Geflüchtet & traumatisiert

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Sabine

Geflüchtet & traumatisiert

Nach der tödlichen Messerattacke eines psychisch kranken Geflüchteten in Aschaffenburg flammt erneut die Debatte über psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden auf. Sind traumatisierte Geflüchtete tatsächlich gefährlich? Und wie gut ist ihre Versorgung? Das WEISSER RING Magazin geht diesen Fragen auf den Grund.

Ein migrantischer Junge schaut in ein zerbrochenes Glas.

Seit ein psychisch kranker Asylbewerber am 22. Januar 2025 in Aschaffenburg zwei Menschen mit einem Messer tötete, gibt es in Deutschland wieder eine öffentliche Diskussion über mögliche Gefahren durch traumatisierte Geflüchtete – so wie auch schon nach der Gewalttat von Würzburg im Jahr 2021.

Sind Menschen mit Fluchterfahrung tatsächlich häufiger psychisch schwer belastet als andere? Macht sie das gefährlicher? Wie steht es um die medizinische Versorgung von Geflüchteten? Das WEISSER RING Magazin hat sich in Studien, Statistiken und bei Experten auf Antwortsuche begeben.

Jung, geflüchtet und psychisch krank

87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Das ergab 2019 eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Forschungszentrums des BAMF und des Sozioökonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Eine Auswertung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health aus dem Jahr 2020 zeigt: Rund 30 Prozent der Geflüchteten weltweit haben eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Untersuchung beruht auf Studien aus 15 Ländern, darunter auch Deutschland.

"Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind, aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“

Thomas Hillecke

Zum Vergleich: In der deutschen Bevölkerung liegt der Wert bei 1,5 bis zwei Prozent laut dem Robert Koch-Institut. Geflüchtete in Deutschland haben damit ein 15- bis 20-fach höheres Risiko, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, als Menschen aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung.

Soweit die Zahlen. Aber macht ein höheres Risiko einer Belastungsstörung einen Menschen auch gewaltbereiter?

Thomas Hillecke ist wissenschaftlicher Leiter bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. und Professor für klinische Psychologie. Er verweist im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS auf eine falsche Wahrnehmung: „Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind – aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“ Und so sei es auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte.

„Gewalttätigkeit hängt nicht von Flucht ab“, stellt Hillecke klar. Er hat im Rahmen seiner Arbeit viel mit Geflüchteten zu tun, die eine psychische Erkrankung aufgrund von traumatisierenden Erlebnissen entwickelt hätten. „Faktoren wie jung und männlich spielen bei der Gewaltbereitschaft eine Rolle“, sagt der Psychologe.

Viele Geflüchtete seien minderjährig und männlich. Dazu kämen Rassismus-Erfahrungen, die viele Geflüchtete erleiden. „Es
besteht dadurch die Gefahr der Ausgrenzung sowie der Verbitterung. Das Realempfinden ist, nirgendwo anzukommen, man ist einsam und sieht keinen Weg des Weiterkommens im Leben“, sagt er. Dies begünstige in seltenen Fällen eine Radikalisierung oder eine psychische Erkrankung. Das mache Geflüchtete aber nicht zu „Gefährdern“. Der Psychologe erklärt, dass sie selbst häufiger Opfer von Gewalt würden als zu Tätern. Ein Umstand, den die Psychologin Anikó Zeisler im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS ebenso erwähnt. „Studien zeigen anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass 99,4 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer*innen nicht wegen Gewaltstraftaten registriert sind“, sagt Zeisler. Sie arbeitet bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (Baff).

Eine Frage der Prävention

Wenn aber Geflüchtete überdurchschnittlich häufig psychische Belastungen aufweisen – wie steht es dann um ihre medizinische Versorgung? Wäre das nicht Opferschutz, ja Prävention, wenn sie ausreichende Hilfsangebote und Behandlungen bekämen? Ein wichtiger Faktor, der in der Debatte oft übersehen werde, sagt Zeisler.

Studien zeigen, dass eine gut abgestimmte psychiatrische Versorgung Eskalationen bei Fremdgefährdung vorbeugen kann – insbesondere, wenn individuelle Risikofaktoren frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Geflüchtete sind oft Belastungen ausgesetzt, die ihre seelische Gesundheit langfristig verschlechtern können.

Allein die Lebensumstände in vielen Unterkünften sind prekär. Sieben Doppelstockbetten, dicht an dicht, ein Leben auf wenigen Quadratmetern, kaum Lärmschutz, Privatsphäre und soziale Betreuung, in einer Art Zeltdorf mit insgesamt etwa 7000 Plätzen und Konflikten, Übergriffen gegen Frauen und Nervenzusammenbrüchen: Über das Berliner „Ankunftszentrum Tegel“ gab es schon viele negative Berichte, wobei das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Kritik zurückwies. Ähnlich wie die verantwortlichen Behörden in anderen Orten. Doch die Missstände und Folgen sind offensichtlich. Forscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nannten etwa die beengten Wohnverhältnisse, über Monate, teils Jahre hinweg, sowie die schwierige Lebenssituation, etwa aufgrund des unsicheren Aufenthalts, als Gründe für eine schlechte psychische Gesundheit und Häufung von Gewaltdelikten in manchen Gemeinschaftsunterkünften.

Ein migrantischer Junge schaut in einen zerbrochenen Spiegel.

Vor allem junge Männer flüchten aus ihrem Heimatland vor Krieg und Gewalt nach Deutschland. Hier möchten sie ein neues Leben aufbauen und ihre Familie nachholen. Viele von ihnen werden Opfer von Rassismus. Diese und weitere Faktoren können psychische Erkrankungen fördern.

Durch den jetzigen Versorgungsstand würden Betroffene ständig durch das Raster fallen. Zeisler hat in der Vergangenheit als Psychologin in den zuständigen psychosozialen Zentren (PSZ) gearbeitet. Sie selbst habe häufig Folgendes erlebt: „Wir haben den Notarzt gerufen und die Klienten ins Krankenhaus gebracht – sie wurden gleich wieder entlassen.“

Für die Behandlung mit Medikamenten sind die Zentren auf psychiatrische Krankenhäuser und Fachärzte angewiesen. Da die Kosten aber nur begrenzt über das Asylbewerberleistungsgesetz abgerechnet werden können, haben Geflüchtete oft keinen Zugang zu dieser notwendigen Versorgung.

Ein Fakten-Check zur Versorgung

Um die Versorgung genauer zu verstehen, müssen Gesetze und Zahlen betrachtet werden: Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt nach Paragraf 4 und 6, wer Anspruch auf eine psychologische Versorgung hat. „Laut dem Gesetz dürfen in den ersten 36 Monaten nur Notfälle behandelt werden“, sagt Zeisler. Dazu komme noch, dass die Kostenübernahme von Sprachmittlern nicht geregelt sei.

Die psychosozialen Zentren würden versuchen, den Bedarf an Begleitung und Versorgung durch psychotherapeutische Angebote, psychosoziale Beratungen sowie Gruppenangebote zu decken. Die Versorgung bleibe trotz allem unzureichend. Gründe seien das überlastete Gesundheitssystem, die Hürden beim Zugang zur Regelversorgung und das Asylbewerberleistungsgesetz.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern.“

Anikó Zeisler

Zeisler gibt an, dass die Baff in den psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner 2022 nur 3,1 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs decken konnten. Die Studie „Psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden in Deutschland – Versorgungslücke und Versorgungsbarrieren“ von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat 2020 ergeben, dass 59 Prozent der insgesamt 214 untersuchten Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften Symptome einer psychischen Erkrankung hatten. Doch in den Abrechnungsdaten der Sozialbehörden fand sich nur ein Anteil von 4,9 Prozent, der tatsächlich mit einer entsprechenden Diagnose das Gesundheitssystem kontaktierte.

Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Baff
errechnete Versorgungsquote bei Geflüchteten von
3,1 Prozent ergibt sich aus den folgenden Daten:

3.087.650

geflüchtete Menschen leben in Deutschland.

923.595

geflüchtete Menschen haben eine Traumafolgestörung.

25.861

geflüchtete Menschen waren in psychosozialen Zentren.

2.803

Vermittlungen gab es an weitere Akteure.

Was sich ändern muss

Eine gute psychiatrische sowie psychotherapeutische Anbindung könne einen Beitrag dazu leisten, eine mögliche Fremdgefährdung zu reduzieren, erklären die beiden Experten im Gespräch immer wieder. Um dies zu gewährleisten, brauche es neben einem Zugang zum Gesundheitssystem eine dauerhafte, sichere Förderung der psychosozialen Zentren. Aktuell erhalte die Baff nur für jeweils ein Jahr befristet Fördermittel und müsse jährlich planen, welche psychologischen Angebote sie noch anbieten könnten. Auch BIOS bekomme keine dauerhafte Finanzierung.

Die zuständigen Ministerien der Bundesländer verweisen auf Anfrage des WEISSER RING Magazins auf psychosoziale Zentren als zentrale Anlaufstellen für die Versorgung Geflüchteter. Teilweise gibt es psychologisch geschultes Personal in den Unterkünften. Nordrhein-Westfalen plant darüber hinaus ein Präventionspaket von jährlich 18 Millionen Euro. Meist beziehen sich die Angebote auf Menschen mit laufendem Asylverfahren – für Neuangekommene fehlt oft psychologische Unterstützung. In Berlin hingegen erfolgt ein psychiatrisches Screening bereits bei der Erstuntersuchung; auch Dolmetscher-Leistungen sollen dort flächendeckend finanziert werden.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern“, sagt Zeisler. Die Migrationsforschung zeige, dass dies auf lange Sicht nicht effektiv sei und Fluchtbewegungen immer stattfinden werden. Nachhaltiger sei es, die vorhandenen Ressourcen in die Integration und Versorgung von Geflüchteten zu stecken. „Die Integration wird zu stockend vorangetrieben. Die Menschen müssen schneller ins Arbeiten kommen, Stabilität und Struktur bekommen“, sagt Thomas Hillecke von BIOS.

Und er hat einen Wunsch: Die Gesellschaft müsse den zwischenmenschlichen Umgang ändern. Weniger Ausgrenzung, mehr Miteinander.

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Gregor

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Ein Rassist mit einer paranoiden Schizophrenie ermordete Serpil Temiz Unvars Sohn Ferhat. Sie ist vom ebenfalls psychisch auffälligen Vater des Täters immer wieder gestalkt worden.

Serpil Unvar: Ihr Sohn wurde am 19. Februar von einem Rassisten in Hanau ermordet.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau den Sohn von Serpil Unvar aus rassistischen Motiven.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit mein 22-jähriger Sohn von einem Rassisten erschossen wurde. Einen größeren Schmerz gibt es nicht, er wird nie weggehen. Aber ich fühle, dass Ferhat noch da ist. Es ist, als würde ich weiter mit ihm in unserem Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt leben. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Spuren hinterlassen. Weil ich Ferhat sonst verlassen würde, werde ich auf keinen Fall wegziehen. Obwohl der Vater des Attentäters, der wie sein Sohn rassistisch und psychisch auffällig ist, in der Nähe wohnt. Lange hat er mir nachgestellt und Briefe geschickt, in denen er eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb.

Er stand vor meinem Fenster, verstieß gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot. Sein Psychoterror hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine alleinerziehende, starke Frau bin, die in die Öffentlichkeit geht. In letzter Zeit ist es recht ruhig, doch ich gehe davon aus, dass er uns weiter Angst machen will.

In einem Sammelverfahren wurde er 2024 wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung und anderen Delikten zu einer Geldstrafe von gut 20.000 Euro verurteilt. Mein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Urteil ist nicht hart genug.

Der Anschlag

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau an zwei Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Laut dem forensischen Gutachten von Professor Henning Saß war der Attentäter paranoid-schizophren und rechtsextrem. Der Vater des Täters hat Anfragen bisher nicht beantwortet. In früheren Stellungnahmen wies er alle Vorwürfe zurück und stellte sich und seine Familie als unschuldige Opfer dar. Er tue niemandem etwas Böses. Und für die Morde – auch an seiner Frau und an seinem Sohn – sei eine weltweite Geheimorganisation verantwortlich.

Was muss noch alles passieren? Diese Frage stelle ich nicht nur für mich selbst. Vor allem Frauen werden oft massiv bedroht, etwa vom Ex-Partner, aber die notwendigen Konsequenzen bleiben aus. Trotz Warnsignalen. Diese gab es auch beim Attentäter von Hanau. Er schrieb zum Beispiel Briefe mit Verschwörungstheorien an Behörden, war mal in die Psychiatrie eingewiesen worden – und durfte legal Waffen besitzen. Wir müssen die Prävention verbessern, um solche Taten zu verhindern. Besonders wichtig ist das Waffenrecht. Waffen dürfen nicht in die Hände von Extremisten oder psychisch Kranken gelangen. Alle für Sicherheit zuständigen Stellen sollten Warnzeichen besser erkennen.

Wenige Monate nach dem Mord an meinem Sohn habe ich die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet. Wir haben 45 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die an Schulen Workshops gegen Diskriminierung geben, deutschlandweit. Bald werden wir auch in Grundschulen unterwegs sein. Den Wunsch hatte mein jüngster Sohn, der auch Vorschläge für das Konzept macht.

„Sein Psychoterror gegen mich hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Serpil Temiz Unvar

Ende 2024 haben wir in Hanau eine internationale Konferenz mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Für das Leben“ veranstaltet, inspiriert von Ferhats Worten: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Wir haben mit Betroffenen über Hassverbrechen – antisemitische, islamistische, rechtsextremistische – und Strategien dagegen diskutiert. Alle haben die gleichen Schmerzen; im Endeffekt sind alle Opfer von Menschenfeindlichkeit. Wir müssen gemeinsam dagegen kämpfen. Überlebende und Hinterbliebene aus Utøya waren auch da. Sie haben bei der Prävention den Fokus früh auf Bildung gelegt und neben einem Museum durchgesetzt, dass der Anschlag in Norwegen Teil des Lehrplans ist.

Manchmal bin ich müde und traurig – auch wegen der aktuellen Krisen und rechten Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Aber aufzuhören oder aufzugeben ist keine Option, wir müssen zusammen und dagegenhalten. Ich glaube an das Gute im Menschen und die Möglichkeit zur positiven Veränderung. Was mir – neben Ferhat – Mut macht und mich antreibt, sind die jungen Menschen, die sich bei uns engagieren.

Transparenzhinweis:
Serpil Unvar wurde zeitweise vom WEISSEN RING unterstützt, unter anderem mit einer finanziellen Soforthilfe.

„Zu sehen, wie unsere Tochter läuft, spielt und lacht, hilft uns“

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Gregor

„Zu sehen, wie unsere Tochter läuft, spielt und lacht, hilft uns“

Der Vater des Kleinkindes, das bei der Messerattacke von Aschaffenburg schwer verletzt wurde, spricht im Exklusiv-Interview mit dem WEISSER RING Magazin über die schwere Zeit nach der Tat, die Debatte darüber und Lichtblicke, die ihm Zuversicht geben.

Messerattacke von Aschaffenburg: Menschen haben am Tatort Kuscheltiere und Blumen hingelegt.

Messerattacke von Aschaffenburg: Dutzende Kuscheltiere wurden zum Gedenken an die Opfer am Tatort niedergelegt.

Das zweijährige Mädchen saß in einem Bollerwagen im Aschaffenburger Park Schöntal, als der Angreifer, ein Geflüchteter aus Afghanistan, kam. Es überlebte schwerverletzt. Ein zweijähriger Junge und ein 41-jähriger Mann, der helfend eingeschritten war, wurden getötet. Vier Monate nach der Tat hat sich der Vater des Mädchens, der 2013 aus Syrien nach Deutschland flüchtete, zu einem Interview bereiterklärt. Er antwortet ruhig und reflektiert, ohne Wut.

Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie heute, fast vier Monate nach dem Attentat von Aschaffenburg?

Was passiert ist, kommt immer wieder hoch. Als wir an dem Tag erfahren hatten, dass unsere Tochter attackiert wurde, war das ein Schock. Wir haben nur noch an sie gedacht und eine unfassbare Angst gehabt. Zu erfahren, dass sie überlebt, war eine riesige Erleichterung. Ich bin psychisch relativ stabil, während es meiner Frau nicht so gut geht. Sie ist schwanger und macht sich Sorgen. Es geht emotional hoch und runter, aber wir werden medizinisch und psychologisch sehr gut betreut.

Wie geht es der Kleinen?

Kinder können solche Ereignisse manchmal schneller verarbeiten als Erwachsene. Unsere Tochter hatte am Anfang Angst und konnte nicht schlafen. Jetzt ist sie manchmal etwas zornig, was mit dem Angriff zusammenhängen könnte. Aber insgesamt geht es ihr gut, auch körperlich ist sie fit. Sie hat Energie, spielt wieder, auch mit anderen Kindern, und geht in die Krippe, allerdings in eine andere, damit sie weniger an die Tat erinnert wird. Bei dem Wechsel hat uns Oberbürgermeister Jürgen Herzing geholfen. Wir gehen alle regelmäßig zur Therapie in die Trauma-Ambulanz, was uns hilft.

Was gibt Ihnen Kraft?

Es hilft uns, unsere Tochter anzuschauen. Zu sehen, wie sie läuft, wie sie spielt, wie sie lacht. Sie ist ein sehr aufgewecktes, lebhaftes Mädchen. Ich bin häufiger zu Hause und für meine Frau da. Um zu entspannen, gehen wir zum Beispiel spazieren, in der Stadt oder im Wald. Uns hilft auch die große Solidarität, die wir nach wie vor erleben. Nachbarn, Freunde, Bekannte und viele andere Menschen helfen uns. Sehr viele Leute sind nach der Tat zum stillen Gedenken gekommen, haben gespendet und viel Mitgefühl gezeigt. Wir fühlen uns sehr gut aufgehoben.

Wie versuchen Sie, mit dem Ereignis umzugehen?

Im Leben passiert viel Schönes, aber auch Schreckliches. Wir versuchen, nach vorne zu schauen, und sagen uns: Wenn wir nichts machen, uns zu Hause einsperren würden und Angst hätten, hätte der Täter gewonnen.

Den Kontakt zum Vater hat Rainer Buss, Vize-Leiter der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Aschaffenburg, hergestellt. Er unterstützt die Familie seit der Tat und hat für das Gespräch sein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt.

Ein 41-Jähriger hat sich dem Täter entgegengestellt und wurde ermordet. Was denken Sie über ihn?

Er ist immer in meinem Kopf. Der Mann kannte die Kinder nicht und hat trotzdem mutig eingegriffen und sie geschützt. Auch an den zweijährigen Jungen, der ermordet wurde, denke ich. Wenn ich meine Tochter in die Krippe gebracht oder dort abgeholt habe, habe ich ihn oft gesehen. Es tut mir sehr leid für alle Angehörigen. Für das, was sie durchmachen, gibt es keine Worte.

Schon kurz nach der Tat haben vor allem rechte Akteure und Parteien versucht, die Tat für ihre Zwecke zu benutzen und Ressentiments gegen Geflüchtete geschürt. Die AfD und ihr faschistischer Landeschef aus Thüringen, Björn Höcke, riefen zu einem Gedenken in Aschaffenburg auf. Was halten Sie davon?

Das war schrecklich. Ich bin in der Zeit im Krankenhaus geblieben und habe am Bett meiner Tochter um sie gebangt. Alles andere hat mich nicht interessiert, aber ich habe die Debatte mitbekommen. Dass Leute wie Höcke versuchen würden, die Tat auszunutzen, ihr „Geschäft“ damit zu machen, war zu erwarten. Es ist ganz einfach: Selbstverständlich gibt es Menschen unter Geflüchteten, die Gutes tun, und solche, die Schlechtes tun, genauso wie zum Beispiel unter Deutschen oder Afrikanern. Tragisch ist: Wir sind vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet, und dann werden wir hier Opfer einer grausamen Attacke. Doch so ein Verbrechen hätte uns auch woanders treffen können.

Kritiker sagen, die Tat hätte verhindert werden können. Der Attentäter war vorher schon oft auffällig und gewalttätig geworden.

Man ärgert sich natürlich darüber, auch weil der Täter als gefährlich bekannt war und Deutschland eigentlich hätte verlassen sollen. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Ich hoffe, dass der Angreifer nicht mehr freikommt.

„Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.“

Vater des angegriffenen Mädchens
Messerattacke von Aschaffenburg: Der Park Schöntal liegt mitten in Aschaffenburg. Nach dem Messerangriff entstand am Tatort eine provisorische Gedenkstätte.

Der Park Schöntal liegt mitten in Aschaffenburg. Nach dem Messerangriff entstand am Tatort eine provisorische Gedenkstätte.

Wurde Ihre Familie nach der Messerattacke immer gut unterstützt? Oder gab es auch Fehler oder Versäumnisse?

Nein, wir haben keine schlechten Erfahrungen gemacht. Von der Polizei über die Ärzte, den Oberbürgermeister bis zum WEISSEN RING – alle haben sich sehr gut um uns gekümmert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Markus Söder haben uns Briefe geschrieben. Wir können nur Danke sagen.

Sie haben Ihre eigene Fluchtgeschichte bereits angesprochen. Weshalb und wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Nachdem ich angefangen hatte, Literatur zu studieren, wurde die Lage in Syrien immer schlimmer. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Krieg und Armee oder Flucht. Ich war ein Jahr unterwegs, bin über die Türkei, Griechenland und Italien geflüchtet. Es war eine schwierige Zeit. In Deutschland, wo ich Ende 2013 ankam, habe ich erst in Baden-Württemberg gelebt und bin vor acht Jahren nach Aschaffenburg gezogen. Ich habe die Sprache gelernt, eine Ausbildung gemacht und schon in verschiedenen Berufen gearbeitet, unter anderem als Dolmetscher für das Landratsamt. Mittlerweile habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit.

Warum haben Sie sich entschieden, in Aschaffenburg zu bleiben?

Die Stadt ist meine Heimat. Klein, aber fein, man kennt sich. Wir haben hier schnell Leute kennengelernt, unser Freundes und Bekanntenkreis ist groß.

Was wünschen Sie sich für Ihre Familie für die Zukunft?

Wir wollen hier friedlich, sicher und gesund leben. Das ist das Wichtigste.

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Psyche & Gewalt

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Selina

Psyche & Gewalt

Nach Messerattacken wie in Hamburg und Amokfahrten wie in Mannheim wird intensiv über Gewalt durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung diskutiert. Sind sie gefährlicher als andere? Falls ja: Wie lässt sich das Risiko senken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, bei Fachleuten aus der Wissenschaft, Betroffenen, Ministerien und in Statistiken.

Was sich nach Attentaten wie in Aschaffenburg, Mannheim und Hamburg ändern muss.

Kapitel 1: Aschaffenburg und Mannheim

Sie legen Kuscheltiere, Blumen und Kerzen nieder. Und Briefe, in denen sie Anteil nehmen. Viele der 3000 Menschen, die sich am Abend des 23.Januar in Aschaffenburg versammeln, sind schockiert, sprachlos und weinen. Ihre Kerzen tauchen den mitten in der Stadt gelegenen Park Schöntal an diesem Winterabend in ein warmes Licht. Manche der Trauernden appellieren auf Transparenten an den Zusammenhalt; es ist ein stilles Gedenken, das seinen Namen verdient. Während in der Bundesrepublik, kurz vor der Wahl, hitzig debattiert wird.

Am Tag zuvor, am Vormittag, hatte ein 28-Jähriger in dem Park ein Messer gezogen und eine Kindergartengruppe angegriffen. Er erstach ein Kleinkind und einen 41-Jährigen, der helfend einschritt. Drei weiteren Menschen, darunter einer Kindergärtnerin, die sich ihm entgegenstellte, fügte er schwere Verletzungen zu. Vorher war der ausreisepflichtige Asylbewerber aus Afghanistan mehrfach straffällig und psychisch auffällig geworden.

Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss an, das forensisch-psychiatrische Gutachten war aber abgeschlossen. Wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mitteilte, geht der Gutachter davon aus, dass dem Beschuldigten „infolge einer psychiatrischen Erkrankung die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gefehlt habe“. Und dass die Erkrankung nicht vorübergehend sei. Falls sie nicht doch geheilt wird, sei „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren, auch hochaggressiven Taten zu rechnen“. Daher deutete alles auf ein Sicherungsverfahren hin, mit dem Ziel, den Mann dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen.

Bereits vor der Attacke im Januar wurde gegen ihn ermittelt – wegen „tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung“. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben, aber ausgesetzt. Der Grund: Der Geflüchtete gab an, freiwillig ausreisen zu wollen. Voraussetzungen für einen Haftbefehl hätten nicht vorgelegen, so die Staatsanwaltschaft.

2018

Münster. Am 7. April 2018 lenkte ein 48-Jähriger in Münster einen Kleinbus in eine Menschenmenge am Kiepenkerl-Denkmal im Stadtzentrum. Vier Menschen starben, mehr als 20 erlitten teils schwere Verletzungen. Der deutsche Täter erschoss sich anschließend selbst. Der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt kannte Jens Alexander R. bereits. Laut Informationen von SZ, WDR und NDR war der Mann bei Polizeieinsätzen als nervenkrank aufgefallen.

Der Angreifer war zu dem Zeitpunkt schon zweimal polizeilich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, am 12. Mai 2024 und im August desselben Jahres. In beiden Fällen wurde der 28-Jährige nach kurzer Zeit entlassen, im letztgenannten Fall soll er in einer Flüchtlingsunterkunft eine Bewohnerin mit einem Messer attackiert haben. Dieser Vorfall sei ihr erst nach dem Attentat vom 23. Januar dieses Jahres bekannt geworden, schreibt die Staatsanwaltschaft. Hier ermittle sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Wenige Wochen nach dem Messerangriff von Aschaffenburg, am Mittag des dritten März, fährt ein 40-Jähriger in Mannheim mit einem Kleinwagen in eine Menschenmenge. Der Deutsche tötet eine 83-Jährige und einen 54-Jährigen und verletzt elf weitere Menschen teils schwer. Ein Taxifahrer mit pakistanischen Wurzeln stellt sich ihm mit seinem Auto in den Weg. Der Angreifer schießt mit seiner Schreckschusspistole und flieht. Als die Polizei ihn festnimmt, schießt er sich in den Mund, überlebt aber.

2019

Frankfurt. Im Juli 2019 stieß der 40-jährige Habte A. eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Der Sohn starb, die Mutter überlebte. Habte A. litt an paranoider Schizophrenie. Das Landgericht Frankfurt am Main ordnete wegen der Schuldunfähigkeit des Eritreers die Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim erklärte auf Anfrage, die Ermittlungen, unter anderem wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes, liefen. Deswegen könne sie weder zum Tatablauf noch zu Motiven nähere Angaben machen. Sie habe ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliege.

Kurz nach der Tat hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund oder mögliche Mittäter gesehen. Wenige Tage später veröffentlichte das Recherchenetzwerk Exif Hinweise darauf, dass der Verdächtige früher der Neonaziszene und der „Reichsbürger“- Bewegung angehört und rechtsradikale Ansichten geteilt haben soll. Im Jahr 2018 war der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er bei Facebook unter ein Foto von Hitler in einem Kommentar „Sieg Heil from Germany“ schrieb.

Bald nach der Amokfahrt vermuteten die Ermittler, dass ein psychischer Ausnahmezustand eine Rolle spielte. Der Fahrer soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, im Jahr vor der Tat auch stationär.

Die mutmaßlichen Täter haben sich laut den Staatsanwaltschaften nicht zu den Vorwürfen geäußert. Noch ist vieles unklar, doch eines haben die Attentate von Mannheim und Aschaffenburg gemeinsam: Die Beschuldigten hatten psychische Probleme, und es gab Warnsignale. Nach Fällen wie diesen werden immer wieder Fragen laut: Wie gefährlich sind psychisch kranke Menschen? Gibt es Schutzlücken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, mit dem Fokus auf eine bessere Prävention.

Kapitel 2: Wahn und Warnsignale

Henning Saß ist einer der erfahrensten forensischen Psychiater Deutschlands. Er hat in vielen aufsehenerregenden Fällen Gutachten erstellt, etwa beim rassistischen, psychisch kranken Attentäter von Hanau oder bei NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Das Haus des emeritierten Professors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule liegt auf einem Hügel und bietet einen guten Blick über Aachen. Saß, ein sportlich wirkender Mann Anfang 80, hat einige wissenschaftliche Aufsätze bereitgelegt und bietet etwas zu trinken an. Mit seiner ruhigen Stimme schafft er auch bei dem komplexen wie brisanten Thema eine entspannte Atmosphäre.

2020

Hanau. Am 19. Februar tötete der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nach seinen Angriffen auf Bars und einen Kiosk tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst. Gutachter Henning Saß sah beim Täter klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie.

Aufmerksam verfolgt der Psychiater, der schnell und präzise antwortet, die Diskussion nach Attentaten wie in Aschaffenburg und Mannheim. „Nach solchen Einzeltaten, die in die Schlagzeilen kommen, betrachte ich die Debatte mit großer Sorge, weil sie zu einer Diskriminierung der psychisch Kranken insgesamt führen kann“, sagt er. „Aussagen wie ,Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlicher‘ sind unsinnig.“ Man müsse differenzieren. Während die meisten Betroffenen nicht gewalttätig seien, bestehe bei bestimmten Krankheiten tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko, „und zwar in doppelter Hinsicht: Gewalt auszuüben und Opfer davon zu werden“. Das treffe insbesondere auf die schizophrenen Psychosen zu, aber etwa auch auf die dissoziale Persönlichkeitsstörung und die Substanzkonsumstörungen.

Die Rechtslage

Wenn bei psychisch kranken Menschen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden. Geregelt ist dies in den Psychisch-Kranken- beziehungsweise Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen der Bundesländer. Ziele seien Gefahrenabwehr und Hilfe für die Erkrankten. Eine Unterbringung – für die es eine ärztliche Einschätzung braucht – wird in der Regel vom Gesundheitsamt beantragt. Die Entscheidung fällt das Amtsgericht. Nur wenn es nicht schnell genug entscheiden kann, kommt eine „vorläufige Unterbringung wegen Gefahr im Verzug“ durch das Amt selbst infrage. Zudem kann eine Unterbringung nach einer Verurteilung oder einem Sicherungsverfahren beschlossen und im Maßregelvollzug vollstreckt werden. Gemäß § 63 Strafgesetzbuch ist dies bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, die zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und bei denen weiter erheblich rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Dauer ist nicht befristet, sondern von der Risikoeinschätzung abhängig, die mindestens einmal pro Jahr erfolgt. Laut § 64 StGB können Menschen mit Suchterkrankungen, die unter Drogeneinfluss oder infolge ihrer Abhängigkeit straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die Unterbringung ist in der Regel auf zwei Jahre befristet. Darüber hinaus können Polizeibehörden psychisch auffällige Personen bei Gefahr im Verzuge festhalten und einem Arzt oder Psychiater vorstellen.

Saß verweist unter anderem auf eine schwedische Studie zum Gewaltrisiko von Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Wissenschaftler betrachteten die Entwicklung von 250.000 Patientinnen und Patienten. Dafür werteten sie Register aus. Insgesamt hatten die Erkrankten demnach ein drei- bis viermal höheres Risiko, gewalttätig zu werden oder Gewalt zu erfahren. Bei einer akuten Schizophrenie kann der Faktor höher liegen. Eine andere Untersuchung fokussierte sich auf diese Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass zehn Prozent der männlichen Patienten eine Gewalttat begangen hatten.

Die psychische Erkrankung, betont der Professor, sei aber jeweils – neben Drogen, Alkohol, männlichem Geschlecht, Jugend und prekären sozialen Bedingungen – nur ein Risikofaktor. Und damit nur eine potenzielle Ursache für Gewalt.

Unsichere Lebensverhältnisse beträfen auch Geflüchtete: „Sie sind sozial und ökonomisch entwurzelt, haben oft keinen Kontakt zu ihrer Familie und wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Das kann sie psychisch labilisieren und anfällig für extremistische Gedanken machen.“

„Am Ende bleibt die Unsicherheit“

Ein Mann schlägt eine Frau brutal zusammen. Er gilt als schuldunfähig. Während die Betroffene um psychologische Hilfe kämpfen muss, bekommt der Täter sofort eine Behandlung.

Ich war auf dem Weg zu meinem Mieter. Als ich das Wohnhaus betrat, kam mir ein Mann entgegen. „Guten Tag“, mehr habe ich nicht zu ihm gesagt. Er fragte, ob ich hier wohne, und ich antwortete, dass ich hier eine Wohnung habe. Er schrie mir hinterher: „Wohnst du hier?“ Dann packte er mich an den Haaren, zog mich die Treppe hinunter und prügelte auf mich ein. Ich kannte den Mann nicht, war ihm nie zuvor begegnet.

Es stellte sich heraus, dass er paranoide Schizophrenie hat. Mir war es wichtig, dass er weggesperrt wird, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie hochgradig gefährlich er ist. Das Gericht war der Meinung, er sei schuldunfähig, und steckte ihn in eine forensische Klinik. Es wertete die Tat als schwere Körperverletzung, aber für mich war es versuchter Mord. Er holte im Laufe der Tat extra einen Metallgegenstand aus seiner Wohnung, um damit weiter auf mich einzuschlagen. Wäre mein Mieter nicht gekommen, hätte er mich getötet.

Meine Anwältin sagte, dass es gut sei und er in der Klinik bleiben werde. Aber im Nachhinein ist da eine Unsicherheit. Was ist, wenn er einen Psychologen hat, der es gut mit ihm meint und ihn früh entlässt? Aus Gerichtsunterlagen kennt er meine Adresse. Was ist, wenn er Rache möchte? Ich werde über eine Entlassung nicht informiert. Dazu kommen die Kosten. Der Mann ist mittellos. Alles musste ich selbst bezahlen, die

Gerichtskosten, die 4000 Euro für die zehn ausgeschlagenen Zähne. Ich bin selbstständig und kann bis heute nur zwei Stunden am Tag arbeiten. Ich habe einen Grad der Behinderung von 40 attestiert bekommen. Meine Wortfindungsstörung ist besser geworden, aber mein Neurologe sagte mir, dass alles an Verbesserung nun ausgeschöpft sei. Nach drei Jahren habe ich eine kleine Rente bekommen. Meine Eigentumswohnung musste ich verkaufen.

Drei Monate habe ich nach einem Therapieplatz gesucht. Der Traumatherapeut war schon kurz vor dem Ruhestand, aber nachdem er vom Fall gehört hatte, nahm er mich auf. Alles musste von mir organisiert werden, mir hat niemand geholfen außer meiner Betreuerin vom WEISSEN RING. Der Täter kam in eine Klinik, bekam ein Therapieangebot, auch für seine Cannabis-Sucht. Um die Täter kümmern sie sich, um die Opfer nicht. Es sollte so etwas wie einen Code für Opfer von solchen Delikten geben. Diesen könnte das Gericht für eine schnelle psychologische Unterstützung an die Krankenkasse weiterleiten. Opfer sollten informiert werden, wenn der Täter wieder freikommt. Und Menschen mit einer solchen Gewaltbereitschaft sollten strenger beobachtet werden.

Petra

Treffen die Risikofaktoren Wahnerkrankung und Extremismus aufeinander, können sie sich vermischen und verstärken, so Saß. Wie im Fall des Hanauer Terroristen, wo bei der posthumen Begutachtung eine „Amalgamierung“ erkennbar war, also eine Verbindung von „Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken“.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren bei der Gewaltkriminalität allein im vergangenen Jahr 217.277 Fälle registriert, bei einem Anstieg von 1,5 Prozent gegenüber 2023. Ob ein Verdächtiger psychisch krank war, wird in der Regel jedoch nicht in der PKS erfasst.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gleich „Gefährder“.

Erste Hinweise auf das Ausmaß des Gewaltproblems bei psychisch Kranken können Statistiken des Maßregelvollzugs geben. Tendenziell ist die Zahl der untergebrachten Straftäter gestiegen, wie aus einer Länderumfrage des WEISSER RING Magazins hervorgeht. In Hessen zum Beispiel nahm die durchschnittliche Belegung von 672,5 Patienten im Jahr 2015 auf 939,2 im Jahr 2024 zu, in Berlin von 801 auf 848, in Rheinland-Pfalz von 604 auf 715. Darunter sind allerdings nicht nur Gewalttäter, sondern auch Menschen, die gemäß Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund einer Suchterkrankung im Maßregelvollzug sind. Bei Personen, die nach § 63 untergebracht worden sind, zählen Körperverletzung, Tötungs- sowie Sexualdelikte zu den häufigsten Taten. Auch bei diesem Paragraphen sind die durchschnittlichen Belegungszahlen in einem Großteil der Bundesländer gestiegen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel von 242 Patienten im Jahr 2015 auf 257 im vergangenen Jahr, in Baden-Württemberg von 535 auf 805 und im Saarland von 89 auf 129.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit: „Die Zahl der schwer psychisch erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Straftaten begangen haben, ist in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren angestiegen.“ Zu den wenigen Bundesländern, die die vor einer Unterbringung begangenen Gewalttaten – etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung und Sexualdelikte – detailliert aufschlüsseln können, zählt Baden-Württemberg: Die Zahl dieser Delikte ist von 523 im Jahr 2013 auf 789 zehn Jahre später gestiegen. Im Jahr 2023 saßen dort 3232 Menschen im Maßregelvollzug. Wie viele Geflüchtete unter den Patienten sind, ist in keiner Länderstatistik erfasst.

2020

Trier. Am 1. Dezember 2020 fuhr ein 51-jähriger Mann mit einem Geländewagen durch die Fußgängerzone von Trier und tötete sieben Menschen, darunter ein Baby. 22 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der deutsche Täter war betrunken und litt an einer paranoiden Schizophrenie. Schuldunfähig sei er zum Tatzeitpunkt jedoch nicht gewesen. Das Landgericht Trier verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Britta Bannenberg empfängt in ihrem auffallend aufgeräumten Büro, wo alles seine Ordnung zu haben scheint, auch dank der unzähligen Ordner. Die Kriminologin war früher Langstreckenläuferin. Bannenberg – offenes Lächeln, starker Händedruck – ist nach wie vor fit und ausdauernd, in mehrfacher Hinsicht: Die Professorin der Universität Gießen, an der sie unter anderem die kurzen Wege schätzt, forscht seit gut 20 Jahren zu Amok und Terror. „Es handelt sich um sehr seltene Taten, die in den vergangenen Jahren aber zugenommen haben“, sagt Bannenberg. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Anschlägen verhindert. Zu den möglichen Gründen für den Anstieg zählten die vielfältigen Herausforderungen in jüngster Zeit, etwa die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die stärkere Zuwanderung seit 2015. All dies könne dazu beitragen, dass manche Menschen in eine Krise geraten, andere dafür verantwortlich machen und einen enormen Hass entwickeln, zum Beispiel auf Zugewanderte.

Bannenberg beschäftigt sich intensiv mit den Attentätern, um Erkenntnisse für die Ursachen und die Prävention zu gewinnen. Sie beobachtet gewisse Nachahmungseffekte beim Zeitpunkt der Tat und bei den Methoden: Täter fühlten sich durch andere Täter und die Berichterstattung über sie angeregt, jetzt zu handeln, hätten oft aber schon vor Jahren über einen Anschlag nachgedacht. Zum Teil seien sie ideologisch, etwa islamistisch oder rassistisch, zum Teil persönlich motiviert.

2021

Witzenhausen. Ein 31-Jähriger fuhr am 29.Oktober 2021 mit einem Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige starb, eine Sieben und eine Achtjährige wurden schwer verletzt. Das Landgericht Kassel ordnete die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an. Aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie galt der Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig.

Die Rechtswissenschaftlerin hat weitere Merkmale gesammelt: Fast alle Täter sind demnach männlich und die meisten psychisch gestört, ein Drittel auch psychisch krank. Dennoch seien sie in der Lage, die Tat detailliert zu planen. Im Gegensatz zu den paranoid schizophrenen Tätern seien die persönlichkeitsgestörten in der Regel schuldfähig und wüssten genau, was sie täten und weshalb. Sie wollten möglichst viele Menschen töten, Aufmerksamkeit und eine Art Heldenstatus bekommen und sich an der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen rächen. Es handele sich um Einzelgänger, die soziale Defizite aufweisen, keine Empathie hätten und sich einerseits überlegen, andererseits gedemütigt fühlten. „Die Kälte zeigt sich im Tötungsakt“, so Bannenberg.

Kapitel 3: Maßregelvollzug und Missstände

Die Sonne scheint auf die graugrüne Fassade, die im Licht beinahe freundlich wirkt. Auf den ersten Blick erinnert das Gebäude an eine moderne Schule – bis Kameras, Sicherheitsdienst und eine drei Meter hohe Hochsicherheitstür klarmachen: Dies ist kein Platz für Kinder. In der forensischen Psychiatrie am Europakanal im bayerischen Erlangen werden Straftäter mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt. Sie sind nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt worden und wurden als schuldunfähig eingestuft. Das Nachbargebäude entspricht eher dem Bild, das viele vom Maßregelvollzug haben: schmutzige Betonwände, ausgebleichtes Orange an den Fensterrahmen – ein Ort, der auf Abstand hält. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Paragraf 64 StGB verurteilt wurden. Sie sind schwer suchtkrank und haben dadurch Straftaten begangen. „Das Gebäude wird noch saniert“, sagt Chefarzt David Janele.

2021

Würzburg. Am 25. Juni 2021 tötete ein 24-jähriger in der Würzburger Innenstadt drei Frauen und verletzte mehrere weitere Personen mit einem Messer. Der Mann war bereits zuvor wegen psychischer Probleme auffällig geworden. Das Würzburger Landgericht, das die Taten unter anderem als dreifachen Mord wertete, ordnete die dauerhafte Unterbringung des zum Tatzeitpunkt wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähigen Somaliers in die Psychiatrie an.

Die Führung beginnt in dem sanierten Gebäude, bei den psychisch erkrankten Straftätern. Pflegekräfte und Patienten sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. „Alle tragen Alltagsklamotten“, erklärt Janele. Dies unterstütze die therapeutische Behandlung, da eine weniger „klinische“ Atmosphäre helfen könne, die Rehabilitation zu erleichtern. Locker geht es hier deshalb nicht zu. Es befinden sich Gitter an den Fenstern, die kleinen Zimmer sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Bett, Tisch, Bad. Und niemand kommt einfach raus. „Paragraf 63 ist unbefristet – das schärfste Schwert der Justiz und der tiefste Eingriff ins Persönlichkeitsrecht.“ Beengt wirkt die Station nicht, obwohl die Zahl der schuldunfähigen Täter gestiegen ist. In Bayern wurden 2015 2.561 Menschen behandelt, zehn Jahre später liegt die Zahl bei rund 3.000. Eine Zunahme um etwa 17 Prozent, die Chefarzt Janele auch in seinem Klinikum wahrnimmt. Aber: „Bei uns, wie auch in ganz Bayern, haben wir im Maßregelvollzug ausreichend Betten sowie Kapazitäten, um alle gut zu versorgen.“

Eine Aussage, die nicht alle Bundesländer treffen. Das WEISSER RING Magazin hat bundesweit Träger forensischer Kliniken angefragt. In Berlin gibt es 549 ordnungsbehördlich genehmigte Betten, im Oktober 2024 waren aber 622 belegt. Im Jahr 2024 kam es wiederkehrend dazu, dass Patienten aufgrund von Platzmangel nicht aufgenommen wurden. Im März 2024 waren nur 75,4 Prozent aller Personalstellen besetzt: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die sich aus der Risiko-Nutzen-Abwägung ergeben und notwendig wären“, sagt die Senatsverwaltung.

2022

Berlin. Am 8. Juni 2022 fuhr ein 29-Jähriger mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Eine Lehrerin starb, 32 Menschen wurden verletzt. Wegen einer gutachterlich bestätigten chronischen paranoiden Schizophrenie wurde der Deutsch-Armenier vom Landgericht Berlin dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.

Und das sind nicht die einzigen Probleme in Berlin. Die räumliche Enge in der Forensik hat in der Vergangenheit zu Konflikten sowie Gewalt beigetragen, was wiederum eine hohe Zahl von isolierten Patienten zur Folge hatte. Ein Umstand, mit dem der ehemalige ärztliche Leiter Sven Reiners aus Gewissensgründen nicht zurechtkam und deshalb kündigte.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist Träger von sechs Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist das Patientenaufkommen in den vergangenen zehn Jahren von 1236 auf 1357 gestiegen. Auf Anfrage entgegnet ein LWL-Sprecher, die Häuser seien gut besetzt. Gleichwohl
räumt er ein: „Der Stellenmarkt der forensischen Kliniken unterliegt mehrfachen Herausforderungen.“ Gründe seien Fachkräftemangel, Stadt Land-Gefälle, Überalterung. Auf die Frage, ob sie in ihrer Einrichtung die Patienten gut versorgen können, antwortet das LWL knapp: „Die Versorgung ist per Gesetz geregelt.“

„Ich fühlte mich verarscht“

Eine Frau wurde vergewaltigt. Für die Betroffene unverständlich: Obwohl ein Gutachten den Täter als schuldfähig einstufte, möchte der Richter ihn in eine forensische Klinik schicken.

Er hätte mich getötet, wenn niemand gekommen wäre. Er sagte es mir auch immer wieder, während er mich vergewaltigte und würgte. Dabei wollte ich nur auf die Toilette gehen. Es war morgens, um neun Uhr, in einer Kneipe. Meine Freundin wartete draußen. Als ich nicht wiederkam, ging sie hinein, um nach mir zu sehen. Der Täter floh. Später werde ich erfahren, dass er an diesem Tag noch eine weitere Frau vergewaltigt hat.

Vor Gericht hörte ich das Gutachten eines Psychologen: Er erklärte, warum der Täter zu beiden Tatzeitpunkten schuldfähig war. Der Gutachter betonte, dass er die Taten nicht aufgrund eines Alkoholproblems begangen hat. Der Täter sei bei mir so brutal gewesen, das hätte er auch nüchtern gemacht, sagte der Gutachter. Laut ihm war er auch nicht betrunken, da er motorisch nicht eingeschränkt war. Ich roch auch keinen Alkohol während der Tat. Der Barkeeper sagte mir später, er gab dem Mann nur zwei Bier und einen Kurzen.

Acht Jahre Haft bekam der Täter. Nach zwei Jahren und neun Monaten soll er in eine Entzugsklinik, bis sein Alkoholproblem gelöst sei. Ein Alkoholproblem, das laut Gutachter gar nicht existiert. Ich fühlte mich verarscht. Während der acht Prozesstage schien es, als sei der Richter auf der Seite der beiden Opfer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er voreingenommen war. Es kommt mir so vor, dass er in der Akte „morgens in einer Kneipe“ las und dazu seine Vorstrafen: Einmal schlug er einen Mann mit einer Flasche. Das Opfer ist teilerblindet. Auch bei dieser Tat war wohl Alkohol im Spiel, daher sah der Richter trotz des Gutachtens ein Alkoholproblem.

Ich glaube, dass dem Gericht der Schutz von Frauen wichtig ist, aber meine Schädigungen hatten nicht genug Gewicht bei der Urteilsfindung. Der Richter sah die Bisswunden an meinem Körper, die gebrochenen Rippen, die Prellungen – aber nicht, was die Tat nachhaltig für mich bedeutet. Ich bin arbeitsunfähig mit 28 Jahren, habe Ängste und Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln, habe eine posttraumatische Belastungsstörung, ich konnte lange nicht ohne Begleitung auf öffentliche Toiletten gehen.

Ich glaube daran, dass sich Menschen in Haft positiv entwickeln können – aber nicht bei ihm. Er wäre bereit gewesen zu töten. Ich akzeptiere das Urteil nicht. Am 11. Juni wird der Bundesgerichtshof über den Fall diskutieren. Eine erneute Verhandlung bedeutet auch, dass alles noch mal von vorne losgeht. Ich muss wieder jedes intime Detail der Vergewaltigung vor Gericht erzählen.

Nele

Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme

Zurück in Erlangen. Das alte Gebäude mit den Verurteilten nach Paragraf 64 StGB sieht voll belegt aus. Auf den dunklen Gängen tummeln sich viele Männer, im Aufenthaltsraum schaut eine Gruppe fern. „Der Paragraf 64 war lange nicht trennscharf zwischen wirklich schwer Suchtkranken und Menschen, die nur mal Suchtmittel probiert haben. Seit der Reform des Paragrafen 2023 kommen wirklich nur Menschen zu uns, die schwer abhängig sind“, so Janele. Daher sinke die Zahl der Patienten langsam wieder. Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme. Durch medikamentöse, psycho-, störungs- und deliktspezifische Therapien – teils einzeln, teils in Gruppen – sollen Rückfälle verhindert werden. Das Bundesjustizministerium hat 2020 eine bundesweite Untersuchung dazu veröffentlicht. Schuldunfähige Straftäter aus forensischen Kliniken werden demnach seltener rückfällig. Nach drei Jahren liegt die Rückfallquote bei Entlassenen aus Gefängnissen bei 45 Prozent, aus forensischen Kliniken zwischen zehn und 38 Prozent.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt Janele. Unter Suchterkrankten sei das Risiko eines Rückfalls höher als unter psychisch erkrankten Menschen.

Kapitel 4: Prävention und Politik

Nach den jüngsten Attentaten ist der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko haben können, zum Politikum geworden. Auch Union und SPD gehen in ihrem Koalitionsvertrag darauf ein: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen“, heißt es in dem Papier. Die Regierungsparteien planen „eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement“. Viel konkreter werden die Koalitionspartner nicht, ebenso wenig wie bei ihrem Ziel, zu verhindern, dass Waffen legal in die Hände psychisch Kranker gelangen.

Die Bundesländer beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema. Das saarländische Innenministerium beispielsweise teilt auf Anfrage mit, es betrachte „mit Sorge, dass psychisch kranke Gefährder beziehungsweise Gewalttäter wiederholt in Erscheinung getreten sind“. Rheinland-Pfalz stellt auch im Strafvollzug eine „starke Zunahme“ bei den psychisch auffälligen und erkrankten Gefangenen fest. Bremen gibt zu bedenken, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland insgesamt stetig steigt und damit auch der Anteil der von den Betroffenen begangenen Straftaten, ohne dass diese per se mit den Krankheiten zusammenhängen müssten.

2023

Berlin. Am 3. Mai 2023 verletzte ein Mann mehrere Kinder mit einem Messer auf dem Schulhof einer Berliner Grundschule. Der Täter wurde in einem Gutachten als psychisch krank und schuldunfähig eingestuft und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Landgericht Berlin in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Bei der Innenministerkonferenz stehen „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ auf der aktuellen Agenda weit oben. Die Konferenz sieht Lücken in dem Bereich und fordert in erster Linie, bundesweit Sicherheits- und Gesundheitsbehörden sowie Ausländer- und Waffenbehörden miteinander zu vernetzen und den Informationsaustausch zu erleichtern – wenn nötig mithilfe von Gesetzesänderungen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt auf Anfrage, Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Störungen seien nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Das BKA beteiligt sich an einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, deren Ziel die Früherkennung schwerer Gewalttaten ist. Auch das Bundeskriminalamt betont, dass nur wenige Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für Gewalt einhergehen. Und dass eine Erkrankung in der Regel höchstens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren Gewalt auslösen könne.

Schon jetzt können Polizeibehörden Personengebundene Hinweise (PHW) sammeln, darunter Psychische und Verhaltensstörung (PSYV), wenn das für die Eigensicherung der Beamten und zum Schutz der Person nötig ist. Im bundesweiten Informationssystem der Polizei waren zuletzt etwa 16.000 Menschen mit einer psychischen Störung erfasst. Die Hinweise sind umstritten, auch aus Datenschutzgründen. In Hessen, teilt das Innenministerium mit, wurden im Jahr 2024 307 Tatverdächtige mit dem Hinweis „Psychische oder Verhaltensstörung“ registriert, darunter 21 Asylsuchende. Im Jahr 2019 waren es 255 Verdächtige mit PSYV, drei Jahre zuvor 154. Wie die Polizei diese Hinweise nutzt, werde wie in anderen Ländern nicht statistisch erfasst.

„Aufgrund der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten“ hat das Bundesland beim Landeskriminalamt die Task Force Psychisch Auffällige/Vielschreiber/Gewalttäter (PAVG) eingerichtet. Sie sei Teil der polizeilichen Gefahrenabwehr und prüfe zunächst alle in den Informationssystemen erfassten Personen mit dem Hinweis „Psychische und Verhaltensstörung“. Dabei prüfe die Task Force „Risiko- und Schutzfaktoren“, beispielsweise die Wohnsituation und die familiäre Struktur, Alkohol- und Drogenkonsum, Suizidgefahr, Waffenaffinität und Gewaltneigung. Kritik an der Datenbank und der neuen Einheit weist das Ministerium zurück: Es würden lediglich auffällige, polizeibekannte Personen registriert, bei denen durch ein ärztliches Gutachten oder Attest eine psychische Erkrankung beziehungsweise Auffälligkeit festgestellt worden sei. Im Fokus stünden Menschen, die eine schwere Gewalttat begehen könnten. Dadurch sei der Personenkreis „stark begrenzt“, weshalb Erkrankte weder stigmatisiert noch unter Generalverdacht gestellt würden. Mittlerweile sei die Prüfung zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie betrifft rund 1600 Menschen.

2024

München. Ein Mann hat am 23. Juli 2024 in einer Einkaufsstraße im Münchner Stadtteil Pasing einen 18- und einen 25-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter war nach Angaben der Justiz zum Zeitpunkt des Angriffs aufgrund einer paranoiden Schizophrenie von dem Gedanken beherrscht gewesen, Deutschland müsse von Muslimen befreit werden. In einem sogenannten Sicherungsverfahren ordnete das Landgericht München 1 die Unterbringung des Mannes in einer Psychiatrie an.

Die Task Force solle Behörden und andere Institutionen informieren, etwa Gesundheitsämter, Gerichte und Ausländerämter. Als Handlungsoptionen nennt das Ministerium Gefährderansprachen, Kontakt-, Annäherungsverbote, bei einer konkreten Gefahr auch Observationen und Gewahrsam oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Nordrhein-Westfalen hat ein ähnliches Konzept: „PeRisikoP“ (Personen mit Risikopotenzial). Dabei arbeiten ebenfalls verschiedene Stellen, darunter Justizbehörden und Gesundheitsämter zusammen, um Straftaten psychisch auffälliger Personen zu verhindern. Das ist in einigen Fällen gelungen, in anderen nicht. So zündete in Krefeld Hasan N., den Mitarbeitende des Präventionsprojekt auf dem Schirm hatten, ein Kino an.

Mehrere Länder, darunter Bayern, Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, erwägen oder planen, ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz zu ändern, um die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu erweitern. Im hohen Norden wird dabei zum Beispiel auch über die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug diskutiert, um chronischen Erkrankungen und einer möglichen „langanhaltenden Selbst- und/oder Fremdgefährdung“ entgegenzuwirken.

Die Pläne und Maßnahmen haben Lob, aber auch Kritik hervorgerufen: Einige Rechtswissenschaftler sehen die Freiheitsrechte in Gefahr. Und der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen warnte bereits nach dem Attentat von Aschaffenburg vor „schnellen Lösungen wie Zwangsmaßnahmen“. Er forderte stattdessen: „Eine menschenwürdige psychiatrische Versorgung muss gestärkt werden, insbesondere durch den Ausbau von Krisendiensten und ambulanter Hilfe.“

„Die beste Prävention“, sagt der forensische Psychiater Henning Saß in seinem Haus in Aachen, „ist eine gute psychiatrische Versorgung und eine konsequente Behandlung, die sich nicht nur auf die Akutphase beschränkt, sondern so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist.“ Er macht eine kurze Pause und wiederholt seine Aussage sinngemäß, mit Nachdruck, weil sie ihm so wichtig ist. Im Zweifelsfall, so Saß, könnten Patienten nach einer Unterbringung etwa unter der Auflage entlassen werden, regelmäßig in der Ambulanz oder beim sozialpsychiatrischen Dienst zu erscheinen. Grundsätzlich, betont der Psychiater, brauche es mehr als Neuroleptika und Antidepressiva, etwa Soziotherapie. „Man muss sich zum Beispiel auch um die sozialen Beziehungen der Menschen kümmern, um ihre Wohn- und Arbeitssituation, um sie zu reintegrieren.“

Beim Waffenrecht rät er, psychische Erkrankungen intensiv zu berücksichtigen. Dafür müssten Daten von Gesundheitsämtern ausreichend lange gespeichert und ein Austausch zwischen Behörden über Ländergrenzen hinweg ermöglicht werden. Der Hanau-Attentäter war 2002 in Bayern in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden. Als er gut 15 Jahre später im hessischen Main-Kinzig-Kreis eine Waffenerlaubnis beantragte, lag diese Information der zuständigen Behörde offenbar nicht vor.

Ansonsten ist Saß kritisch, was das Sammeln von Daten angeht. Ein in den vergangenen Monaten diskutiertes Zentralregister für psychisch kranke Menschen lehnt er ab, warnt davor: „Das würde zur Stigmatisierung beitragen und die Schwellenangst, sich bei psychischen Problemen behandeln zu lassen, erhöhen.“ Was wiederum die Prävention behindern würde.

2025

Aschaffenburg. Ein 28-Jähriger hat am 22. Januar in einem Park in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann mit einem Messer getötet und drei Menschen schwer verletzt. Ermittler hatten schnell Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gefunden, etwa entsprechende Medikamente in seinen Wohnräumen. Er wurde in der Psychiatrie untergebracht. Laut Gutachten war der Mann zum Tatzeitpunkt schuldunfähig.

Auf dem Campus in Gießen will Kriminologin Britta Bannenberg dazu beizutragen, Amoktaten und Anschläge zu verhindern. Das treibt sie an. Sie hat regelmäßig Kontakt mit Opfern und weiß, was diese durchmachen. Bannenberg hat herausgefunden, dass vor solchen Verbrechen „klare Warnsignale“ zu erkennen sind. „Die Gedanken an die Tat sind jahrelang da, die Tatvorbereitungen geschehen vor allem in den letzten vier bis acht Wochen.“ Dann komme es im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, bei Behörden oder im Netz vermehrt zu verdächtigen Aussagen. Die Täter bekunden beispielsweise ihre Sympathie für andere Attentäter oder werden konkreter. Gleichzeitig bereiten sie die Attentate intensiv vor, kundschaften mögliche Tatorte aus. Als Beispiel nennt Bannenberg die mehr als 100 Drohungen und anderen bedenklichen Äußerungen des Magdeburg-Attentäters, bei dem mehrere Gefährderansprachen stattfanden, allerdings ohne weitere Konsequenzen. „Manche werden als Querulanten eingestuft und früher oder später nicht mehr ernstgenommen. Das ist falsch. Gerade wenn explizite Aussagen fallen, müssen sie intensiv abgeklärt werden.“ Wichtig sei es herauszufinden, in welcher Verfassung sich ein Mensch befinde, ihn deutlich mit seinen problematischen Aussagen zu konfrontieren und ihn eventuell in der Psychiatrie vorzustellen. Eine Gefährderansprache reiche dazu oft nicht.

Die Polizei sei „ein wichtiges Einfallstor“, helfe in vielen Fällen, müsse aber noch stärker sensibilisiert werden, um gefährliche Personen zu erkennen, ebenso wie andere Behörden und die allgemeine Psychiatrie. „Im Gegensatz zur Forensik gehören dort etwa fremdgefährliche, persönlichkeitsgestörte Menschen nicht zum Alltag.“ Bei der Polizei komme es darauf an, dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen in Verdachtsfällen auch in der „letzten Polizeistation“ ernstgenommen und die Gefährdung intern abgeklärt werde.

Um in konkreten Fällen zu helfen, hat Bannenberg das Beratungsnetzwerk Amokprävention entwickelt. Eine Art Hotline für Menschen, die befürchten, jemand aus ihrem Umfeld könnte ein Attentat begehen. Die Ratsuchenden erhalten dort eine erste Einschätzung zur Lage und Hinweise zum Umgang mit dem potenziell gefährlichen Menschen. „Gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“, sagt Bannenberg und fügt hinzu, dass die Sorge von etwa 80 Prozent der Anrufenden berechtigt sei.

2025

Mannheim. Am 3. März 2025, Rosenmontag, fuhr ein 40-jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge in der Mannheimer Innenstadt. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Es gibt laut Staatsanwaltschaft Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters sowie einen psychischen Ausnahmezustand zur Tatzeit. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ein weiteres Präventionsangebot hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOSBW) geschaffen, eine beim Oberlandesgericht Karlsruhe ansässige gemeinnützige Einrichtung. „Unser Ziel ist immer der Opferschutz, auch wenn wir Täter behandeln“, sagt Sylvia Kubath-Heimann, Fachpsychologin für Rechtspsychologie bei BIOS. „Im Rahmen der Führungsaufsicht bei therapeutischer Anbindung können eventuelle Krisen schneller erkannt und es kann eingegriffen werden. So lässt sich auch das Rückfallrisiko begrenzen.“

Darüber hinaus hat BIOS eine Anlaufstelle für Menschen, die Angst haben, ein Gewalt- oder Sexualdelikt zu begehen. BIOS-Sprecherin Sabrina Sengler erinnert an das Attentat in Mannheim: „Der Täter hatte Gewaltfantasien, und es ist bekannt, dass er nach Hilfe suchte“, sagt sie. Er hätte an BIOS vermittelt werden sollen. „Hilfe suchen und Hilfe bekommen ist ein großer Teil bei der Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten“, sagt Sengler. Wöchentlich melden sich circa fünf Personen aus Angst, zum Täter werden zu können. Doch aufgrund fehlender Fördermittel könne das Angebot nicht offensiver beworben werden, da es an Therapeuten mangele.

Kapitel 5: Versorgung und Mangel

Prävention bedeutet nicht nur, straffällig gewordene psychisch Kranke zu therapieren, sondern auch, Menschen frühzeitig zu behandeln, damit es nicht erst zu einer Tat kommt. Das WEISSER RING Magazin hat eine Länderumfrage zur Versorgung gemacht. Die Gesundheitsministerien sprechen in ihren Antworten meist von einer Überversorgung bei Psychotherapeutenplätzen. Und von einer Wartezeit auf einen Therapieplatz von vier Wochen.

„Die beste Prävention ist eine gute psychiatrische Versorgung, die so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist“

Professor Henning Saß

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die Rahmenrichtlinien für die Bedarfsplanung fest – auf dieser Grundlage entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) über die Zahl der Kassensitze in einer Region. Eine Überversorgung bedeutet, dass die Sitze belegt sind. Aber ob das den tatsächlichen Bedarf deckt, bezweifeln Experten. „Zum Beispiel können nicht alle Einwohner das gesamte Angebot nutzen, da es unter den Psychotherapeuten Spezialisierungen gibt“, sagt der Erlanger Chefarzt Janele. In Sachsen herrscht laut KV eine Überversorgung mit 1.103 Psychotherapeuten, die auf 4,05 Millionen Einwohner kämen. Das entspricht einem Therapeuten für fast 3.700 Einwohner. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.

Nordrhein-Westfalen findet klare Worte: „Die rechnerisch gute Versorgungslage steht im Widerspruch zu den Wartezeiten auf eine Richtlinientherapie.“ Bayern bestätigt, dass die Lage schon lange angespannt sei und die Vorgaben der Planung nicht den tatsächlichen Bedarf abbildeten.

Der G-BA erklärt auf Anfrage, nach den Hausärzten habe keine fachliche Berufsgruppe so viele Kassensitze wie Psychotherapeuten. Studien hätten ergeben, dass es nicht mehr Plätze brauche, sondern eine Umverteilung. Mehr Therapeuten müssten aus der Stadt aufs Land ziehen.

Die Diskussion um Kassensitze betrachtet Janele als nicht zielführend: „Am Ende ist es doch so: Die Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung wie paranoide Schizophrenie gehen damit nicht zu einem einfachen Psychotherapeuten. Der könnte sie nicht allein zielführend behandeln.“ Dazu brauche es eine Mitbehandlung durch einen niedergelassenen Psychiater und mehr ambulante psychiatrische Anlaufstellen für solche Fälle. Darüber hinaus fordert Janele einen Ausbau der rechtlichen Rahmenbedingungen beispielsweise für behandlungsunwillige Patienten mit einem hohen Gefährdungspotential.

2025

Hamburg. Eine 39-jährige Frau stach am 23. Mai im Hauptbahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende ein. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Ein Haftrichter ordnete an, die Verdächtige in einer Psychiatrie unterzubringen. Sie war erst am Tag vor der Tat aus einer solchen Einrichtung entlassen worden. Die Frau soll bereits im Februar auf einem Spielplatz a Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben.

BIOS-Psychologin Sylvia Kubath-Heimann mahnt, eines nicht zu vergessen: „Bei der psychischen Erkrankung Schizophrenie kriminalisieren sich nur drei bis zehn Prozent der Betroffenen überhaupt.“ In Deutschland ist laut Schätzungen etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt.

 

Psychisch kranke Menschen: Ein illustrierter Mensch mit einem Riss im Kopf.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt David Janele.

Clara (Name geändert) hat eine psychische Erkrankung. „Es hat Jahre gedauert, bis ich meine Borderline-Diagnose annehmen konnte“, sagt sie. Ein Grund sei das gesellschaftliche Stigma gewesen. Selbst unter Fachleuten gälten Menschen mit der Krankheit oft als „unberechenbar“. Mit 17 Jahren war sie erstmals in der Psychiatrie, seitdem regelmäßig. Die Aufenthalte hälfen ihr, aber es gebe viel Verbesserungsbedarf: Eine psychotherapeutische Behandlung finde kaum statt, meist böten die Kliniken nur Gruppengespräche mit Sozialarbeitern oder Beschäftigungstherapie. Patientinnen und Patienten auf einer geschützten Station dürften teils nicht allein ins Bad, seien darauf angewiesen, dass das Personal „Zeit hat“ für alltägliche Bedürfnisse wie Zähneputzen. Das könne auch mal Stunden dauern. „Vermutlich wegen der Überforderung der Pflegekräfte aufgrund des Personalmangels“, sagt Clara.

Der Personalmangel wird auch in Zahlen deutlich

Laut dem zweiten Quartalsbericht 2024 des Institutes für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfüllten nur rund ein Drittel der Einrichtungen die Personalstandards: 34,7 Prozent der Erwachsenenpsychiatrien, 34,6 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und 33 Prozent der psychosomatischen Kliniken. Die Daten basieren auf Auswertungen von 1.090 Standorten. Kurz gesagt: Es fehlen 500.000 Pflegepersonal-Arbeitsstunden.

Der Sprecher des LWL in Nordrhein- Westfalen sieht prekäre Situationen in den Allgemeinpsychiatrien: Es sei zu beobachten, dass immer häufiger Menschen aus den Kliniken im Maßregelvollzug landen, weil sie zuvor nicht intensiv genug behandelt worden seien. Der LWL-Maßregelvollzug fordert mit weiteren Trägern forensischer Kliniken eine Reform der Versorgung von Menschen mit schweren Erkrankungen unter dem Titel „Weckruf“.

Als besonders belastend beschreibt Clara den Übergang von der Klinik in den Alltag – oft ohne Anschlussbehandlung: „Ich musste mich immer selbst um einen Therapieplatz kümmern, nach meinem aktuellen habe ich eineinhalb Jahre gesucht.“ Das Problem: Viele Psychotherapeuten behandeln so schwere psychische Erkrankungen wie Borderline nicht. Über die von den Gesundheitsministerien angegebene vierwöchige Wartezeit lacht sie nur müde.

Transparenzhinweis:
Der Artikel wurde am 26. Juni bearbeitet. In einer früheren Version war fälschlicherweise die Rede davon, dass sich zwei Tötungsdelikte im Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik im Bad Zwischenahner Ortsteil Wehnen ereignet hätten. Tatsächlich geschahen die Vorfälle in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Den entsprechenden Absatz haben wir deshalb gelöscht.

Der Wegweiser

Erstellt am: Freitag, 20. Juni 2025 von Juliane

Der Wegweiser

Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg war die Stimmung in der Republik politisch aufgeheizt, auch wegen der bevorstehenden Bundestagswahl. Vor Ort blieb Rainer Buss besonnen. Der stellvertretende Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS half den Betroffenen, indem er ihnen Perspektiven aufzeigte.

Als langjähriger Vorsitzender Richter hat der Aschaffenburger Rainer Buss nicht nur gelernt, Fragen zu stellen, sondern auch, sich in ganz unterschiedliche Menschen hineinzuversetzen und ihnen aufmerksam zuzuhören.

Von seinem Schreibtisch aus kann Rainer Buss auf den Park Schöntal schauen. An einem sonnigen Vormittag im März steht dort die Blüte des Magnolienhains bevor, des größten in Bayern, während die Krokusse schon sprießen.

Buss, vor seiner Pension langjähriger Vorsitzender Richter, erinnert sich an den Nachmittag des 22. Januar: „Ich war gerade mit einer Angelegenheit für den WEISSEN RING beschäftigt.“ Eben sah der Park noch „ganz unschuldig“ aus. Dann hört der ehrenamtliche Mitarbeiter die Sirenen, sieht „Blaulicht ohne Ende“ und bald einen Hubschrauber. Rainer Buss weiß: „Es muss etwas ganz Schlimmes passiert sein.“

Der 28-jährige, offenbar psychisch kranke Enamullah O. hat eine Kindergartengruppe attackiert und einen zweijährigen Jungen sowie einen 41-jährigen Mann erstochen, der den Täter aufhalten wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Etwa fünfzehn Minuten nach den ersten Sirenen bekommt Buss einen Anruf von der Polizei, am Abend nimmt er am Treffen der Opferbetreuungsgruppe teil und bespricht, wie der WEISSE RING jetzt helfen kann. In den folgenden Stunden und Tagen leitet der Jurist die nächsten Schritte ein. Er ruft bei der Trauma-Ambulanz in Würzburg an, um die Betroffenen dorthin zu vermitteln. Knüpft Kontakte zu Versorgungsamt, Landesunfallkasse, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenige Tage später gibt diese besorgten Eltern bei einer Veranstaltung wichtige Hinweise zum Umgang mit der Tat. Ein Rat, der Buss in Erinnerung blieb: „Kinder brauchen nach so einem Ereignis Routine, und insbesondere Eltern müssen diese Stabilität vermitteln.“

„Die seelische Not war enorm“

Der frühere Richter bekommt von der Polizei eine Liste mit 15 Namen von Betroffenen. Über „Mittelspersonen“, die nah dran sind, geht er auf die Menschen zu. „Die seelische Not war enorm; die Mutter des getöteten Kindes und dessen Tante zum Beispiel waren am Boden zerstört“, blickt Buss zurück. „Es hat mich berührt, das Unglück der Betroffenen und die Tränen zu sehen.“ Aber „man funktioniert“, auch aus dem Impuls heraus, „etwas machen, schnell helfen zu wollen“. In den ersten Wochen ist der Ehrenamtliche in Vollzeit im Einsatz. Die damalige Situation in der Aschaffenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS war „recht ungünstig“, sagt deren Leiter Wolfgang Schwarz. Der frühere Polizist, der auch Landesvorsitzender ist, hatte sich den Arm gebrochen, war gerade operiert worden. Andere, ansonsten aktive Mitglieder waren nur eingeschränkt verfügbar. Vieles lag nun bei Buss.

Er und Schwarz telefonierten regelmäßig miteinander, tauschten sich über die Hilfsmöglichkeiten aus. Die nordbayerische Außenstelle hätte Unterstützung aus der Mainzer Zentrale des WEISSEN RINGS bekommen können. Der Leiter der Außenstelle und sein Stellvertreter besprechen sich und gelangen zu der Überzeugung: „Wir schaffen das mit eigenen Kräften.“ Mit seinem Wissen, aber auch mit seiner besonnenen Art sei Buss ein Glücksfall für den Verein, auch und vor allem in solchen Lagen, beschreibt Schwarz seinen Vereinskollegen.

Aschaffenburg im Park: Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Schnell wurde die Tat zu einem bestimmenden Thema im Bundestagswahlkampf, vor allem rechte Akteure versuchten, sie zu instrumentalisieren und Ressentiments zu schüren. Der AfD-Politiker und Faschist Björn Höcke und seine Partei riefen zu einer Gedenkveranstaltung in der Stadt auf. Rund 70 ihrer Anhänger kamen. Aschaffenburg und die Region hielten dagegen: An der Gegendemo nahmen 500 Menschen teil. Bereits kurz nach der Attacke waren 3000 Menschen zu einem stillen, würdevollen Gedenken zusammengekommen.

In der Nähe des Tatortes entstand bald eine kleine Gedenkstätte, mit unzähligen Kerzen, Blumen und Kuscheltieren. Ein Zelt, in dem Seelsorger Gespräche anboten, wurde aufgebaut. Verschiedene Organisationen, der WEISSE RING und die Stadt knüpften ein helfendes Netzwerk und sammelten Spenden. Bei Treffen gab Buss einen Überblick über die Situation der Betroffenen und deren Bedürfnisse. Oberbürgermeister Jürgen Herzing (SPD) mahnte wenige Stunden nach der Attacke zur Besonnenheit: „Ein Geflüchteter greift unschuldige Menschen an, verletzt und tötet sie. Wir sehen die Parallelen“, sagte er mit Blick auf die Amokfahrt von Magdeburg und den Messerangriff in Solingen. Aber: „Wir können und dürfen die Tat eines Einzelnen niemals einer gesamten Bevölkerungsgruppe anrechnen.“

„Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist.“

Rainer Buss

Buss kritisiert die Versuche, das Verbrechen zu instrumentalisieren. Ja, der Täter sei ein Geflüchteter. Es habe aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte gegeben, die ihn verfolgten und Opfern halfen. Auch habe ihm missfallen, wie Bundes- und Landespolitik bemüht waren, sich gegenseitig die Schuld dafür zu geben, dass die Tat nicht verhindert wurde. Bei seinem Einsatz für die Betroffenen habe er solche Nebengeräusche ausgeblendet. „Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist“, erklärt Buss. „Das ist ein wichtiger Grundsatz des WEISSEN RINGS“, ergänzt Schwarz.

Als Richter hatte Buss in spektakulären Wirtschaftsprozessen den Vorsitz, es ging etwa um Millionenbetrug, Schmiergeld- und Steuerskandale. Er hat gelernt, harte Fragen zu stellen und Urteile zu fällen, aber auch, sich in Menschen hineinzuversetzen. Wenn Buss Opfer begleitet, achte er darauf, „rücksichts- und verständnisvoll vorzugehen, mich erst einmal zurückzunehmen und zu schauen, wie die Menschen mit der Situation umgehen, und mich dann intuitiv anzupassen“. Er tröste schon, verstehe sich aber „nicht als Seelsorger, sondern als Wegweiser“. Informationen könnten Halt geben; vor der polizeilichen Vernehmung habe er einem schwerverletzten Helfer deshalb in Ruhe den genauen Ablauf erklärt. „Ich habe erfahren, dass es vielen Menschen am meisten hilft, wenn ihnen Wege aufgezeigt werden, wie es weitergehen kann, etwa bei der psychologischen Hilfe. Sie möchten auch in den aller schlimmsten Lagen eine Perspektive haben.“ Oft geht es um praktische Fragen: Wie kann eine Behandlung finanziert, wie der Hauskredit weiter abbezahlt werden?

Häufig kommen zum unfassbaren Schmerz über den Verlust von Angehörigen noch große Geldsorgen und Überforderung durch Bürokratie hinzu, auch im Fall von Aschaffenburg. Buss erklärt dann Formulare sowie Leistungen etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und privaten Haftpflichtversicherung oder setzt sich dafür ein, dass die Unfallkasse 15.000 Euro Vorschuss gibt oder der Spendentopf angezapft wird, damit eine Betroffene sich die Fahrt in die Würzburger Trauma-Ambulanz leisten kann.

Aschaffenburg: Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Als Rainer Buss von seinem Einsatz erzählt, klingelt das Telefon. „Buss, WEISSER RING. Guten Tag“, sagt er. Der Anrufer braucht seinen Rat zur Frage, ob Geld aus dem Opferfonds auf Bürgergeld angerechnet wird. Unter bestimmten Bedingungen nicht, ähnlich wie Schmerzensgeld. Buss nimmt sich Zeit und erklärt die Regeln.

Zum WEISSEN RING kam er vor zehn Jahren – durch Wolfgang Schwarz, der seit 18 Jahren dabei ist. Sie gehen in denselben Fitnessclub, dort schlug Schwarz Buss ein Engagement vor. „Ich habe nach etwas Sinnvollem gesucht und fand die Idee gut, auch weil ich aus meiner beruflichen Erfahrung weiß, dass Opfer häufig zu kurz kommen.“ Schwarz war es zuvor ähnlich ergangen. Beide freuen sich über Rückmeldungen von Menschen, die, wie Schwarz es formuliert, „wieder Boden unter den Füßen bekommen“. So wie die Betroffenen, die Buss erzählt haben, die Traumatherapie habe ihnen in den vergangenen Monaten geholfen, aus ihrem Tief herauszukommen.

In Aschaffenburg habe das Netzwerk, auch beim Sammeln von Spenden, gut funktioniert, sagen die Ehrenamtlichen. Zu den Beteiligten zählten etwa der Verein Gutherzig und die Humorbrigade Hofgarten. Kürzlich hat die Stadt eine Bilanz veröffentlicht. Demnach sind für die Betroffenen 485.000 Euro zusammengekommen.

Der Park Schöntal

Zwei Monate nach der Tat steht Rainer Buss im sonnendurchfluteten Park Schöntal. Eine Gänsefamilie mit Küken watschelt in den Teich; junge und alte Menschen nutzen das gute Wetter für einen Spaziergang. Vor der provisorischen Gedenkstätte, die an die Attentate erinnert, bleibt ein Paar stehen. „Is scho schlimm“, sagt der Mann. Die beiden halten inne und schweigen eine Weile. Vor ihnen, in der Nähe des Tatortes, liegen Dutzende von Kuscheltieren, dazu Puppen, Blumen, Kerzen, kleine Engelsstatuen und handgeschriebene Briefe. Ein Teddy trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Lasst uns einfach wieder Mensch sein!“, auf eine Leinwand hat jemand eine Variante der Nationalhymne geschrieben: „Einigkeit und Recht und Freiheit / sei Gesetz in jedem Land / blüht ihr Menschen auf der Erde / blüht mit Liebe und Verstand“.

Ob der Anschlag seinen Blick auf den Park Schöntal verändert habe? „Nein“, sagt Rainer Buss, der oft mit dem Fahrrad durchfährt. Es sei nach wie vor ein schöner Park – wenngleich er manchmal an die Ereignisse denkt. Nach dem Messerangriff hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen bislang 25 Leute betreut.

Von seinem Schreibtisch aus wird Buss den Park im Blick behalten, auch bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING. „Die Betreuung von Opfern ist oft eine langfristige Aufgabe. Wir sind weiterhin für sie da, wenn sie uns brauchen.“

 

Die vergessenen Opfer

Erstellt am: Mittwoch, 18. Juni 2025 von Sabine

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer … die Liste ist lang. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters Rassismus erleiden.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed in Magdeburg: Er erfährt verstärkt Rassismus seit des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt.

Es wird gelacht, gemeinsam gegessen und gesprochen. Saeed Majed verbringt einen ganz normalen Freitagabend mit seinen Freunden. Bald wird die Stimmung aber kippen. Denn in ihrer Heimatstadt Magdeburg wird ein Mann mit seinem Auto auf den Weihnachtsmarkt rasen. Menschen sterben, werden schwerst verletzt und traumatisiert. Und auf Majed und seine Freunde wird eine Zeit voller rassistischem Hass und körperlicher Angriffe zukommen.

Der Anschlag hat nicht nur Magdeburg, sondern das ganze Land erschüttert. Sechs Menschen sind tot, 86 schwer verletzt. Dazu kommen 1200 weitere Betroffene wie Zeugen und Angehörige von Opfern. Es gibt aber noch eine Gruppe von Betroffenen, die in der öffentlichen Diskussion zumeist übersehen wird: Menschen, die wie der Täter einen Migrationshintergrund haben und deshalb angefeindet werden.

„Als wir die Nachricht hörten, wollten wir sofort die Nationalität des Täters wissen“, sagt Informatikstudent Saeed Majed (25). Aus Angst vor den möglichen Reaktionen, falls es kein Deutscher war. „Magdeburg ist unsere zweite Heimat – doch neben der Trauer mussten wir uns auf rassistische Anfeindungen vorbereiten, als bekannt wurde, dass der Täter aus Saudi-Arabien kam“, erklärt der gebürtige Syrer.

Schon am Tatabend wurde in der Stadt ein 18-jähriger Student mit Migrationsgeschichte verfolgt und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde in einem Fahrstuhl rassistisch beleidigt und gewürgt. Im Februar traf es erneut ein Kind: Ein 12-jähriges syrisches Mädchen wurde attackiert. Monate nach dem Anschlag bleibt die Stimmung angespannt – Ende April wurde ein Mann mit Migrationshintergrund vor seiner Haustür verprügelt.

Auch Saeed Majed wurde Opfer von rassistischer Gewalt. „Ich war in der Straßenbahn, als ein älterer deutscher Mann anfing, migrantisch aussehende Menschen zu beleidigen und zu bedrohen“, sagt er. Majed ging dazwischen. „Daraufhin beleidigte er mich rassistisch und wollte mich körperlich angreifen.“ Andere Fahrgäste,darunter auch Deutsche, wie Majed betont, gingen aber dazwischen. Der Student zeigte den Täter an. „Das Verfahren ist eingestellt worden, weil es nicht möglich war, einen Täter zu ermitteln“, stand in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft an Majed, das dem WEISSEN RING Magazin vorliegt. „Dabei begrüßte die gerufene Polizei damals den Mann mit seinem Nachnamen“, sagt
Majed. Eine Erklärung von der Magdeburger Staatsanwaltschaft blieb auf Anfrage unserer Redaktion aus.

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters nun Rassismus erleben.

Rassistische Gewalt

Seit dem Anschlag stieg die Zahl rassistischer Übergriffe in Magdeburg stark an. Vor dem Attentat wurden dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e. V. ein bis zwei Übergriffe pro Woche gemeldet; seitdem registrierte man bis zum 10. Januar bereits 20 rassistische Vorfälle, darunter Körperverletzungen, Beleidigungen und Drohbriefe. Saeed Majed, Mitglied des Syrisch-Deutschen Kulturvereins, berichtet im April von über 40 Fällen – von Diskriminierung bis Körperverletzung. Ein Verein, der eigentlich zwei Kulturen miteinander vereinen soll, war plötzlich für Opfer von rechter Gewalt zuständig. Der Verein arbeitet nun mit Beratungsstellen
wie „Entknoten“ und der Mobilen Opferhilfe zusammen. „Fast täglich gibt es Angriffe“, sagt Majed. Er schätzt die Dunkelziffer hoch ein, da viele Betroffene mit unsicherem Aufenthaltsstatus die Taten aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht melden.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Für Majed steht fest: „Die Medien sind mit dafür verantwortlich, dass es zu immer mehr rassistischen Übergriffen im Alltag kommt.“ In den Wochen nach dem Anschlag gab es Dutzende Schlagzeilen und Artikel, die die Herkunft des mutmaßlichen Täters betonten. Wovon kaum geschrieben wurde: Der Tatverdächtige hasst den Islam, ist ein Fan der nach Ansicht des Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistischen Partei AfD und hat rechtsradikale Inhalte im Internet veröffentlicht. Der Thüringer Verfassungsschutz sprach von „Extremismusbezügen nach rechts“, die Medien sprachen weiter von dem „saudiarabischen Mann“.

Eine Analyse zeigt, dass Medien verstärkt über Anschläge berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte hat:

1035

Beiträge über den Anschlag in Magdeburg.

951

Beiträge über den Anschlag in München.

486

Beiträge über den Anschlag in Mannheim.

Der Wahlkampf im Februar löste laut Saeed Majed eine neue Welle an Hass aus: „Es war extrem belastend.“ In Talkshows dominierte das Thema Migration, rechte Gewalt hingegen blieb weitgehend unbeachtet. Von Januar bis April hatte die ZDF-Politik-Talkshow „Markus Lanz“ 16 Sendungen zu Migration, aber nur zwei Sendungen thematisierten Rechtspopulismus. Auch in anderen politischen Talkshows wie „Hart aber fair“, „Caren Miosga“ und „Maybrit Illner“ liefen Sendungen zum Thema Migration, aber keine zur rechten Gewalt in Deutschland. Majed
warnt: „Die Menschen sitzen daheim, sehen das und denken: Die Ausländer sind schuld.“ Parallel nimmt rechte Gewalt stark zu. 2024 wurden laut Innenministerium 42.788 rechte Straftaten registriert, ein neuer Höchststand. In Brandenburg meldet die Polizei täglich zehn solcher Taten.

Dass Medien verstärkt berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte aufweist, verdeutlicht eine kürzlich durchgeführte Analyse des Kommunikations-Unternehmens Ippen Media. Demnach wurde über die Anschläge in Magdeburg und München mehr als doppelt so oft berichtet wie über die Tat in Mannheim, bei der der Tatverdächtige ein Deutscher ist. Leitmedien veröffentlichten über Magdeburg 1.035 Beiträge, über München 951 und über Mannheim nur 486. Online waren es laut Newswhip jeweils über 4.300 Artikel zu Magdeburg und München, aber nur 2.479 zu Mannheim.

Die Rolle der Medien

Elena Kountidou ist die Geschäftsführerin der Organisation „Neue deutsche Medienmacher*innen“, die sich kritisch mit der Berichterstattung auseinandersetzt. „Dass Medien überproportional häufig über Verbrechen von nicht deutschen Tatverdächtigen berichten, ist gefährlich für unsere Gesellschaft“, warnt sie. Der Grund: Dadurch entstehe ein verzerrtes Bild. Der Mensch erfahre Kriminalität kaum aus der eigenen Erfahrung, sondern durch die Berichterstattung. „Und dann wird es natürlich auch gefährlich für migrantisch wahrgenommene Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Kountidou. Es werde eine Polarisierung aufgebaut und ein Bild gezeichnet von den „guten Deutschen“ gegen die „bösen, nicht integrierten Ausländer“. Ein Narrativ, das sich in der Geschichte immer wieder finden lasse. „Die Folgen medialer Zerrbilder bekommen die betroffenen Menschen im realen Leben zu spüren, und das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Kountidou.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Die mediale Stigmatisierung führe zu mehr Rassismus in der Bevölkerung. Nach aktuellen Angaben des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors macht Rassismus krank. „Betroffene erleben mehr Stress, haben ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden und sind generell anfälliger für (psychische) Erkrankungen“, heißt es in dem Bericht.

So sollten Medien über Anschläge berichten

Die Medienexpertin beobachtet auch immer eine anlassbezogene Berichterstattung; so, als sei Migration ein Krisenthema. Dazu verwendeten Medien immer die gleichen stereotypischen Bilder: eine Frau mit einem Hijab und Plastiktüten in der Hand oder migrantisch aussehende Männer in einer großen Gruppe. „Es ist genauso möglich, die Menschen in einer positiven Lebenssituation darzustellen wie während der Arbeit oder mit der Familie auf einem Spielplatz“, sagt Kountidou.

Auch der Magdeburger Saeed Majed kritisiert die Darstellung und sagt: „Es fehlt an positiver Berichterstattung.“ In der Klinik
der Anschlagsopfer arbeiten Menschen aus über 20 Nationen; viele mit Migrationsgeschichte betrieben Stände auf dem Weihnachtsmarkt. „40.000 Menschen sind Teil dieser Gesellschaft – sie waren Zeugen, leisteten Erste Hilfe. Doch darüber spricht kaum jemand“, so Majed enttäuscht.

Viel mehr rechtsextreme Straftaten

Die Zahl politisch motivierter Straftaten in Deutschland ist 2024 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent gestiegen, auf 84.000. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist der größte Teil davon – fast die Hälfte – dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen. Dort gab es auch den stärksten Anstieg, um 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Bei 31 Prozent der Delikte waren „ausländische Ideologien“ der Hintergrund, bei zwölf Prozent Linksextremismus. Als Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Statistik Ende Mai vorstellte, sagte er: „Die größte Gefährdung für die Demokratie geht vom Rechtsextremismus aus.“ Die Gewaltdelikte in dem Bereich haben ebenfalls deutlich zugenommen, um gut 17 Prozent auf 1.488. Rechtsextreme begehen außerdem die mit Abstand meisten Gewaltstraftaten, bei denen Kinder und Jugendliche gesundheitlich geschädigt werden.

Medienschaffende sollten Verantwortung übernehmen und die Art der Berichterstattung beispielsweise über Anschläge ändern, findet auch Elena Kountidou. „Der Pressekodex verlangt einen verantwortungsvollen Umgang bei der Herkunftsnennung, damit es nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt“, sagt sie. Daher sollte ihrer Meinung nach die Herkunft nur genannt werden, wenn sie direkt in Verbindung zur Tat steht. In Magdeburg war dies nicht der Fall – der Tatverdächtige hatte ein rechtes Motiv und ist kein Islamist. Sie fordert, dass Journalisten bei Anschlägen gründlich recherchieren, faktenbasiert berichten, einordnen und ihre Aussagen mit Zahlen untermauern sollten – besonders in polarisierten Debatten.

Saaed Majed in Magdeburg am Dom. Nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed mag Magdeburg, doch denkt jetzt ans Wegziehen. „Mehrere Freunde sind schon gegangen. Nach zehn Jahren Studium, Arbeit und Ehrenamt“, sagt er. Sie fühlten sich nicht mehr willkommen, wurden beleidigt und angespuckt. Der Hass zerstöre die Vielfalt der Stadt. Noch hofft Majed auf eine Verbesserung. „Im April hatten wir unser Zuckerfest und haben alle dazu eingeladen. Es kamen 500 Menschen: Deutsche, Syrer, Ukrainer, alle waren zusammen. Dadurch haben wir noch Hoffnung.“

Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 7. Mai 2025 von Selina
Anschlag in Magdeburg. Cover von Podcast "NSU Watch": Es geht um Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg.

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Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

NSU Watch und VBRG e.V.

Angst, Einschränkungen und soziale Isolation. So geht es Menschen mit Migrationsgeschichte nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden und über 1.200 Betroffene. Der Täter: ein 50-jähriger Psychiater, saudi-arabischer Herkunft. In Magdeburg stieg die Zahl der rassistischen Angriffe nach dem Anschlag erheblich. In der 55. Folge der Podcast-Serie von der bundesweiten Initiative „NSU Watch“ und dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), berichten Betroffene und Opferberater von der Zeit nach dem Anschlag. Sie berichten über Menschen, die migrantisch wahrgenommen werden und deshalb Angst haben und überlegen, die Stadt zu verlassen.

Bereits am Abend des Anschlages wurde ein 18-jähriger Student von einer Männergruppe bedroht und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde im Fahrstuhl seines Wohnhauses von Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt. Der Podcast zeigt eindrücklich: Rassistische Gewalt eskaliert weiter und Kinder werden nun auch häufiger zu Opfern, weil migrantische Menschen in Sippenhaft genommen werden.

verband-brg.de/folge-55-eskalation-rassistischer-gewalt-in-magdeburg/

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Ein Besuch in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 19. Februar 2025 von Selina

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet solch ein Großereignis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Gemeinsam betreuen sie Opfer des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt (v.l.): Uta Wilkmann, Friederike Bessel und Uwe Rösler vom weissen ring in Magdeburg

Es ist Freitag. Nur noch vier Tage bis Heiligabend. Die einen denken über die letzten fehlenden Geschenke nach, andere planen das Weihnachtsessen. Plötzlich leuchtet eine Eilmeldung auf dem Handy auf und vertreibt jeden Gedanken an Besinnlichkeit. Ein Mann ist mit seinem Auto 400 Meter über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Es gab zwei Tote und 70 Verletzte, heißt es in den ersten Nachrichten. In den nächsten Stunden und Tagen steigen die Zahlen immer weiter bis auf sechs Tote und 600 Betroffene.

„Der Anschlag geschah um 19 Uhr, ich hatte davon um 19.30 Uhr durch die Nachrichten im Fernseher erfahren“, erinnert sich Cornelia Stietzel. Sie ist die Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Magdeburg und damit die erste Anlaufstelle für Opfer vor Ort. Die Außenstellenleiterin und ihr Team treffen sich monatlich im Magdeburger Rathaus, um über Erlebtes, aber auch Organisatorisches zu sprechen. Nur wenige Meter entfernt befindet sich nun eine Gedenkstelle mit Blumen und Bildern der Opfer.

Im Rathaus von Magdeburg trifft sich die Außenstelle des WEISSEN RINGS monatlich, um über Organisatorisches sowie Soziales zu sprechen.

In der Außenstelle arbeiten zehn Ehrenamtliche, darunter Uwe Rösler. Zum Tatzeitpunkt war er im Skiurlaub. „Meine Frau schickte mir eine Nachricht, und ich wollte es erst nicht glauben“, sagt Rösler. Als plötzlich seine Freunde ebenfalls Nachrichten bekamen, wurde ihm klar: Das ist wirklich passiert. „Während wir uns vergnügt haben und Bierchen tranken, starben in Magdeburg Menschen – das war heftig für mich“, sagt er.

„Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Yvonne Reinicke

350 Kilometer südwestlich von Magdeburg, in Mainz, stufen noch am Abend der Gewalttat Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer, Verena Richterich, die Leiterin der „Opferhilfe“, und die Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Kerstin Godenrath, den Anschlag als „Großereignis“ ein. Schnell müssen eine Reihe von Fragen beantwortet werden, wie es die Leitlinien des Vereins für solche Ausnahmesituationen vorgeben: Kann die Außenstelle vor Ort die Betreuung übernehmen? Welche Telefonnummer sollen Betroffene wählen, um schnell Hilfe zu bekommen? Können wir die finanzielle Soforthilfe für Betroffene erhöhen? Richten wir ein Spendenkonto ein? Verschicken wir eine Pressemitteilung? Wer beantwortet Medienanfragen? Am Wochenende telefonieren Bundesgeschäftsführung, Opferhilfe, Landesvorstand, Außenstelle und Pressestelle immer wieder miteinander. „Bereits am 23. Dezember fanden in Magdeburg erste Beratungsgespräche mit Betroffenen statt“, sagt Cornelia Stietzel.

Es hätte jeden treffen können

Das Großereignis ist für die Ehrenamtlichen von Anfang an eine große Herausforderung, aus verschiedenen Gründen. „Da ist die Nähe zum Geschehen. Magdeburg ist meine Heimat – es hätte jeden treffen können“, sagt Friederike Bessel sichtlich angefasst. Ihre Kollegin Yvonne Reinicke fügt hinzu: „Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Ein Herz aus Steinen soll an die Opfer erinnern. In Magdeburg lassen sich viele solcher kleinen Gedenkstätten finden. Vor der Johanniskirche liegen beispielsweise Dutzende Blumen.

Hinzu komme die Anzahl der Betroffenen, die die Außenstelle betreut. „Wir haben bis jetzt über 100 Fälle betreut – und das als kleines Team“, sagt Cornelia Stietzel. Die oberste Priorität des WEISSEN RINGS ist es, die Opfer zu schützen. „Wir können daher keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, und das darf nicht passieren“, erklärt sie.

Wohl aber können die Ehrenamtlichen berichten, wie es ihnen mit der Beratung so vieler Betroffener geht. „Einzelberatungen habe ich gut im Griff, aber wenn ich größere Gruppen habe, mit den unterschiedlichen Emotionen, unterschiedlichen Verletzungen, da bin ich am Ende einer Beratung einfach platt“, sagt Ingrid Männl. Das Team unterstütze sich gegenseitig und lenke sich durch Gespräche für einen Moment ab. „Einmal traf ich Friederike zwischen zwei Beratungen, und wir kamen ins Gespräch. Ich erfuhr, dass sie Deutsche Meisterin ist – die Anekdote hat mich zwischenzeitlich runtergeholt“, sagt Cornelia Stietzel. Deutsche Meisterin? „Ich habe zwei Hunde und trainiere mit ihnen die Zielobjektsuche, und 2024 lief das ganz gut“, erklärt Friederike Bessel. Alle im Raum können für einen kleinen Augenblick lachen.

„Wir können keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, das darf nicht passieren.“

Cornelia Stietzel

Cornelia Stietzel lobt den Zusammenhalt der Menschen in der Stadt. Ein Beispiel: „Ganz große Unterstützung erhalten wir von der Kontakt- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen der Caritas mit der unkomplizierten Bereitstellung von Räumlichkeiten“, erzählt sie. Hier können sich die Opferhelferinnen und Opferhelfer mit Betroffenen treffen.

Unterstützung erfahre das Team von Tag eins an auch vom Landesbüro Sachsen-Anhalt und aus der Bundesgeschäftsstelle des WEISSEN RINGS in Mainz, vor allem durch Jana Friedrich. Sie arbeitet im Referat „Opferhilfe“ und ist als Sachbearbeiterin für sogenannte Großereignisse zuständig. Als Friedrich am Tattag die Eilmeldung las, war ihr erster Gedanke ein Schimpfwort, das sie nicht wiederholen möchte. „Danach habe ich das ganze Wochenende den Live-Ticker verfolgt“, sagt sie. Ihr war klar: Diese Tat wird vom Verein als Großereignis eingestuft werden.

Uta Wilkmann erzählt, dass sie am Abend der Gewalttat im Kino war. Als sie es verließ, war alles voller Blaulicht. Im Radio erfuhr sie, was passiert ist, und dachte sofort an die ganzen Opfer sowie ihre Arbeit als Ehrenamtliche.

Jana Friedrich ist genau für solch einen Fall ausgebildet. „Ich habe die Akte angelegt, E-Mails an die Außenstelle Magdeburg und das Landesbüro Sachsen-Anhalt vorbereitet, mit allen wichtigen Informationen und Unterlagen“, sagt sie. Wichtige Informationen sind zum Beispiel, dass der Soforthilferahmen hochgesetzt und die Bedürftigkeitsprüfung ausgesetzt wird. Friedrich gab dazu eine Liste der verantwortlichen Leistungsträger weiter und das Spendenkonto mit dem dazugehörigen Stichwort. „Ich helfe den Außenstellen, die Opfer zu unterstützen“, beschreibt sie ihre Arbeit als hauptamtliche Mitarbeiterin in der Bundesgeschäftsstelle.

Ein Rückblick

Die Einstufung von Taten als „Großereignis“ gab es nicht von Beginn an. Der Auslöser, Kategorien mit passenden Leitlinien zu entwickeln, war das Großereignis 2016 – als in Berlin auf dem Breitscheidplatz ein Mann mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt fuhr. 13 Tote. Dutzende weitere Opfer. Sabine Hartwig war damals die Berliner Landesvorsitzende beim WEISSEN RING, und als ehemalige Kriminalbeamtin wusste sie sofort, was bei solch einer Dimension zu tun war. In jenem Jahr schuf der Verein Maßnahmen und Strukturen, die noch heute gelten:

„Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen.“

Cornelia Stietzel

Etablierung einer Krisenstruktur: Jährlich bietet die WEISSER RING Akademie ein zweitägiges Großereignis-Seminar an, das Ehrenamtliche auf Taten wie in Magdeburg vorbereitet. Jeder der 18 Landesverbände hat einen sogenannten Koordinator für Großereignisse, der als Ansprechpartner fungiert und zum Beispiel kontrolliert, ob die zuständige Außenstelle überlastet ist. Und der gegebenenfalls nach Unterstützung in anderen Außenstellen Ausschau hält. Dazu gibt es Supervision für die hilfeleistenden Ehrenamtlichen.

Dokumentation und Kommunikation: In Krisensituationen ist eine gründliche Dokumentation aller Vorgänge wichtig, um die Übersicht zu behalten. Die Ehrenamtlichen in den Außenstellen sowie die Hauptamtlichen in der Bundesgeschäftsstelle dokumentieren alle Opferfälle, jede Presseanfrage und die Spendeneingänge.

Medienmanagement: Damit sich die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort auf die Opferarbeit fokussieren können, wird festgelegt, wer Auskünfte an die Presse gibt. Alle Medienanfragen gehen an das Team Medien & Recherche der Bundesgeschäftsstelle in Mainz.

Finanzielle Soforthilfen: Soforthilfen bis zu 1.000 Euro können durch einen Opferhilfe-Fonds unbürokratisch und schnell ausgezahlt werden, um unmittelbare Bedürfnisse der Opfer und Angehörigen zu decken, etwa für Reisekosten, Einkommensausfall oder medizinische Behandlungen.

Die aktuelle Situation in Magdeburg

„Ich habe zwar die Schicksale in schriftlicher Form auf dem Tisch liegen, ich spreche aber nicht direkt mit Opfern“, sagt Jana Friedrich aus der Bundesgeschäftsstelle. Ansprechpartner für die Betroffenen vor Ort sind die an der WEISSER RING Akademie ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem in der Außenstelle Magdeburg, aber auch in anderen Außenstellen des WEISSEN RINGS. Besucher des Weihnachtsmarktes waren beispielsweise aus Niedersachsen oder Bayern angereist. Auch wenn die Opferhelferinnen und -helfer teilweise bereits jahrelange Erfahrung in der Opferarbeit haben, ist es für sie kein Alltag, dass Angehörige am Telefon weinend zusammenbrechen. Friedrich hat daher mehrmals in der Woche mit der Außenstellenleiterin Cornelia Stietzel Kontakt. „Ich frage immer als Erstes, wie es ihr geht“, sagt sie. Aktuell liegen mehr als hundert Fälle auf dem Schreibtisch von Friedrich. Die Zahl der einlaufenden Fälle steigt kontinuierlich.

An einem Baum in der Innenstadt von Magdeburg liegen Blumen, Kerzen und Engel, um an die Opfer der Gewalttat zu erinnern.

In den kommenden Wochen wird Magdeburg weniger in der Medienlandschaft auftauchen. Die Opfer aber bleiben. „Denn viele Betroffene kommen erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat auf uns zu. Vielfach versuchen sie, ihr Leben zunächst weiterzuleben, und merken erst mit der Zeit, dass Unterstützung benötigt wird“, erklärt Verena Richterich, Leiterin der Opferhilfe. „Der WEISSE RING steht den Betroffenen zu jedem Zeitpunkt zur Seite.“

Die Erfahrung von 2016, vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz, zeigt, dass der WEISSE RING noch viele Jahre mit Opfern in Kontakt steht. Cornelia Stietzel möchte in Zukunft die Betroffenen aus Magdeburg zusammenführen. „Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen“, sagt die Außenstellenleiterin. Ein gemeinsames Treffen in einem geschützten Raum soll Abhilfe schaffen.

Der WEISSE RING ist von Montag bis Freitag im Einsatz, die Ehrenamtlichen sind in Notfällen auch am Wochenende ansprechbar.

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Erstellt am: Freitag, 14. Februar 2025 von Sabine

München trauert um die Opfer des Anschlags. Foto: dpa

Datum: 14.02.2025

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an.

München/Mainz – Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite. Ich möchte alle Menschen, die Unterstützung brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden“, sagt Dr. Helgard van Hüllen, eine der amtierenden Landesvorsitzenden des WEISSEN RINGS Bayern Süd. „Diese Tat ist schrecklich und abscheulich, ich habe dafür keine Worte.“

Hilfesuchende können sich über die Rufnummer des Landesbüros Bayern Süd unter 09078/89494 an den WEISSEN RING wenden.

„Unser Angebot gilt nicht nur für Verletzte, sondern auch für Angehörige, für Zeuginnen und Zeugen, für Helferinnen und Helfer sowie für Einsatzkräfte vor Ort“, sagt Helgard van Hüllen. „So wichtig die politischen Diskussionen über den Fahrer und seine möglichen Motive auch sind: Zuerst müssen wir an die Opfer denken. Sie müssen wissen, wohin sie sich mit ihren Bedürfnissen und Fragen hinwenden können.“ Die amtierende Landesvorsitzende fügt außerdem hinzu: „Manche Betroffene merken vielleicht auch erst später, dass sie im Alltag das Erlebte nicht vergessen können. Auch diese Menschen möchte ich bestärken, sich Hilfe zu holen.“

"Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite."

Dr. Helgard van Hüllen

Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, ihnen Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Am Donnerstagmorgen gegen 10.30 Uhr ist ein 24-jähriger Mann mit dem Auto in eine Menschenmenge in der Münchner Innenstadt gefahren. Es handelte sich dabei um eine Verdi-Demonstration. Laut Polizei sind dabei mehr als 30 Menschen verletzt worden, zwei davon schwerverletzt, darunter ein Kind. (Stand 14.02.2025, 12 Uhr)