Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Erstellt am: Dienstag, 14. Januar 2025 von Sabine

Foto: Helmut Fricke/dpa

Datum: 14.01.2025

„Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Die neue Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Barbara Richstein, fordert ein klares Eintreten gegen Antisemitismus.

Mainz – Jüdisches Leben befindet sich nach Einschätzung des WEISSEN RINGS in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit der Menschen im Land. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza sei die Zahl der antisemitischen Straftaten sprunghaft gestiegen, teilte der WEISSE RING der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Mainz mit.

„Dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen, empört mich und stimmt mich tieftraurig“, sagte die neue Bundesvorsitzende von Deutschlands größter Opferschutzorganisation, Barbara Richstein.

WEISSER RING fordert Eintreten gegen Antisemitismus 

Viele Angehörige der jüdischen Gemeinschaft dächten darüber nach, auszuwandern – aus Angst vor Gewalt. „Im Kampf gegen die zunehmende gesellschaftliche Verrohung muss das Eintreten gegen jeden Antisemitismus an erster Stelle stehen, ganz egal, ob der von rechts, von links oder aus dem islamistischen Spektrum kommt.“

Die CDU-Politikerin aus Brandenburg hat mehrere Jahre in Israel gelebt und ist seit November dieses Jahres auch stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg.

Deutlich mehr antisemitische Straftaten 

Die Polizei stellt von Jahr zu Jahr mehr rechtsextreme Straftaten fest. 2024 waren dem Bundesinnenministerium zufolge mehr als 33.000 rechtsextreme Straftaten verübt worden, mehr als jemals seit Beginn der Erhebungen 2001.

Die Polizei habe 2024 bis September mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum, berichtete der WEISSE RING. Das Spektrum reiche von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zu Terror.

Dem Bundeskriminalamt seien im Kontext des aktuellen Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 rund 10.770 Straftaten (Stand 8. Januar 2025) über die Länder gemeldet worden, teilte ein Sprecher in Wiesbaden mit. Davon seien 4.300 Straftaten als antisemitisch motiviert eingestuft worden. Schwerpunkte waren Sachbeschädigungen, Propagandadelikte und Volksverhetzungen.

Polizeischutz für die Minderheiten

Erstellt am: Samstag, 12. Oktober 2024 von Torben

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Der Schriftzug «NAKBA» und ein Plakat mit der Aufschrift «Munich Students stand for justice in Palestine» sind an einem propalästinensischen Protestcamp vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zu sehen. Foto: Sven Hoppe/dpa

Das Camp

Auf einem Platz vor der Ludwig-Maximilian-Universität in München stehen Zelte und Pavillons in der Sonne, Menschen sitzen auf Teppichen und diskutieren, um sie herum sind Transparente und Plakate aufgestellt mit Forderungen: „Befreit Palästina“, „Beendet die israelische Apartheid“, „Stoppt den Völkermord“. Im Wind zappeln schwarzweißgrünrot die Palästinaflaggen.

Der Platz vor der Universität heißt Geschwister-Scholl-Platz. Benannt wurde er nach Sophie und Hans Scholl, den beiden Münchner Studenten, die hier mit der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen den Nationalsozialismus protestierten und dafür 1943 hingerichtet wurden.

Bis Kriegsende 1945 töteten die Mörder der Geschwister Scholl, die Nazis, etliche Millionen Menschen, darunter allein sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Jetzt steht auf einem Platz, der an die NS-Gräueltaten erinnern soll, ein Camp, mit dem gegen Israel protestiert wird, den 1948 gegründeten Nationalstaat des jüdischen Volkes.

Im Landeskriminalamt

Im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA), eine halbe U-Bahn-Stunde von dem geschichtsträchtigen Platz entfernt, sagt Michael Weinzierl mit Blick auf das Protestcamp: „Mir macht das große Sorgen. Das wirkt brutal in die jüdische Gemeinschaft hinein.“ Weinzierl, 47 Jahre alt, Kriminaloberrat, ist der erste „Beauftragte der Bayerischen Polizei gegen Hasskriminalität, insbesondere Antisemitismus“, sein Amt gibt es nun seit eineinhalb Jahren. Er muss noch immer viel erklären, deshalb hat er eine Präsentation vorbereitet. Er eilt mit seinen Besuchern durchs verbaute LKA, erste Treppe rauf, Flur rechts, zweite Treppe rauf, Flur links, bis sie schließlich in einem ruhigen Raum vor einer Leinwand sitzen. Auf der Tür neben der Leinwand steht „Waffenmuseum“, darunter die Warnung „Achtung – alarmgesichert“.

Weinzierl ist für Hasskriminalität zuständig, also steht auf seiner Präsentation ganz vorn die Frage: Was ist Hasskriminalität, aus polizeilicher Sicht? „Hasskriminalität ist alles und nichts“, beantwortet Weinzierl die Frage.

Alles und nichts ist Hasskriminalität, weil sie aus polizeilicher Sicht zunächst eine Straftat ist wie Beleidigung, Bedrohung, Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen, Körperverletzung. Zur Hasskriminalität wird diese Straftat, wenn der Täter sie aufgrund von Vorurteilen gegenüber seinem Opfer begeht – zum Beispiel aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Die Polizei nennt solche Taten im Behördenkürzeldeutsch auch „PMK“, politisch motivierte Kriminalität.

Neben dem Motiv des Täters spielt aber noch etwas eine gewichtige Rolle bei der Hasskriminalität: die Sicht der Betroffenen.

Ein Beispiel: Wenn jemand Farbe an eine Haustür schmiert, könnte es sich um eine Sachbeschädigung handeln, laut Paragraf 303 Strafgesetzbuch eine Straftat. Wenn jemand mit Farbe einen Davidstern an eine Haustür schmiert, in dem Juden leben, dann könnte das aber auch Hasskriminalität sein und ein Verstoß gegen Paragraf 130, Volksverhetzung. Jüdische Menschen können sich in ihrer Würde verletzt fühlen, sie können sich verleumdet und verächtlich gemacht fühlen, sie können sich bedroht fühlen.

„Wir müssen diesen Perspektivwechsel vornehmen“, sagt Michael Weinzierl: „Wie geht es diesen marginalisierten Gruppen, die nicht mitten in der Gesellschaft stehen?“

Sie bekämpfen im Auftrag von Polizei und Justiz Hass und Hetze: Kriminaloberrat Michael Weinzierl (rechts) und Staatsanwalt David Beck. Foto: Karsten Krogmann

Damit ist er wieder bei dem Camp am Geschwister-Scholl-Platz und bei den Gefühlen der jüdischen Gemeinschaft. Vordergründig handelt es sich um Protest, um eine politische Demonstration, um freie Meinungsäußerung, jedenfalls solange keine verbotenen Kennzeichen zu sehen und Parolen zu hören sind. Aber Jüdinnen und Juden sehen keinen Protest, sondern eine Bedrohung, sie sagen dem Beauftragten gegen Hasskriminalität: „Wir fühlen uns nicht mehr sicher!“

Die Betroffenen

Wie sehr unterscheiden sich die Erfahrungen, die marginalisierte Gruppen machen, von denen, die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft machen? Was erlebt ein junger Jude in Deutschland anders als jemand wie ich, der Autor dieses Textes: Mitte 50, Mann, weiß, Mittelschichtkind, christlich sozialisiert?

Ein Videoanruf bei Michael Movchin, er ist seit sieben Jahren Vorsitzender des Verbands jüdischer Studenten in Bayern. Movchin, 26 Jahre alt, kein Student, sondern IT-Unternehmer, lächelt nachsichtig bei der Frage nach seinen Erfahrungen und sagt: „Ich habe alles erlebt.“ Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken im Internet. Morddrohungen per E-Mail und per Briefpost. Abgesagte Veranstaltungen, weil das Sicherheitskonzept nicht standhielt. Journalisten, die ihn nach Podiumsdiskussionen zum Auto begleiten mussten, weil wütende Zuhörer ihn nicht gehen lassen wollten. „Mit mir macht das nichts mehr“, sagt er.

Movchin sagt, wenn sein Verband eine Veranstaltung ankündige, sei die häufigste Nachfrage von Vereinsmitgliedern nicht die nach Ort, Uhrzeit oder Verkehrsanbindung. Sondern: Wie steht es um die Sicherheit?

Wenn er sich in München mit jüdischen Freunden verabrede, gehe es immer zuerst um die Frage: Wo gehen wir hin, wo ist es sicher?

Halsketten mit Davidstern oder gar eine Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung männlicher Juden, trage kaum noch ein Vereinsmitglied sichtbar in der Öffentlichkeit.

Synagogen seien, anders als christliche Kirchen, keine offenen Gotteshäuser in Deutschland. Sie hätten verschlossene Türen und Metalldetektoren, seien von Zäunen umgeben und oftmals bewacht.

„Wir leben in einer Zeit“, sagt Movchin, „in der die jüdische Gemeinde jeden Tag Warnungen ausspricht, in welche Straßen oder zu welchen Veranstaltungen man nicht gehen sollte. Stellen Sie sich vor, eine christliche Gemeinde würde ihren Mitgliedern sagen: Geht nicht hierhin, geht nicht dorthin!“

Was löst ein pro-palästinensisches Camp am Geschwister-Scholl-Platz in Menschen aus, die so etwas täglich hören?

Vertritt die jüdischen Studierenden in München: Michael Movchin. Foto: Sachelle Babbar / ZUMAPRESS.com

Erst heute wieder, berichtet Movchin, hätten ihn 15 Menschen angerufen, weil in dem Camp für eine Veranstaltung mit einem Motiv der „Weißen Rose“ geworben worden sei. „Das triggert“, sagt Movchin, „auf diesem geschichtsträchtigen Platz.“ Er berichtet von Angst, von Panik sogar. Wenn sein Verein zu Gegenveranstaltungen einlade, klingle wieder das Telefon, Studierende fragten ihn: Was passiert mir, wenn meine Kommilitonen mein Gesicht sehen? Wenn ich sie in der Stadt treffe? Wenn jemand von ihnen zu mir in die U-Bahn steigt?

Movchin sagt: „Für die Mitglieder unseres Vereins ist das schwer auszuhalten.“

Die Zahlen

Wenn Hasskriminalität alles und nichts ist, ist sie natürlich schwer zu fassen und zu erfassen. Weinzierl listet in seiner Präsentation marginalisierte Gruppen auf, die häufig von Hasskriminalität betroffen sind: Jüdinnen und Juden. Sinti und Roma. Schwarze Menschen. Flüchtlinge. Menschen mit Behinderung. Muslimas und Muslime. Menschen aus der LGBTQ+-Community: homosexuelle Menschen, trans Menschen. Menschen ohne Obdach. Aber auch Frauen. Sie alle erfahren Vorurteilsgewalt, digitale Gewalt, Hassrede, zusammengefasst: PMK, Hasskriminalität.

2022 hat die Polizei in Bayern 1186 Fälle von Hasskriminalität registriert. 2023 waren es 1867. Davon waren 589 Fälle antisemitisch motiviert, 210 allein nach dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel. „Die Zahlen und der Anstieg sind besorgniserregend“, sagt Weinzierl.

Und doch weiß er, dass die Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Hasskriminalität abbilden. Betroffene zeigten Straftaten nicht an, weil sie sich schämen, weil sie Angst vor Zurückweisung haben und vor Unverständnis, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. „80 bis 90 Prozent der LGBTQ+-feindlichen Straftaten werden nicht angezeigt“, sagt Weinzierl. Bis 1994 war Homosexualität ein Straftatbestand nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch. Betroffene, die heute 50, 60, 70 Jahre alt sind, erinnern sich daran. Ebenso wie ältere Polizisten.

Michael Weinzierl hat David Beck ins LKA eingeladen. Beck, 36 Jahre alt, Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft München, ist seit Februar 2024 der „Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz“. Er ist ein Mann mit munterem Witz, der einem zunächst seinen gereckten Mittelfinger zeigt mit den Worten, „das ist nicht persönlich gemeint“: Der Finger ist verbunden und geschient, Beck hatte einen Unfall, Sehnenriss.

Beck sagt: „Wir brauchen die Anzeige, wir brauchen aber auch den Paragrafen.“

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Auch dazu ein Beispiel: Wenn Anhänger der Terrororganisation Hamas nach dem 7. Oktober 2023 Plakate aufhängten mit der Parole „from the river to the sea“ („vom Fluss bis zum Meer“, Anspielung auf die Grenzen Israels mit dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, was von Antisemiten als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel verwendet wird), dann konnten Polizei und Justiz zunächst oft nur wegen wilden Plakatierens aktiv werden. Im November 2023 verbot das Bundesinnenministerium die Hamas und auch die Parole „from the river to the sea“ als deren Kennzeichen. „Das stützt unsere Argumentation, dass das Verbreiten und öffentliches Verwenden dieser Parole nach Paragraf 86a StGB strafbar ist“, sagt Beck.

Um die notwendigen Strafanzeigen zu bekommen, seien „niedrigschwellige Anzeigemöglichkeiten“ wichtig, so Beck. Die gebe es inzwischen, über Internetseiten wie www.bayern-gegen-hass.de oder direkt bei www.meldestelle-respect.de.

Um die Betroffenen wiederum zu den Meldeseiten zu bekommen, braucht es erstens Aufklärung und Netzwerkarbeit. Deshalb besuchen Michael Weinzierl und David Beck Veranstaltungen und halten ihre Präsentationen, deshalb wirkt Weinzierl in die 238 bayerischen Polizeiinspektionen hinein, wo es jeweils mindestens einen Ansprechpartner für Hasskriminalität gibt, deshalb wirkt Beck in die 22 bayerischen Staatsanwaltschaften hinein, wo es jeweils mindestens einen Sonderdezernenten gibt.

Zweitens braucht es einen „proaktiven Beratungsansatz“, wie es bei der Polizei etwas sperrig heißt.

Der Modellversuch

Im Foyer des Polizeipräsidiums Mittelfranken in der Nürnberger Altstadt wartet bereits die Kriminaldirektorin Cora Miguletz, 53 Jahre alt, zuständig für den Staatsschutz und damit für die Hasskriminalität. Sie erprobt für Bayern den „proaktiven Beratungsansatz“.

Proaktiver Beratungsansatz, das geht so: Beim ersten Kontakt vermittelt die Polizei den Betroffenen direkt ein passendes Beratungsangebot. Dafür arbeitet das Polizeipräsidium Mittelfranken zurzeit mit drei Partnern zusammen: mit B.U.D., einer Anlaufstelle bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Bayern, mit Strong!, einer Beratungsstelle für Taten gegen die sexuelle Orientierung oder geschlechtsbezogene Diversität, und, falls die beiden erstgenannten Angebote nicht passen, mit dem WEISSEN RING, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.

Das klingt einfacher, als es zunächst war. Cora Miguletz erinnert sich an Misstrauen bei den ersten Netzwerktreffen und Fortbildungen, an einen „schlechten Ruf der Polizei, den sie so nicht verdient hatte“.

Transparenzhinweis:
Beim Modellprojekt zum „proaktiven Beratungsansatz“ in Mittelfranken ist der WEISSE RING, Landesverband Bayern-Nord unter Vorsitz von Wolfgang Schwarz, einer der Partner, die auf Wunsch Betroffenen zur Seite stehen.

Mittlerweile laufen die Beratungen. In den ersten zehn Monaten des Modellprojekts hat die Polizei 122 Fälle registriert, die für eine Beratung ungeeignet waren. Warum ungeeignet? „Weil es zum Beispiel kein Opfer gab, etwa bei einem Hassgraffito auf einer Schulhofmauer. Oder weil das Opfer nicht in Mittelfranken wohnte“, sagt Miguletz. 66 Fälle waren geeignet für ein Beratungsangebot. „16 Betroffene haben es angenommen, die meisten Fälle gingen an B.U.D.“, so Miguletz. „Schwierig ist es im Bereich der LSBTIQ*- Szene. Da gab es 22 potenziell passende Fälle, nur einmal wurde das Beratungsangebot angenommen.“ Die Vorbehalte von Betroffenen gegenüber der Polizei seien nach wie vor hoch.

Proaktiver Beratungsansatz, das heißt auch: In Mittelfranken gibt es 28 Polizeiinspektionen, in jeder Dienststelle muss es einen Beamten geben, der die Kolleginnen und Kollegen für das Thema Hasskriminalität sensibilisiert. Es gibt fünf Kriminalinspektionen, die sich zurzeit die Fälle noch einmal anschauen: Wurde die Hasstat richtig eingeschätzt? Wurde eine Hasstat nicht erkannt?

„Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

David Beck

Besonders wichtig ist für Cora Miguletz aber der Streifenpolizist auf der Straße: „Der muss aktiv werden, der muss den Betroffenen die Scheu nehmen. Nicht jeder sieht die Polizei als Freund Helfer – für die Opfer sind wir das aber zu 100 Prozent.“

Die Zukunft

In München sagt Michael Weinzierl, der Beauftragte der Polizei gegen Hass: „Hass und Hetze ist ganz, ganz viel. Ob es im digitalen Raum auftritt oder im analogen, das ist für mich kein Unterschied.“ Er verweist auf die guten Aufklärungsquoten: knapp 70 Prozent bei politisch motivierter Kriminalität allgemein, bei politisch motivierter Gewaltkriminalität sogar fast 80 Prozent.

David Beck, der Hate-Speech-Beauftragte der Bayerischen Justiz, sagt: „Nicht jeder Hasskommentar hat ein Attentat zur Folge, aber Radikalisierungen hierdurch sind ein Problem.“

Während ich diesen Text schreibe, blinkt eine Eilmeldung auf meinem Monitor auf: „Schüsse am israelischen Konsulat in München“. Mutmaßlicher Täter: ein österreichischer Islamist, sein mutmaßliches Motiv: Antisemitismus. Medienberichten zufolge soll er sich im sozialen Netzwerk TikTok radikalisiert haben.

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Erstellt am: Dienstag, 1. Februar 2022 von Torben

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Christina Feist hat den antisemitischen Anschlag in Halle überlebt. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Foto: Tobias Großekemper

Dieser Text richtet sich an diejenigen, die mich immer wieder fragen, warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen kann.

Im März 2019, sieben Monate vor dem Attentat auf die Synagoge in Halle, zog ich im Rahmen meiner Promotion für einen ursprünglich einjährigen Auslandsaufenthalt von Berlin nach Paris. Ein Jahr später und fünf Monate nach dem Attentat in Halle kämpfte ich in Paris nach wie vor mit Symptomen des erlebten Traumas.

Ich hatte Alb- und Angstträume, erschrak bei jedem plötzlichen, lauten Geräusch und hatte Schwierigkeiten, durch den Tag zu kommen. Das Attentat begleitete mich auf Schritt und Tritt. Ein Umzug – ganz egal wohin – war unvorstellbar.

Auch jetzt, anderthalb Jahre später, wird mir beim Gedanken, nach Deutschland zurückziehen zu müssen, immer noch schlecht. Und das sorgt für Irritationen.

Warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen könne, fragt Ihr mich bestürzt. In Deutschland bewege ich mich in der Angst, antisemitisch angegriffen zu werden. Und gleichzeitig in der Gewissheit, damit gegebenenfalls alleine dazustehen: Werde ich
auf der Straße angegriffen, wie es Freunden und Freundinnen von mir in Deutschland regelmäßig passiert, ist darauf Verlass, dass von den Umstehenden niemand eingreift. Falls überhaupt jemand stehen bleibt.

Eine Tafel an der Mauer der Synagoge erinnert an den Anschlag eines Rechtsradikalen in Halle. Der Mann versuchte, mit selbst gefertigten Waffen die Synagoge zu stürmen und ein Blutbad anzurichten. Als ihm das misslang, erschoss er in der nahegelegenen Innenstadt zwei Menschen und verletzte weitere. Foto: Tobias Großekemper

Das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall

Von der Polizei ist statt Hilfe im besten Fall noch Gleichgültigkeit zu erwarten. Im schlimmsten Fall begegnet Betroffenen dort erneut Antisemitismus, Rassismus, Trans- oder Homofeindlichkeit.

Die Politik bedient derweil beharrlich das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall. Lasst mich Euch also eine Gegenfrage stellen: Wie entbehrlich sind Euer Sicherheitsgefühl und Vertrauen in den Staat, in dem Ihr lebt?

Diese Antwort gefällt vielen von Euch nicht. Trotzdem begegnet Ihr mir ungläubig, ungeduldig und wütend. Das könne ja alles gar nicht sein, Deutschland habe schließlich aus seiner Geschichte gelernt. Ein Problem mit gesellschaftlich tief verankertem Antisemitismus und Rassismus könne es also gar nicht geben. Ich frage Euch: Wo ist diese angeblich solidarische Mehrheit, die Zivilcourage und Menschlichkeit beweist? Wo ist sie, wenn Freunde an Yom Kippur auf der Straße antisemitisch beschimpft werden? Wenn Mitstipendiaten die Kippa vom Kopf gerissen wird und sie körperlich angegriffen werden?

Der Antisemitismus marschiert in Form der Querdenker ungehindert durch Deutschlands Straßen. Während diese die Shoah verharmlosen und antisemitische Parolen skandieren, ist diese angeblich solidarische Mehrheit, als Teil derer Ihr Euch begreift, damit beschäftigt, die Perspektive der Betroffenen infrage zu stellen. Ihr relativiert und bagatellisiert unsere Erfahrungen mit antisemitischen und rassistischen Angriffen. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und an Veränderung zu arbeiten, stellt Ihr infrage, was wir, die Überlebenden und Hinterbliebenen, schon lange wissen: Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem.

Warum wir gegen Hass und Hetze vorgehen müssen

Hass und Hetze im Internet sind zum Alltag geworden. Wir dürfen menschenverachtende Worte einfach nicht ignorieren, sondern müssen ihnen entgegentreten, sagt Hasnain Kazim.

Ohrenbetäubendes Schweigen einer Mehrheit

Antisemitische und rassistische Anfeindungen – online wie offline – sind schon lange Teil unseres Alltags. Gehört werden wir, die Betroffenen, aber erst, wenn es zu Terrorakten wie 2019 in Halle oder 2020 in Hanau kommt. Dann ruft Ihr reflexartig „Nie wieder“ und „Einzeltäter“. Und verliert bald wieder das Interesse. Aber antisemitische und rassistische Angriffe sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines tief verwurzelten Netzwerks rechtsextremer Ideologie.

Auch ich, als Betroffene eines rechtsextrem und neonazistisch motivierten Terroranschlags, bin keine Einzelerscheinung. Ich bin Teil einer ganzen Reihe von Menschen, die allesamt Opfer und Betroffene rechter Gewalt- und Terrorakte sind und deren Zahl stetig und mit erschreckender Geschwindigkeit wächst. Die Menge derer, die auch nach dem ersten „Nie wieder“-Hype noch neben uns, den Betroffenen, stehen, ist hingegen überschaubar gering. Einige davon durfte ich während des Prozesses gegen den Täter von Halle kennenlernen. Jeden Prozesstag standen sie im und vor dem Gerichtsgebäude, gaben mir Kraft und Halt. Diese Menschen sind Teil einer couragierten, solidarischen Minderheit in einer überwiegend schweigenden Mehrheit.

Dieses ohrenbetäubende Schweigen einer Mehrheit, die von sich behauptet, weder antisemitisch noch rassistisch zu sein, übertönt oft die vereinzelten solidarischen Zwischenrufe. Zu einsam und leise sind auch die Stimmen der Betroffenen, die sich nicht abspeisen lassen, sondern unentwegt mahnen, warnen und fordern. Sie versanden in der Gleichgültigkeit ebendieser schweigenden Mehrheit.

„Wenn wir um Hilfe rufen, hört ihr weg“

Was sich denn ändern muss, fragt Ihr mich. Fangen wir damit an, was sich seit Oktober 2019 für mich geändert hat: Ich lebe nach wie vor in Paris. Meine Berufsaussichten mit einer deutschsprachigen Dissertation im nicht deutschsprachigen Ausland sind begrenzt. Und trotzdem werde ich nicht nach Deutschland zurückkehren.

Getrieben von der Angst vor Eurem eigenen schlechten Gewissen, hakt Ihr nach. Ich schaue Euch in die Augen und antworte: Ihr stellt Euch nicht neben uns, wenn Juden und Jüdinnen auf Deutschlands Straßen beschimpft werden. Wenn wir um Hilfe rufen, hört Ihr weg. Stattdessen winkt Ihr mit Israel-Flaggen, weil Ihr jüdische Menschen nicht von Israel unterscheiden könnt, setzt Euch eine Kippa auf und ruft empört „Nie wieder“. Dann suhlt Ihr Euch in Selbstzufriedenheit und nennt das „Solidarität“.

Eure Empathie reicht genau bis zum Ende Eurer Komfortzone. Und Ihr gebt Bestürzung vor und fragt mich, warum ich nicht in Deutschland leben will?

Dieser Text ist ein Abdruck aus dem Buch „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“, das zu der gleichnamigen Ausstellung des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv erschienen ist. Der WEISSE RING unterstützt die Ausstellung.

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Erstellt am: Montag, 8. März 2021 von Sabine

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Maja Metzger ist Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Halle. Nach dem Terroranschlag im November 2019 betreuten sie und ihre Kollegen Opfer und Angehörige. Wie hat sich die Stadt seither verändert?

Maja Metzger, 51 Jahre alt, kam 2017 zum WEISSEN RING.

Es ist nicht der schlechteste Zeitpunkt, als Maja Metzger im Jahr 2017 angesprochen wird. Ob sie sich vorstellen könne, beim WEISSEN RING mitzuarbeiten in Halle an der Saale. 47 Jahre ist sie damals alt. Der Sohn alt genug, es gibt etwas Platz in ihrem Leben, und sie sagt, dass sie sich das mal anschauen werde. Sich sinnvoll einzubringen, Menschen zu helfen, das höre sich alles ja nicht schlecht an.

Es war auch der Grund, warum sie damals, 1988, noch zu DDR-Zeiten, angefangen hatte, Jura zu studieren – in Leipzig, das lag näher an ihrem Elternhaus im Erzgebirge. Es gab damals in der DDR nur zwei Standorte, an denen man Jura studieren konnte, Leipzig und Halle. Dass sie dann später doch nach Halle kam, lag an der Liebe: Sie lernte in Leipzig ihren späteren Mann kennen. 1993 wurde sie in Halle Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Familie und Soziales – dann war erst einmal das eigene Leben dran.

So sind es jetzt auch schon wieder 20 Jahre in dieser Stadt, die laut Frau Metzger „die graue Diva“ genannt wird, was verwundert, wenn man sie durchstreift. Das liege vielleicht daran, dass früher, in der DDR, die Leuna- und die Buna-Werke nicht weit entfernt lagen. Riesige Chemiekombinate zu Zeiten, als „Schadstoffemissionen“ zwar zu riechen und an den Häuserfassaden zu sehen waren, das Wort dafür aber noch nicht existierte. Was einzig und allein zählte, war die Produktion.

Viel Arbeit und viel Verantwortung

Zwanzig Jahre sind eine Zeit, in der man sich gut an die Stadt gewöhnen kann, in der man lebt. Heute ist Metzger Lokalpatriotin, sie geht, nein ging gerne zum Halleschen FC, was mehr mit Liebe zu tun haben muss als mit Fußball. Und sie hat zwei Päckchen Halloren-Kugeln mitgebracht zum Gesprächstermin, eine zuckersüße Spezialität aus Halle. Das verrät auch etwas über den Menschen Maja Metzger.

Sie schaut sich 2017 den WEISSEN RING an, und vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, dass das Grundseminar im Augustinerkloster in Erfurt stattfindet. Eine „tolle Erfahrung“ sei das gewesen. Und wie sie das so erzählt, da strahlen ihre Augen, und die Stimme, die im Gespräch sonst eher zurückhaltend und ruhig, fast vorsichtig klingt, hebt sich um eine Nuance.

Irgendwann während des Gesprächs wird Frau Metzger sagen, dass sie nicht gerne im Mittelpunkt stehe, und so tritt sie auch auf – im positiven Sinn zurückhaltend. Das kommt ihr zugute, speziell bei der Arbeit, die in der ersten Zeit beim WEISSEN RING auf sie wartet. „Ich hatte das nicht erwartet, aber sehr viele der Fälle hatten einen sexuellen Hintergrund.“ Missbrauch, Vergewaltigungen, das werden ihre vorrangigen Beratungsfälle. Letztlich – und das ist ja auch logisch – war schon bei ihrer Anwerbung die Intention: Eine gestandene Frau, lebenserfahren, ist für die meist weiblichen Opfer die angenehmere Ansprechpartnerin. „Es ist viel Arbeit und viel Verantwortung“, sagt sie. „Und es ist eine dankbare Arbeit, in der man sieht, was man bewirken kann.“

Fassungslosigkeit nach den Schüssen

2018 wird sie Außenstellenleiterin in Halle. So hätte es weitergehen können mit dieser wichtigen Arbeit, mit der Verantwortung. Aber dann kommt etwas über Halle, was sich niemand hatte vorstellen können. Am 9. Oktober 2019 in der Mittagszeit. Frau Metzger geht an diesem Tag aus ihrem Büro in der Innenstadt zur Post, ob sie etwas aufgegeben oder abgeholt hat, weiß sie gar nicht mehr. Aber was sie noch weiß, ist, dass, als sie wieder im Büro ist und auf ihr Handy schaut, an die 50 Nachrichten darauf sind. Wo sie sei, ob es ihr gut gehe, solche Sachen. Sie schaut in den Rechner und liest dann etwas von Schüssen in der Hallenser Innenstadt, von einer unklaren Anzahl an Verdächtigen.

Sie ist fassungslos, sucht weiter nach Informationen, irgendwann steht da etwas von einem jungen Mann, der in einem Dönerladen erschossen worden sei. Und ihr Sohn? Der ist doch auch ein junger Mann? Der isst doch auch gerne Döner? Sie lässt die Jalousien herunter und bleibt, wie öffentlich dazu aufgerufen, in ihrem Büro.

Am 9. Oktober 2019 erschießt in Halle ein 27-jähriger Mann einen anderen vor einem Dönerladen: Ein Terroranschlag, der die Stadt veränderte.

Zwei Menschen sterben

Der Terror kommt an diesem Tag nach Halle in Form eines 27-jährigen Mannes, der bei seiner Mutter im Kinderzimmer lebt und der von dort aus eine Revolution starten will – gegen Muslime, Frauen und vor allem gegen Juden. Die Tat ist hinreichend an anderer Stelle beschrieben, ausgeführt mit selbstgebauten Waffen, die Baupläne dazu stammen aus dem Netz. Daher kommen auch sein ganzes kaputtes Weltbild und sein Hass – einen anderen Zugang zur Welt als seinen Computer hatte er nicht.

Zwei Menschen sterben an dem Tag, hätten seine selbstgebauten Waffen nicht so oft geklemmt, wäre die Zahl der Opfer deutlich höher gewesen. In sein eigentliches Ziel, die Hallenser Synagoge, kann er nicht vordringen. Er erschießt eine 40-jährige Frau vor der Synagoge, kurz darauf einen Mann in einem Dönerladen. Ein Ehepaar außerhalb von Halle wird auf der Flucht des Täters von ihm angeschossen. Neun versuchte Morde werden ihm später vor Gericht vorgeworfen, er wird zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Terrorattacken wie diese werden in Präventions- und Notfallplänen als Großschadensereignisse eingestuft. „Pläne, wie damit umzugehen ist, haben wir ja in der Schublade“, sagt Frau Metzger heute. Bis zu diesem Tag im Oktober 2019 hatte sie aber keine Vorstellung davon, was ein solches „Großschadensereignis“ alles auslösen kann.

Am nächsten Morgen kommen die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in der Außenstelle zusammen, die gleichzeitig auch das Landesbüro ist. Hier, vor der Glasscheibe, stand am Tag des Anschlags noch ein Polizist mit einer Maschinenpistole.

Eine Stadt im Ausnahmezustand

Maja Metzger trägt das Mobiltelefon bei sich, an dem sich Opfer melden können. Zunächst rufen viele Eltern an, die ihre Kinder nicht erreichen können – Halle ist eine Studentenstadt. Dazwischen Menschen aus der Stadt, die einfach mal reden wollen, über Ängste oder Sorgen. „So ein Angriff aus dem Nichts erschüttert Menschen in ihren Grundfesten“, sagt Frau Metzger. Die übliche Sorglosigkeit, die so alltäglich ist, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, ist von heute auf morgen weg. An ihre Stelle tritt das Gefühl: „Ich kann auf die Straße gehen und komme vielleicht nicht wieder nach Hause.“ Das mache etwas mit den Menschen, ob sie Zeuge wurden oder nicht.

So etwas sei auch nach ein paar Wochen oder Monaten nicht vorbei: „Der Ausnahmezustand hat hier schon ein halbes Jahr gedauert, viele wollten das erst einmal mit sich selbst ausmachen.“ Dann hätten sie sich doch gemeldet, telefonisch. Oder sie kamen einfach vorbei.

Insgesamt werden 36 Opfer betreut, auch Angehörige von Opfern. Der Außenstelle Halle kommen damals zwei Dinge zugute: Einerseits, dass ihr Sitz in der Innenstadt auch der Sitz des Landesverbandes ist. So gib es eine Anlaufstelle, einen großen Raum, einen kleinen Raum, Platz für die Arbeit, die getan werden muss. „Einen Raum, in dem wir uns besprechen können und wo das Besprochene bleiben kann.“

An der Synagoge von Halle hängt eine Gedenktafel für die Todes- und alle weiteren Opfer des antisemitischen Terroranschlags.

Andererseits haben sie in einer Studentenstadt wie Halle, viele ehrenamtliche Helfer. Wer Metzger heute fragt, was eine Außenstelle aus einem Ereignis wie diesem lernen kann, erhält zur Antwort, dass das, was getan werden muss, auf möglichst viele Schultern verteilt werden müsse. Und was sie selbst gelernt hat? „Dass es gut ist, etwas tun zu können und nicht hilflos daneben zu stehen.“

Die Stadt verändert sich nach dem Anschlag, in den Tagen danach ist das am meisten zu spüren. Menschen rücken näher zusammen, sprechen oder schweigen gemeinsam. Die Zusammenarbeit des WEISSEN RINGS mit den Behörden sei damals enger geworden. Spenden, die in der Stadt gesammelt werden, gehen an die Opferhilfeorganisation und werden weitergereicht: rund 31.000 Euro. Ein Ehepaar, niedergeschossen vom Täter, wird vor Gericht aussagen, dass die einzige Institution, die ihm die ganze Zeit zur Seite gestanden habe, der WEISSE RING war.

Verlust der Sorglosigkeit

Und dennoch: Die Hilfe, das Näherrücken, der Zusammenhalt danach können nichts ungeschehen machen: nicht die Toten, nicht die Verletzten, nicht die Geschockten und die Traumatisierten. Ebenso wenig den Verlust der Sorglosigkeit und den Hass, der sich damals Bahn bricht und bis heute noch bisweilen nachwirkt: Der Täter filmt damals seine Taten und stellt sie live ins Netz. Auch Frau Metzger, die das Geschehen damals selber gar nicht miterlebt, wird es später doch noch sehen: Dieses Video wird ihr kommentarlos auf WhatsApp zugeschickt, fünf, sechs Mal kommt es bei ihr an. Wie oft es wohl andere bekommen haben?

Heute, im Frühjahr 2021, sitzt Frau Metzger in der Außenstelle Halle, der Ausnahmezustand ist vorbei, an den Tatorten erinnern Tafeln an die Tat, hier und da in der Stadt steht „Niemals vergessen Kevin und Jana“ auf Stromkästen gesprüht. Das Unfassbare ist und bleibt unfassbar. Und es lässt so viele andere Dinge kleiner wirken: Dass wegen der Pandemie die Friseure geschlossen sind, ist für Maja Metzger zum Beispiel ziemlich irrelevant. Dass sie nicht zum Halleschen FC kann, stört sie dann doch schon ein bisschen mehr – aber nur ein bisschen. Es gibt, das hat die Zeit gezeigt, wirklich Schlimmeres.