Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

 

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Erstellt am: Montag, 31. März 2025 von Gregor

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 31.03.2025

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Nachdem der Landtag eine Gesetzesreform beschlossen hat, kann die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt werden. Die Landesregierung verspricht sich davon einen besseren Schutz. Die Zahl der Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist auch im Norden gestiegen.

Kiel/Mainz. Im Kampf gegen häusliche Gewalt setzen die Bundesländer zunehmend auf die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild. Kürzlich hat der schleswig-holsteinische Landtag mit breiter Mehrheit – nur die FDP stimmte nicht zu – eine entsprechende Gesetzesreform verabschiedet. Bislang konnte die sogenannte Aufenthaltsüberwachung in dem Bundesland nur bei terroristischen Gefährdern genutzt werden, künftig ist das auch bei Partnerschaftsgewalt und Stalking möglich. Voraussetzung ist ein richterlicher Beschluss. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sagte in Kiel, die Fußfessel werde Lücken beim Schutz schließen und diesen verbessern.

Wie bundesweit ist in Schleswig-Holstein die Zahl der von häuslicher Gewalt Betroffenen gestiegen, im vergangenen Jahr um 8,8 Prozent auf 9.360. Gut 71 Prozent der Opfer waren Frauen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Beim spanischen Modell kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Dadurch wird sowohl der Standort des Täters als auch der Betroffenen überwacht, und die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch. Der Alarm wird ausgelöst, falls sich der Überwachte und das Opfer einander nähern.

In Spanien wurde keine der geschützten Frauen getötet

Sachsen und Hessen setzen die neue Technik schon ein. Das Saarland hat ein Gesetz dafür verabschiedet, und in weiteren Bundesländern wird derzeit darüber diskutiert, etwa in Niedersachsen, wo ein Gesetzentwurf in Arbeit ist.

Die noch amtierende Bundesregierung hatte zu Jahresbeginn ein neues Gewaltschutzgesetz auf den Weg gebracht, das die elektronische Aufenthaltsüberwachung vorsieht. Der alte Bundestag hat den Entwurf jedoch nicht mehr beschlossen. Laut dem Papier könnten Familiengerichte in Risikofällen für drei Monate eine Fußfessel anordnen und die Maßnahme um drei Monate verlängern.

Der WEISSE RING hatte sich auf Bundes- und Länderebene intensiv für die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell eingesetzt, unter anderem mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition.

Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hatte in einer umfassenden Recherche aufgezeigt, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die Aufenthaltsüberwachung in Spanien eingesetzt wird: Dort wurde seitdem keine Frau, die mit Hilfe der Fußfessel geschützt wurde, getötet. Insgesamt ging die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent zurück.

Warten auf besseren Schutz

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Warten auf besseren Schutz

Das neue Gewalthilfegesetz ist ein klarer Fortschritt, hat aber Lücken.

Skizze eines Paragraphen auf einem grünen Hintergrund. Sie spielt auf das Gewalthilfegesetz an für Opfer von häuslicher Gewalt.

Illustration: Studio Pong

Jeden Tag erleiden Hunderte von Menschen in Deutschland häusliche Gewalt. Nach jüngsten Zahlen des Bundeskriminalamtes sind im Jahr 2023 insgesamt 256.276 Opfer von Partnerschaftsgewalt oder Gewalt gegen Kinder, Eltern oder andere Familienangehörige erfasst worden – 6,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 70 Prozent der Betroffenen waren weiblich, 75,6 Prozent der Täter männlich.

Es mangelt an Hilfsangeboten. So standen deutschlandweit zuletzt etwa 7.800 Frauenhausplätze zur Verfügung. Nach der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, zu der sich Deutschland 2018 verpflichtet hat, wären aber 21.500 Plätze nötig. Immer wieder kommt es vor, dass Einrichtungen Betroffenen keinen Platz bieten können.

Um dem Mangel entgegenzuwirken, haben Bundestag und Bundesrat kürzlich das Gewalthilfegesetz beschlossen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) sprach von einem „historischen Moment“; Lücken im Hilfesystem würden geschlossen. Das Gesetz sieht ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vor. Es verpflichtet die Länder, ausreichend Angebote zu schaffen. Dafür bekommen sie vom Bund zwischen 2027 und 2036 insgesamt 2,6 Milliarden Euro. Betroffene können künftig Einrichtungen in ganz Deutschland aufsuchen, egal in welcher Kommune sie leben. Außerdem soll die Prävention ausgeweitet werden, zum Beispiel durch Täterarbeit.

Dorothea Hecht, Referentin Recht beim Verein Frauenhauskoordinierung, stimmt mit Paus darin überein, dass das Gesetz eine historische Dimension hat: „Nach jahrzehntelangen Schwierigkeiten, das Hilfesystem zu finanzieren, bekommt es jetzt eine solide Grundlage.“ Positiv sei etwa die in konkrete Zahlen gefasste Beteiligung des Bundes. In Jubel bricht Hecht aber nicht aus: „Es dauert noch sieben Jahre, bis der Rechtsanspruch greift.“ Und ob die bereitgestellten Summen reichen, sei fraglich. Den laufenden Bedarf zu decken, sei schon schwierig. Jetzt kämen hohe Investitionskosten hinzu, etwa für den Ausbau der Frauenhäuser. Zudem brauche es höhere Löhne, um Fachkräfte zu gewinnen. Fest stehe: „Die Länder werden sich finanziell mindestens genauso wie der Bund einbringen müssen.“

„Es dauert noch sieben Jahre, bis der Rechtsanspruch greift.“

Esther Bierbaum von der Zentralen Informationsstelle autonomer Frauenhäuser bezeichnet das neue Gesetz als „Meilenstein“. Noch nie hätten sich Bund, Länder und Kommunen so verbindlich und gemeinsam des Gewaltschutzes angenommen. So wie bislang könne es nicht weitergehen: „Es ist immer schwierig, die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Kolleginnen sind fast täglich damit beschäftigt, hilfesuchende Frauen und Kinder abzuweisen, weil der Platz nicht reicht.“

Das Gewalthilfegesetz lasse hoffen, aber: „Wir sehen auch Lücken.“ Bierbaum verweist darauf, dass etwa non-binäre Menschen nicht berücksichtigt werden, ebenso wenig wie Geflüchtete. Auch bleibe „wirtschaftliche Gewalt“ außen vor – von der viele Schutzsuchende betroffen seien: „Sie dürfen nicht eigenständig über Geld verfügen, müssen Rechenschaft ablegen und bekommen häufig nichts. Stattdessen kommt es zu Streit.“

Die Mission von Gisèle Pelicot

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ – dieser entschlossene Satz von Gisèle Pelicot hat sich zu einem Kampfruf entwickelt. Er prangt auf Schildern vor Gerichtssälen, mahnt auf Graffiti in den Straßen französischer Städte und geht als Hashtag in den sozialen Medien viral. Der Prozess gegen die Vergewaltiger Pelicots in Frankreich hat weltweit die Aufmerksamkeit auf die Situation der Betroffenen gelenkt. Beim Opfer-Telefon des WEISSEN RINGS meldeten sich nach Beginn der Verhandlung in Avignon vermehrt Betroffene von Sexualstraftaten. Hat die Scham bereits die Seite gewechselt, kann sie es überhaupt? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben.

Gisèle Pelicot steht seitlich und hat den Kopf direkt zum Publikum gedreht. Das Bild ist rötlich gefärbt und eine ausgestreckte Hand ist leicht zu erkennen.

Nach der Urteilsverkündung wendet sich Gisèle Pelicot an andere Betroffene. „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen“, sagt sie.

Der Kontrast zwischen dem Auftreten des Opfers und der Angeklagten könnte kaum größer sein. Gisèle Pelicot schreitet aufrecht und ruhig zum Gerichtsgebäude, flankiert von ihren Anwälten und ihrer Familie, begleitet von Kameras. Der Weg ist gesäumt von Frauen und Männern, die der 72-jährigen Französin applaudieren und ihr Dankesworte zurufen. Sie antwortet mit einem Lächeln und einem leisen „Merci“.

Die Angeklagten, die nicht in Untersuchungshaft sitzen, haben die Kapuzen ihrer Jacken und Pullover ins Gesicht gezogen. Alle tragen Schutzmasken, einige auch Handschuhe. So schnell wie möglich eilen sie an den Kameras und Zuschauern vorbei, betreten den Gerichtssaal und entfernen ihre Kapuzen und Masken erst, als die Richter den Saal betreten. Die Angeklagten in Untersuchungshaft werden an einem abgeschirmten Seiteneingang vorgefahren und huschen durch ein Spalier von Polizisten ins Gericht. Bloß nicht gesehen werden – Scham entsteht durch den direkten oder vorgestellten Blick anderer Menschen auf die eigene Person.

Gisèle Pelicot hat die Täter ins Licht gezogen und die Belastung eines Gerichtsprozesses auf sich genommen. Später, unmittelbar nach der Urteilsverkündung, wird sie sich an die Betroffenen wenden, die nicht den Weg in die Öffentlichkeit gehen, deren Geschichten im Dunkeln bleiben: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen.“

Der Fall Pelicot

Die heute 72-jährige Gisèle Pelicot wurde von ihrem damaligen Ehemann Dominique jahrelang regelmäßig mit
Schlafmitteln betäubt und von ihm sowie von Fremden vergewaltigt. Er filmte die Taten. Ende Dezember 2024 wurde Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt. Neben ihm wurden 50 weitere Männer für schuldig befunden und zu Strafen zwischen drei und 15 Jahren Haft verurteilt. Die Verbrechen wurden aufgedeckt, nachdem Dominique Pelicot in einem Supermarkt dabei erwischt worden war, wie er mit seinem Handy unter die Röcke von Kundinnen filmte. Im Rahmen der Ermittlungen fand die Polizei Videos und Fotos von den Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot.

Kapitel I
Die Scham der Opfer

Anette Diehl ist Trauma-Fachberaterin des Frauennotrufs in Mainz, sie berät und begleitet Frauen und Mädchen schon seit fast 40 Jahren. „Man kann Gisèle Pelicot gar nicht genug dafür danken, was sie getan und gesagt hat. Sie hat erreicht, dass sowohl andere Betroffene als auch Politik und Gesellschaft sich dafür interessieren, wie die Situation für Opfer ist. Und dieser Satz, dass die Scham die Seite wechseln muss, hat sehr vielen Menschen geholfen“, sagt Diehl. Scham spiele eine große Rolle: „Neben den Mitschuldgefühlen, der Wut, dem Ekel, der Trauer, der Verzweiflung, ist Scham allen gemeinsam, die sich an uns wenden“, berichtet die Beraterin aus ihrer Arbeit. Scham habe etwas Sprachloses und Selbstzerstörerisches. Sie sei für viele Frauen und Mädchen eine hohe Hürde, die sie davon abhalte, über erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen oder diese anzuzeigen.

Im Jahr 2023 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 12.186 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in Deutschland, 10.106 davon wurden demnach aufgeklärt. Das bedeutet, dass mindestens ein Tatverdächtiger ermittelt wurde. In den vorangegangenen Jahren wurden 11.869 Fälle (2022) beziehungsweise 9.903 Fälle (2021) erfasst. Das bildet jedoch nur das Hellfeld ab. Laut einer Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamtes für das Jahr 2020 werden lediglich 9,5 Prozent der Vergewaltigungen überhaupt angezeigt.

Häufig melden sich Betroffene erst Jahre oder gar Jahrzehnte nach der Tat, weil sie unter den Spätfolgen leiden, etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

„Viele sagen uns dann, sie hätten sich so geschämt, dass sie all die Jahre nicht darüber sprechen konnten“, sagt Diehl. Sie weiß, wie wichtig es ist, wenn mutige Betroffene einen Stein ins Rollen bringen, wie bei „MeToo“. „Manchmal rollt der Stein eine ganze Weile, dann aber setzt leider oft wieder das Victim Blaming ein.“ Die Täter-Opfer-Umkehr, die den Opfern eine Mitschuld unterstellt.

Im Fall Pelicot – wo die Beweislast erdrückend war – brüllen Anwälte der Verteidigung das Opfer während seiner Aussage immer wieder an. Die Unterstellung, Gisèle Pelicot müsse irgendwie für die Vergewaltigungen mitverantwortlich sein, kommt von der Ehefrau eines Angeklagten: „Wenn mein Mann wirklich jemanden hätte vergewaltigen wollen, hätte er sich eine attraktivere Frau ausgesucht.“ Ein Angeklagter, von Beruf Krankenpfleger, sagt vor Gericht, man hätte den Bewusstseinszustand von Pelicot während der Vergewaltigungen medizinisch bewerten müssen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln stand. Er selbst hätte nicht unterscheiden können, ob das Opfer geschlafen oder nur so getan habe.

„Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann. Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter .“

Prof. Friederike Funk

Die Viktimologin Anne-Kathrin Kreft vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sieht Scham als eine zentrale emotionale Reaktion auf Vergewaltigungen, die tiefgreifende psychologische und soziale Folgen haben könne. Sie plädiert für eine gesellschaftliche Veränderung, hin zu einer Haltung, die Opfer entlastet. Kreft hat sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten in Kolumbien erforscht und mit betroffenen Frauen und Helferinnen gesprochen. Was weit entfernt klingt, rückt ganz nah, wenn es um Scham geht: „Selbst in diesen Fällen politisch motivierter sexualisierter Gewalt wurden die Frauen nach der Tat teilweise noch gefragt, was sie getan hätten, um das zu provozieren“, erinnert sich Kreft. Wenn die Gesellschaft dem Opfer immer wieder zu verstehen gebe, in irgendeiner Form mitverantwortlich zu sein für die eigene Vergewaltigung, steigere das die Scham und sei für die Betroffenen gravierend.

Aus der Befragung von BKA und Polizei zu Sexualdelikten

71 %

der Opfer geben an, dass
es keine Beweise gab

38 %

hatten Angst vor dem Täter
oder der Täterin

32 %

hatten Angst vor
einem Gerichtsverfahren

Dass Opfer nicht als solche wahrgenommen werden, ist ein tief verankertes Muster. Oft taucht die Frage auf, ob es sich überhaupt um Gewalt handelte oder nicht um ein großes Missverständnis. Im Prozess von Avignon sagen die Männer, die inzwischen zu langen Haftstrafen verurteilt sind, ihnen sei nicht klar gewesen, dass Pelicot schlief. Außerdem habe ihr Mann doch zugestimmt. Auch Pelicot wird unterstellt, sie hätte die Taten provoziert: als die Verteidigung ihr 27 intime Fotos zum Vorwurf machen will, die auf Dominique Pelicots Laptop gespeichert waren. 27 von insgesamt 20.000 Dateien. Sie wurden wohl mit ihrem Einverständnis aufgenommen. Eine Verteidigerin fragt Gisèle Pelicot, ob sie exhibitionistische Tendenzen habe. In diesem Moment verliert die sonst so beherrschte Gisèle Pelicot die Geduld. Die 72-Jährige reagiert empört: „Ich verstehe nun, warum die Opfer von Vergewaltigungen so selten Anklage erheben – schämen Sie sich, mir solche Dinge zu unterstellen!“

Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, schmerzten Pelicot besonders.

Es gibt die Vorstellung, wie ein Opfer zu sein habe: traurig, schwach, leise. „Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann“, erklärt Friederike Funk. Die Professorin für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat viele Kommentare zum Fall Gisèle Pelicot gelesen. Sie forscht dazu, wie die Gesellschaft auf Täter und Opfer blickt. „Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter“, sagt Funk. Die Umkehr basiere unter anderem auf dem psychologischen Konzept des Gerechte-Welt-Glaubens, der Erwartung, dass es grundsätzlich gerecht zugehe und wir im Leben das bekommen, was uns zusteht. „Wenn objektive Fakten fehlen, verleitet dies leider häufig dazu, zu schauen, ob eine Person vielleicht selbst ein bisschen mit dazu beigetragen hat, was ihr passiert ist“, beschreibt Funk. Es ist eine Art Selbstschutz-Mechanismus: Weil wir uns ja nicht so verhalten würden, fühlen wir uns sicherer.

Die Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, seien für sie besonders schmerzhaft gewesen, betont Gisèle Pelicot vor Gericht. Die Erklärungen einiger Täter, sie seien wie „fremdgesteuert“ gewesen, hätten sie zermürbt. Aber dann zeigt sich wieder die beeindruckende Stärke dieser Frau, als sie sagt: „Ich fühle mich für nichts von allem verantwortlich. Es war ein langer Weg für mich, das zu begreifen, aber in erster Linie bin ich ein Opfer.“ Allen Anschuldigungen zum Trotz.

Das Bild hat einen roten Hintergrund. Links sind große ausgestreckte Hände zu erkennen und auf der rechten Seite ist ein Man, ganz in schwarz dargestellt und hält sich die Hände vor sein Gesicht.

Mehr als 17.000 Frauen und Mädchen waren 2023 in Deutschland von digitaler Gewalt betroffen, etwa von Cyberstalking oder sexueller Belästigung. Gegenüber dem Vorjahr nahmen die Delikte um 25 Prozent zu.

Auch bei häuslicher Gewalt fragen manche absurderweise schnell: Warum ist sie nicht gegangen? Statt: Warum hat er sie geschlagen? Anette Diehl hat das schon so oft gehört, dass sie die Einstellung manchmal wütend macht. Aber sie ist nicht entmutigt, im Gegenteil: „Das gesellschaftliche Klima hat sich in den vergangenen fünf Jahren schon sehr zum Positiven verändert“, findet Diehl. „Es gab ‚MeToo‘, Fälle wie den von Gisèle Pelicot, die weltweit verfolgt werden, immer mehr Betroffene melden sich in den sozialen Medien und Podcasts zu Wort.“ Wichtig sei aber, anzuerkennen, dass andere, die dasselbe Schicksal erlitten haben, nicht den Weg von Pelicot wählen müssen. „Das darf nur jede Betroffene für sich selbst entscheiden.“ Ob sie aus der Opferrolle in die aktiv handelnde Rolle findet, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie die Gesellschaft damit umgeht, vom sozialen Umfeld über die Polizei bis zum Gericht.

„Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt.“

Prof. Ruth Linssen

Kapitel II
In den Mühlen der Strafverfolgung

Die erste Hürde ist die Anzeige bei der Polizei, damit setzt sich die Mühle der Strafverfolgung in Gang. Welche Erfahrungen Betroffene dabei machen, hat Ruth Linssen, Professorin für Soziologie und Strafrecht an der Fachhochschule Münster, im Rahmen einer Studie für das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen untersucht. „Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt“, sagt Linssen. Viele Opfer, die sie befragte, hätten Angst vor Ausgrenzung geäußert und schämten sich besonders, wenn nahe Angehörige bei der Vernehmung dabei waren. Der Umgang der Polizei mit Betroffenen hingegen habe sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich geändert – im positiven Sinne. Linssen führt das auch darauf zurück, dass dort mittlerweile mehr junge Frauen arbeiten, die ein anderes Problembewusstsein hätten.

Eine Frau gewann durch das Verfahren ihre Souveränität wieder.

Doch eine Aussage vor Gericht kann extrem belastend sein. Eine Befragte berichtete ihr, was für ein gutes Gefühl ihr ihre Aussage vor Gericht gab. Der Täter habe während des Prozesses auf den Boden geguckt und sich geschämt. „Die Frau hatte ihre Souveränität durch das Verfahren wiedergewonnen, als würde der Prozess die Verhältnisse wieder zurechtrücken. Das war aber lange nicht bei allen so“, so Linssen. „Ganz ehrlich, ich war mir nach der Studie noch viel weniger sicher als vorher, ob ich eine Vergewaltigung anzeigen würde. Ich wäre im Gericht im Boden versunken, wenn ich in diesen Details die Tat hätte schildern müssen, wie Frauen mir das berichtet haben.“

„Ich kann nichts riskieren“

Eine von sexualisierter Gewalt betroffene Frau berichtet, weshalb sie viele Jahre nach dem Missbrauch durch ihren Stiefvater doch noch Anzeige erstattet hat und – anders als Gisèle Pelicot – anonym bleiben möchte.

„Als ich elf Jahre alt war, ging es mit den körperlichen Übergriffen los. Ab meinem 14. Lebensjahr begann mein Stiefvater, mich auch zu vergewaltigen, bis zu meinem 17. Lebensjahr. Ich habe niemandem davon erzählt. Meinen Freunden nicht, meinem Freund nicht und auch meiner Mutter nicht. Ich war einfach froh, als nach der Trennung Ruhe einkehrte.

Viele Jahre später bin ich ihm begegnet, nur einen Ort von meinem Wohnort entfernt. An der Hand hatte er einen kleinen Jungen. Da kam alles wieder hoch. Kurz darauf saß ich mit meiner Mutter und meinem Freund zusammen und wir kamen auf ihn zu sprechen. Und da erzählte ich es ihnen. Meiner Mutter liefen die Tränen, sie hatte nichts geahnt. Gemeinsam beschlossen wir, zur Polizei zu gehen.

Es dauerte vier Jahre, bis die Gerichtsverhandlung begann. Obwohl der Fall mir alt und klein erschien, war am ersten Prozesstag viel Presse da. Die Lokalzeitung berichtete am nächsten Tag. Bei meiner Aussage waren keine Medien erlaubt. Trotzdem kannten sie alle Details, auch über meine Entjungferung. Eine Journalistin hatte nie mit mir gesprochen, ihre Infos stammten von den Anwälten meines Stiefvaters.

Vor der Anzeige hatte ich ähnliche Fälle recherchiert und wusste, wie schwer es für Opfer ist – das jahrelange Verfahren und die Unterstellungen. Ein Täter darf schweigen, aber das Opfer muss alles erzählen, auch intime Details.

Das Schlimmste war, als die Videoaufzeichnung meiner Aussage im Gerichtssaal vor dem Täter abgespielt wurde. Ich dachte, ich wäre in einem geschützten Raum bei der Polizei. Und dann sieht und hört der Täter mich sagen: Ich habe Angst vor ihm, ich habe eine kleine Tochter, ich wohne nur einen Ort weiter, ich gehe in seinem Ort einkaufen.

Ich konnte also nicht in die Öffentlichkeit gehen. Ich wusste nicht, wie das Verfahren ausgehen wird. Es gab zu Beginn keine Beweise aus der Zeit. Während des Verfahrens tauchten Beweise auf, wie Fotos von meiner Schwester und mir.

Das, was Gisèle Pelicot gemacht hat, ist unfassbar mutig und stark. Aber nicht jedes Opfer kann das. Sie ist älter, hat kein kleines Kind zu Hause. Ihr Mann saß von Anfang an im Gefängnis. Es gab eine Vielzahl an Beweisen. Die Ausgangslage in solchen Fällen ist meistens viel schlechter für Opfer. Außerdem schützt Deutschland eher die Täter als die Opfer.
Trotzdem bin ich froh, dass ich es gemacht habe. Letztes Jahr wurde er zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Noch hat er die Haftstrafe, die kurz ist, nicht angetreten. Als Mutter bleibe ich anonym, da ich nichts riskieren kann. Ich weiß nicht, was er macht, wenn er entlassen wird.“

Lena*

Gerichtsprozesse können für Betroffene extrem belastend sein. Forderungen nach verpflichtenden Weiterbildungen für einen sensibleren Umgang mit Opfern weisen Richterinnen und Richter mit Verweis auf ihre Unabhängigkeit zurück. „Das eine schließt das andere nicht aus“, findet hingegen Professor Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. „Man kann unabhängig und neutral sein und trotzdem zwischenmenschlich in angemessener Form sensibel mit diesen schwierigen Themen umgehen.“

Ein Versuch des Rechtssystems, mit dem vermeintlichen Interessenskonflikt umzugehen, ist die Psychosoziale Prozessbegleitung. Tina Neubauer ist Prozessbegleiterin in Stuttgart und arbeitet für die PräventSozial gGmbH. Sie unterstützt in Baden-Württemberg seit mehr als 20 Jahren Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer bei Gerichtsprozessen und kennt die Fälle von gut 1.000 Betroffenen. Sie bildet auch Begleiter aus, unter anderem an der Akademie des weissen rings. „Ich habe jetzt die ganzen Jahre nur wenige Frauen betreut, denen es nicht unangenehm war, über sexualisierte Übergriffe zu sprechen. Das Thema Scham ist bei den meisten vorhanden“, sagt Neubauer. Bislang beschließe lediglich ein kleiner Teil: „Ich zeige das bei der Polizei an. Ich mache meine Aussage vor Gericht.“

„Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil: Es ist gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt.“

Professor Martin Rettenberger

Viele Menschen belaste es, dass sie dort „erneut die Kontrolle abgeben, so wie bei der Tat“, schildert Neubauer. Ein Strafverfahren ist immer öffentlich, selbst wenn die Öffentlichkeit eingeschränkt werden kann. Betroffene sind Opferzeugen, die in der Regel aussagen müssen und zur Wahrheit verpflichtet sind. Die Begleiterin erklärt ihnen den Ablauf des Verfahrens, ihre Rechte als Zeugen und die Möglichkeiten der Nebenklage. Ziel ist es, den Opfern mithilfe von Informationen mehr Sicherheit zu geben. Die Psychosoziale Prozessbegleitung kooperiert mit NERO, einem Netzwerk von Opferanwälten, das Betroffene schon vor der Anzeige juristisch unterstützt. „Ich finde, die Betroffenen müssen wissen, worauf sie sich einlassen“, sagt Neubauer.

Wenn sie Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt, dass der Täter verurteilt wird. Die Kriminologische Zentralstelle hat Verlaufsstudien ausgewertet und Verurteilungsquoten zwischen 16 und 30 Prozent zusammengetragen. Es gibt aber auch Auswertungen, die auf eine Quote unter 10 Prozent kommen.

Wenn Opfer Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt,dass der Täter verurteilt wird.

Der Kriminologe Martin Rettenberger verweist darauf, dass „wir auch in anderen Deliktsbereichen einen hohen Schwund zwischen angezeigten Fällen und Verurteilung haben“. Aufgrund eines größeren Bewusstseins für sexuelle Grenzüberschreitungen werde insgesamt mehr angezeigt. „Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind also nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil“, sagt Rettenberger. Es sei gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt. Relativ viele Anzeigen führten zu Ermittlungen, die dann aber nicht ganz eindeutig seien. Mögliche Gründe: Betroffene ziehen ihre Aussage zurück oder machen Angaben, die kaum verwertbar sind. Beteiligte können sich nicht mehr richtig erinnern. Oft steht Aussage gegen Aussage. „Wenn die Fälle unklar sind, dann werden sie im Rechtsstaat für die angeklagte Person ausgelegt. Die Schuld muss zweifelsfrei feststehen. Das ist ein hohes Gut, und das sollten wir nicht über Bord werfen“, sagt Rettenberger.

Das soll auch vor Falschbeschuldigungen schützen. Laut Forschung kommen diese Fälle vor, sind aber selten. „Diese Einzelfälle sind schrecklich, keine Frage, werden aber meist medial aufgebauscht“, sagt Claudia Igney vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). „Das steht in keinem Verhältnis zu der Vielzahl an Fällen, wo es andersrum ist: Die sexualisierte Gewalt hat stattgefunden, aber sie lässt sich nicht beweisen. Die Anforderungen des Strafrechts sind sehr hoch. Die Täter gehen straffrei aus. Aber das bedeutet eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden hat.“

Im Falle von Gisèle Pelicot war die Beweislage gegen die Angeklagten so eindeutig, weil die Taten gefilmt und akribisch archiviert worden waren. „Auch wenn es kein prototypischer Fall ist, war dieser Prozess wichtig, weil er dazu geführt hat, dass Menschen sich vorstellen können, was es alles gibt in unserer Gesellschaft und dass solche Taten nicht von Monstern begangen werden, sondern von Männern aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen – ja sogar vom eigenen Ehemann“, sagt Igney.

„Ich habe Angst“

Was Gisèle Pelicot geleistet habe, sei beeindruckend, sagt eine Frau, die eine Attacke nur knapp überlebte. Mehr Betroffene müssten sich äußern, doch das ginge oft nicht.

„Nach meiner Scheidung hatte ich zwei Jahre eine On-off-Beziehung mit meinem Expartner. Irgendwann trennte ich mich endgültig von ihm. Danach suchte er weiter Kontakt und stand öfter vor meiner Tür. Heute würde ich von Stalking sprechen. Freunde warnten mich, aber ich habe das nicht ernst genommen. Er hatte mir nie etwas getan. Als er alkoholisiert vor meiner Tür stand, dachte ich zum ersten Mal daran, die Polizei zu rufen. Dann waren zwei Wochen Ruhe.

Plötzlich stand er wieder vor meiner Tür. Es war ein Freitag, meine beiden Jungs waren schon im Haus, meine Tochter und ich kamen gerade. Ich schickte sie ins Haus. Da holte er völlig unvermittelt ein Messer raus und stach auf mich ein. In Tötungsabsicht – gezielt in Richtung Herz, dann in den Oberkörper. Ich habe mich mit meinen Händen versucht zu schützen, schrie laut, ging zu Boden. Und dann sah ich eine dunkle Gestalt, sie zog ihn von mir, nahm ihn in den Schwitzkasten. Es war ein junger Mann.

Mein Expartner versuchte, sich selbst zu töten, indem er das Messer in seinen Bauch stach. Erst sechs Monate später ging das Gerichtsverfahren los, was mich nervös machte. Ich wusste, dass er nach sechs Monaten ohne Gerichtstermin wieder aus der Untersuchungshaft darf. Nach sechs Verhandlungstagen wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt. Das ist kurz für versuchten Mord und schwere Körperverletzung. Das Gericht berücksichtigte, dass er Ersttäter ist, ein Alkoholproblem und eine psychische Erkrankung hat. Aus juristischer Sicht kann ich das Urteil nachvollziehen, aber aus Opfersicht ist es ein Schlag ins Gesicht.

Ich bin traumatisiert, arbeitsunfähig und schwerbehindert aufgrund meiner Verletzungsfolgen. Ich habe Angst um mich und meine Kinder: Vor knapp zwei Jahren wurde er in ein forensisches Krankenhaus gebracht. Ich weiß nicht, ob er wegen guter Führung vielleicht bald rauskommt.

Nach der Tat klingelten Journalisten an meiner Haustür und bedrängten Familienmitglieder. Meine Kinder wurden in der Schule von Mitschülern angesprochen, weil die Eltern neugierig waren. Es ist beeindruckend, was Gisèle Pelicot geleistet hat, aber ihr Täter bleibt im Gefängnis. Mehr Opfer müssten auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen, aber das ist oft nicht möglich. Zu kurze Haftstrafen, Kinder, die man nicht in Gefahr bringen möchte, oder andere Gründe sorgen dafür, dass Menschen wie ich das nicht machen.

Am ersten Gerichtstag war Presse anwesend, auch ein Kamerateam. Meine Anwältin sagte zu mir, dass ich mir eine Akte vor das Gesicht halten könnte. Aber das tat ich nicht – ich muss mich nicht verstecken, der Täter muss es.“

Antonia*

Links steht ein Mann, mit den Händen im Gesicht und rechts hinter ihm ist ein sehr großer Damenfuß mit hohen Schuhen zu sehen. Es wirkt, als könnte die Frau auf den Mann treten, als wäre er ein Käfer.

Gisèle Pelicot hat vielen Frauen Mut gemacht. Sie hat einen Wandel in Gang gesetzt, doch der Weg ist noch weit. Expertinnen fordern ein gesellschaftliches Klima, in dem Betroffene nicht stigmatisiert werden.

Kapitel III
Die Scham der Täter

In der psychologischen Betreuung von Inhaftierten spielt Scham eine Rolle, weil sie eine Hürde bei der therapeutischen Arbeit sein kann. „Hartnäckiges Leugnen und auch das vollständige Schweigen sind ein Mechanismus, um mit dem eigenen Schamgefühl umzugehen“, sagt Martin Rettenberger. „Scham hat mit der Angst davor zu tun, soziales Ansehen zu verlieren. Das unangenehme Gefühl lenken einige Männer unmittelbar in Aggression um“, weiß Rettenberger aus seiner Tätigkeit als Gutachter.

René Cuadra ist Gefängnis-Psychologe in der Justizvollzugsanstalt Offenburg und blickt auf fast drei Jahrzehnte Erfahrung mit Sexualstraftätern zurück. „Ich verstehe Gisèle Pelicot so, dass natürlich die Täter sich schämen sollten und nicht die von ihnen vergewaltigten Frauen“, sagt Cuadra. Die Äußerung könne aber auch so verstanden werden, dass die Scham von der einen Person zur anderen übergehen, dass man die Scham übertragen könne. „Das, so denke ich, funktioniert nicht. Hat ein Opfer eine Scham nicht mehr, hat sie nicht automatisch der Täter. Wenn die Täter von Avignon Scham erleben können, ist es eine eigene.“ So wie es der Psychologe im Gefängnisalltag erlebt, ist kein Affekt bei Inhaftierten so wenig zugänglich wie die Scham. „Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele gar keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“ Dabei spiele Scham in den Lebenswegen vieler inhaftierter Menschen eine große Rolle, sie hänge häufig eng mit Gewalt zusammen.

Im Pelicot-Prozess übernehmen die Männer kaum Verantwortung für ihre Taten. Die Psychologin Annabelle Montagne, die sechs der Täter begutachtet hat, sagt vor Gericht, dass keiner von ihnen sich der Vergewaltigung schuldig bekennen wolle. Haben diese Männer eine Trennung zwischen ihrem öffentlichen und sexuellen Leben gezogen? Haben sie eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können? Die Psychologin bejaht dies.

Haben die Täter eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können?

In der Kriminalpsychologie wird dieser Mechanismus mithilfe „kognitiver Verzerrungen“ erklärt. Das sind „Gedankenkonstrukte, mithilfe derer die Straftat relativiert und entschuldigt wird“, erklärt Psychologin Lydia Benecke, die mit verurteilen Sexualstraftätern arbeitet. „Auch Menschen, die schwere Straftaten begehen, neigen dazu, automatisch ein insgesamt positives Bild von sich selbst aufrechtzuerhalten und auch entsprechend von anderen wahrgenommen werden zu wollen.“

Einige Vergewaltiger Pelicots verzerren vor Gericht die Wirklichkeit, indem sie behaupten, davon ausgegangen zu sein, es handele sich um ein Spiel des Paares. 35 der 51 Angeklagten beharren bis zum Schluss darauf, Gisèle Pelicot nicht vergewaltigt zu haben, weil ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass das Opfer dem Sexualakt nicht zugestimmt hatte.

„Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“

René Cuadra

Als „Prozess der Feigheit“ bezeichnet Gisèle Pelicot die Erklärungsversuche der Angeklagten. Immer wieder verzieht sie spöttisch das Gesicht oder rollt mit den Augen. Die Männer sollen zugeben, was sie getan haben, fordert sie. Als ihr der Vorsitzende zum zweiten Mal das Wort erteilt, konfrontiert sie die Männer direkt: „Wann genau hat Madame Pelicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?“ Die Antwort: Schweigen und gesenkte Blicke.

Benecke arbeitet mit ihren männlichen Klienten daran, solche kognitiven Verzerrungen abzubauen, damit sie Verantwortung übernehmen können. Wenn sie ihre Taten ungeschönt wahrnehmen, empfinden viele von ihnen Scham. Diese „ist eine unglaublich starke negative Emotion, die Menschen manchmal regelrecht überwältigt und im besten Fall dazu beitragen kann, dass sie bestimmte Dinge nicht oder nicht mehr tun“. Kann aus öffentlicher Beschämung Scham entstehen? „Möglich ist das schon“, sagt Benecke. „Scham kann soziales Verhalten fördern, aber auch kognitive Verzerrungen auslösen, um dadurch die Scham zu reduzieren oder sogar aggressive Empfindungen auslösen.“ Im Pelicot-Prozess gab es ihrer Meinung nach einen Moment, in dem beginnende Zweifel der Täter sichtbar geworden seien: Als die Videos der Taten gezeigt werden, schauen sie weg. Nicht ein Einziger möchte sich ansehen, was er getan hat.

Kapitel IV
Das letzte Wort

Zumindest während ihres Prozesses hat Gisèle Pelicot das Ziel ihrer Mission erreicht. Der Großteil der Gesellschaft blickt mit Bewunderung auf sie und mit Unverständnis auf die Täter. Verteidigerinnen wie Nadia El Bouroumi, die auf ihrem TikTok-Kanal Gisèle Pelicot verhöhnt, indem sie zu „Wake me up, before you go go“ tanzt, erntet einen Shitstorm. Gegen Verteidiger Christophe Bruschi, der nach der Urteilsverkündung die wütenden Zuschauerinnen als „hysterisch“ und „zickig“ bezeichnet, startet Change.org eine Petition mit dem Ziel, ihn von der Anwaltsliste zu streichen. Eine weitere Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben. In der Zeit von Gisèle Pelicot lassen viele Frauen und Männer Täter-Opfer-Umkehr und Macho-Gehabe nicht mehr durchgehen. Die Scham wechselt die Seiten.

9,5%

Anzeigequote bei sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung

2,2 %

Anzeigequote bei körperlicher
sexueller Belästigung

Was muss geschehen, damit das dauerhaft so bleibt? Für Pelicot ist die Sache klar. Als der Vorsitzende Richter ihr zum letzten Mal das Wort erteilt, fordert sie gewohnt ruhig und würdevoll: „Es ist an der Zeit, dass sich die machistische und patriarchalische Gesellschaft endlich ändert und aufhört, Vergewaltigung zu verharmlosen. Wir müssen dringend unsere Sichtweise auf Vergewaltigung ändern.“ Ihre Tochter Caroline Darian geht weiter. Sie nutzt das große Interesse, um sich mit ihrer neu gegründeten Stiftung M’endors pas (Betäub mich nicht) dafür einzusetzen, dass die sogenannte chemische Unterwerfung als Straftat verfolgt wird.

Und in Deutschland? „Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft bewusst auf unseren Umgang mit Opfern achten“, sagt Sozialpsychologin Friederike Funk. „Vor allem in Zeiten von Social Media, in denen wir alles in Echtzeit kommentieren können, wäre es doch schön, einfach mal keine voreilige Meinung zu posten, wenn man die Fakten schlichtweg nicht kennt.“ Kriminologe Martin Rettenberger meint: „Damit die Scham die Seite wechseln kann, braucht es langfristige Veränderungen statt Schnellschüsse. Und das fängt schon bei einer frühen Sensibilisierung von Jungs für die Gleichberechtigung an.“

Eine Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben.

Claudia Igney sagt: „Sexualisierte oder andere Formen von Gewalt erlebt zu haben, gehört zur Biografie vieler Frauen. Das macht sie aber nicht für immer zum Opfer. Da sind auch viel Stärke, Mut und Kraft und Wege der Bewältigung. Darüber sollte mehr berichtet werden. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem Frauen offen über all das sprechen können, ohne Stigmatisierung befürchten zu müssen.“

Mit einem Lächeln im Gesicht und sichtlich erleichtert verlässt Gisèle Pelicot am 19. Dezember 2024 nach Prozessende den Gerichtssaal, in dem kurz zuvor die Urteile verkündet worden waren. Sie hat es gerade noch durch den Metalldetektor geschafft, mehr Platz am Ausgang war wegen des Presseandrangs nicht. Aufrecht, selbstbewusst und ruhig, im Kreise ihrer Familie, sagt sie: „Ich wollte, dass die Gesellschaft an den Debatten teilhat, die am 2. September stattfanden, als ich die Türen zu diesem Prozess öffnete. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Ich habe jetzt Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der jede Frau und jeder Mann in Harmonie, Respekt und gegenseitigem Verständnis leben kann.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
Zum Fall Pelicot hat sich auch der WEISSE RING öffentlich positioniert. Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer sagte zum Prozessende: „Gisèle Pelicot ist nicht nur eine bewundernswert tapfere Frau – ihr ist ohne jede Einschränkung zuzustimmen, wenn sie fordert: ,Die Scham muss die Seite wechseln.‘ Niemand muss sich schämen, Opfer einer Straftat geworden zu sein. Für Taten sind Täter verantwortlich, niemals die Opfer. Ich wünsche mir sehr, dass diese Erkenntnis endlich auch in Deutschland die letzten Zweifler erreicht, die immer noch meinen, die Kleidung eines Vergewaltigungsopfers oder der Trennungswunsch eines Femizidopfers hätten etwas mit dem Verbrechen zu tun. Vielleicht tragen das Beispiel von Gisèle Pelicot und ihr furchtloses Auftreten in der Öffentlichkeit dazu bei. Unabhängig davon sollte man jedem Opfer eines Verbrechens, das seine Privatsphäre schützen möchte und auf Anonymität besteht, dies auch zugestehen.“

Warum Femizide in Italien ein eigener Straftatbestand werden

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Sabine

Rote Schuhe stehen als Protestaktion gegen Femizide auf einem Platz. Foto: Marius Burgelman/Belga/dpa

Datum: 13.03.2025

Warum Femizide in Italien ein eigener Straftatbestand werden

In Italien sollen Femizide zukünftig als eigener Straftatbestand im Gesetzbuch verankert werden. Zudem soll als Standardstrafmaß "lebenslänglich" gelten. Ein Vorbild für Deutschland?

Mailand/Mainz – Ein Vorbild für Deutschland? In Italien sollen Femizide – also Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts – zukünftig als eigener Straftatbestand im Gesetzbuch verankert werden. Zudem soll als Standardstrafmaß „lebenslänglich“ gelten. Einen entsprechenden Gesetzesentwurf hat die italienische Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zum internationalen Weltfrauentag am 8. März vorgelegt.

Der Entwurf erkenne „die Asymmetrie der Macht zwischen Männern und Frauen“ an, sagte die italienische Familienministerin Eugenia Roccella nach einer Kabinettssitzung. Aktuell werden Femizide in Italien als eine Form von Mord geahndet. Erschwerende Umstände bei der Bemessung der Strafe werden bei einem Mord an einer Frau nur dann anerkannt, wenn der Mörder mit dem Opfer verheiratet oder verwandt war. Das italienische Innenministerium zählte 113 Femzide im Jahr 2024, 61 davon wurden durch aktuelle oder frühere Partner begangen.

Opferorganisationen fordern mehr Prävention

Die Verabschiedung im Parlament gilt als sicher, denn nicht nur die Regierungs-, sondern auch die Oppositionsparteien unterstützen das Vorhaben. In dem Entwurf heißt es weiter: „Wer den Tod einer Frau verursacht, wenn die Tat als Akt der Diskriminierung oder des Hasses gegen die geschädigte Person als Frau oder um ihr die Ausübung ihrer Rechte oder ihrer Freiheit zu verwehren, verübt wird, wird mit lebenslanger Haft bestraft.“

Opferorganisationen beklagen allerdings, dass die Rechtsaußen-Regierung von Meloni lediglich auf Abschreckung durch Strafe setze und keine präventiven Maßnahmen ergreife. Sie fordern zum Beispiel mehr Aufklärung in Schulen.

Neben der Strafverschärfung bei Femiziden sollen zukünftig auch Fälle von Misshandlung, Stalking, sexueller Gewalt und „Rachepornografie“ zukünftig härter bestraft werden. Als Racheporno bezeichnet man intime Videos oder Bilder einer anderen Person, die im Rahmen eines Racheaktes, beispielsweise nach einer Trennung, im Netz veröffentlicht werden.

Laute Proteste nach Femiziden

Im November 2023 erschütterte der Fall der Studentin Giulia Cecchettin (Bericht auf tagesschau.de) Italien. Die 22-Jährige wurde von ihrem Ex-Freund und Kommilitonen Filippo T. ermordet, weil sie ihn verlassen hatte. T. hatte das Delikt akribisch geplant – ganz so wie sechs Monate zuvor Alessandro I. Der 31-jährige Barkeeper tötete seine schwangere Freundin mit zahlreichen Messerstichen, nachdem er sich in den Monaten zuvor im Internet ausführlich über Giftmorde informiert hatte. Beide Täter erhielten auf Grundlage der schon geltenden Normen eine lebenslange Freiheitsstrafe.

In Deutschland sind Femizide bisher kein eigener Straftatbestand, sie werden als Mord oder Totschlag angeklagt. Im Jahr 2023 wurden hierzulande 155 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt mit tödlichem Ausgang – demgegenüber stehen 24 männliche Opfer.

Seit Jahren stagnieren die Zahlen auf hohem Niveau. Der WEISSE RING setzt sich deshalb für die Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nach dem spanischen Modell ein.

Der wesentliche Unterschied zum bisherigen Einsatz der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung besteht darin, dass keine vordefinierten, festen Verbotszonen überwacht werden, sondern sich das zu schützende Opfer in Bewegung befindet. Damit werden Frauen auch außerhalb ihrer Wohnung vor Zufallsbegegnungen mit dem Täter im Alltag gewarnt.

Das spanische Erfolgsmodell rettete Hunderte Leben

In Spanien ist die Zahl getöteter Frauen seit der Fußfessel-Einführung um 25 Prozent zurückgegangen, statistisch könnten in Deutschland demnach jedes Jahr etwa 40 Frauen durch die Fußfessel gerettet werden. Die Technologie ist auch in der Bundesrepublik vorhanden, ausgereift und einsatzbereit.

Zu Jahresbeginn stimmte der Bundesrat einer hessischen Initiative zum besseren Schutz vor häuslicher Gewalt zu. Dazu soll unter anderem das spanische Modell der elektronischen Fußfessel bundesweit im Gewaltschutzgesetz verankert werden. Einen Zeitrahmen gibt es dafür bisher jedoch nicht. Auf Länderebene setzen bereits Sachsen und Hessen das spanische Modell ein, Abgeordnete im Saarland haben einen entsprechenden Antrag gestellt.

In einem exklusiven Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS erklärte die Staatsanwältin Teresa Peramato den Erfolg des spanischen Modells für den Opferschutz, die abschreckende Wirkung und das Sicherheitsgefühl der teilnehmenden Frauen.

Istanbul-Konvention: „Gravierende Lücken“

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Juliane

Istanbul-Konvention: „Gravierende Lücken“

Die Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Doch ein Bericht offenbart alarmierende Defizite.

Eine Frau demonstriert im Jahr 2021 in Hannover für Frauenhäuser. Foto: Moritz Frankenberg / dpa

Die Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Doch der erste Monitoring-Bericht der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte offenbart alarmierende Defizite: Deutschland bleibt weit hinter den menschenrechtlichen Vorgaben zurück. Viele Frauen finden in akuter Not keinen Platz in Schutzeinrichtungen, und die Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt sind oft unzureichend.

Der Bericht zeigt, wie weit Deutschland von einer flächendeckenden Umsetzung entfernt ist. Trotz punktueller Fortschritte bestehen gravierende Defizite bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. „Seit 2018 ist Deutschland durch die Istanbul-Konvention zum Handeln verpflichtet“, sagt Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle. „Doch auch sechs Jahre später fehlt immer noch eine nationale Gewaltschutzstrategie. Staatliches Handeln ist dringend geboten, denn von physischer oder sexualisierter Gewalt ist in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal im Leben betroffen.“

Täglich werden hierzulande 728 Frauen und Mädchen Opfer körperlicher Gewalt. Auch das Beratungsaufkommen ist hoch. „Hilfseinrichtungen, die sich auf Gewalt gegen Frauen und sexuellen Missbrauch spezialisiert haben, verzeichnen seit Jahren eine hohe und in der Tendenz zunehmende Frequentierung“, heißt es im Bericht. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ dokumentierte für 2020 bis 2023 jährlich zwischen 51.400 (2020) und 59.050 (2023) Beratungskontakte mit direktem Bezug zum Thema Gewalt gegen Frauen. Dennoch fehlt es vielerorts an ausreichendem Schutz und nationaler Koordination.

 

Die fünf größten Schutzlücken im Überblick:

I. Fehlende nationale Gewaltschutzstrategie

Deutschland hat keine umfassende Strategie zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Stattdessen existiert ein Flickenteppich aus regional unterschiedlichen Regelungen. Eine nationale Koordinierungsstelle fehlt ebenso wie eine einheitliche Strategie, um das Zusammenspiel von Strafverfolgungsbehörden, Justiz, Zivilgesellschaft und Kinderschutz- Behörden zu gewährleisten. Die Folgen sind gravierend: Informationslücken gefährden den Schutz der Betroffenen. Die Istanbul-Konvention fordert eine gesamtgesellschaftliche Lösung für geschlechtsspezifische Gewalt – ein Problem, das nicht an Landesgrenzen haltmacht. Schon 2022 kritisierte GREVIO, das internationale Kontrollgremium der Istanbul-Konvention, das Fehlen einer nationalen Strategie und Koordinierungsstelle in Deutschland.

II. Mangelnde Finanzierung von Opferschutz und Beratung

Viele Frauenhäuser und Beratungsstellen sind chronisch unterfinanziert und müssen sich oft mit kurzfristigen, projektgebundenen Mitteln behelfen. Das führt zu Unsicherheit und erschwert langfristige Planung. Im Jahr 2022 konnten 15.018 Frauen nicht in Schutzeinrichtungen aufgenommen werden – durchschnittlich 104 Frauen pro Einrichtung. Besonders in ländlichen Regionen gibt es nicht genügend Schutzeinrichtungen, die für viele Frauen die einzige Möglichkeit sein könnten, Gewalt zu entkommen. Auch das GREVIO-Komitee forderte eine gleichmäßigere Verteilung von Schutzräumen, um Frauen in Not eine sichere Zuflucht zu bieten.

Die Istanbul-Konvention:
Bund, Länder und Kommunen sind verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen und zu verhindern sowie Frauen und Mädchen zu schützen. Das ergibt sich aus den 81 Artikeln des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention. Diese ist seit dem 1. Februar 2018 geltendes Recht in Deutschland. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat das Deutsche Institut für Menschenrechte damit betraut, die Umsetzung unabhängig zu beobachten und zu begleiten. Hierfür hat es die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt eingerichtet, die im November 2022 an den Start gegangen ist.

„Die großen Lücken bei der Unterstützung für Betroffene müssen dringend geschlossen werden“, fordert Tanrıverdi. „Betroffene brauchen ein Recht auf Zugang zu Schutz und Beratung. Bund, Länder und Kommunen sind gemeinsam in der Pflicht, Frauenhäuser und Fachberatungsstellen flächendeckend bereitzustellen und finanziell abzusichern. Deshalb braucht es jetzt ein gutes Gewalthilfegesetz.“

Die prekäre finanzielle Lage der Hilfseinrichtungen steht in starkem Kontrast zur gesellschaftlichen Bedeutung des Opferschutzes. Die fehlende langfristige Finanzierung zwinge die Dienstleistungsanbieter dazu, so bemängelte GREVIO bereits im Jahr 2022, einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit in die Beantragung und erneute Beantragung ihrer Finanzierung zu investieren, was ihnen wertvolle Zeit für ihre Kerntätigkeiten raubt.

III. Mangelnde Transparenz bei Schutzanordnungen

Eilschutzanordnungen sollen im Ernstfall eine sofortige räumliche Distanz zwischen Opfer und Täter schaffen. Dazu zählen Wohnungsverweisungen, Rückkehr- und Kontaktverbote. Diese Schutzmaßnahmen werden durch Polizeigesetze der Länder geregelt. Doch es mangelt oft an einer klaren Kommunikation zwischen Polizei und Gerichten, was Schutzlücken erzeugt. So ist zum Beispiel nicht immer eindeutig festgelegt, wann Wohnungsverweisungen verlängert werden müssen. „Ein effektiver Gewaltschutz ist somit nicht gewährleistet“, heißt es im Monitoring-Bericht.

Die Berichterstattungsstelle fordert daher eine verbesserte Datenerhebung und Auswertung der gerichtlich angeordneten Schutzmaßnahmen. Damit könnte nachvollzogen werden, ob die Anordnungen den Opferschutz tatsächlich gewährleisten und wie die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern verläuft.

IV. Fehlende Regelung zum Umgangs- und Sorgerecht

Ein großes Problem stellen Umgangsregelungen bei Trennungen dar, wenn häusliche Gewalt eine Rolle spielt. Der aktuelle rechtliche Rahmen ermöglicht zwar die Berücksichtigung von Gewalt bei Entscheidungen zum Umgangs- und Sorgerecht, doch dies geschieht in der Praxis oft nicht. In manchen Fällen kann es jedoch durch Umgangskontakte sogar zu schwerer Gewalt bis hin zu Tötungsdelikten kommen.

Hier besteht laut Berichterstattungsstelle „dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf“, um gewaltbetroffene Elternteile besser zu schützen. Ein bundeseinheitlicher Rechtsanspruch auf schnelle, unbürokratische Hilfe, etwa durch verpflichtende Fortbildungen für Richterinnen und Richter und eine Reform des Familienverfahrensrechts, wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Das Bundesministerium der Justiz hat im Januar 2024 zwar Eckpunkte für eine Reform des Kindschaftsrechts vorgelegt, die auch den Forderungen der Istanbul-Konvention gerecht werden sollten. Doch der Referentenentwurf des Gesetzes sorgte zuletzt für Zoff, nicht zuletzt wohl deshalb, weil der damalige Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann (FDP) den Entwurf laut Medienberichten an die Länder weitergeleitet hatte, ohne sich regierungsintern mit Familienministerin Lisa Paus (Grüne) abzustimmen. Ein eigener Gesetzentwurf der Bundesregierung schaffte es nach dem Aus der Ampelkoalition bis Redaktionsschluss nicht mehr ins parlamentarische Verfahren.

V. Defizitäre Datenbasis

Eine der größten Hürden für eine wirksame Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt bleibt die unzureichende Datenbasis. Denn für eine wirksame Politik und gesetzliche Regelungen benötigt man verlässliche Daten. Viele Informationen zum tatsächlichen Ausmaß von Gewalt gegen Frauen fehlen jedoch nach Beobachtung der Berichterstattungsstelle, beispielsweise zur Anzahl der Verurteilungen oder zur Häufigkeit von Schutzanordnungen. Es existiert in Deutschland keine einheitliche Statistik, die den Verlauf von der polizeilichen Anzeige bis zur gerichtlichen Entscheidung erfasst.

Eine solche systematische Datenerhebung wäre jedoch unerlässlich, um die Umsetzung der Istanbul-Konvention kontinuierlich zu überwachen und die Schutzmaßnahmen anzupassen. Besonders im Bereich der Justiz und Gesundheit besteht hier nach Ansicht der Berichterstattungsstelle Nachholbedarf, um präzise Einblicke in das Ausmaß und die Verbreitung geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland zu gewinnen.

Fazit

Die Bilanz des „Monitors Gewalt gegen Frauen“ ist ernüchternd und alarmierend zugleich. Die Istanbul-Konvention soll Frauen und Mädchen effektiv vor Gewalt schützen – in Deutschland ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Der Bericht zeigt, dass die bestehenden Defizite in vielen Bereichen das Leben der Betroffenen gefährden. „Bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt geht es um eine zentrale Voraussetzung für eine freie Gesellschaft: dass Frauen frei von Gewalt und Bedrohung leben können“, betont Müserref Tanrıverdi. Der Bericht zeigt: Eine umfassende und langfristig angelegte Strategie ist dringend erforderlich, um die Istanbul-Konvention endlich mit Leben zu füllen, damit Frauen und Mädchen den Schutz finden, der ihnen zusteht.

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Sabine

Der Bundestag beschloss, dass die Pille danach für Vergewaltigungsopfer kostenfrei wird. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 31.01.2025

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt, beschloss der Bundestag. Das ist vor allem einer Betroffenen zu verdanken.

Mainz – In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt. Das beschloss der Bundestag in der Nacht zu Freitag. Die bisherige Regelung sah eine regelhafte Kostenübernahme nur dann vor, wenn die Betroffene 22 Jahre oder jünger ist.

Der Beschluss ist nicht nur eine gute Nachricht für alle Opfer sexualisierter Gewalt, sondern auch ein Erfolg für Gudrun Stifter. Sie hatte die Debatte angestoßen, nachdem sie selbst vergewaltigt wurde. Stifter erhielt damals eine Rechnung von ihrer Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen, wurde ihr damals mitgeteilt. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern. Das wollte sie nicht akzeptieren.

 

Gudrun Stifter (Foto: Christian J. Ahlers)

2021 hatte Stifter eine Petition vor den Bayerischen Landtag gebracht, in der sie die Übernahme der Kosten forderte. In einer Beschlussempfehlung hatte sich der Landtag dafür ausgesprochen, dass sich die bayerische Staatsregierung für eine Änderung auf Bundesebene einsetzen soll. Jetzt, fast vier Jahre später, wurde ihre Hartnäckigkeit und Engagement von Erfolg gekrönt.

Es war nicht die erste Petition von Gudrun Stifter: Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die Münchenerin im Jahr 2023 begleitet, als sie in bundesweiten Petitionen Verbesserungen bei der Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG, seit 2024: Sozialgesetzbuch XIV) forderte. Damals sagte sie: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht.“

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern.

Spanisches Fußfessel-Modell wird erstmals in Sachsen eingesetzt

Erstellt am: Mittwoch, 8. Januar 2025 von Sabine
Die elektronische Fußfessel des Täters kommuniziert mit einer GPS-Einheit, die die Betroffene bei sich trägt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Die elektronische Fußfessel des Täters kommuniziert mit einer GPS-Einheit, die die Betroffene bei sich trägt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Datum: 08.01.2025

Spanisches Fußfessel-Modell wird erstmals in Sachsen eingesetzt

Um Frauen besser vor Gewalt zu schützen, machen sich Hessen und der WEISSE RING für einen erweiterten Einsatz elektronischer Fußfesseln stark. In Sachsen wird die Technik jetzt erstmalig eingesetzt.

Dresden/Wiesbaden – In Sachsen wird erstmals eine Fußfessel nach spanischem Modell angewandt, um eine Frau vor häuslicher Gewalt zu schützen. Gegen ihren vorbestraften Ex-Mann sei ein Kontakt- und Annäherungsverbot verhängt worden, das mit Hilfe der Fußfessel kontrolliert werde, teilten die sächsische Justizministerin Constanze Geiert und ihr hessischer Amtskollege Christian Heinz (beide CDU) mit. Es sei deutschlandweit das erste Mal, dass diese Technik zum Einsatz kommt.

Hessen habe die Fußfessel der neuen Generation voriges Jahr eingeführt. In dem Bundesland ist auch die Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle der Länder (GÜL) angesiedelt. Deren Aufgabe ist die Überwachung der Fußfesselträger.

Im spanischen Modell werden nach Angaben der Ministerien keine festen Verbotszonen überwacht, sondern das Opfer befinde sich in Bewegung. Es trage eine GPS-Einheit mit sich, die mit der elektronischen Fußfessel des Täters kommuniziere. Das System überwache die Standorte. Begegnen sich Opfer und Täter, werde ein Alarm ausgelöst.

Hessen hat die Fußfessel der neuen Generation, mit der das spanische Modell umsetzbar ist, im vergangenen Jahr eingeführt. Die Länder können sie in den Fällen der so genannten Führungsaufsicht schon jetzt anwenden. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme, die nach einer Haftstrafe angewendet werden kann. „So können wir das Schutzniveau der Opfer bereits jetzt bei der strafrechtlichen Führungsaufsicht signifikant erhöhen. Damit solche Fälle von häuslicher Gewalt gar nicht erst entstehen können, brauchen wir eine Änderung im Gewaltschutzgesetz, um mögliche Opfer präventiv zu schützen. Der Bundesrat hat sich mit Hessens Initiative eindeutig hierzu positioniert, jetzt muss die Bundesregierung handeln“, sagte Hessens Justizminister Christian Heinz.

WEISSER RING fordert spanisches Modell

Auch der WEISSE RING hatte die Bundesregierung mehrfach in Brandbriefen aufgefordert, die Fußfessel nach dem spanischen Modell in Deutschland einzuführen, um Frauen besser vor häuslicher Gewalt schützen zu können. In dem iberischen Land hat sich die Zahl getöteter Frauen seit der Fußfessel-Einführung um 25 Prozent reduziert, statistisch könnten in Deutschland demnach jedes Jahr gut 40 Frauen durch die Fußfessel gerettet werden.

Anne und ihr kleiner Sohn Noah sind auf einem schwarz-weiß Foto. Der Ex-Mann tötete beide in ihrem Auto, mit einem Messer. In Deutschland kommt es alle drei Tage zu einem Femizid.

Chronik eines angekündigten Todes

Alle drei Tage tötet in Deutschland ein Mann seine (Ex-)Frau. Tut der Staat genug, um diese Frauen zu schützen? Der Fall von Anne, die 2017 gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Noah getötet wurde, zeigt: Nein, tut er nicht.

Bundesrat stimmt für spanisches Fußfessel-Modell

Erstellt am: Montag, 6. Januar 2025 von Sabine

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 06.01.2025

Bundesrat stimmt für spanisches Fußfessel-Modell

Um Frauen besser vor Gewalt zu schützen, machen sich Hessen und der WEISSE RING für einen erweiterten Einsatz elektronischer Fußfesseln stark. Nun kommt Rückendeckung von den übrigen Bundesländern.

Wiesbaden/Mainz – Der Bundesrat hat einer hessischen Initiative zum besseren Schutz vor häuslicher Gewalt zugestimmt. Dazu soll unter anderem das spanische Modell der elektronischen Fußfessel bundesweit im Gewaltschutzgesetz verankert werden.

Der wesentliche Unterschied zum bisherigen Einsatz der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung besteht darin, dass keine vordefinierten, festen Verbotszonen überwacht werden, sondern sich das zu schützende Opfer in Bewegung befindet. Damit werden Frauen auch außerhalb ihrer Wohnung vor Zufallsbegegnungen mit dem Täter im Alltag gewarnt.

„Jeden Tag müssen mehr als 700 Menschen in Deutschland häusliche Gewalt über sich ergehen lassen“, erklärte Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU). Die Fußfessel nach dem spanischen Modell könne Leben retten. Einen Referenten-Entwurf der Bundesregierung zu diesem Modell im Gewaltschutzgesetz nannte der Minister „einen ersten Schritt“.

Spanische Frauen demonstrieren gegen Machismo. Nun soll eine elektronische Fußfessel vor Gewalt schützen.

So funktioniert die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Spanien

Spanien gilt als Vorreiter bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Mit GPS-gestützten Armbändern schützt das Land Opfer vor Gewalttätern. Ist das spanische Modell ein Vorbild für Deutschland?

WEISSER RING fordert spanisches Modell

Er begrenze bislang das Tragen der Fußfessel jedoch auf drei Monate. „Das ist aus unserer Sicht sehr kurz“, erklärte Heinz. „Außerdem sieht er bei Verstößen gegen das Tragen lediglich Ordnungsgelder vor, auch das ist nur ein stumpfes Schwert.“

Hessen führt derzeit eine neue Überwachungstechnik ein. „Das spanische Modell können wir bereits bei der Führungsaufsicht und bei allen bisherigen Fällen anwenden“, erläuterte der Justizminister. „Jedoch bleibt es uns momentan verwehrt, die Opfer von häuslicher Gewalt über einen längeren Zeitraum zu schützen.“

Auch der WEISSE RING hatte die Bundesregierung mehrfach in Brandbriefen aufgefordert, die Fußfessel nach dem spanischen Modell in Deutschland einzuführen, um Frauen besser vor häuslicher Gewalt schützen zu können. In dem iberischen Land hat sich die Zahl getöteter Frauen seit der Fußfessel-Einführung um 25 Prozent reduziert, statistisch könnten in Deutschland demnach jedes Jahr gut 40 Frauen durch die Fußfessel gerettet werden.

Nach Angaben des Bundesrates wird die Entschließung der Bundesregierung zugeleitet. Gesetzliche Vorgaben, wie und wann sich diese damit auseinandersetzen muss, gibt es nicht.