Angriffe auf Minderheiten und den Staat

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Gregor
Das Cover der aktuellen Ausgabe.

Datum: 01.10.2025

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

In der aktuellen Ausgabe setzt sich das WEISSER RING Magazin mit Rechtsextremismus, aber auch mit anderen Formen der Politisch motivierten Kriminalität auseinander. Die Entwicklung ist alarmierend.

Rechtsmotivierte Straftaten werden zunehmend von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen, bundesweit. In Bayern zum Beispiel ist die Zahl der Tatverdächtigen in diesen Altersgruppen von 291 im Jahr 2023 auf 517 im vergangenen Jahr gestiegen, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Hauptsächlich handelt es sich um Propagandadelikte, teilweise aber auch um Gewalttaten: In Nordrhein-Westfalen etwa wurden hierbei im vergangenen Jahr 30 Verdächtige zwischen 14 und 20 Jahren ermittelt, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Diese Zahlen gehen aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Landeskriminalämtern und Innenministerien hervor.

Kritische Medienbildung gegen rechte Tendenzen bei jungen Leuten

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, sagte dem Magazin: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen.“ Es gehe „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“. Zu den Ursachen erklärte der Politikwissenschaftler: „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“ Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert deshalb für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit.

Die Recherche ist Teil eines Schwerpunkts in der aktuellen Ausgabe des WEISSER RING Magazins zu Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Für die Titelgeschichte sprach der auf Rechtsextremismus spezialisierte Autor Michael Kraske mit Betroffenen, Experten sowie Sicherheitsbehörden. Politisch motivierte Kriminalität ist 2024 so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488.

Ausweitung der Gefahrenzonen

Zu den Folgen rechtsextremer Gewalt sagte Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Das Gewaltpotenzial sei stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern. „Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, so Kleffner. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. Andererseits habe sich etwa in Sachsen kaum etwas zum Positiven verändert.

In anderen Bereichen der PMK, etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die PMK ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark. Im Interview warnt Heike Pooth, Referatsleiterin im Polizeilichen Staatschutz des Bundeskriminalamtes: „Entspannung ist nicht in Sicht.“ Konflikte und Ereignisse im Ausland wirkten sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren seien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Nahostkonflikt.

Religiöse Repräsentanten am häufigsten von Attacken betroffen

In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts hätten sie stark zugenommen. Das BKA ergreife deshalb verschiedene Maßnahmen, tausche beispielsweise intensiv Informationen mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden aus und bewerte permanent die Gefährdungslage, vor allem für die besonders bedrohten jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der Politisch motivierten Kriminalität geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben). Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal.

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Zahl der jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen stark gestiegen.

Rechtsradikale Jugendliche in Deutschland

Jugendliche und heranwachsende Verdächtige bei politisch motivierten Straftaten pro Bundesland. *Hier ist die Summe der Straftaten mit jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen angegeben. **Hier ist die Summe der Fälle mit mindestens einem jugendlichen beziehungsweise heranwachsenden Verdächtigen angegeben. Quelle: Länderumfrage des WEISSEN RINGS. Vier Länder haben die Anfrage bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.

Ein hessischer Jugendlicher soll sich rechtsradikal geäußert, Sprengstoff hergestellt und im Wald gezündet haben. In den Räumen eines Vereins in Sachsen, der sich für Demokratie einsetzt, sollen 13- bis 16-Jährige aus der Nazi-Szene eine Frau bedroht haben. Und in Brandenburg verletzten junge Leute zwischen 17 und 19 Jahren offenbar einen 41-Jährigen, nachdem dieser sie aufgefordert hatte, mit dem Grölen rechter Parolen aufzuhören.

Im Jahr 2024 häuften sich die Verfahren mit jungen Tatverdächtigen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts. Eine exklusive Länderumfrage des WEISSER RING Magazins zeigt nun das Ausmaß. Demnach hat die Zahl der Fälle, an denen Jugendliche sowie Heranwachsende beteiligt gewesen sein sollen, stark zugenommen: in Sachsen etwa von 310 Tatverdächtigen zwischen 14 und 20 Jahren im Jahr 2023 auf 1297 Verdächtige im vergangenen Jahr, in Bayern von 291 auf 517, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Die Berliner Statistik differenziert auch nach Geschlecht: Demnach waren 136 der 143 Tatverdächtigen im Jahr 2023 männlich, sieben weiblich. Im Jahr darauf gab es insgesamt 175 Verdächtige, 149 männliche und 26 weibliche.

Männlich dominiert

In Berlin waren im Jahr 2023 von 143 verdächtigen Jugendlichen und Heranwachsenden 136 männlich und 7 weiblich. Im Jahr 2024 wurden 175 Verdächtige gezählt, davon waren 149 männlich und 26 weiblich.

Auch Nordrhein-Westfalen verzeichnet eine deutliche Steigerung, von 247 auf 610 Tatverdächtige in dem Alter. Die Landesregierung sieht dies als „eine zentrale Herausforderung für die innere Sicherheit“ und beobachtet eine „zunehmende Dynamisierung“ von rechtsextrem beeinflussten Jugendmilieus, wobei das „Tatmittel Internet“ weiter an Bedeutung gewinne. Bei der Bekämpfung setze das Land auf einen „Dreiklang von Repression, Prävention und Ausstiegshilfe“. Überwiegend geht es um Propagandadelikte, mitunter aber auch um Gewalt: In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Jahr 30 jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige ermittelt, in Berlin 28, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Bei den Gewalttaten sind die Zahlen tendenziell auch gestiegen.

Die Steigerungen passen zur Gesamtentwicklung. Nach Angaben des BKA sind die rechtsmotivierten Taten 2024 um fast 48 Prozent auf 42.788 angewachsen.

„Rechtsextreme Positionen werden selbstbewusst vertreten“

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, überraschen die Tendenzen nicht: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen“, sagt der Politikwissenschaftler. Es geht „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“.

Die Täter seien jünger geworden; vereinzelt suchten schon Grundschulen Rat. In den vergangenen Jahren hätten sich eher lose, rechte Jugendcliquen gebildet. Sie seien „stark diversifiziert“, auch in ihrem Erscheinungsbild, hätten teils Kontakt zur organisierten Szene und beteiligten sich etwa an Protesten gegen Veranstaltungen zum Christopher Street Day. „Man muss die Bedingungen des Großwerdens, etwa die politische Kultur, das Gemeinwesen, die Eltern, in den Blick nehmen“, so Becker. „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“

Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit: „Sie ist ein Schlüssel. Es kommt darauf an, mit den jungen Leuten im Gespräch zu bleiben, ihnen Angebote zu machen und sie nicht aufzugeben, wenn sie durch rechte Parolen aufgefallen sind. Dazu braucht es Haltung und pädagogisches Wissen.“

Der Flächenbrand

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Sabine

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Das Spektrum reicht von Propaganda über spontane körperliche Attacken bis zu rechtsterroristischen Brandanschlägen – und die Täter werden jünger. Sie verfolgen und greifen Angehörige von Minderheiten an. Opferberatungsstellen schlagen Alarm und fordern den Staat auf, endlich entschlossener zu handeln.

Rechte Gewalt: "Rechts Land" Julius Schien

18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.

Monatelang haben sie sich vorbereitet, die Vorfreude war groß. Zum fünften Mal baute ein breites Bündnis auf dem Marktplatz in Brandenburg Stände, Bänke und eine Bühne auf, um im Juni ein Fest der Vielfalt zu feiern. Darunter eine Trommelschule, der DanceClub vom Jugendzentrum Offi, „Schülis“ und Omas gegen
Rechts. Das Motto: „Bad Freienwalde ist bunt.“ Was dann geschah, hat Tom Kurz beobachtet, der bei der ehrenamtlichen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch Oderland arbeitet: Maskiert mit Sturmhauben, bewaffnet mit Schlagstöcken stürmte eine Gruppe junger Gewalttäter auf den Platz. „Die Neonazis waren erst im Moment des Angriffs sichtbar“, erinnert sich Kurz. „Ich habe sie auf mich zu rennen sehen. Alles ging sehr schnell.“

Vier Personen seien durch Schläge verletzt worden. In einem Video des RBB ist zu sehen, wie ein Angreifer einem Mann gezielt mit der Faust ins Gesicht schlägt. „Mehrere Leute sind dazwischengegangen und haben Schlimmeres verhindert“, sagt Kurz. „Die Neonazis haben wohl nicht mit Gegenwehr gerechnet und mussten
ihren Angriff abbrechen.“ Der orchestrierte Gewaltakt habe viele derjenigen, die unbeschwert feiern wollten, schockiert. „Es waren ja auch Familien da. Viele haben zum ersten Mal so massive rechte Gewalt erfahren.“ Das Fest fand trotzdem statt, aber der brutale Überfall habe den ganzen Tag überschattet.

Der Flächenbrand

Rechtsextreme Straftaten nehmen zu – von Propaganda bis zu Gewaltdelikten. Opferberatungsstellen fordern stärkeres staatliches Gegensteuern.

Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort

Nach der Tat kam Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos) nach Bad Freienwalde. Er sprach von einem „Angriff auf die Art unseres Zusammenlebens“ – ein seltenes Signal der Solidarität mit der queeren Community. Die Veranstalter haben jedoch in einer Stellungnahme klargemacht, dass Betroffenheit nicht ausreicht: „Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort. Die Gefahr, der unsere Veranstaltung ausgesetzt war, wurde falsch eingeschätzt. Das muss sich ändern!“ Tom Kurz kritisiert, dass die Polizei auch gegen diejenigen ermittle, die sich gegen die militanten Neonazis wehrten, um sich und andere zu verteidigen.

Das WEISSER RING Magazin hat die Brandenburger Polizei nach den Gründen dafür gefragt und weshalb trotz Warnungen im Vorfeld keine Beamten vor Ort waren. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung wies ein Polizeisprecher Kritik zurück. Er sagte, die bei der Veranstaltung eingesetzten Beamten seien während des Angriffs nicht am Tatort gewesen, weil sie im Umfeld des Festgeländes unter anderem „Fahrzeugbewegungen“ überprüft hätten Einige Tage nach dem Überfall hat die Polizei die Wohnräume eines mutmaßlichen Angreifers durchsucht.

Für Tom Kurz hat der Angriff eine lange Vorgeschichte. Er beschreibt gefestigte rechtsextreme Strukturen in der Region, mit alten Neonazis aus den 1990er-Jahren, einer stark verankerten AfD und aktionistischen Jugendorganisationen wie der vom III. Weg, einer neonazistischen Kleinstpartei. Nicht rechte Jugendliche würden in Bad Freienwalde zur Zielscheibe der jungen Rechtsextremen. Mitglieder des Bündnisses würden im Ort regelmäßig bepöbelt und bedroht.

Kurz betont, wie wichtig prominente Persönlichkeiten wären, die sich klar positionieren: „Denn die Neonazis sehen sich als ausführende Gewalt eines Volkswillens.“ Stattdessen gab Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) dem RBB nach dem brutalen Überfall ein verstörendes Interview. Der Täter habe zwar „nicht hauen dürfen“, so das Stadtoberhaupt, das Opfer „hätte ihn aber auch nicht festhalten dürfen“. Wie unter einem Brennglas zeigt der Fall die Enthemmung rechter Gewalt – und die Missstände im Umgang damit, wenn Verantwortliche eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben.

2024

haben politisch motivierte Straftaten laut der jährlichen Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht.

84.172

Delikte waren es insgesamt.

42%

als im Jahr zuvor.

42.788

der Delikte waren rechtsextremistisch motiviert.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.

„Rechtes Land“

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch ein Aufhören kommt für ihn nicht infrage, wie er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin erzählt.

Rekordniveau rechter Straftaten

Politisch motivierte Kriminalität ist im vergangenen Jahr so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten, die bereits in den vergangenen Jahren beunruhigende Rekorde erreicht haben, am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488. „Ein Beleg für die hohe und weiterhin zunehmende Gewaltbereitschaft“, erklärt ein BKA-Sprecher.

Noch dramatischer sind die Zahlen, die der Verband der auf rechte Gewalt spezialisierten Opferberatungsstellen (VBRG) erhoben hat. In zwölf von 16 Bundesländern kam es demnach zu 3.453 rechten, rassistischen und antisemitisch motivierten Angriffen mit 4.681 direkt Betroffenen – ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Ländervergleich liegt Berlin mit 9,99 Taten pro 100.000 Einwohner vorn, gefolgt von Sachsen-Anhalt (8,3) und Mecklenburg-Vorpommern (6,59). Bei den absoluten Zahlen steht ebenfalls Berlin mit 366 Angriffen vor Nordrhein-Westfalen mit 294 (1,63 pro 100.000 Einwohner) auf dem ersten Platz. Mehr als die Hälfte aller Taten seien rassistisch motiviert. Gleichwohl hätten die Angriffe auf „politische Gegner“ um zwei Drittel und queerfeindliche um 40 Prozent zugenommen.

2024

Magdeburg. Am Abend des Terroranschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wird ein Student auf dem Nachhauseweg von einer Männergruppe rassistisch beleidigt. „Ihr gehört hier nicht her“, rufen die Männer. Der Student wird mit dem Tod bedroht und geschlagen. Der Terroranschlag des Angreifers saudi-arabischer Herkunft löst in der Stadt eine Welle rassistischer Gewalt aus. So wird ein 13-Jähriger im Fahrstuhl seines Wohnhauses von einem Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt.

Im Gegensatz zum BKA erfassen die Opferberatungen auch Fälle von Nötigung und Bedrohung, was die höheren Fallzahlen teilweise erklärt. Der VBRG notierte 1.212 Bedrohungen/Nötigungen sowie 1.143 einfache und 681 gefährliche Körperverletzungen. Sowohl die Zahlen des VBRG als auch die des Bundeskriminalamtes spiegeln jedoch „nur einen Ausschnitt aus einer sehr bedrohlichen und gewaltvollen Realität für sehr viele Menschen in diesem Land“ wider, betont die Geschäftsführerin des Verbandes, Heike Kleffner. „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Man gehe nicht mehr auf Stadtfeste, verlasse Veranstaltungen früher und bewege sich in Angsträumen und nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Gruppen.

„Das Gewaltpotenzial ist stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern“,
sagt Heike Kleffner. Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, bezogen auf die Einwohnerzahl weiterhin vorn, aber der Westen holt auf. Täter, so Kleffner, griffen dabei auch zu Messern und Schlagwerkzeugen und schlügen auf ihre Opfer ein, selbst wenn diese schon am Boden lägen. Gelegenheitstäter schreckten auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche zu verletzen.

Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, weiterhin vorn, aber der Westen holt auf

In Brandenburg wurde im Dezember ein Schüler auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe junger Rechter so schwer verletzt, dass er unter Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen litt. Diese Täter seien oft in einem Umfeld sozialisiert, in dem Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit mehrheitsfähig seien, sagt Kleffner. Sie nennt Gründe für die gesellschaftliche Klimaverschärfung: „Mit den Wahlerfolgen der AfD geht nicht nur eine Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus einher, sondern auch eine beunruhigende NS-Verherrlichung.“

Kleffner erinnert daran, dass der AfD-Politiker Björn Höcke für den Gebrauch einer SA-Parole verurteilt wurde. Aus diversen Strafverfahren sei bekannt, dass
rechte Täterinnen und Täter „ganz oft nationalsozialistische Propaganda, Hitler-Bilder und SS-Runen konsumieren, liken und teilen“. Man dürfe auch nicht unterschätzen, welche Wirkung ein migrationsfeindlicher gesellschaftlicher Diskurs habe. Eine Studie der Uni Bielefeld belegt zudem, dass Wählerschaft und Sympathisanten der AfD im Vergleich zu anderen Parteianhängern überdurchschnittlich oft Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele befürworten. „Die Wähler*innen radikalisieren die AfD, aber die Partei radikalisiert auch ihre Wählerinnen und Wähler“, so Kleffner.

12

Bundesländer hatten in diesem Jahr ein Rekord an registrierten Fällen bei der Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

3.400

Fälle wurden circa aufgenommen.

20%

als im Vorjahr.

Darüber hinaus greifen AfD-Politiker immer wieder selbst zu Gewalt. So wurde der Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation in NRW, Felix Alexander Cassel, dafür verurteilt, am Rande eines „AfD-Bürgerdialogs“ in Köln einen Gegendemonstranten mit dem Pkw angefahren zu haben. In Berlin wurde der AfD-Bezirksverordnete Kai Borrmann für eine Beiß-Attacke gegen die schwarze Musikjournalistin Steph Karl verurteilt, die er zuvor rassistisch beleidigt hatte. Im November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft drei AfD-Mitglieder festnehmen, die verdächtigt werden, der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Sächsische Separatisten“ angehört zu haben.

Ein BKA-Sprecher verweist darauf, dass rechte Straftaten nicht in jedem Fall tief verinnerlichte rechtsextreme Denkmuster voraussetzen. Nicht selten würden nur „Versatzstücke aus Ideologien“ übernommen: „Rechtsextreme Ideologien und gezielte Mobilisierung durch rechte Akteure schaffen und fördern jedoch Rahmenbedingungen, die an der Motivation zu solchen Straftaten andocken.“ Etwa, indem bestimmten Personengruppen eine Sündenbockfunktion zugeschrieben wird oder sie durch Täter-Opfer-Umkehr als bedrohlich markiert werden.

Immer stärker ins Visier rechter Straftäter geraten queere Menschen, etwa in Sachsen, beobachtet Michel Röhricht vom Bürgerrechtsverband Queere Vielfalt (LSVD): „Die gestiegene Bedrohung ist auf alle Fälle spürbar. Die Lage ist erheblich unsicherer geworden.“ Zwar gibt es auch in kleineren sächsischen Orten wie Döbeln oder Riesa CSD-Veranstaltungen, aber Ankunft und Rückfahrt seien gefährlich, weil Rechtsextremisten die Veranstaltungen systematisch anfeindeten. „Teilnehmende müssen in Gruppen anreisen“, sagt Röhricht. Immer wieder meldeten sich Personen, die berichten, sie seien in ihrem Alltag angegriffen worden. Oftmals scheuten sie sich aber, Straftaten anzuzeigen. Betroffene würden ausgelacht, beleidigt und ausgegrenzt. Auch Schulen seien häufig Tatorte. „Die meisten, die sich an uns wenden, sind voller Angst und fressen das in sich rein“, so Röhricht.

Das Leben der queeren Community werde durch eine feindliche Grundstimmung in der Gesellschaft stark eingeschränkt. Viele täten alles, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. „Die Sichtbarkeit nimmt ab“, so Röhricht. Zwar sei die Lage in ländlichen Regionen noch schwieriger, vor allem für queere migrantische Personen. Dort liege  ein „Mantel des Schweigens“ über Diskriminierung und Gewalt; Hilfsangebote gebe es oftmals nicht. Selbst Großstädte wie Chemnitz bieten Röhricht zufolge keinen Schutz, weil viele Treffpunkte aufgrund mangelnder Förderung weggebrochen seien. „Es gibt queere Menschen, die eine Serie von Angriffen und Beeinträchtigungen erlitten haben“, berichtet er. „Da gibt es ganz viel Hoffnungslosigkeit und Resignation.“

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.

Während sich Opfer zurückziehen, fühlen sich Täter ermutigt. Eine entscheidende Rolle im Radikalisierungsprozess spielen nach Erkenntnissen des BKA die sozialen Medien: mit einer ungefilterten Flut von Hetze, Desinformation und Propaganda. In den digitalen Hasskammern verbreiten Rechtsextremisten toxische Erzählungen über eine angebliche „Umvolkung“, „Gender-Wahn“, „Frühsexualisierung“, „Globalisten“ und „linksgrüne Ökofaschisten“. Menschen werden aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung als Hassobjekte angefeindet.

Ins Visier geraten alle, die nicht der homogenen Norm einer völkisch-deutschen Ideologie entsprechen. Die sozialen Medien bieten Rechtsextremisten und Rassisten dabei nicht nur eine Plattform für niedrigschwellige Kontaktaufnahme, Rekrutierung und Vernetzung, sondern werden auch als Tatort und Labor für politisch motivierte Straftaten genutzt. Hasskriminalität ist im vergangenen Jahr um 28 Prozent auf 21.773 Fälle angestiegen. Mehr als zwei Drittel aller Hassdelikte sind rechts motiviert.

2025

Cottbus. Eine Gruppe greift am 28. März das Hausprojekt „Zelle79“ in Cottbus (Brandenburg) an. Die Täter brüllen rechte Parolen und werfen mit Pflastersteinen. Wenige Stunden später attackieren vermummte Täter das Haus erneut mit Steinen. Im Mai informiert die Polizei über einen weiteren Angriff von fünf Personen mit Böllern und Leuchtfackeln. Dabei werden verfassungsfeindliche Parolen gerufen, Eingangstür und Fassade beschädigt.

Seit Mitte 2024 beobachten die Sicherheitsbehörden einen beunruhigenden Trend. In der Neonazi-Szene treten viele neue Jugendgruppen in Erscheinung, die „Jung und Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ heißen. Rechtsextreme Straftäter werden immer jünger. Nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke im vergangenen Jahr in Dresden wurden vier Minderjährige aus dem Umfeld der rechtsextremen „Elblandrevolte“ als Verdächtige ermittelt.

In einem anderen Fall verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin kürzlich vier mutmaßliche Neonazis aus Sachsen-Anhalt, die im Ortsteil Lichterfelde zwei SPD-Wahlkämpfer brutal attackiert hatten. Die Täter, die auf dem Weg zu einer rechten Demo waren, hatten einen 50-Jährigen mit Springerstiefeln gegen den Kopf getreten. Der Vorsitzende Richter hatte keinen Zweifel an dem politischen Tatmotiv und verurteilte die jungen Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten. Ein Sprecher des BKA warnt angesichts solcher Taten vor der Gewaltbereitschaft der neuen Gruppierungen: Aufgrund permanenter neonazistischer Propaganda bestehe „die Gefahr, dass diese Gruppen weitere Anhänger rekrutieren und sich das Phänomen ausweitet“.

In der Nacht auf den 23. Oktober 2024 brennt in Altdöbern (Brandenburg) das ehemalige Schützenhaus nieder. Durch einen glücklichen Zufall bleibt die Betreiber- Familie des zugehörigen Kulturhauses, die im Gebäude nebenan schläft, unverletzt. Die Polizei teilt wenige Tage später mit, sie gehe nicht von Brandstiftung aus, sondern von einem technischen Defekt. Dies hält sich fortan hartnäckig in der Region und wird Anfang des Jahres korrigiert. Allerdings nicht auf Initiative der Behörden, sondern im Landtag. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der SPD taucht der Brand in Altdöbern überraschend als politisch motivierte Kriminalität von rechts auf, die sich gegen ein angeblich linkes Kulturobjekt richtete. „Links“ war der „Kultberg“ in Altdöbern nicht: Auf der offenen Bühne der Bar konnten alle, die wollten, spontan zur Gitarre greifen. Im Festsaal wurde auch Karneval gefeiert. Im Mai 2025 nimmt der Generalbundesanwalt (GBA) schließlich vier mutmaßliche Mitglieder der selbsternannten „Letzten Verteidigungswelle“ fest.

Der Vorwurf: Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung. Der jüngste der minderjährigen Beschuldigten soll erst 14 Jahre alt sein. Deren Ziel laut Ermittlern: durch Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Migranten und politische Gegner den Zusammenbruch des politischen Systems der Bundesrepublik herbeizuführen.

10.732

Straftaten wurden vom BKA im Bereich Hasspostings registriert. Laut BKA spielt der digitale Raum eine immer größere Rolle in der Politisch Motivierten Kriminalität.

34%

mehr als im Vorjahr. Die meisten Taten sind rechtsmotiviert.

4.760

Fälle wurden insgesamt registriert.

Die Bundesanwaltschaft wirft den Tatverdächtigen vor, einen Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Schmölln (Thüringen) verübt zu haben. Obwohl aus einer Feuerwerksbatterie Pyrotechnik entzündet wurde, kam es dort glücklicherweise nicht zur Katastrophe. Die Beschuldigten sollen während der Tat einschlägige Parolen an die Unterkunft gesprüht haben: „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „NS-Gebiet“, dazu Hakenkreuze und Sieg-Runen. Der Generalbundesanwalt ist zudem davon überzeugt, dass zwei der Verdächtigen den Brand in Altdöbern gelegt haben. Einer von ihnen soll laut GBA ein führendes Mitglied der mutmaßlichen rechtsterroristischen Vereinigung gewesen sein.

Der Jugendliche habe die Tat in einem Video angekündigt, um andere Mitglieder zu ähnlichen Aktionen zu animieren. Bemerkenswert: Ein Terrorverdächtiger lebt mit seiner Familie selbst in Altdöbern. Der Fall schreckte das Land kurz auf, doch viele Medien stürzen sich allein auf das Alter der mutmaßlichen „Teenie-Terroristen“. Hintergrund, Folgen und Konsequenzen? Fehlanzeige.

Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen, schickte die Gemeinde der Familie eine Kündigung

In Altdöbern haben die Täter die Existenz der Betreiber-Familie zerstört. Zwar blieb die Kneipe bei dem Brandanschlag verschont, während das frühere Schützenhaus, das seit 100 Jahren als Mittelpunkt des Dorflebens genutzt wurde, bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dennoch stehen die Brandopfer nach der Tat vor dem Ruin. Im Ort ist die Familie isoliert. Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen und die Kultureinrichtung zu erhalten, schickte die Amtsverwaltung der Gemeinde der Familie eine Kündigung. Obwohl das Feuer nur Teile des Areals zerstört hat, gibt es offenbar Pläne, alles abzureißen. Im Ort kursieren böse Gerüchte über die Gastronomen. Sie hätten ja schon in Berlin eine Kneipe in den Sand gesetzt und seien längst auf dem Absprung in eine andere Stadt. Es hat den Anschein, als wolle man die Opfer des mutmaßlichen Rechtsterrors loswerden.

Das WEISSER RING Magazin hat die Amtsverwaltung von Altdöbern nach den Gründen für die Kündigung und etwaige Abrisspläne gefragt. Die Anfrage blieb unbeantwortet.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Muster der Eskalation

Rechte Gewalt ist kein Zufall. Sie braucht einen Rahmen und einen Nährboden, der sie legitimiert. In den vergangenen Jahren haben sich Vorurteile wie ein Gift auch in gesellschaftlichen Milieus verbreitet, die zuvor aufgrund ihrer Bildung und ihres Einkommens als kaum anfällig galten. Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit oder die Entmenschlichung geflüchteter Menschen sind mittlerweile auch bei jenen anschlussfähig, die sich selbst in der gesellschaftlichen Mitte verorten. Dafür sprechen etwa die Ergebnisse der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Autoritarismus-Studien der Universität Leipzig, die seit Jahren Anstiege der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit messen.

2025

Chemnitz. Am 28. Mai wird eine 56-Jährige in Chemnitz von einem Unbekannten bedrängt, rassistisch beleidigt und attackiert. Die Frau erleidet leichte Verletzungen. Nach Eingreifen einer Zeugin kann der Täter unerkannt flüchten.

In der Vergangenheit folgten die Wellen rechter Gewalt einem auffälligen Muster: In den 1990er-Jahren wurden Geflüchtete von Politik und Medien als „Schein-Asylanten“ dämonisiert, die das Land angeblich wie eine Naturkatastrophe fluteten. In der Folge brannten Asylbewerberheime. Die rassistische Eskalation führte von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bis Mölln und Solingen, von Pogromen bis zu mörderischen Terroranschlägen. In der sogenannten Flüchtlingskrise der Jahre 2015 wiederholten sich unheilvolle Muster einer politisch motivierten Gewaltspirale. Infolge der massiven Mobilisierung der extremen Rechten gegen Geflüchtete, die erneut von rassistischen Diskursen begleitet wurde, stieg die Zahl der Angriffe auf Asylsuchende und deren Unterkünfte drastisch an.

Laut Bundeskriminalamt verfünffachte sie sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr. Öffentliche Entmenschlichung sowie rechtsextreme und rassistische Mobilisierung führen zu rechter Gewalt. Militante Überzeugungstäter lassen radikalen Worten lebensgefährliche Taten folgen. Nach dem Motto: Alle reden nur. Wir handeln.

„Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben entsprechende Gruppierungen im Blick und begegnen der Szene mit hohem Kontrolldruck“, sagt ein BKA-Sprecher. Ein gemeinsamer Maßnahmenplan mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz soll potenzielle Täter schneller erkennen, Netzwerke besser aufklären und Hasskriminalität im Internet effektiver bekämpfen. Dazu sei beim Polizeilichen Staatsschutz die Fachgruppe Internet eingerichtet worden, so der Sprecher.

3.061

rechts motivierte Fälle erfasste die Polizei, bei antisemitischen Straftaten.

1.940

Fälle waren ausländisch motiviert.

Gleichwohl kritisieren die Beratungsgruppen des VBRG seit Jahren: Politische Tatmotive würden bei Ermittlungen weiterhin häufig ignoriert, Betroffene allzu oft nicht ernst genommen oder gar wie Täter behandelt. Strafverfahren wie die gegen jene Neonazis, die bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 gezielt migrantische Menschen und politische Gegner angriffen und verletzt
haben, würden von der Justiz jahrelang verschleppt, bis Angeklagte untertauchen oder aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mit milden Strafen davonkommen. So begann in Chemnitz erst sechs Jahre nach der Tat der erste große Prozess wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Nur drei von ursprünglich neun Angeklagten erhielten überhaupt eine Geldbuße, woraufhin das Verfahren gegen sie eingestellt wurde. Ein weiterer Prozess begann erst im Mai 2025, sieben Jahre nach den Angriffen. Drei Männer wurden vom Vorwurf des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Das Verfahren gegen einen vierten Angeklagten wurde eingestellt.

Schluss mit Sonntagsreden

Seit Jahren wiederholen Innenminister wie Nancy Faeser (SPD) und nun auch Alexander Dobrindt (CSU), Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie. Doch in der Praxis werden Opfer alleingelassen und Täter verschont. Die Gefahr von rechts wird immer noch unterschätzt. Hinzu kommt, dass die Prävention durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine von Politik und Medien infrage gestellt und sogar delegitimiert wird. Anstatt diese Vereine und Bündnisse dauerhaft durch ein Demokratiefördergesetz abzusichern, wird die AfD Erzählung von einem angeblich schädlichen, linken Komplex von Nichtregierungsorganisationen (NGO) befeuert. „Die gefährliche Macht der angeblichen NGOs“, kommentierte etwa die Tageszeitung „Die Welt“. CDU/CSU haben im Bundestag mit 551 teils absurden Fragen zu NGOs Misstrauen gesät. 1.700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Kleine Anfrage der Union in einem offenen Brief scharf kritisiert und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie betont.

 

Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht

Regelmäßig stehen Beratungsstellen für Opfer rechter oder antisemitischer Gewalt sowie mobile Beratungsteams wegen ungeklärter Finanzierung vor dem Aus. Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht. Im Gegenteil sollen Fördermittel für zivilgesellschaftliche Projekte in Hotspots wie Sachsen sogar massiv gekürzt werden, so die Pläne der CDU/SPD-Minderheitsregierung.

 

Nach dem mörderischen NSU-Terror haben Untersuchungsausschüsse wichtige Reformen angemahnt, von denen einige dann auch umgesetzt wurden. So wurde zum Beispiel die Strafzumessung in der Strafprozessordnung so geändert, dass etwa rassistische Tatmotive strafverschärfend berücksichtigt werden können. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios gibt es keinen Grund zur Entwarnung. „Wir sehen einen föderalen Flickenteppich. Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, sagt Heike Kleffner vom VBRG. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. „Da werden Ermittlungsverfahren zügig zu Ende geführt, angeklagt und dann
auch vor Gericht terminiert.“ Auch die Berliner Justiz handelt bei den aktuellen Angriffen junger Neonazi-Gruppen entschlossen und stellt, wie in dem Fall des Angriffs auf die SPD-Wahlhelfer in Lichtenberg, vor Gericht ausdrücklich rechtsextreme Tatmotive fest.

„Andererseits ist in Sachsen seit dem NSU-Komplex gar nichts passiert“, kritisiert Kleffner. So würden Strafverfahren wie jene in Chemnitz weiterhin verschleppt. Auch in NRW seien „jahrelang keine Konsequenzen aus den Versäumnissen und Fehlern im NSU-Komplex gezogen worden“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor Jahren bei einer Gedenkveranstaltung mit den Angehörigen des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau von einer „Bringschuld des Staates“ gegenüber den Angehörigen der Opfer rechter Gewalt gesprochen. Dieses Versprechen ist nicht eingelöst. Der VBRG fordert angesichts der dramatischen Lage einen nationalen Aktionsplan
zur effektiveren Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Wie notwendig das ist, zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen.

Im März 2024 stirbt bei einem verheerenden Brandanschlag in einem Solinger Mehrfamilienhaus eine vierköpfige Familie: die 28-jährige Mutter, der 29-jährige Vater, die fast dreijährige Tochter und ein fünf Monate alter Säugling. Die Opfer, die einer türkischen Minderheit in Bulgarien angehören, waren erst seit einigen Monaten in Deutschland. Insgesamt werden bei dem Anschlag 21 Menschen teils schwer verletzt, darunter ein junges Paar, das mit seinem Baby in Panik aus dem dritten Stock springt, um sich zu retten. Die Familie überlebt mit schweren Brand- und Bruchverletzungen. Vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Wuppertal hat der zur Tatzeit 39-jährige Angeklagte Daniel S. von seinen Anwälten ein Geständnis verlesen lassen. Die Täterschaft scheint also geklärt. Aber was war das Motiv? Schnell teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit, es gebe keine Hinweise auf ein rechtsextremes Tatmotiv. Die Behörden gehen von persönlichen Beweggründen aus.

2025

Chemnitz. Ebenfalls in Chemnitz skandieren Jugendliche und junge Erwachsene am 29. Mai rechte Parolen und zeigen den „Hitlergruß“. Ein junger Mann feuert einen Schuss aus einer Schreckschusspistole ab.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die in dem Mordprozess als Nebenklagevertreterin auftritt, erhebt schwere Vorwürfe. Ihr zufolge wurden eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv von den Ermittlern weder gesichtet noch gesichert. So sei erst ein Jahr nach dem Brand bekannt geworden, dass bei der Durchsuchung des Wohnhauses des Angeklagten eindeutiges politisches Material gefunden wurde, darunter Adolf Hitlers Schrift „Mein Kampf“ und Tonaufnahmen von Hitler-Reden. Die umfangreiche Nazi-Propaganda landete nicht in der Ermittlungsakte. Bei der Hausdurchsuchung hatte die Lebensgefährtin des Beschuldigten behauptet, das Material gehöre dessen Vater. Damit gaben sich die Ermittler offenbar zufrieden. Im Prozess erklärte der Richter, dass plötzlich ein Aktenvermerk der Polizei aufgetaucht sei, wonach der Brandanschlag kurz nach der Tat sehr wohl als rechts motivierte Straftat eingestuft worden war. Die Einstufung sei jedoch nachträglich von einem Beamten gestrichen worden.

Die Nebenklage erwirkte vor Gericht umfangreiche Nachermittlungen, auf ihr Drängen wurden zahlreiche Datenträger ausgewertet. Auf einer Festplatte waren 166 Dateien, „die eindeutig antisemitisch, rassistisch und menschenverachtend sind“, so die Anwältin. Den Ermittlern zufolge gehört die Festplatte der Lebensgefährtin. Başay-Yıldız kritisiert: „Es gab keine Ermittlungen zum Umfeld des Täters.“ Auch belastendes Material aus der Garage des Angeklagten wurde nicht ausgewertet. „An der Wand befand sich ein Gedicht über einen Asylsuchenden, welches den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt“, sagt Başay-Yıldız. Das sei jedoch erst im Prozess durch Vergrößerung eines Fotos entdeckt worden.

Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt

Vor über 30 Jahren, im Mai 1993, wurden bei einem rechten Brandanschlag in Solingen fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen ermordet. Der Anschlag erschütterte das Land. Die Ermittlungen in dem aktuellen Fall erwecken den Anschein, als solle Solingen nicht erneut zum Synonym für einen mörderischen rechtsradikalen Anschlag werden. Im August wurde der Angeklagte wegen vierfachen Mordes und vielfachen Mordversuchs zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest, jedoch kein rassistisches Motiv, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft. Diese begründete ihre Sicht unter anderem damit, dass der Täter keinen Kontakt zu rechten Gruppen gehabt habe.

Der Fall ist alarmierend. Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch – und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt – trotz NSU-Komplex, immer neuen Fällen von Rechtsterrorismus und Rekordzahlen rechter Straf- und Gewalttaten. Alles steht und fällt mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme.

Transparenzhinweis:
Auch der WEISSE RING ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Der Verein erhält keine staatlichen Mittel. Der WEISSE RING finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen.

„Wachsende Polarisierung und Radikalisierung“

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

„Wachsende Polarisierung und Radikalisierung“

Politisch motivierte Straftaten nehmen zu. Die größte Bedrohung kommt von rechts.

Politisch Motivierte Kriminalität

„Solingen trauert …“, Gedenken der Opfer des Attentats von Solingen in der Nähe des Tatortes Fronhof am 01.09.2024. Beim „Fest der Vielfalt“ zum 650. Geburtstag der Stadt Solingen hatte ein Attentäter am Freitag vergangener Woche mehrere Personen mit einem Messer attackiert. Ihm wird unter anderem dreifacher Mord und die Mitgliedschaft in der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vorgeworfen. Foto: picture alliance / epd-bild | Guido Schiefer

Im Jahr 2024 haben die Delikte bei der politisch motivierten Kriminalität (PMK) laut Bundeskriminalamt (BKA) mit 84.172 – plus 40,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr – den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht. Innerhalb von zehn Jahren haben sich die Zahlen mehr als verdoppelt. Gut die Hälfte aller politischen Straftaten sind rechtsradikal motiviert: 42.788. Hier gab es mit 47,8 Prozent den größten Zuwachs. Linksextreme Straftaten legten um 28,2 Prozent auf 9.971 zu. Um 42 Prozent stiegen die Taten mit ausländischer Ideologie an, auf 7.343, religiös motivierte Straftaten wuchsen um 28,7 Prozent auf 1.877.

Rechtsextremismus bleibt damit die größte Gefahr für die innere Sicherheit. Auch die meisten politisch motivierten Gewaltstraftaten wurden von rechten Tätern begangen: 1.488 – plus 17,2 Prozent. Linke Gewaltstraftaten gingen um 16,8 Prozent auf 762 zurück. Den stärksten Zuwachs verzeichneten Gewaltdelikte mit ausländischer Ideologie, die um 98,6 Prozent auf 975 Fälle anstiegen. Das BKA erkennt in den Zuwachsraten eine „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren.

Bei den Hassstraftaten sind mehr als zwei Drittel rechtsmotiviert. Verantwortlich ist dafür vor allem der erneute Anstieg fremdenfeindlicher Straftaten in dem Bereich, auf 19.481 (plus 29,1 Prozent). Mehr als zwei Drittel davon, nämlich 14.579 Taten (plus 25,7 Prozent), waren rechtsmotiviert, gefolgt von 2.451 Fällen mit ausländischer Ideologie (plus 53,5 Prozent). Zudem gab es 175 linke Hassdelikte (plus 127,3 Prozent).

Bei Hasskriminalität werden Opfer aufgrund von Vorurteilen etwa gegen Nationalität, Religion, Beeinträchtigung oder geschlechtliche Identität angegriffen. Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der PMK geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben).

Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal. Bei den Zahlen zu den Betroffenen zeigt sich ebenfalls eine steigende Tendenz. Alarmierend ist auch die Entwicklung bei den jungen politisch motivierten Tatverdächtigen: Zählte das Bundeskriminalamt 2023 noch 7.693 mutmaßliche Täter unter 21 Jahren, waren es im vergangenen Jahr 11.282.

Im vergangenen Jahr registrierte das BKA elf versuchte und drei vollendete politisch motivierte Tötungsdelikte. Bei Letzteren wurden zwei im Bereich religiöse Ideologie, einer im Bereich „sonstige Zuordnung“ gemeldet. Dieser erfasst Delikte, die nicht eindeutig in eine der vier Hauptkategorien fallen. Von den versuchten Tötungen waren sechs rechtsmotiviert, zwei wurden einer ausländischen Ideologie und drei einer religiösen zugerechnet.

Für die Sicherheitsbehörden zählen Straftaten der letztgenannten Kategorie zu den fortwährenden großen Herausforderungen. Die Zahl der Delikte mit Terrorismusqualität ist hier von 94 im Jahr 2023 auf 105 im Jahr 2024 gestiegen. Die Steigerung bei der Zahl aller Taten aufgrund von religiöser Ideologie hänge in erster Linie mit dem Nahostkonflikt zusammen. Das BKA spricht von einer „hohen Gefährdungslage“, die vom islamistischen Terrorismus und insbesondere von allein handelnden Personen und autonomen Gruppen ausgehe. Ein Grund sei die „zunehmende Online-Radikalisierung“.

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Rechtsextreme Straftaten sind am stärksten gestiegen, doch auch in anderen Bereichen der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die Zahl der Delikte größer geworden. Im Interview mit dem WEISSER RING Magazin spricht BKA-Referatsleiterin Heike Pooth über Ursachen, Folgen und Gegenmittel.

Politisch Motivierte Gewalt

Polizeibeamte der Spurensicherung stehen an einem Gleisabschnitt in Düsseldorf, dort wurde neben der Bahnstrecke Feuer in einem Kabeltunnel gelegt, 6 Kabel in Mitleidenschaft gezogen, diese müssen auf einer Länge von 60 Metern ausgetauscht werden. Die Tat soll laut FAZ einen linksextremistischen Hintergrund haben. Foto: picture alliance/dpa | Christoph Reichwein

Politisch motivierte Straftaten haben im Jahr 2024 deutlich zugenommen – auch im Phänomenbereich „ausländische Ideologie“: um 42 Prozent auf 7.343 Fälle. Wie bewerten Sie die Entwicklung und worin sehen Sie die Ursachen?

Dieser Trend setzt sich seit Jahren fort. Bereits 2023 hatten wir einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr registriert, um 33 Prozent auf 5.170 Fälle. Konflikte und Ereignisse im Ausland wirken sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen
in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren sind der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der fortwährend intensivierte Nahostkonflikt. In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts haben sie stark zugenommen.

Mit Sorge betrachten wir, dass sich die Gewaltdelikte im Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) „ausländische Ideologie“ von 2023 auf 2024 nahezu verdoppelt haben, von 491 auf 975. Darunter waren 467 Körperverletzungen, 361 Widerstandsdelikte und 109 Landfriedensbrüche. Auch hier geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung im Nahen Osten. Schwerpunkt der Straftaten ist Berlin, wo zahlreiche pro-palästinensische Demonstrationen stattfinden, die teilweise gewalttätig verlaufen. Besonders betroffen sind jüdische und israelische Einrichtungen, überwiegend von Sachbeschädigung, aber auch Beleidigungen und Bedrohungen von jüdischen Personen sind zu konstatieren.

Weshalb spielen Demonstrationen eine so zentrale Rolle?

Bei ihnen zeigt sich ein hoher Grad an Emotionalisierung, wobei zum Teil antisemitische Inhalte einfließen. Das kann dazu führen, dass Veranstaltungen eskalieren. Wichtig ist die konsequente Verfolgung der Straftaten im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen.

Wie versucht das BKA, der Gefahr zu begegnen, und wie fällt Ihre Prognose aus?

Entspannung ist nicht in Sicht, gerade in Bezug auf den Nahostkonflikt, weil sich dort keine Lösung abzeichnet. Wir müssen mit einer weiteren Polarisierung und weiteren Straftaten rechnen, was zu Unsicherheit in der Bevölkerung führen kann. Die Konflikte im Themenbereich PKK/Kurden/Türkei und die damit verbundenen Delikte werden uns ebenfalls weiterhin beschäftigen. Das BKA ergreift deshalb verschiedene Maßnahmen: So führen wir einen intensiven Informationsaustausch mit den nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden durch, bewerten permanent die Gefährdungslage, insbesondere auch für jüdische und israelische Einrichtungen und betreiben ein umfangreiches Internetmonitoring. Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen. Hierzu kooperieren wir mit den Nachrichtendiensten.

Ein häufiger Kritikpunkt ist der mangelnde Informationsaustausch zwischen Behörden, der auch mit den Ländergrenzen zusammenhängt.

Das kann ein Problem sein. National haben wir einen etablierten Informationsaustausch im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum, in dem rund 40 Bundes- und Länderbehörden vertreten sind. Auch im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für Politisch Motivierte Kriminalität melden die Bundesländer entsprechende Straftaten an das BKA. Auch der internationale Informationsaustausch ist eine wichtige Säule bei der Bekämpfung Politisch Motivierter Kriminalität, wobei dieser mit einigen Ländern schwierig ist. Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung würden die Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität erleichtern.

„Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen.“

BKA-Referatsleiterin Heike Pooth
Die Straftaten im Phänomenbereich der Politisch Motivierten Kriminalität „links“ sind insgesamt ebenfalls deutlich gestiegen, um gut 28 Prozent auf 9.971 Delikte im Jahr 2024, der Anteil der Gewaltdelikte ging gleichzeitig auf 762 Delikte zurück. Was sind die Gründe dafür?

Hauptgrund für den Anstieg der Straftaten im Phänomenbereich PMK „links“ war das Thema Wahlen. 2024 war ein Superwahljahr mit der Europawahl, drei Landtags- und mehreren Kommunalwahlen. Auch die erwarteten und dann tatsächlichen Wahlerfolge der AfD haben die linke Szene zusätzlich mobilisiert. Insgesamt waren Sachbeschädigungen, insbesondere an Wahlplakaten, und Beleidigungen die herausragenden Straftaten. Erfreulich ist allerdings, dass die Zahl der Gewaltdelikte der PMK „links“ gesunken sind um 16,81 Prozent auf 762 Delikte im Jahr 2024.

Der Rückgang der Gewaltdelikte ist vorrangig auf den Rückgang der gefährlichen Eingriffe in den Straßen-, Bahn- und Luftverkehr zurückzuführen. Der Phänomenbereich PMK „links“ ist stark geprägt von Ereignissen und Kampagnen, die viele Personen mobilisieren können, auch kurzfristig. Im Jahr 2023 wurde zum Beispiel Lützerath in Nordrhein-Westfalen aus Protest gegen die Erweiterung des Tagebaus besetzt und schließlich geräumt. Darüber hinaus gab es im Jahr 2023 eine Vielzahl von Blockadeaktionen der Letzten Generation sowie das Luftablassen der Tyre Extinguisher.

Diese Kampagnen haben sich in 2024 nicht fortgesetzt, sodass auch entsprechende Gewaltdelikte rückläufig waren. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass erfolgreiche Ermittlungsverfahren, Festnahmen und Verurteilungen von zentralen Protagonisten der linken Szene Wirkung gezeigt haben, zum Beispiel die Antifa-Ost-Verfahren.

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Opferberatungsstellen schlagen Alarm.

Wie schätzen Sie die Gefahr durch Linksextreme grundsätzlich ein? Der Großteil der Gewaltdelikte bei der Politisch Motivierten Kriminalität kommt von rechts.

Wir betrachten die linksmotivierte politische Kriminalität mit Sorge, insbesondere auch weil dort einzelne schwere Gewaltdelikte und Straftaten mit hohen Schadenssummen verübt werden. Besorgniserregend sind vor allem klandestin agierende Kleingruppen, die mitunter höchst professionell, organisiert und „persönlich“ agieren, also gezielt Opfer aussuchen und teils schwer verletzen und nach den Taten untertauchen. Wir setzen bei der Verfolgung auf eine enge Zusammenarbeit mit den Ländern. Linksextremismus wird auch künftig eine Gefahr sein. Darauf deuten etwa Angriffe der Gruppe „Angry Birds“ auf das Bahnnetz hin. Auch das Thema „Antifaschismus“ und die aktive Bekämpfung von Personen des rechten Spektrums wird weiterhin ein zentrales Thema bleiben – gleiches gilt für die Themen „Antikapitalismus“, wie die Angriffe auf Wirtschaftsunternehmen, wie zum Beispiel Tesla, zeigen. Eine hohe Bedeutung haben weiterhin auch die Angriffe auf Kritische Infrastruktur wie etwa Bahnanlagen oder Bauprojekte mit zum Teil enormen Sachschäden.

Zur Person und Hintergrund

Heike Pooth ist Referatsleiterin im Polizeilichen Staatsschutz des Bundeskriminalamtes (BKA) in Meckenheim. Aufgabe der Abteilung ist die Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), sie befasst sich mit der PMK „rechts“, „links“ und „ausländische Ideologie“. Dem letzten Bereich werden laut einer BKA-Definition Straftaten zugerechnet, wenn es bei den Umständen und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine aus dem Ausland stammende, nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tat war, vor allem, wenn sie darauf abzielt, „Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland zu beeinflussen“. Bei der Kategorie religiöse Ideologie hingegen müssen Hinweise darauf vorliegen, dass diese Ideologie wesentlich für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung instrumentalisiert wurde, etwa bei Verbrechen von Terrororganisationen wie Al-Quaida oder dem sogenannten Islamischen Staat. Die Abgrenzung zur ausländischen Ideologie ist teils schwierig. Linksextremistische Taten liegen laut BKA zum Beispiel dann vor, wenn „Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus“ ganz oder teilweise Ursache waren, wobei das Delikt nicht das Ziel haben muss, die Freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik oder Teile davon abzuschaffen.

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Erstellt am: Freitag, 5. September 2025 von Selina

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren. Mit seinem Projekt „Rechtes Land“ möchte er den Opfern ein Denkmal setzen.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch Aufhören kommt für ihn nicht infrage.

Wieso machen Sie Fotos von Tatorten rechter Gewalt?

Nach den rechten Attentaten auf Walter Lübcke, in Halle 2019 und in Hanau 2020 machte sich ein Störgefühl bei mir breit. In Politik und Medien war meist von „Einzeltätern“ die Rede, von rechtem Terror jedoch kaum. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schnell bei Taten aus einem anderen politischen Spektrum von „linkem Terror“ gesprochen wird. Daraus entstand die Frage: Hat Deutschland wirklich ein größeres Problem mit linker als mit rechter Gewalt?

Meine Recherchen führten mich zur Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und der vom „Tagesspiegel“ und zu den offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Das Ergebnis: Seit der Wiedervereinigung forderte rechte Gewalt deutlich mehr Todesopfer als linke.

Besonders betroffen machte mich, dass zwei dieser Tatorte Orte waren, die ich persönlich kannte – einer lag an meinem täglichen Schulweg in einer Provinz in Niederbayern, ein anderer befindet sich in meiner heutigen Heimat Hannover. Ohne es zu wissen, habe ich an dem Ort in Hannover Zeit verbracht und Bier mit Freunden getrunken, wo ein Mensch durch rechte Gewalt ermordet wurde. Das brachte mich zu dem Entschluss, alle Tatorte zu fotografieren – als Mahnmal für uns und Denkmal für die Betroffenen. Es gibt laut der Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer, dazu kommen 17 Verdachtsfälle.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.

Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass rechte Gewalt nicht alleinig das Problem sei, sondern auch linke oder religiöse. Was denken Sie darüber?

Ich finde, wir müssen die Gesellschaft als Ganzes betrachten, und da darf politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeter Extremismus nicht ausgeklammert werden. Wenn man aber die Zahlen und die vom Verfassungsschutz erhobenen Statistiken betrachtet, dann wird relativ schnell klar, wo das Hauptproblem liegt. Ich persönlich habe ein Problem damit, wie die Politik und Medien über Themen wie politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeten Extremismus im Gegensatz zu politisch rechtsmotivierter Kriminalität berichten.

Schwarz-weiß Foto von dem Fotografen Julius Schien. Er thematisiert rechte Gewalt in seiner Arbeit.

Der Fotograf Julius Schien arbeitet an eigenen Projekten und als Fotojournalist für verschiedene Medien. Foto: Privat

Seit Sie angefangen haben, an Ihrem Projekt „Rechtes Land“ zu arbeiten, sind vier Jahre vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert. Die AfD hat eine wachsende Wählerschaft, der Verfassungsschutz sieht die Partei als gesichert rechtsextrem an, und auch die politisch rechtsmotivierten Delikte sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Wie geht es Ihnen mit alldem?

Ich beobachte es mit Sorge. Ich finde es krass, wie sich der Diskurs verschoben hat. Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben. Es werden rechte Aussagen getätigt, die fast schon normal erscheinen. Das muss ernst genommen werden, aber wir dürfen uns dadurch nicht unterkriegen lassen. Ich würde mir mehr Haltung wünschen, dass rechte Aussagen nicht in den Medien reproduziert werden, dass nicht jede rechte Parole abgedruckt wird. Ich mache daher auch das Projekt weiter und hoffe, in zwei Jahren alle Tatorte einmal fotografiert zu haben.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Die vergessenen Opfer

Seit dem Anschlag in Magdeburg werden migrantische Menschen oft Opfer von Rassismus, aufgrund der Herkunft des Täters.

Welche Geschichte steht hinter Ihrem nächsten geplanten Tatort?

Ich bin gerade in Brandenburg und habe einen Ort in Neuruppin fotografiert. Am 1. Juli 1992 haben sich drei rechtsextreme Skinheads zum „Penner klatschen“ verabredet. Im Rosengarten trafen die Täter auf Emil Wendland, der dort auf einer Parkbank schlief. Wendland wurde von den Rechtsextremen getreten, geschlagen und letzten Endes erstochen. Und so stehe ich jetzt in Brandenburg und werde gleich auf meine Karte schauen, wo ich als Nächstes hinfahre.

Fall Emil Wendland

Emil Wendland wurde am 1. Juli 1992 in Neuruppin erstochen. Drei Skinheads verabredeten sich zum „Penner klatschen“ und stießen im Neuruppiner Rosengarten auf den 50-Jährigen, der dort alkoholisiert auf einer Parkbank schlief. Dort malträtieren sie ihr Opfer mit Schlägen und Tritten. Als sich die Täter von Wendland entfernen, kehrt einer von ihnen zu dem schwer verletzten Opfer zurück und sticht sieben Mal mit einem Messer in den Oberkörper des wehrlosen Mannes. Das Gericht stellt fest, der Haupttäter habe sein Opfer für „einen Menschen zweiter Klasse gehalten“. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Auch hier wird der „sozialdarwinistische Hintergrund“ der Tat vom Gericht erwähnt: „…faßte man spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluß, in der Nacht ‚Assis aufzuklatschen‘; gemeint war damit das Zusammenschlagen von Obdachlosen oder anderen Personen“, die man als missliebig oder verachtenswert betrachtet habe.

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

“Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Erstellt am: Dienstag, 14. Januar 2025 von Sabine

Foto: Helmut Fricke/dpa

Datum: 14.01.2025

“Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Die neue Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Barbara Richstein, fordert ein klares Eintreten gegen Antisemitismus.

Mainz – Jüdisches Leben befindet sich nach Einschätzung des WEISSEN RINGS in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit der Menschen im Land. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza sei die Zahl der antisemitischen Straftaten sprunghaft gestiegen, teilte der WEISSE RING der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Mainz mit.

„Dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen, empört mich und stimmt mich tieftraurig“, sagte die neue Bundesvorsitzende von Deutschlands größter Opferschutzorganisation, Barbara Richstein.

WEISSER RING fordert Eintreten gegen Antisemitismus 

Viele Angehörige der jüdischen Gemeinschaft dächten darüber nach, auszuwandern – aus Angst vor Gewalt. „Im Kampf gegen die zunehmende gesellschaftliche Verrohung muss das Eintreten gegen jeden Antisemitismus an erster Stelle stehen, ganz egal, ob der von rechts, von links oder aus dem islamistischen Spektrum kommt.“

Die CDU-Politikerin aus Brandenburg hat mehrere Jahre in Israel gelebt und ist seit November dieses Jahres auch stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg.

Deutlich mehr antisemitische Straftaten 

Die Polizei stellt von Jahr zu Jahr mehr rechtsextreme Straftaten fest. 2024 waren dem Bundesinnenministerium zufolge mehr als 33.000 rechtsextreme Straftaten verübt worden, mehr als jemals seit Beginn der Erhebungen 2001.

Die Polizei habe 2024 bis September mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum, berichtete der WEISSE RING. Das Spektrum reiche von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zu Terror.

Dem Bundeskriminalamt seien im Kontext des aktuellen Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 rund 10.770 Straftaten (Stand 8. Januar 2025) über die Länder gemeldet worden, teilte ein Sprecher in Wiesbaden mit. Davon seien 4.300 Straftaten als antisemitisch motiviert eingestuft worden. Schwerpunkte waren Sachbeschädigungen, Propagandadelikte und Volksverhetzungen.

„Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik“

Erstellt am: Freitag, 29. November 2024 von Torben

„Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik“

Vor einem Jahr veröffentlichte der WEISSE RING an dieser Stelle unter der Überschrift „Hass von allen Seiten“ seinen ersten Antisemitismus-Report – als Reaktion auf den wachsenden offenen Judenhass in Deutschland nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023. Weil der antisemitische Flächenbrand weiter wütet, hat unser Autor Michael Kraske jetzt einen zweiten Antisemitismus-Report geschrieben. Sein erschreckender Befund: Jüdisches Leben befindet sich in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit im Land.

Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebende und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor ihrer ersten Vorlesung im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastprofessur bei einer Pressekonferenz. Foto: dpa

Als sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel mit seinen Massakern zum ersten Mal jährt, meldet sich Charlotte Knobloch (Foto oben), 92 Jahre alt, mit einem bemerkenswerten Statement zu Wort. Knobloch war vor einigen Jahren Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie ist mit ihren Reden und Mahnungen bis heute eine der profiliertesten jüdischen Stimmen im Land. Der 7. Oktober 2023 habe „die jüdische Geschichte in ein Davor und Danach geteilt“, schrieb sie auf der Internet- Plattform X. „Wir leben seither in einem Dazwischen, in dem das Leben zwar weiterläuft, aber ohne Sicherheit und ohne einen festen Rahmen.“ Charlotte Knobloch verleiht in ihrer digitalen Botschaft einer Erschütterung Ausdruck, die aufhorchen lässt: „Wir haben noch unsere Synagogen und Gemeindezentren, unsere Wohnungen und Rückzugsorte. Aber das Grundvertrauen, auf dem sie einst standen, haben viele verloren.“ Zwar habe sie seither durchaus Beistand erfahren, doch dränge sich ihr der Eindruck auf, „dass allen Freunden ein noch größerer Block von Indifferenten und Hassern gegenübersteht“.

Und dann räumt diese Grande Dame, die mit ihren Einwürfen und Einlassungen immer wieder wichtige Orientierung in deutschen Debatten bietet, ein, dass sie angesichts der herrschenden Zustände nicht weiterwisse: „Wie dieses Zusammenleben aber aussehen soll mit denen, die unser Leben fundamental ablehnen, darauf weiß ich keine Antwort.“

Viel ist passiert, seit Hamas-Terroristen vor einem Jahr geplant und systematisch jüdische und israelische Opfer vergewaltigten, Kinder und Alte massakrierten, insgesamt etwa 1.200 Menschen ermordeten und über 200 Zivilisten als Geiseln nach Gaza verschleppten. Videoclips haben die Botschaft antisemitisch motivierter Vernichtung über den Erdball verteilt und damit den Hass auf Juden befeuert. Ein Jahr später befanden sich Medienangaben zufolge noch immer 97 Geiseln in der Gewalt der Terrororganisation. Israel ist weiterhin Ziel von massiven Raketenangriffen, zuletzt auch aus dem Iran.

Menschen nehmen im Oktober an einer Pro-Palästina-Demonstration am Alexanderplatz in Berlin teil. Foto: Fabian Sommer/dpa

Seit dem Terrorangriff führt die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu einen erbarmungslosen Krieg gegen den Terror der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon, der bereits Tausende Todesopfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat. Die israelische Armee hat mit ihren Bombardements im Gaza-Streifen schwere Verwüstungen angerichtet. Beobachter berichten von einer humanitären Katastrophe für die Zivilbevölkerung durch massenhafte Flucht und Hunger. Südafrika warf Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vor, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen, was Israel mit dem Hinweis auf die Terrororganisation Hamas, die ihre Bürger als menschliche Schutzschilde benutze, zurückweist. Bis zu einem Urteil könnten Jahre vergehen. Der Chefankläger am IStGH, Karim Khan, erkennt derweil auf beiden Seiten Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Brite beantragte nicht nur gegen drei Hamas-Köpfe, sondern auch gegen Israels Premier Netanjahu und dessen mittlerweile entlassenen Verteidigungsminister Yoav Gallant Haftbefehle, die sich auf die Art der israelischen Kriegsführung beziehen.

Die Eskalation im Nahen Osten hält die Welt in Atem – und sie ist auch auf deutschen Straßen spürbar. Mit propalästinensischen und israelsolidarischen Demos. Mit maximaler Polarisierung und wenig Raum für eine Differenzierung, die sowohl den islamistischen Terror gegen Juden geißelt als auch das palästinensische Leid durch den Krieg anerkennt. Nicht zuletzt sind die Folgen des Terrors und der darauffolgenden Kriege in Deutschland mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen für die terroristische Hamas und einem enthemmten Antisemitismus spürbar, der sowohl auf Straßen als auch in digitalen Räumen befeuert wird.

Hass von allen Seiten

Jüdisches Leben wird in Deutschland bedroht. Ein Antisemitismus-Report von Michael Kraske.

Vor einem Jahr hat der Terrorangriff der Hamas auf Israel hierzulande einen antisemitischen Flächenbrand ausgelöst, der weiter wütet. Innerhalb eines Jahres registrierten die Polizeibehörden seit dem 7. Oktober 2023 rund 8.500 politische Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Mehr als 3.400 wurden als antisemitisch eingestuft. In diesem Jahr hat die Polizei bis September schon mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten (also auch solche ohne Bezug zum Nahostkonflikt) gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Dieses Jahr könnte somit das Jahr mit den zweithöchsten Delikt-Raten seit Beginn der Erfassung werden. Das Spektrum reicht dabei von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zum Terror. Auch zivilgesellschaftliche Monitoring-Stellen wie der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) oder die Amadeu-Antonio-Stiftung beobachten ein besorgniserregend hohes Niveau antisemitischer Vorfälle in allen Lebensbereichen.

Einige Beispiele:

Im Januar sehen Schülerinnen und Schüler einer Berufsschule in Wiesbaden den Film „Die Wannseekonferenz“. Als im Film die Zahl von sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden genannt wird, klatscht ein Teil der Klasse Applaus.

Im April wird eine Frau in einer S-Bahn im Berlin-Moabit, die am Telefon über die Gewaltakte gegen jüdische und israelische Frauen beim Terrorangriff am 7. Oktober spricht, antisemitisch und sexistisch mit den Worten beleidigt: „Fick dich und deine Rasse, fette jüdische israelische Schlampe!“

Im Mai wird ein jüdischer Mann, der an seinem Gebetsmantel als Jude zu erkennen ist, in Berlin-Gesundbrunnen von einem Unbekannten beleidigt. Auf die Parole „Free Palestine“ folgt ein Stoß. Das Opfer geht zu Boden, wird an der Hand verletzt und erleidet einen Knochenbruch.

Im Mai wird in Jülich das dortige Mahnmal für die ermordeten Juden mit dem Schriftzug „Gaza?“ geschändet.

Im Juni 2024 werden rote Dreiecke an eine Hauswand im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg geschmiert. Dazu Hinweise auf Bundeskanzler Olaf Scholz und Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner. Die Terrororganisation Hamas markiert mit roten Dreiecken ihre Ziele.

Im September wird in Heidelberg eine israelische Touristin, die ein T-Shirt mit einem Davidstern und der Forderung „Bring them home now“ nach Rückkehr der Hamas-Geiseln trägt, von einem Mann angegriffen. Der Täter versucht, seinem Opfer das T-Shirt vom Leib zu reißen, und schlägt dem eingreifenden Ehemann der Angegriffenen ins Gesicht.

Im Oktober lässt die Bundesanwaltschaft im brandenburgischen Bernau einen Mann festnehmen, der verdächtigt wird, einen Anschlag auf die israelische Botschaft in Berlin geplant zu haben. Der Libyer soll nach Erkenntnissen der Anklagebehörde Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ sein.

„Für Jüdinnen und Juden gibt es seit der Zäsur des Oktober 2023 keine Atempause“: Benjamin Steinitz vom Bundesverband RIAS. Foto: Juliane Sonntag/dpa

Benjamin Steinitz, RIAS-Geschäftsführer, stellt fest: „Für Jüdinnen und Juden gibt es seit der Zäsur des 7. Oktober keine Atempause. Der sprunghafte Anstieg antisemitischer Vorfälle prägt bis heute den Alltag jüdischer Communities und schränkt ein offenes Leben weiter ein.“ Antisemitischer Hass sei am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld, in Schulen und Universitäten, aber auch auf Social-Media-Plattformen seither „sichtbarer denn je“. Auch in Deutschland werde die genozidale Gewalt der Massaker vom 7. Oktober 2023 „geleugnet, bagatellisiert oder als legitimer Widerstand verherrlicht“, so Steinitz.

Wie die unvollständige Chronik zeigt, bleibt es nicht bei Propagandadelikten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnt: „Die Bedrohungslage durch islamistische, antisemitische und israelfeindliche Gewalt ist hoch.“ Noch immer müssen rund um die Uhr Polizeibeamte vor jüdischen Einrichtungen Wache halten, um diese zu schützen. Ein Ende dieser notwendigen Schutzmaßnahmen ist nicht in Sicht.

Die offiziellen und zivilgesellschaftlichen Lagebilder sind alarmierend. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die systematisch den hiesigen Antisemitismus analysiert, warnt: „Für Jüdinnen*Juden ist die Lage seit dem 7. Oktober katastrophal, auch in der Diaspora.“ Die Stiftung beobachtet beunruhigende Entwicklungen. So erneuere die antiimperialistische Linke im Kampf gegen den Staat Israel „ihre altbewährte Allianz mit Islamist*innen“. Insbesondere Gruppen aus dem antiimperialistischen Spektrum fungierten als Steigbügelhalter für Islamismus und Terrorverherrlichung. Israelhass wirke lagerübergreifend identitätsstiftend. Rechtsextremisten wiederum instrumentalisierten den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass, um ihrerseits Rassismus zu schüren. „Die sicheren Räume werden weniger, und die Bedrohungslage ist dramatisch“, so die Stiftung.

Verfolgt die aktuellen Vorgänge so genau wie kaum ein anderer: Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland. Foto: dpa/photothek/Florian Gaertner

Kaum jemand verfolgt die Vorgänge so genau wie Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben. Er zeigt sich angesichts der aktuellen Entwicklung tief besorgt: „Jüdisches Leben ist in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik.“ In viel zu großen Teilen der Gesellschaft sei Antisemitismus hoffähig. Die multiplen Krisen von der Corona-Pandemie bis zum russischen Angriff auf die Ukraine und aktuell der Gaza-Krieg wirkten für antisemitischen Hass geradezu wie ein Brandbeschleuniger. Klein betont, dass Antisemitismus nicht nur von den gesellschaftlichen Rändern ausgehe, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft reiche. „Unverändert kommt die weitaus größte Bedrohung aus dem rechtsextremistischen Milieu“, sagt Klein. „Allerdings zeigen sich nach dem barbarischen Terrorüberfall der Hamas auf Israel Formen und Ausmaß eines sogenannten israelbezogenen Antisemitismus, wie wir ihn in dieser Form noch nicht erlebt haben.“

Immer wieder ist in Debatten der Vorwurf zu hören, jegliche Kritik an Israel werde als Antisemitismus diffamiert. Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes verweist auf die sogenannte 3D-Regel des ehemaligen israelischen Politikers Nathan Sharansky zur kategorischen Unterscheidung. Demnach sei die Grenze zum Antisemitismus dann überschritten, wenn bezogen auf Israel Delegitimierung, Dämonisierung und/oder Doppelstandards im Spiel sind. Israel das Existenzrecht abzusprechen ist demnach Antisemitismus. Auch Kritik am staatlichen Handeln Israels auf „die Juden“ zu übertragen, sei antisemitisch, betont Klein. Immer wieder berichten Jüdinnen und Juden in Deutschland, dass sie für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden. In aufgeheizten Zeiten mit immer neuen Eskalationen im Nahost-Konflikt verfangen solche Stigmatisierungen auch bei Menschen, die sich frei von Ressentiments verorten. „Wir sehen, dass die Berührungsängste zwischen islamistischen, antiimperialistischen und selbst den progressiven Milieus seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 immer weiter abnehmen und im gleichen Atemzug Islamismus zunehmend verharmlost wird“, sagt Klein.

„Menschen trauen sich immer weniger, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben.“

Felix Klein

Die Folgen für die Betroffenen durch die verschärfte Bedrohungslage liegen für Felix Klein auf der Hand: „Die Sichtbarkeit von jüdischem Leben in unserer Gesellschaft wird zurückgedrängt. Menschen trauen sich immer weniger, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben.“ Schon vor dem 7. Oktober 2023 haben Jüdinnen und Juden berichtet, dass sie sich gut überlegen, ob und wann sie auf der Straße oder beim Einkaufen eine Kette mit Davidstern oder die Kippa offen zeigen. Die ständige Abwägung zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit bestimmt in der jüdischen Community seit vielen Jahren den Alltag. Aktuell stellt sich die Sicherheitsfrage noch drängender. „Jüdische Studierende berichten mir, dass sie nur noch in Gruppen wagen, über den Campus zu gehen“, so Klein. Bei geplanten Veranstaltungen in Synagogen und jüdischen Einrichtungen komme es vermehrt zu Absagen. Der Antisemitismusbeauftragte berichtet, von der grassierenden Angst seien sowohl jüdische als auch nichtjüdische Menschen betroffen. Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erklärte der Rabbiner Maximilian Feldhake, die Kippa seit dem 7. Oktober auf der Straße nicht mehr offen zu tragen: „Man weiß nicht mehr, aus welcher Ecke ein Angriff kommen könnte – von der AfD, von Neonazis, von irgendwelchen komischen Antizionisten.“

Eine jüdische Mutter, in deren Klingelschild ein Hakenkreuz geritzt wurde, kündigt in dem Magazin-Bericht an, Deutschland mit ihrer Familie verlassen zu wollen: „Wir sitzen auf gepackten Koffern.“ Sie begründet das damit, für ihre drei Kinder in Deutschland keine Zukunft mehr zu sehen, und nennt als einen Grund „das Erstarken der AfD“. Die Partei verharmlost nicht nur die NS-Terrorherrschaft, sondern deren Spitzenpolitiker verwenden mitunter auch antisemitische Codes wie „Globalisten“. Der dämonisierende Begriff wird von der extremen Rechten als Synonym für Juden verwendet. Vor den Landtagswahlen haben die Vorsitzenden der jüdischen Landesverbände in Sachsen und Thüringen eindringlich vor der AfD gewarnt, die in beiden Ländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beobachtet wird. Die Partei sei „eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie“ und: „Wir Juden kennen die Folgen einer Ideologie, wie sie die AfD verkörpert.“ In Thüringen ist die AfD unter dem Rechtsextremisten Björn Höcke, der zuletzt für die Verwendung einer SAParole verurteilt wurde, gleichwohl stärkste politische Kraft geworden. Manche Jüdinnen und Juden fühlen sich in Deutschland, dem Land des Holocaust, wieder so unsicher, dass sie auswandern werden. Das ist der dramatische Befund im Herbst 2024.

Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben, Felix Klein, möchte die Gesellschaft dazu ermutigen, sich stärker gegen Antisemitismus zu engagieren und dafür auch die „eher Schweigenden im Land“ gewinnen, wie er es ausdrückt: „Antisemitische Täter, die eine Minderheit darstellen, müssen wissen, dass sie nicht auf die schweigende Mehrheit in der Bevölkerung setzen können. Sie müssen wissen, dass ihr Handeln geächtet wird und Hass und Hetze gegen Juden eben keine freie Meinungsäußerung ist.“ So verweist Klein auf das Digitale-Dienste-Gesetz, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist. Damit sei die Grundlage geschaffen worden, besser gegen Hassrede im Internet vorgehen zu können. Das Bundeskriminalamt (BKA) prüft bei Verdacht auf Straftaten Hinweise und geht mutmaßlich strafbaren Inhalten nach. Doch Experten etwa von der Organisation HateAid kritisieren seit Langem, dass nur ein Bruchteil der digitalen Hassbotschaften überhaupt geahndet wird, und fordern, die Plattform-Giganten wie X und Meta viel stärker als bisher in die Verantwortung zu nehmen. Digitale Medien fluten ihre Kanäle täglich mit Antisemitismus und Terrorverherrlichung. Ungezählte Clips erreichen auch ungefiltert die Smartphones von Schülerinnen und Schülern. Felix Klein setzt sich derweil für eine bundesweite Meldepflicht für antisemitische Vorfälle an Schulen ein und fordert, Antisemitismus bundesweit zum verpflichtenden Bestandteil der Lehramtsausbildung zu machen. Wobei Schulen nur ein Brandherd von vielen sind.

Erschütternde Studienergebnisse: Marina Chernivsky, Gründerin von OFEK, Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Foto: Jürgen Heinrich/dpa (SZ Photo)

Der Kampf gegen Antisemitismus mit allen notwendigen Maßnahmen der Repression und Prävention steht und fällt allerdings mit der Wahrnehmung. Ob die deutsche Mehrheitsgesellschaft überhaupt zur Kenntnis nimmt, wie es jüdischen Mitmenschen seit einem Jahr in Wohnhäusern, Betrieben, Vereinen, Straßenbahnen und Schulen ergeht. In welcher Lage sich jüdische Nachbarn, Kolleginnen und Mitschüler befinden. Lange vor jenem traumatischen 7. Oktober hat Marina Chernivsky, die in Berlin die Beratungsstelle OFEK gegründet hat und deren Expertise regelmäßig gefragt ist – wie beispielsweise in einem wissenschaftlichen Gremium zur Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals auf der Kunstausstellung „documenta fifteen“ im Jahr 2022 – auf eine folgenschwere Diskrepanz hingewiesen: Auf der einen Seite stehe die deutsche Mehrheitsgesellschaft, für die Antisemitismus keine große Sache ist – auf der anderen Seite die jüdische Community, die täglich damit zu tun hat, deren Alltag der Antisemitismus auf brutale Weise mitbestimmt und durchdringt. Marina Chernivsky, die in Berlin das Kompetenzzentrum Antisemitismuskritische Bildung und Forschung leitet, arbeitet derzeit an einer umfangreichen Studie zu den Wirkungen des Terroranschlags vom 7. Oktober auf die jüdische Community in Deutschland. Dazu wurden bereits 80 Interviews geführt.

„Das ist der absolute Horror (…), wie ein Albtraum, der nicht zu Ende geht.“

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung hat Chernivsky mit ihrer Kollegin Friederike Lorenz-Sinai erste Ergebnisse der Studie veröffentlicht und den 7. Oktober als „Zäsur“ benannt. Die Autorinnen lassen in dem Artikel eine Frau, Mitte 30, zu Wort kommen: „Das ist der absolute Horror (…), wie ein Albtraum, der nicht zu Ende geht. (…) Es ist etwas, was mich jeden Tag beschäftigt.“ Eine weitere Interviewpartnerin, Anfang 40, bezeichnet den Tag des Terrors als „Einschnitt“ in ihrem Leben: „Es war (…) schrecklich, und ich habe das Gefühl, dass wir immer noch im Oktober sind. Die Zeit ist stehengeblieben.“ Sie habe das Gefühl, als jüdische Person „eine andere innere Welt“ als ihre nichtjüdischen Mitmenschen zu erleben. Die Aussagen und Reflexionen aus der jüdischen Community lassen erahnen, wie tief der Terror viele Jüdinnen und Juden hierzulande erschüttert hat. Und wie groß seither das Gefühl der Isolation ist.

Für die allermeisten Menschen ohne jüdische Bezüge ist der 7. Oktober des vergangenen Jahres schon wieder weit weg, lange her. Für jüdische Menschen ist das Trauma allgegenwärtig. Die deutsche Filmemacherin Esther Schapira bezeichnet jenen Tag des Grauens als Beginn eines „globalen antisemitischen Krieges“. Alle Jüdinnen und Juden fühlten sich angegriffen, „weil sie alle angegriffen werden“. Von dieser existenziellen Bedrohung haben jene, die es nicht betrifft, keine Vorstellung. Es scheint, als habe der Terror die Distanz zwischen der nichtjüdischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit im Land eher noch vergrößert. Vor allem anderen wäre es an der Zeit, jenen zuzuhören, für die der Albtraum kein Ende nimmt.

Polizeischutz für die Minderheiten

Erstellt am: Samstag, 12. Oktober 2024 von Torben

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Der Schriftzug «NAKBA» und ein Plakat mit der Aufschrift «Munich Students stand for justice in Palestine» sind an einem propalästinensischen Protestcamp vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zu sehen. Foto: Sven Hoppe/dpa

Das Camp

Auf einem Platz vor der Ludwig-Maximilian-Universität in München stehen Zelte und Pavillons in der Sonne, Menschen sitzen auf Teppichen und diskutieren, um sie herum sind Transparente und Plakate aufgestellt mit Forderungen: „Befreit Palästina“, „Beendet die israelische Apartheid“, „Stoppt den Völkermord“. Im Wind zappeln schwarzweißgrünrot die Palästinaflaggen.

Der Platz vor der Universität heißt Geschwister-Scholl-Platz. Benannt wurde er nach Sophie und Hans Scholl, den beiden Münchner Studenten, die hier mit der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen den Nationalsozialismus protestierten und dafür 1943 hingerichtet wurden.

Bis Kriegsende 1945 töteten die Mörder der Geschwister Scholl, die Nazis, etliche Millionen Menschen, darunter allein sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Jetzt steht auf einem Platz, der an die NS-Gräueltaten erinnern soll, ein Camp, mit dem gegen Israel protestiert wird, den 1948 gegründeten Nationalstaat des jüdischen Volkes.

Im Landeskriminalamt

Im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA), eine halbe U-Bahn-Stunde von dem geschichtsträchtigen Platz entfernt, sagt Michael Weinzierl mit Blick auf das Protestcamp: „Mir macht das große Sorgen. Das wirkt brutal in die jüdische Gemeinschaft hinein.“ Weinzierl, 47 Jahre alt, Kriminaloberrat, ist der erste „Beauftragte der Bayerischen Polizei gegen Hasskriminalität, insbesondere Antisemitismus“, sein Amt gibt es nun seit eineinhalb Jahren. Er muss noch immer viel erklären, deshalb hat er eine Präsentation vorbereitet. Er eilt mit seinen Besuchern durchs verbaute LKA, erste Treppe rauf, Flur rechts, zweite Treppe rauf, Flur links, bis sie schließlich in einem ruhigen Raum vor einer Leinwand sitzen. Auf der Tür neben der Leinwand steht „Waffenmuseum“, darunter die Warnung „Achtung – alarmgesichert“.

Weinzierl ist für Hasskriminalität zuständig, also steht auf seiner Präsentation ganz vorn die Frage: Was ist Hasskriminalität, aus polizeilicher Sicht? „Hasskriminalität ist alles und nichts“, beantwortet Weinzierl die Frage.

Alles und nichts ist Hasskriminalität, weil sie aus polizeilicher Sicht zunächst eine Straftat ist wie Beleidigung, Bedrohung, Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen, Körperverletzung. Zur Hasskriminalität wird diese Straftat, wenn der Täter sie aufgrund von Vorurteilen gegenüber seinem Opfer begeht – zum Beispiel aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Die Polizei nennt solche Taten im Behördenkürzeldeutsch auch „PMK“, politisch motivierte Kriminalität.

Neben dem Motiv des Täters spielt aber noch etwas eine gewichtige Rolle bei der Hasskriminalität: die Sicht der Betroffenen.

Ein Beispiel: Wenn jemand Farbe an eine Haustür schmiert, könnte es sich um eine Sachbeschädigung handeln, laut Paragraf 303 Strafgesetzbuch eine Straftat. Wenn jemand mit Farbe einen Davidstern an eine Haustür schmiert, in dem Juden leben, dann könnte das aber auch Hasskriminalität sein und ein Verstoß gegen Paragraf 130, Volksverhetzung. Jüdische Menschen können sich in ihrer Würde verletzt fühlen, sie können sich verleumdet und verächtlich gemacht fühlen, sie können sich bedroht fühlen.

„Wir müssen diesen Perspektivwechsel vornehmen“, sagt Michael Weinzierl: „Wie geht es diesen marginalisierten Gruppen, die nicht mitten in der Gesellschaft stehen?“

Sie bekämpfen im Auftrag von Polizei und Justiz Hass und Hetze: Kriminaloberrat Michael Weinzierl (rechts) und Staatsanwalt David Beck. Foto: Karsten Krogmann

Damit ist er wieder bei dem Camp am Geschwister-Scholl-Platz und bei den Gefühlen der jüdischen Gemeinschaft. Vordergründig handelt es sich um Protest, um eine politische Demonstration, um freie Meinungsäußerung, jedenfalls solange keine verbotenen Kennzeichen zu sehen und Parolen zu hören sind. Aber Jüdinnen und Juden sehen keinen Protest, sondern eine Bedrohung, sie sagen dem Beauftragten gegen Hasskriminalität: „Wir fühlen uns nicht mehr sicher!“

Die Betroffenen

Wie sehr unterscheiden sich die Erfahrungen, die marginalisierte Gruppen machen, von denen, die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft machen? Was erlebt ein junger Jude in Deutschland anders als jemand wie ich, der Autor dieses Textes: Mitte 50, Mann, weiß, Mittelschichtkind, christlich sozialisiert?

Ein Videoanruf bei Michael Movchin, er ist seit sieben Jahren Vorsitzender des Verbands jüdischer Studenten in Bayern. Movchin, 26 Jahre alt, kein Student, sondern IT-Unternehmer, lächelt nachsichtig bei der Frage nach seinen Erfahrungen und sagt: „Ich habe alles erlebt.“ Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken im Internet. Morddrohungen per E-Mail und per Briefpost. Abgesagte Veranstaltungen, weil das Sicherheitskonzept nicht standhielt. Journalisten, die ihn nach Podiumsdiskussionen zum Auto begleiten mussten, weil wütende Zuhörer ihn nicht gehen lassen wollten. „Mit mir macht das nichts mehr“, sagt er.

Movchin sagt, wenn sein Verband eine Veranstaltung ankündige, sei die häufigste Nachfrage von Vereinsmitgliedern nicht die nach Ort, Uhrzeit oder Verkehrsanbindung. Sondern: Wie steht es um die Sicherheit?

Wenn er sich in München mit jüdischen Freunden verabrede, gehe es immer zuerst um die Frage: Wo gehen wir hin, wo ist es sicher?

Halsketten mit Davidstern oder gar eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden, trage kaum noch ein Vereinsmitglied sichtbar in der Öffentlichkeit.

Synagogen seien, anders als christliche Kirchen, keine offenen Gotteshäuser in Deutschland. Sie hätten verschlossene Türen und Metalldetektoren, seien von Zäunen umgeben und oftmals bewacht.

„Wir leben in einer Zeit“, sagt Movchin, „in der die jüdische Gemeinde jeden Tag Warnungen ausspricht, in welche Straßen oder zu welchen Veranstaltungen man nicht gehen sollte. Stellen Sie sich vor, eine christliche Gemeinde würde ihren Mitgliedern sagen: Geht nicht hierhin, geht nicht dorthin!“

Was löst ein pro-palästinensisches Camp am Geschwister-Scholl-Platz in Menschen aus, die so etwas täglich hören?

Vertritt die jüdischen Studierenden in München: Michael Movchin. Foto: Sachelle Babbar / ZUMAPRESS.com

Erst heute wieder, berichtet Movchin, hätten ihn 15 Menschen angerufen, weil in dem Camp für eine Veranstaltung mit einem Motiv der „Weißen Rose“ geworben worden sei. „Das triggert“, sagt Movchin, „auf diesem geschichtsträchtigen Platz.“ Er berichtet von Angst, von Panik sogar. Wenn sein Verein zu Gegenveranstaltungen einlade, klingle wieder das Telefon, Studierende fragten ihn: Was passiert mir, wenn meine Kommilitonen mein Gesicht sehen? Wenn ich sie in der Stadt treffe? Wenn jemand von ihnen zu mir in die U-Bahn steigt?

Movchin sagt: „Für die Mitglieder unseres Vereins ist das schwer auszuhalten.“

Die Zahlen

Wenn Hasskriminalität alles und nichts ist, ist sie natürlich schwer zu fassen und zu erfassen. Weinzierl listet in seiner Präsentation marginalisierte Gruppen auf, die häufig von Hasskriminalität betroffen sind: Jüdinnen und Juden. Sinti und Roma. Schwarze Menschen. Flüchtlinge. Menschen mit Behinderung. Muslimas und Muslime. Menschen aus der LGBTQ+-Community: homosexuelle Menschen, trans Menschen. Menschen ohne Obdach. Aber auch Frauen. Sie alle erfahren Vorurteilsgewalt, digitale Gewalt, Hassrede, zusammengefasst: PMK, Hasskriminalität.

2022 hat die Polizei in Bayern 1186 Fälle von Hasskriminalität registriert. 2023 waren es 1867. Davon waren 589 Fälle antisemitisch motiviert, 210 allein nach dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. „Die Zahlen und der Anstieg sind besorgniserregend“, sagt Weinzierl.

Und doch weiß er, dass die Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Hasskriminalität abbilden. Betroffene zeigten Straftaten nicht an, weil sie sich schämen, weil sie Angst vor Zurückweisung haben und vor Unverständnis, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. „80 bis 90 Prozent der LGBTQ+-feindlichen Straftaten werden nicht angezeigt“, sagt Weinzierl. Bis 1994 war Homosexualität ein Straftatbestand nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch. Betroffene, die heute 50, 60, 70 Jahre alt sind, erinnern sich daran. Ebenso wie ältere Polizisten.

Michael Weinzierl hat David Beck ins LKA eingeladen. Beck, 36 Jahre alt, Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft München, ist seit Februar 2024 der „Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz“. Er ist ein Mann mit munterem Witz, der einem zunächst seinen gereckten Mittelfinger zeigt mit den Worten, „das ist nicht persönlich gemeint“: Der Finger ist verbunden und geschient, Beck hatte einen Unfall, Sehnenriss.

Beck sagt: „Wir brauchen die Anzeige, wir brauchen aber auch den Paragrafen.“

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Auch dazu ein Beispiel: Wenn Anhänger der Terrororganisation Hamas nach dem 7. Oktober 2023 Plakate aufhängten mit der Parole „from the river to the sea“ („vom Fluss bis zum Meer“, Anspielung auf die Grenzen Israels mit dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, was von Antisemiten als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel verwendet wird), dann konnten Polizei und Justiz zunächst oft nur wegen wilden Plakatierens aktiv werden. Im November 2023 verbot das Bundesinnenministerium die Hamas und auch die Parole „from the river to the sea“ als deren Kennzeichen. „Das stützt unsere Argumentation, dass das Verbreiten und öffentliches Verwenden dieser Parole nach Paragraf 86a StGB strafbar ist“, sagt Beck.

Um die notwendigen Strafanzeigen zu bekommen, seien „niedrigschwellige Anzeigemöglichkeiten“ wichtig, so Beck. Die gebe es inzwischen, über Internetseiten wie www.bayern-gegen-hass.de oder direkt bei www.meldestelle-respect.de.

Um die Betroffenen wiederum zu den Meldeseiten zu bekommen, braucht es erstens Aufklärung und Netzwerkarbeit. Deshalb besuchen Michael Weinzierl und David Beck Veranstaltungen und halten ihre Präsentationen, deshalb wirkt Weinzierl in die 238 bayerischen Polizeiinspektionen hinein, wo es jeweils mindestens einen Ansprechpartner für Hasskriminalität gibt, deshalb wirkt Beck in die 22 bayerischen Staatsanwaltschaften hinein, wo es jeweils mindestens einen Sonderdezernenten gibt.

Zweitens braucht es einen „proaktiven Beratungsansatz“, wie es bei der Polizei etwas sperrig heißt.

Der Modellversuch

Im Foyer des Polizeipräsidiums Mittelfranken in der Nürnberger Altstadt wartet bereits die Kriminaldirektorin Cora Miguletz, 53 Jahre alt, zuständig für den Staatsschutz und damit für die Hasskriminalität. Sie erprobt für Bayern den „proaktiven Beratungsansatz“.

Proaktiver Beratungsansatz, das geht so: Beim ersten Kontakt vermittelt die Polizei den Betroffenen direkt ein passendes Beratungsangebot. Dafür arbeitet das Polizeipräsidium Mittelfranken zurzeit mit drei Partnern zusammen: mit B.U.D., einer Anlaufstelle bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Bayern, mit Strong!, einer Beratungsstelle für Taten gegen die sexuelle Orientierung oder geschlechtsbezogene Diversität, und, falls die beiden erstgenannten Angebote nicht passen, mit dem WEISSEN RING, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.

Das klingt einfacher, als es zunächst war. Cora Miguletz erinnert sich an Misstrauen bei den ersten Netzwerktreffen und Fortbildungen, an einen „schlechten Ruf der Polizei, den sie so nicht verdient hatte“.

Transparenzhinweis:
Beim Modellprojekt zum „proaktiven Beratungsansatz“ in Mittelfranken ist der WEISSE RING, Landesverband Bayern-Nord unter Vorsitz von Wolfgang Schwarz, einer der Partner, die auf Wunsch Betroffenen zur Seite stehen.

Mittlerweile laufen die Beratungen. In den ersten zehn Monaten des Modellprojekts hat die Polizei 122 Fälle registriert, die für eine Beratung ungeeignet waren. Warum ungeeignet? „Weil es zum Beispiel kein Opfer gab, etwa bei einem Hassgraffito auf einer Schulhofmauer. Oder weil das Opfer nicht in Mittelfranken wohnte“, sagt Miguletz. 66 Fälle waren geeignet für ein Beratungsangebot. „16 Betroffene haben es angenommen, die meisten Fälle gingen an B.U.D.“, so Miguletz. „Schwierig ist es im Bereich der LSBTIQ*- Szene. Da gab es 22 potenziell passende Fälle, nur einmal wurde das Beratungsangebot angenommen.“ Die Vorbehalte von Betroffenen gegenüber der Polizei seien nach wie vor hoch.

Proaktiver Beratungsansatz, das heißt auch: In Mittelfranken gibt es 28 Polizeiinspektionen, in jeder Dienststelle muss es einen Beamten geben, der die Kolleginnen und Kollegen für das Thema Hasskriminalität sensibilisiert. Es gibt fünf Kriminalinspektionen, die sich zurzeit die Fälle noch einmal anschauen: Wurde die Hasstat richtig eingeschätzt? Wurde eine Hasstat nicht erkannt?

„Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

David Beck

Besonders wichtig ist für Cora Miguletz aber der Streifenpolizist auf der Straße: „Der muss aktiv werden, der muss den Betroffenen die Scheu nehmen. Nicht jeder sieht die Polizei als Freund Helfer – für die Opfer sind wir das aber zu 100 Prozent.“

Die Zukunft

In München sagt Michael Weinzierl, der Beauftragte der Polizei gegen Hass: „Hass und Hetze ist ganz, ganz viel. Ob es im digitalen Raum auftritt oder im analogen, das ist für mich kein Unterschied.“ Er verweist auf die guten Aufklärungsquoten: knapp 70 Prozent bei politisch motivierter Kriminalität allgemein, bei politisch motivierter Gewaltkriminalität sogar fast 80 Prozent.

David Beck, der Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz, sagt: „Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

Während ich diesen Text schreibe, blinkt eine Eilmeldung auf meinem Monitor auf: „Schüsse am israelischen Konsulat in München“. Mutmaßlicher Täter: ein österreichischer Islamist, sein mutmaßliches Motiv: Antisemitismus. Medienberichten zufolge soll er sich im sozialen Netzwerk TikTok radikalisiert haben.