei psychisch kranken Menschen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden. Geregelt ist dies in den Psychisch-Kranken- beziehungsweise Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen der Bundesländer. Ziele seien Gefahrenabwehr und Hilfe für die Erkrankten. Eine Unterbringung – für die es eine ärztliche Einschätzung braucht – wird in der Regel vom Gesundheitsamt beantragt. Die Entscheidung fällt das Amtsgericht. Nur wenn es nicht schnell genug entscheiden kann, kommt eine „vorläufige Unterbringung wegen Gefahr im Verzug“ durch das Amt selbst infrage. Zudem kann eine Unterbringung nach einer Verurteilung oder einem Sicherungsverfahren beschlossen und im Maßregelvollzug vollstreckt werden. Gemäß § 63 Strafgesetzbuch ist dies bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, die zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und bei denen weiter erheblich rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Dauer ist nicht befristet, sondern von der Risikoeinschätzung abhängig, die mindestens einmal pro Jahr erfolgt. Laut § 64 StGB können Menschen mit Suchterkrankungen, die unter Drogeneinfluss oder infolge ihrer Abhängigkeit straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die Unterbringung ist in der Regel auf zwei Jahre befristet. Darüber hinaus können Polizeibehörden psychisch auffällige Personen bei Gefahr im Verzuge festhalten und einem Arzt oder Psychiater vorstellen.

Saß verweist unter anderem auf eine schwedische Studie zum Gewaltrisiko von Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Wissenschaftler betrachteten die Entwicklung von 250.000 Patientinnen und Patienten. Dafür werteten sie Register aus. Insgesamt hatten die Erkrankten demnach ein drei- bis viermal höheres Risiko, gewalttätig zu werden oder Gewalt zu erfahren. Bei einer akuten Schizophrenie kann der Faktor höher liegen. Eine andere Untersuchung fokussierte sich auf diese Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass zehn Prozent der männlichen Patienten eine Gewalttat begangen hatten.

Die psychische Erkrankung, betont der Professor, sei aber jeweils – neben Drogen, Alkohol, männlichem Geschlecht, Jugend und prekären sozialen Bedingungen – nur ein Risikofaktor. Und damit nur eine potenzielle Ursache für Gewalt.

Unsichere Lebensverhältnisse beträfen auch Geflüchtete: „Sie sind sozial und ökonomisch entwurzelt, haben oft keinen Kontakt zu ihrer Familie und wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Das kann sie psychisch labilisieren und anfällig für extremistische Gedanken machen.“

„Am Ende bleibt die Unsicherheit“

Ein Mann schlägt eine Frau brutal zusammen. Er gilt als schuldunfähig. Während die Betroffene um psychologische Hilfe kämpfen muss, bekommt der Täter sofort eine Behandlung.

Ich war auf dem Weg zu meinem Mieter. Als ich das Wohnhaus betrat, kam mir ein Mann entgegen. „Guten Tag“, mehr habe ich nicht zu ihm gesagt. Er fragte, ob ich hier wohne, und ich antwortete, dass ich hier eine Wohnung habe. Er schrie mir hinterher: „Wohnst du hier?“ Dann packte er mich an den Haaren, zog mich die Treppe hinunter und prügelte auf mich ein. Ich kannte den Mann nicht, war ihm nie zuvor begegnet.

Es stellte sich heraus, dass er paranoide Schizophrenie hat. Mir war es wichtig, dass er weggesperrt wird, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie hochgradig gefährlich er ist. Das Gericht war der Meinung, er sei schuldunfähig, und steckte ihn in eine forensische Klinik. Es wertete die Tat als schwere Körperverletzung, aber für mich war es versuchter Mord. Er holte im Laufe der Tat extra einen Metallgegenstand aus seiner Wohnung, um damit weiter auf mich einzuschlagen. Wäre mein Mieter nicht gekommen, hätte er mich getötet.

Meine Anwältin sagte, dass es gut sei und er in der Klinik bleiben werde. Aber im Nachhinein ist da eine Unsicherheit. Was ist, wenn er einen Psychologen hat, der es gut mit ihm meint und ihn früh entlässt? Aus Gerichtsunterlagen kennt er meine Adresse. Was ist, wenn er Rache möchte? Ich werde über eine Entlassung nicht informiert. Dazu kommen die Kosten. Der Mann ist mittellos. Alles musste ich selbst bezahlen, die

Gerichtskosten, die 4000 Euro für die zehn ausgeschlagenen Zähne. Ich bin selbstständig und kann bis heute nur zwei Stunden am Tag arbeiten. Ich habe einen Grad der Behinderung von 40 attestiert bekommen. Meine Wortfindungsstörung ist besser geworden, aber mein Neurologe sagte mir, dass alles an Verbesserung nun ausgeschöpft sei. Nach drei Jahren habe ich eine kleine Rente bekommen. Meine Eigentumswohnung musste ich verkaufen.

Drei Monate habe ich nach einem Therapieplatz gesucht. Der Traumatherapeut war schon kurz vor dem Ruhestand, aber nachdem er vom Fall gehört hatte, nahm er mich auf. Alles musste von mir organisiert werden, mir hat niemand geholfen außer meiner Betreuerin vom WEISSEN RING. Der Täter kam in eine Klinik, bekam ein Therapieangebot, auch für seine Cannabis-Sucht. Um die Täter kümmern sie sich, um die Opfer nicht. Es sollte so etwas wie einen Code für Opfer von solchen Delikten geben. Diesen könnte das Gericht für eine schnelle psychologische Unterstützung an die Krankenkasse weiterleiten. Opfer sollten informiert werden, wenn der Täter wieder freikommt. Und Menschen mit einer solchen Gewaltbereitschaft sollten strenger beobachtet werden.

Petra

Treffen die Risikofaktoren Wahnerkrankung und Extremismus aufeinander, können sie sich vermischen und verstärken, so Saß. Wie im Fall des Hanauer Terroristen, wo bei der posthumen Begutachtung eine „Amalgamierung“ erkennbar war, also eine Verbindung von „Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken“.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren bei der Gewaltkriminalität allein im vergangenen Jahr 217.277 Fälle registriert, bei einem Anstieg von 1,5 Prozent gegenüber 2023. Ob ein Verdächtiger psychisch krank war, wird in der Regel jedoch nicht in der PKS erfasst.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gleich „Gefährder“.

Erste Hinweise auf das Ausmaß des Gewaltproblems bei psychisch Kranken können Statistiken des Maßregelvollzugs geben. Tendenziell ist die Zahl der untergebrachten Straftäter gestiegen, wie aus einer Länderumfrage des WEISSER RING Magazins hervorgeht. In Hessen zum Beispiel nahm die durchschnittliche Belegung von 672,5 Patienten im Jahr 2015 auf 939,2 im Jahr 2024 zu, in Berlin von 801 auf 848, in Rheinland-Pfalz von 604 auf 715. Darunter sind allerdings nicht nur Gewalttäter, sondern auch Menschen, die gemäß Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund einer Suchterkrankung im Maßregelvollzug sind. Bei Personen, die nach § 63 untergebracht worden sind, zählen Körperverletzung, Tötungs- sowie Sexualdelikte zu den häufigsten Taten. Auch bei diesem Paragraphen sind die durchschnittlichen Belegungszahlen in einem Großteil der Bundesländer gestiegen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel von 242 Patienten im Jahr 2015 auf 257 im vergangenen Jahr, in Baden-Württemberg von 535 auf 805 und im Saarland von 89 auf 129.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit: „Die Zahl der schwer psychisch erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Straftaten begangen haben, ist in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren angestiegen.“ Zu den wenigen Bundesländern, die die vor einer Unterbringung begangenen Gewalttaten – etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung und Sexualdelikte – detailliert aufschlüsseln können, zählt Baden-Württemberg: Die Zahl dieser Delikte ist von 523 im Jahr 2013 auf 789 zehn Jahre später gestiegen. Im Jahr 2023 saßen dort 3232 Menschen im Maßregelvollzug. Wie viele Geflüchtete unter den Patienten sind, ist in keiner Länderstatistik erfasst.

2020

Trier. Am 1. Dezember 2020 fuhr ein 51-jähriger Mann mit einem Geländewagen durch die Fußgängerzone von Trier und tötete sieben Menschen, darunter ein Baby. 22 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der deutsche Täter war betrunken und litt an einer paranoiden Schizophrenie. Schuldunfähig sei er zum Tatzeitpunkt jedoch nicht gewesen. Das Landgericht Trier verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Britta Bannenberg empfängt in ihrem auffallend aufgeräumten Büro, wo alles seine Ordnung zu haben scheint, auch dank der unzähligen Ordner. Die Kriminologin war früher Langstreckenläuferin. Bannenberg – offenes Lächeln, starker Händedruck – ist nach wie vor fit und ausdauernd, in mehrfacher Hinsicht: Die Professorin der Universität Gießen, an der sie unter anderem die kurzen Wege schätzt, forscht seit gut 20 Jahren zu Amok und Terror. „Es handelt sich um sehr seltene Taten, die in den vergangenen Jahren aber zugenommen haben“, sagt Bannenberg. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Anschlägen verhindert. Zu den möglichen Gründen für den Anstieg zählten die vielfältigen Herausforderungen in jüngster Zeit, etwa die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die stärkere Zuwanderung seit 2015. All dies könne dazu beitragen, dass manche Menschen in eine Krise geraten, andere dafür verantwortlich machen und einen enormen Hass entwickeln, zum Beispiel auf Zugewanderte.

Bannenberg beschäftigt sich intensiv mit den Attentätern, um Erkenntnisse für die Ursachen und die Prävention zu gewinnen. Sie beobachtet gewisse Nachahmungseffekte beim Zeitpunkt der Tat und bei den Methoden: Täter fühlten sich durch andere Täter und die Berichterstattung über sie angeregt, jetzt zu handeln, hätten oft aber schon vor Jahren über einen Anschlag nachgedacht. Zum Teil seien sie ideologisch, etwa islamistisch oder rassistisch, zum Teil persönlich motiviert.

2021

Witzenhausen. Ein 31-Jähriger fuhr am 29.Oktober 2021 mit einem Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige starb, eine Sieben und eine Achtjährige wurden schwer verletzt. Das Landgericht Kassel ordnete die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an. Aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie galt der Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig.

Die Rechtswissenschaftlerin hat weitere Merkmale gesammelt: Fast alle Täter sind demnach männlich und die meisten psychisch gestört, ein Drittel auch psychisch krank. Dennoch seien sie in der Lage, die Tat detailliert zu planen. Im Gegensatz zu den paranoid schizophrenen Tätern seien die persönlichkeitsgestörten in der Regel schuldfähig und wüssten genau, was sie täten und weshalb. Sie wollten möglichst viele Menschen töten, Aufmerksamkeit und eine Art Heldenstatus bekommen und sich an der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen rächen. Es handele sich um Einzelgänger, die soziale Defizite aufweisen, keine Empathie hätten und sich einerseits überlegen, andererseits gedemütigt fühlten. „Die Kälte zeigt sich im Tötungsakt“, so Bannenberg.

Kapitel 3: Maßregelvollzug und Missstände

Die Sonne scheint auf die graugrüne Fassade, die im Licht beinahe freundlich wirkt. Auf den ersten Blick erinnert das Gebäude an eine moderne Schule – bis Kameras, Sicherheitsdienst und eine drei Meter hohe Hochsicherheitstür klarmachen: Dies ist kein Platz für Kinder. In der forensischen Psychiatrie am Europakanal im bayerischen Erlangen werden Straftäter mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt. Sie sind nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt worden und wurden als schuldunfähig eingestuft. Das Nachbargebäude entspricht eher dem Bild, das viele vom Maßregelvollzug haben: schmutzige Betonwände, ausgebleichtes Orange an den Fensterrahmen – ein Ort, der auf Abstand hält. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Paragraf 64 StGB verurteilt wurden. Sie sind schwer suchtkrank und haben dadurch Straftaten begangen. „Das Gebäude wird noch saniert“, sagt Chefarzt David Janele.

2021

Würzburg. Am 25. Juni 2021 tötete ein 24-jähriger in der Würzburger Innenstadt drei Frauen und verletzte mehrere weitere Personen mit einem Messer. Der Mann war bereits zuvor wegen psychischer Probleme auffällig geworden. Das Würzburger Landgericht, das die Taten unter anderem als dreifachen Mord wertete, ordnete die dauerhafte Unterbringung des zum Tatzeitpunkt wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähigen Somaliers in die Psychiatrie an.

Die Führung beginnt in dem sanierten Gebäude, bei den psychisch erkrankten Straftätern. Pflegekräfte und Patienten sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. „Alle tragen Alltagsklamotten“, erklärt Janele. Dies unterstütze die therapeutische Behandlung, da eine weniger „klinische“ Atmosphäre helfen könne, die Rehabilitation zu erleichtern. Locker geht es hier deshalb nicht zu. Es befinden sich Gitter an den Fenstern, die kleinen Zimmer sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Bett, Tisch, Bad. Und niemand kommt einfach raus. „Paragraf 63 ist unbefristet – das schärfste Schwert der Justiz und der tiefste Eingriff ins Persönlichkeitsrecht.“ Beengt wirkt die Station nicht, obwohl die Zahl der schuldunfähigen Täter gestiegen ist. In Bayern wurden 2015 2.561 Menschen behandelt, zehn Jahre später liegt die Zahl bei rund 3.000. Eine Zunahme um etwa 17 Prozent, die Chefarzt Janele auch in seinem Klinikum wahrnimmt. Aber: „Bei uns, wie auch in ganz Bayern, haben wir im Maßregelvollzug ausreichend Betten sowie Kapazitäten, um alle gut zu versorgen.“

Eine Aussage, die nicht alle Bundesländer treffen. Das WEISSER RING Magazin hat bundesweit Träger forensischer Kliniken angefragt. In Berlin gibt es 549 ordnungsbehördlich genehmigte Betten, im Oktober 2024 waren aber 622 belegt. Im Jahr 2024 kam es wiederkehrend dazu, dass Patienten aufgrund von Platzmangel nicht aufgenommen wurden. Im März 2024 waren nur 75,4 Prozent aller Personalstellen besetzt: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die sich aus der Risiko-Nutzen-Abwägung ergeben und notwendig wären“, sagt die Senatsverwaltung.

2022

Berlin. Am 8. Juni 2022 fuhr ein 29-Jähriger mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Eine Lehrerin starb, 32 Menschen wurden verletzt. Wegen einer gutachterlich bestätigten chronischen paranoiden Schizophrenie wurde der Deutsch-Armenier vom Landgericht Berlin dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.

Und das sind nicht die einzigen Probleme in Berlin. Die räumliche Enge in der Forensik hat in der Vergangenheit zu Konflikten sowie Gewalt beigetragen, was wiederum eine hohe Zahl von isolierten Patienten zur Folge hatte. Ein Umstand, mit dem der ehemalige ärztliche Leiter Sven Reiners aus Gewissensgründen nicht zurechtkam und deshalb kündigte.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist Träger von sechs Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist das Patientenaufkommen in den vergangenen zehn Jahren von 1236 auf 1357 gestiegen. Auf Anfrage entgegnet ein LWL-Sprecher, die Häuser seien gut besetzt. Gleichwohl
räumt er ein: „Der Stellenmarkt der forensischen Kliniken unterliegt mehrfachen Herausforderungen.“ Gründe seien Fachkräftemangel, Stadt Land-Gefälle, Überalterung. Auf die Frage, ob sie in ihrer Einrichtung die Patienten gut versorgen können, antwortet das LWL knapp: „Die Versorgung ist per Gesetz geregelt.“

„Ich fühlte mich verarscht“

Eine Frau wurde vergewaltigt. Für die Betroffene unverständlich: Obwohl ein Gutachten den Täter als schuldfähig einstufte, möchte der Richter ihn in eine forensische Klinik schicken.

Er hätte mich getötet, wenn niemand gekommen wäre. Er sagte es mir auch immer wieder, während er mich vergewaltigte und würgte. Dabei wollte ich nur auf die Toilette gehen. Es war morgens, um neun Uhr, in einer Kneipe. Meine Freundin wartete draußen. Als ich nicht wiederkam, ging sie hinein, um nach mir zu sehen. Der Täter floh. Später werde ich erfahren, dass er an diesem Tag noch eine weitere Frau vergewaltigt hat.

Vor Gericht hörte ich das Gutachten eines Psychologen: Er erklärte, warum der Täter zu beiden Tatzeitpunkten schuldfähig war. Der Gutachter betonte, dass er die Taten nicht aufgrund eines Alkoholproblems begangen hat. Der Täter sei bei mir so brutal gewesen, das hätte er auch nüchtern gemacht, sagte der Gutachter. Laut ihm war er auch nicht betrunken, da er motorisch nicht eingeschränkt war. Ich roch auch keinen Alkohol während der Tat. Der Barkeeper sagte mir später, er gab dem Mann nur zwei Bier und einen Kurzen.

Acht Jahre Haft bekam der Täter. Nach zwei Jahren und neun Monaten soll er in eine Entzugsklinik, bis sein Alkoholproblem gelöst sei. Ein Alkoholproblem, das laut Gutachter gar nicht existiert. Ich fühlte mich verarscht. Während der acht Prozesstage schien es, als sei der Richter auf der Seite der beiden Opfer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er voreingenommen war. Es kommt mir so vor, dass er in der Akte „morgens in einer Kneipe“ las und dazu seine Vorstrafen: Einmal schlug er einen Mann mit einer Flasche. Das Opfer ist teilerblindet. Auch bei dieser Tat war wohl Alkohol im Spiel, daher sah der Richter trotz des Gutachtens ein Alkoholproblem.

Ich glaube, dass dem Gericht der Schutz von Frauen wichtig ist, aber meine Schädigungen hatten nicht genug Gewicht bei der Urteilsfindung. Der Richter sah die Bisswunden an meinem Körper, die gebrochenen Rippen, die Prellungen – aber nicht, was die Tat nachhaltig für mich bedeutet. Ich bin arbeitsunfähig mit 28 Jahren, habe Ängste und Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln, habe eine posttraumatische Belastungsstörung, ich konnte lange nicht ohne Begleitung auf öffentliche Toiletten gehen.

Ich glaube daran, dass sich Menschen in Haft positiv entwickeln können – aber nicht bei ihm. Er wäre bereit gewesen zu töten. Ich akzeptiere das Urteil nicht. Am 11. Juni wird der Bundesgerichtshof über den Fall diskutieren. Eine erneute Verhandlung bedeutet auch, dass alles noch mal von vorne losgeht. Ich muss wieder jedes intime Detail der Vergewaltigung vor Gericht erzählen.

Nele

Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme

Zurück in Erlangen. Das alte Gebäude mit den Verurteilten nach Paragraf 64 StGB sieht voll belegt aus. Auf den dunklen Gängen tummeln sich viele Männer, im Aufenthaltsraum schaut eine Gruppe fern. „Der Paragraf 64 war lange nicht trennscharf zwischen wirklich schwer Suchtkranken und Menschen, die nur mal Suchtmittel probiert haben. Seit der Reform des Paragrafen 2023 kommen wirklich nur Menschen zu uns, die schwer abhängig sind“, so Janele. Daher sinke die Zahl der Patienten langsam wieder. Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme. Durch medikamentöse, psycho-, störungs- und deliktspezifische Therapien – teils einzeln, teils in Gruppen – sollen Rückfälle verhindert werden. Das Bundesjustizministerium hat 2020 eine bundesweite Untersuchung dazu veröffentlicht. Schuldunfähige Straftäter aus forensischen Kliniken werden demnach seltener rückfällig. Nach drei Jahren liegt die Rückfallquote bei Entlassenen aus Gefängnissen bei 45 Prozent, aus forensischen Kliniken zwischen zehn und 38 Prozent.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt Janele. Unter Suchterkrankten sei das Risiko eines Rückfalls höher als unter psychisch erkrankten Menschen.

Kapitel 4: Prävention und Politik

Nach den jüngsten Attentaten ist der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko haben können, zum Politikum geworden. Auch Union und SPD gehen in ihrem Koalitionsvertrag darauf ein: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen“, heißt es in dem Papier. Die Regierungsparteien planen „eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement“. Viel konkreter werden die Koalitionspartner nicht, ebenso wenig wie bei ihrem Ziel, zu verhindern, dass Waffen legal in die Hände psychisch Kranker gelangen.

Die Bundesländer beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema. Das saarländische Innenministerium beispielsweise teilt auf Anfrage mit, es betrachte „mit Sorge, dass psychisch kranke Gefährder beziehungsweise Gewalttäter wiederholt in Erscheinung getreten sind“. Rheinland-Pfalz stellt auch im Strafvollzug eine „starke Zunahme“ bei den psychisch auffälligen und erkrankten Gefangenen fest. Bremen gibt zu bedenken, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland insgesamt stetig steigt und damit auch der Anteil der von den Betroffenen begangenen Straftaten, ohne dass diese per se mit den Krankheiten zusammenhängen müssten.

2023

Berlin. Am 3. Mai 2023 verletzte ein Mann mehrere Kinder mit einem Messer auf dem Schulhof einer Berliner Grundschule. Der Täter wurde in einem Gutachten als psychisch krank und schuldunfähig eingestuft und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Landgericht Berlin in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Bei der Innenministerkonferenz stehen „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ auf der aktuellen Agenda weit oben. Die Konferenz sieht Lücken in dem Bereich und fordert in erster Linie, bundesweit Sicherheits- und Gesundheitsbehörden sowie Ausländer- und Waffenbehörden miteinander zu vernetzen und den Informationsaustausch zu erleichtern – wenn nötig mithilfe von Gesetzesänderungen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt auf Anfrage, Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Störungen seien nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Das BKA beteiligt sich an einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, deren Ziel die Früherkennung schwerer Gewalttaten ist. Auch das Bundeskriminalamt betont, dass nur wenige Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für Gewalt einhergehen. Und dass eine Erkrankung in der Regel höchstens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren Gewalt auslösen könne.

Schon jetzt können Polizeibehörden Personengebundene Hinweise (PHW) sammeln, darunter Psychische und Verhaltensstörung (PSYV), wenn das für die Eigensicherung der Beamten und zum Schutz der Person nötig ist. Im bundesweiten Informationssystem der Polizei waren zuletzt etwa 16.000 Menschen mit einer psychischen Störung erfasst. Die Hinweise sind umstritten, auch aus Datenschutzgründen. In Hessen, teilt das Innenministerium mit, wurden im Jahr 2024 307 Tatverdächtige mit dem Hinweis „Psychische oder Verhaltensstörung“ registriert, darunter 21 Asylsuchende. Im Jahr 2019 waren es 255 Verdächtige mit PSYV, drei Jahre zuvor 154. Wie die Polizei diese Hinweise nutzt, werde wie in anderen Ländern nicht statistisch erfasst.

„Aufgrund der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten“ hat das Bundesland beim Landeskriminalamt die Task Force Psychisch Auffällige/Vielschreiber/Gewalttäter (PAVG) eingerichtet. Sie sei Teil der polizeilichen Gefahrenabwehr und prüfe zunächst alle in den Informationssystemen erfassten Personen mit dem Hinweis „Psychische und Verhaltensstörung“. Dabei prüfe die Task Force „Risiko- und Schutzfaktoren“, beispielsweise die Wohnsituation und die familiäre Struktur, Alkohol- und Drogenkonsum, Suizidgefahr, Waffenaffinität und Gewaltneigung. Kritik an der Datenbank und der neuen Einheit weist das Ministerium zurück: Es würden lediglich auffällige, polizeibekannte Personen registriert, bei denen durch ein ärztliches Gutachten oder Attest eine psychische Erkrankung beziehungsweise Auffälligkeit festgestellt worden sei. Im Fokus stünden Menschen, die eine schwere Gewalttat begehen könnten. Dadurch sei der Personenkreis „stark begrenzt“, weshalb Erkrankte weder stigmatisiert noch unter Generalverdacht gestellt würden. Mittlerweile sei die Prüfung zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie betrifft rund 1600 Menschen.

2024

München. Ein Mann hat am 23. Juli 2024 in einer Einkaufsstraße im Münchner Stadtteil Pasing einen 18- und einen 25-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter war nach Angaben der Justiz zum Zeitpunkt des Angriffs aufgrund einer paranoiden Schizophrenie von dem Gedanken beherrscht gewesen, Deutschland müsse von Muslimen befreit werden. In einem sogenannten Sicherungsverfahren ordnete das Landgericht München 1 die Unterbringung des Mannes in einer Psychiatrie an.

Die Task Force solle Behörden und andere Institutionen informieren, etwa Gesundheitsämter, Gerichte und Ausländerämter. Als Handlungsoptionen nennt das Ministerium Gefährderansprachen, Kontakt-, Annäherungsverbote, bei einer konkreten Gefahr auch Observationen und Gewahrsam oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Nordrhein-Westfalen hat ein ähnliches Konzept: „PeRisikoP“ (Personen mit Risikopotenzial). Dabei arbeiten ebenfalls verschiedene Stellen, darunter Justizbehörden und Gesundheitsämter zusammen, um Straftaten psychisch auffälliger Personen zu verhindern. Das ist in einigen Fällen gelungen, in anderen nicht. So zündete in Krefeld Hasan N., den Mitarbeitende des Präventionsprojekt auf dem Schirm hatten, ein Kino an.

Mehrere Länder, darunter Bayern, Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, erwägen oder planen, ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz zu ändern, um die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu erweitern. Im hohen Norden wird dabei zum Beispiel auch über die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug diskutiert, um chronischen Erkrankungen und einer möglichen „langanhaltenden Selbst- und/oder Fremdgefährdung“ entgegenzuwirken.

Die Pläne und Maßnahmen haben Lob, aber auch Kritik hervorgerufen: Einige Rechtswissenschaftler sehen die Freiheitsrechte in Gefahr. Und der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen warnte bereits nach dem Attentat von Aschaffenburg vor „schnellen Lösungen wie Zwangsmaßnahmen“. Er forderte stattdessen: „Eine menschenwürdige psychiatrische Versorgung muss gestärkt werden, insbesondere durch den Ausbau von Krisendiensten und ambulanter Hilfe.“

„Die beste Prävention“, sagt der forensische Psychiater Henning Saß in seinem Haus in Aachen, „ist eine gute psychiatrische Versorgung und eine konsequente Behandlung, die sich nicht nur auf die Akutphase beschränkt, sondern so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist.“ Er macht eine kurze Pause und wiederholt seine Aussage sinngemäß, mit Nachdruck, weil sie ihm so wichtig ist. Im Zweifelsfall, so Saß, könnten Patienten nach einer Unterbringung etwa unter der Auflage entlassen werden, regelmäßig in der Ambulanz oder beim sozialpsychiatrischen Dienst zu erscheinen. Grundsätzlich, betont der Psychiater, brauche es mehr als Neuroleptika und Antidepressiva, etwa Soziotherapie. „Man muss sich zum Beispiel auch um die sozialen Beziehungen der Menschen kümmern, um ihre Wohn- und Arbeitssituation, um sie zu reintegrieren.“

Beim Waffenrecht rät er, psychische Erkrankungen intensiv zu berücksichtigen. Dafür müssten Daten von Gesundheitsämtern ausreichend lange gespeichert und ein Austausch zwischen Behörden über Ländergrenzen hinweg ermöglicht werden. Der Hanau-Attentäter war 2002 in Bayern in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden. Als er gut 15 Jahre später im hessischen Main-Kinzig-Kreis eine Waffenerlaubnis beantragte, lag diese Information der zuständigen Behörde offenbar nicht vor.

Ansonsten ist Saß kritisch, was das Sammeln von Daten angeht. Ein in den vergangenen Monaten diskutiertes Zentralregister für psychisch kranke Menschen lehnt er ab, warnt davor: „Das würde zur Stigmatisierung beitragen und die Schwellenangst, sich bei psychischen Problemen behandeln zu lassen, erhöhen.“ Was wiederum die Prävention behindern würde.

2025

Aschaffenburg. Ein 28-Jähriger hat am 22. Januar in einem Park in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann mit einem Messer getötet und drei Menschen schwer verletzt. Ermittler hatten schnell Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gefunden, etwa entsprechende Medikamente in seinen Wohnräumen. Er wurde in der Psychiatrie untergebracht. Laut Gutachten war der Mann zum Tatzeitpunkt schuldunfähig.

Auf dem Campus in Gießen will Kriminologin Britta Bannenberg dazu beizutragen, Amoktaten und Anschläge zu verhindern. Das treibt sie an. Sie hat regelmäßig Kontakt mit Opfern und weiß, was diese durchmachen. Bannenberg hat herausgefunden, dass vor solchen Verbrechen „klare Warnsignale“ zu erkennen sind. „Die Gedanken an die Tat sind jahrelang da, die Tatvorbereitungen geschehen vor allem in den letzten vier bis acht Wochen.“ Dann komme es im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, bei Behörden oder im Netz vermehrt zu verdächtigen Aussagen. Die Täter bekunden beispielsweise ihre Sympathie für andere Attentäter oder werden konkreter. Gleichzeitig bereiten sie die Attentate intensiv vor, kundschaften mögliche Tatorte aus. Als Beispiel nennt Bannenberg die mehr als 100 Drohungen und anderen bedenklichen Äußerungen des Magdeburg-Attentäters, bei dem mehrere Gefährderansprachen stattfanden, allerdings ohne weitere Konsequenzen. „Manche werden als Querulanten eingestuft und früher oder später nicht mehr ernstgenommen. Das ist falsch. Gerade wenn explizite Aussagen fallen, müssen sie intensiv abgeklärt werden.“ Wichtig sei es herauszufinden, in welcher Verfassung sich ein Mensch befinde, ihn deutlich mit seinen problematischen Aussagen zu konfrontieren und ihn eventuell in der Psychiatrie vorzustellen. Eine Gefährderansprache reiche dazu oft nicht.

Die Polizei sei „ein wichtiges Einfallstor“, helfe in vielen Fällen, müsse aber noch stärker sensibilisiert werden, um gefährliche Personen zu erkennen, ebenso wie andere Behörden und die allgemeine Psychiatrie. „Im Gegensatz zur Forensik gehören dort etwa fremdgefährliche, persönlichkeitsgestörte Menschen nicht zum Alltag.“ Bei der Polizei komme es darauf an, dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen in Verdachtsfällen auch in der „letzten Polizeistation“ ernstgenommen und die Gefährdung intern abgeklärt werde.

Um in konkreten Fällen zu helfen, hat Bannenberg das Beratungsnetzwerk Amokprävention entwickelt. Eine Art Hotline für Menschen, die befürchten, jemand aus ihrem Umfeld könnte ein Attentat begehen. Die Ratsuchenden erhalten dort eine erste Einschätzung zur Lage und Hinweise zum Umgang mit dem potenziell gefährlichen Menschen. „Gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“, sagt Bannenberg und fügt hinzu, dass die Sorge von etwa 80 Prozent der Anrufenden berechtigt sei.

2025

Mannheim. Am 3. März 2025, Rosenmontag, fuhr ein 40-jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge in der Mannheimer Innenstadt. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Es gibt laut Staatsanwaltschaft Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters sowie einen psychischen Ausnahmezustand zur Tatzeit. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ein weiteres Präventionsangebot hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOSBW) geschaffen, eine beim Oberlandesgericht Karlsruhe ansässige gemeinnützige Einrichtung. „Unser Ziel ist immer der Opferschutz, auch wenn wir Täter behandeln“, sagt Sylvia Kubath-Heimann, Fachpsychologin für Rechtspsychologie bei BIOS. „Im Rahmen der Führungsaufsicht bei therapeutischer Anbindung können eventuelle Krisen schneller erkannt und es kann eingegriffen werden. So lässt sich auch das Rückfallrisiko begrenzen.“

Darüber hinaus hat BIOS eine Anlaufstelle für Menschen, die Angst haben, ein Gewalt- oder Sexualdelikt zu begehen. BIOS-Sprecherin Sabrina Sengler erinnert an das Attentat in Mannheim: „Der Täter hatte Gewaltfantasien, und es ist bekannt, dass er nach Hilfe suchte“, sagt sie. Er hätte an BIOS vermittelt werden sollen. „Hilfe suchen und Hilfe bekommen ist ein großer Teil bei der Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten“, sagt Sengler. Wöchentlich melden sich circa fünf Personen aus Angst, zum Täter werden zu können. Doch aufgrund fehlender Fördermittel könne das Angebot nicht offensiver beworben werden, da es an Therapeuten mangele.

Kapitel 5: Versorgung und Mangel

Prävention bedeutet nicht nur, straffällig gewordene psychisch Kranke zu therapieren, sondern auch, Menschen frühzeitig zu behandeln, damit es nicht erst zu einer Tat kommt. Das WEISSER RING Magazin hat eine Länderumfrage zur Versorgung gemacht. Die Gesundheitsministerien sprechen in ihren Antworten meist von einer Überversorgung bei Psychotherapeutenplätzen. Und von einer Wartezeit auf einen Therapieplatz von vier Wochen.

„Die beste Prävention ist eine gute psychiatrische Versorgung, die so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist“

Professor Henning Saß

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die Rahmenrichtlinien für die Bedarfsplanung fest – auf dieser Grundlage entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) über die Zahl der Kassensitze in einer Region. Eine Überversorgung bedeutet, dass die Sitze belegt sind. Aber ob das den tatsächlichen Bedarf deckt, bezweifeln Experten. „Zum Beispiel können nicht alle Einwohner das gesamte Angebot nutzen, da es unter den Psychotherapeuten Spezialisierungen gibt“, sagt der Erlanger Chefarzt Janele. In Sachsen herrscht laut KV eine Überversorgung mit 1.103 Psychotherapeuten, die auf 4,05 Millionen Einwohner kämen. Das entspricht einem Therapeuten für fast 3.700 Einwohner. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.

Nordrhein-Westfalen findet klare Worte: „Die rechnerisch gute Versorgungslage steht im Widerspruch zu den Wartezeiten auf eine Richtlinientherapie.“ Bayern bestätigt, dass die Lage schon lange angespannt sei und die Vorgaben der Planung nicht den tatsächlichen Bedarf abbildeten.

Der G-BA erklärt auf Anfrage, nach den Hausärzten habe keine fachliche Berufsgruppe so viele Kassensitze wie Psychotherapeuten. Studien hätten ergeben, dass es nicht mehr Plätze brauche, sondern eine Umverteilung. Mehr Therapeuten müssten aus der Stadt aufs Land ziehen.

Die Diskussion um Kassensitze betrachtet Janele als nicht zielführend: „Am Ende ist es doch so: Die Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung wie paranoide Schizophrenie gehen damit nicht zu einem einfachen Psychotherapeuten. Der könnte sie nicht allein zielführend behandeln.“ Dazu brauche es eine Mitbehandlung durch einen niedergelassenen Psychiater und mehr ambulante psychiatrische Anlaufstellen für solche Fälle. Darüber hinaus fordert Janele einen Ausbau der rechtlichen Rahmenbedingungen beispielsweise für behandlungsunwillige Patienten mit einem hohen Gefährdungspotential.

2025

Hamburg. Eine 39-jährige Frau stach am 23. Mai im Hauptbahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende ein. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Ein Haftrichter ordnete an, die Verdächtige in einer Psychiatrie unterzubringen. Sie war erst am Tag vor der Tat aus einer solchen Einrichtung entlassen worden. Die Frau soll bereits im Februar auf einem Spielplatz a Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben.

BIOS-Psychologin Sylvia Kubath-Heimann mahnt, eines nicht zu vergessen: „Bei der psychischen Erkrankung Schizophrenie kriminalisieren sich nur drei bis zehn Prozent der Betroffenen überhaupt.“ In Deutschland ist laut Schätzungen etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt.

 

Psychisch kranke Menschen: Ein illustrierter Mensch mit einem Riss im Kopf.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt David Janele.

Clara (Name geändert) hat eine psychische Erkrankung. „Es hat Jahre gedauert, bis ich meine Borderline-Diagnose annehmen konnte“, sagt sie. Ein Grund sei das gesellschaftliche Stigma gewesen. Selbst unter Fachleuten gälten Menschen mit der Krankheit oft als „unberechenbar“. Mit 17 Jahren war sie erstmals in der Psychiatrie, seitdem regelmäßig. Die Aufenthalte hälfen ihr, aber es gebe viel Verbesserungsbedarf: Eine psychotherapeutische Behandlung finde kaum statt, meist böten die Kliniken nur Gruppengespräche mit Sozialarbeitern oder Beschäftigungstherapie. Patientinnen und Patienten auf einer geschützten Station dürften teils nicht allein ins Bad, seien darauf angewiesen, dass das Personal „Zeit hat“ für alltägliche Bedürfnisse wie Zähneputzen. Das könne auch mal Stunden dauern. „Vermutlich wegen der Überforderung der Pflegekräfte aufgrund des Personalmangels“, sagt Clara.

Der Personalmangel wird auch in Zahlen deutlich

Laut dem zweiten Quartalsbericht 2024 des Institutes für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfüllten nur rund ein Drittel der Einrichtungen die Personalstandards: 34,7 Prozent der Erwachsenenpsychiatrien, 34,6 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und 33 Prozent der psychosomatischen Kliniken. Die Daten basieren auf Auswertungen von 1.090 Standorten. Kurz gesagt: Es fehlen 500.000 Pflegepersonal-Arbeitsstunden.

Der Sprecher des LWL in Nordrhein- Westfalen sieht prekäre Situationen in den Allgemeinpsychiatrien: Es sei zu beobachten, dass immer häufiger Menschen aus den Kliniken im Maßregelvollzug landen, weil sie zuvor nicht intensiv genug behandelt worden seien. Der LWL-Maßregelvollzug fordert mit weiteren Trägern forensischer Kliniken eine Reform der Versorgung von Menschen mit schweren Erkrankungen unter dem Titel „Weckruf“.

Als besonders belastend beschreibt Clara den Übergang von der Klinik in den Alltag – oft ohne Anschlussbehandlung: „Ich musste mich immer selbst um einen Therapieplatz kümmern, nach meinem aktuellen habe ich eineinhalb Jahre gesucht.“ Das Problem: Viele Psychotherapeuten behandeln so schwere psychische Erkrankungen wie Borderline nicht. Über die von den Gesundheitsministerien angegebene vierwöchige Wartezeit lacht sie nur müde.

Transparenzhinweis:
Der Artikel wurde am 26. Juni bearbeitet. In einer früheren Version war fälschlicherweise die Rede davon, dass sich zwei Tötungsdelikte im Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik im Bad Zwischenahner Ortsteil Wehnen ereignet hätten. Tatsächlich geschahen die Vorfälle in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Den entsprechenden Absatz haben wir deshalb gelöscht.

Der Wegweiser

Erstellt am: Freitag, 20. Juni 2025 von Sabine

Der Wegweiser

Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg war die Stimmung in der Republik politisch aufgeheizt, auch wegen der bevorstehenden Bundestagswahl. Vor Ort blieb Rainer Buss besonnen. Der stellvertretende Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS half den Betroffenen, indem er ihnen Perspektiven aufzeigte.

Als langjähriger Vorsitzender Richter hat der Aschaffenburger Rainer Buss nicht nur gelernt, Fragen zu stellen, sondern auch, sich in ganz unterschiedliche Menschen hineinzuversetzen und ihnen aufmerksam zuzuhören.

Von seinem Schreibtisch aus kann Rainer Buss auf den Park Schöntal schauen. An einem sonnigen Vormittag im März steht dort die Blüte des Magnolienhains bevor, des größten in Bayern, während die Krokusse schon sprießen.

Buss, vor seiner Pension langjähriger Vorsitzender Richter, erinnert sich an den Nachmittag des 22. Januar: „Ich war gerade mit einer Angelegenheit für den WEISSEN RING beschäftigt.“ Eben sah der Park noch „ganz unschuldig“ aus. Dann hört der ehrenamtliche Mitarbeiter die Sirenen, sieht „Blaulicht ohne Ende“ und bald einen Hubschrauber. Rainer Buss weiß: „Es muss etwas ganz Schlimmes passiert sein.“

Der 28-jährige, offenbar psychisch kranke Enamullah O. hat eine Kindergartengruppe attackiert und einen zweijährigen Jungen sowie einen 41-jährigen Mann erstochen, der den Täter aufhalten wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Etwa fünfzehn Minuten nach den ersten Sirenen bekommt Buss einen Anruf von der Polizei, am Abend nimmt er am Treffen der Opferbetreuungsgruppe teil und bespricht, wie der WEISSE RING jetzt helfen kann. In den folgenden Stunden und Tagen leitet der Jurist die nächsten Schritte ein. Er ruft bei der Trauma-Ambulanz in Würzburg an, um die Betroffenen dorthin zu vermitteln. Knüpft Kontakte zu Versorgungsamt, Landesunfallkasse, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenige Tage später gibt diese besorgten Eltern bei einer Veranstaltung wichtige Hinweise zum Umgang mit der Tat. Ein Rat, der Buss in Erinnerung blieb: „Kinder brauchen nach so einem Ereignis Routine, und insbesondere Eltern müssen diese Stabilität vermitteln.“

„Die seelische Not war enorm“

Der frühere Richter bekommt von der Polizei eine Liste mit 15 Namen von Betroffenen. Über „Mittelspersonen“, die nah dran sind, geht er auf die Menschen zu. „Die seelische Not war enorm; die Mutter des getöteten Kindes und dessen Tante zum Beispiel waren am Boden zerstört“, blickt Buss zurück. „Es hat mich berührt, das Unglück der Betroffenen und die Tränen zu sehen.“ Aber „man funktioniert“, auch aus dem Impuls heraus, „etwas machen, schnell helfen zu wollen“. In den ersten Wochen ist der Ehrenamtliche in Vollzeit im Einsatz. Die damalige Situation in der Aschaffenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS war „recht ungünstig“, sagt deren Leiter Wolfgang Schwarz. Der frühere Polizist, der auch Landesvorsitzender ist, hatte sich den Arm gebrochen, war gerade operiert worden. Andere, ansonsten aktive Mitglieder waren nur eingeschränkt verfügbar. Vieles lag nun bei Buss.

Er und Schwarz telefonierten regelmäßig miteinander, tauschten sich über die Hilfsmöglichkeiten aus. Die nordbayerische Außenstelle hätte Unterstützung aus der Mainzer Zentrale des WEISSEN RINGS bekommen können. Der Leiter der Außenstelle und sein Stellvertreter besprechen sich und gelangen zu der Überzeugung: „Wir schaffen das mit eigenen Kräften.“ Mit seinem Wissen, aber auch mit seiner besonnenen Art sei Buss ein Glücksfall für den Verein, auch und vor allem in solchen Lagen, beschreibt Schwarz seinen Vereinskollegen.

Aschaffenburg im Park: Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Schnell wurde die Tat zu einem bestimmenden Thema im Bundestagswahlkampf, vor allem rechte Akteure versuchten, sie zu instrumentalisieren und Ressentiments zu schüren. Der AfD-Politiker und Faschist Björn Höcke und seine Partei riefen zu einer Gedenkveranstaltung in der Stadt auf. Rund 70 ihrer Anhänger kamen. Aschaffenburg und die Region hielten dagegen: An der Gegendemo nahmen 500 Menschen teil. Bereits kurz nach der Attacke waren 3000 Menschen zu einem stillen, würdevollen Gedenken zusammengekommen.

In der Nähe des Tatortes entstand bald eine kleine Gedenkstätte, mit unzähligen Kerzen, Blumen und Kuscheltieren. Ein Zelt, in dem Seelsorger Gespräche anboten, wurde aufgebaut. Verschiedene Organisationen, der WEISSE RING und die Stadt knüpften ein helfendes Netzwerk und sammelten Spenden. Bei Treffen gab Buss einen Überblick über die Situation der Betroffenen und deren Bedürfnisse. Oberbürgermeister Jürgen Herzing (SPD) mahnte wenige Stunden nach der Attacke zur Besonnenheit: „Ein Geflüchteter greift unschuldige Menschen an, verletzt und tötet sie. Wir sehen die Parallelen“, sagte er mit Blick auf die Amokfahrt von Magdeburg und den Messerangriff in Solingen. Aber: „Wir können und dürfen die Tat eines Einzelnen niemals einer gesamten Bevölkerungsgruppe anrechnen.“

„Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist.“

Rainer Buss

Buss kritisiert die Versuche, das Verbrechen zu instrumentalisieren. Ja, der Täter sei ein Geflüchteter. Es habe aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte gegeben, die ihn verfolgten und Opfern halfen. Auch habe ihm missfallen, wie Bundes- und Landespolitik bemüht waren, sich gegenseitig die Schuld dafür zu geben, dass die Tat nicht verhindert wurde. Bei seinem Einsatz für die Betroffenen habe er solche Nebengeräusche ausgeblendet. „Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist“, erklärt Buss. „Das ist ein wichtiger Grundsatz des WEISSEN RINGS“, ergänzt Schwarz.

Als Richter hatte Buss in spektakulären Wirtschaftsprozessen den Vorsitz, es ging etwa um Millionenbetrug, Schmiergeld- und Steuerskandale. Er hat gelernt, harte Fragen zu stellen und Urteile zu fällen, aber auch, sich in Menschen hineinzuversetzen. Wenn Buss Opfer begleitet, achte er darauf, „rücksichts- und verständnisvoll vorzugehen, mich erst einmal zurückzunehmen und zu schauen, wie die Menschen mit der Situation umgehen, und mich dann intuitiv anzupassen“. Er tröste schon, verstehe sich aber „nicht als Seelsorger, sondern als Wegweiser“. Informationen könnten Halt geben; vor der polizeilichen Vernehmung habe er einem schwerverletzten Helfer deshalb in Ruhe den genauen Ablauf erklärt. „Ich habe erfahren, dass es vielen Menschen am meisten hilft, wenn ihnen Wege aufgezeigt werden, wie es weitergehen kann, etwa bei der psychologischen Hilfe. Sie möchten auch in den aller schlimmsten Lagen eine Perspektive haben.“ Oft geht es um praktische Fragen: Wie kann eine Behandlung finanziert, wie der Hauskredit weiter abbezahlt werden?

Häufig kommen zum unfassbaren Schmerz über den Verlust von Angehörigen noch große Geldsorgen und Überforderung durch Bürokratie hinzu, auch im Fall von Aschaffenburg. Buss erklärt dann Formulare sowie Leistungen etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und privaten Haftpflichtversicherung oder setzt sich dafür ein, dass die Unfallkasse 15.000 Euro Vorschuss gibt oder der Spendentopf angezapft wird, damit eine Betroffene sich die Fahrt in die Würzburger Trauma-Ambulanz leisten kann.

Aschaffenburg: Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Als Rainer Buss von seinem Einsatz erzählt, klingelt das Telefon. „Buss, WEISSER RING. Guten Tag“, sagt er. Der Anrufer braucht seinen Rat zur Frage, ob Geld aus dem Opferfonds auf Bürgergeld angerechnet wird. Unter bestimmten Bedingungen nicht, ähnlich wie Schmerzensgeld. Buss nimmt sich Zeit und erklärt die Regeln.

Zum WEISSEN RING kam er vor zehn Jahren – durch Wolfgang Schwarz, der seit 18 Jahren dabei ist. Sie gehen in denselben Fitnessclub, dort schlug Schwarz Buss ein Engagement vor. „Ich habe nach etwas Sinnvollem gesucht und fand die Idee gut, auch weil ich aus meiner beruflichen Erfahrung weiß, dass Opfer häufig zu kurz kommen.“ Schwarz war es zuvor ähnlich ergangen. Beide freuen sich über Rückmeldungen von Menschen, die, wie Schwarz es formuliert, „wieder Boden unter den Füßen bekommen“. So wie die Betroffenen, die Buss erzählt haben, die Traumatherapie habe ihnen in den vergangenen Monaten geholfen, aus ihrem Tief herauszukommen.

In Aschaffenburg habe das Netzwerk, auch beim Sammeln von Spenden, gut funktioniert, sagen die Ehrenamtlichen. Zu den Beteiligten zählten etwa der Verein Gutherzig und die Humorbrigade Hofgarten. Kürzlich hat die Stadt eine Bilanz veröffentlicht. Demnach sind für die Betroffenen 485.000 Euro zusammengekommen.

Der Park Schöntal

Zwei Monate nach der Tat steht Rainer Buss im sonnendurchfluteten Park Schöntal. Eine Gänsefamilie mit Küken watschelt in den Teich; junge und alte Menschen nutzen das gute Wetter für einen Spaziergang. Vor der provisorischen Gedenkstätte, die an die Attentate erinnert, bleibt ein Paar stehen. „Is scho schlimm“, sagt der Mann. Die beiden halten inne und schweigen eine Weile. Vor ihnen, in der Nähe des Tatortes, liegen Dutzende von Kuscheltieren, dazu Puppen, Blumen, Kerzen, kleine Engelsstatuen und handgeschriebene Briefe. Ein Teddy trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Lasst uns einfach wieder Mensch sein!“, auf eine Leinwand hat jemand eine Variante der Nationalhymne geschrieben: „Einigkeit und Recht und Freiheit / sei Gesetz in jedem Land / blüht ihr Menschen auf der Erde / blüht mit Liebe und Verstand“.

Ob der Anschlag seinen Blick auf den Park Schöntal verändert habe? „Nein“, sagt Rainer Buss, der oft mit dem Fahrrad durchfährt. Es sei nach wie vor ein schöner Park – wenngleich er manchmal an die Ereignisse denkt. Nach dem Messerangriff hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen bislang 25 Leute betreut.

Von seinem Schreibtisch aus wird Buss den Park im Blick behalten, auch bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING. „Die Betreuung von Opfern ist oft eine langfristige Aufgabe. Wir sind weiterhin für sie da, wenn sie uns brauchen.“