Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

 

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Erstellt am: Montag, 31. März 2025 von Gregor

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 31.03.2025

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Nachdem der Landtag eine Gesetzesreform beschlossen hat, kann die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt werden. Die Landesregierung verspricht sich davon einen besseren Schutz. Die Zahl der Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist auch im Norden gestiegen.

Kiel/Mainz. Im Kampf gegen häusliche Gewalt setzen die Bundesländer zunehmend auf die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild. Kürzlich hat der schleswig-holsteinische Landtag mit breiter Mehrheit – nur die FDP stimmte nicht zu – eine entsprechende Gesetzesreform verabschiedet. Bislang konnte die sogenannte Aufenthaltsüberwachung in dem Bundesland nur bei terroristischen Gefährdern genutzt werden, künftig ist das auch bei Partnerschaftsgewalt und Stalking möglich. Voraussetzung ist ein richterlicher Beschluss. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sagte in Kiel, die Fußfessel werde Lücken beim Schutz schließen und diesen verbessern.

Wie bundesweit ist in Schleswig-Holstein die Zahl der von häuslicher Gewalt Betroffenen gestiegen, im vergangenen Jahr um 8,8 Prozent auf 9.360. Gut 71 Prozent der Opfer waren Frauen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Beim spanischen Modell kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Dadurch wird sowohl der Standort des Täters als auch der Betroffenen überwacht, und die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch. Der Alarm wird ausgelöst, falls sich der Überwachte und das Opfer einander nähern.

In Spanien wurde keine der geschützten Frauen getötet

Sachsen und Hessen setzen die neue Technik schon ein. Das Saarland hat ein Gesetz dafür verabschiedet, und in weiteren Bundesländern wird derzeit darüber diskutiert, etwa in Niedersachsen, wo ein Gesetzentwurf in Arbeit ist.

Die noch amtierende Bundesregierung hatte zu Jahresbeginn ein neues Gewaltschutzgesetz auf den Weg gebracht, das die elektronische Aufenthaltsüberwachung vorsieht. Der alte Bundestag hat den Entwurf jedoch nicht mehr beschlossen. Laut dem Papier könnten Familiengerichte in Risikofällen für drei Monate eine Fußfessel anordnen und die Maßnahme um drei Monate verlängern.

Der WEISSE RING hatte sich auf Bundes- und Länderebene intensiv für die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell eingesetzt, unter anderem mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition.

Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hatte in einer umfassenden Recherche aufgezeigt, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die Aufenthaltsüberwachung in Spanien eingesetzt wird: Dort wurde seitdem keine Frau, die mit Hilfe der Fußfessel geschützt wurde, getötet. Insgesamt ging die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent zurück.

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Gregor

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS spricht Professor Tillmann Bartsch, der mit seinem Team mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet wurde, über die schwierige Situation von Opfern von Menschenhandel, durch sie begangene Taten – und den Sinn einer Straffreiheit dafür.

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Professor Tillmann Bartsch ist mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden. Im Interview spricht er über die wichtigsten Erkenntnisse aus seiner Forschung.

Professor Bartsch, Sie und Ihr Forscherteam haben sich mit der möglichen Straffreiheit für Taten auseinandergesetzt, die von Opfern des Menschenhandels begangen werden. Weshalb halten Sie das Thema für wichtig, und wie ist Ihre Studie entstanden?

Nachdem wir für das Bundesjustizministerium bereits untersucht hatten, inwiefern die Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels wirken, wurden wir gefragt, ob wir ein Gutachten zum Non-Punishment-Prinzip erstellen könnten. Dieses Forschungsprojekt hat die Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel bei Arbeit und Leben DGB/VHS Berlin-Brandenburg e.V. in Auftrag gegeben, finanziert wurde es mit Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Aus wissenschaftlicher Sicht war das Thema vor allem aus zwei Gründen interessant. Zum einen gibt es noch nicht viele Arbeiten dazu, zum anderen ist dieses Prinzip in der Praxis von Bedeutung, für den Kampf gegen Menschenhandel: Die Betroffenen machen sich häufig selbst strafbar, etwa indem sie ohne Aufenthaltstitel einreisen, an „Schwarzarbeit“ beteiligt sind oder stehlen, weil sie dazu gezwungen werden. Sie gehen auch deshalb nicht auf die Strafverfolgungsbehörden zu und machen eine Aussage – obwohl sie selbst Opfer sind, zum Beispiel sexuell ausgebeutet werden. Den ermittelnden Behörden fehlen deswegen wichtige Informationen. Ein wirksam im Recht umgesetztes Non-Punishment könnte das ändern.

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?

Es gibt im deutschen Recht die Möglichkeit der Straffreiheit für von Menschenhandel Betroffene, sie ist in Paragraf 154c der Strafprozessordnung festgeschrieben. Dort heißt es: „Ist eine Nötigung oder Erpressung durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist. Zeigt das Opfer einer Nötigung oder Erpressung oder eines Menschenhandels diese Straftat an und wird hierdurch bedingt ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung des Vergehens absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.“ Wir haben analysiert, ob das Gesetz den internationalen Vorgaben genügt und inwiefern es in der Strafverfolgung zum Tragen kommt. Dazu haben wir unter anderem geschaut, wie oft der Paragraf in Fällen, die sich dafür hätten eignen können, angewendet wurde. Außerdem haben wir Interviews mit Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Richtern geführt.

Professor Tillmann Bartsch wurde mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet.

Welche wesentliche Erkenntnis haben Sie gewonnen?

Der Paragraf spielt kaum eine Rolle; das Non-Punishment-Prinzip wird in Deutschland weder in der Praxis noch unter rechtlichen Gesichtspunkten ausreichend umgesetzt. Es gibt zu viele Einschränkungen und Hürden. Eine davon ist der sogenannte Behördenleitervorbehalt. Wenn ein Staatsanwalt das Gesetz anwenden will, muss er sich dies von seiner Behördenleitung abzeichnen lassen. Ein Befragter sagte dazu im Interview: „Gehe nur zu deinem Behördenleiter, wenn du gerufen wirst.“ Manchmal kann das Problem anders gelöst werden, etwa durch eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld. Doch dies ist nur unter strikten Bedingungen möglich. Außerdem ist der Anwendungsbereich der Norm zu eng gefasst, er bezieht sich bislang bisher beispielsweise nicht auf Opfer von Zwangsprostitution. Schließlich handelt es sich nur um eine „Kann-Regelung“. Paragraf 154c Abs. 2 StPO räumt der Staatsanwaltschaft also ein weites Ermessen ein. Betroffene können sich daher nicht sicher sein, dass von der Einstellungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird.

Was schlagen Sie konkret vor?

Die Vorschrift zur Straffreiheit müsste deutlich geändert und klarer gestaltet werden. Wir haben einen konkreten Vorschlag zur Diskussion gestellt: „Bei Straftaten von Opfern von Menschenhandel oder Ausbeutung soll die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die Tat im Zusammenhang mit dem Menschenhandel oder der Ausbeutung steht und nicht wegen der Schwere der Schuld eine Strafe geboten ist. Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, soll das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren unter den Voraussetzungen des Abs. 1 einstellen.“ So muss die Staatsanwaltschaft in der Regel die Vorschrift anwenden. Erfasst würden künftig auch Opfer von Zwangsprostitution und anderen Formen der Ausbeutung im Rahmen des Menschenhandels. Und der Behördenleitervorbehalt würde auch abgeschafft. Auch das ist Gegenstand unseres Vorschlags.

Inwiefern könnte Non-Punishment helfen?

Man sollte das Prinzip nicht überhöhen und glauben, dass damit alle Probleme im Bereich des Menschenhandels gelöst wären. Aber es kann ein wichtiger Baustein bei der Verfolgung von Menschenhandel sein, der die Bereitschaft von Betroffenen, auszusagen, erhöht.

Fachberatungsstellen und auch das Bundeskriminalamt weisen immer wieder darauf hin, dass das Dunkelfeld beim Menschenhandel groß sei.

Aus kriminologischer Sicht kann man diese These sicherlich aufstellen, aber es fehlen eindeutige Belege dafür. Begründen lässt sich die These eines großen Dunkelfelds mit der Komplexität des Deliktes und der Besonderheit der Betroffenen zusammen: Sie kommen oft aus dem Ausland, haben Angst vor den Tätern und wenig Vertrauen in Behörden, wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Bei Arbeitsausbeutung sehen sie sich teilweise nicht als Opfer. Wenn sie nach ihren Maßstäben ordentlich bezahlt werden und die Familie in der Heimat versorgen können, besteht kaum Interesse, Menschenhandel anzuzeigen, auch wenn die Arbeits- und Unterkunftsbedingungen noch so gruselig sind. Hinzu kommt eine enge Bindung an Täter, eine Abhängigkeit, beispielsweise bei sexueller Ausbeutung durch die Loverboy-Masche. All das erschwert die Strafverfolgung. Deswegen ist es wichtig, Brücken für Betroffene zu bauen.

Was wäre aus Ihrer Sicht noch wichtig, um Menschenhandel besser entgegenwirken zu können? Was muss sich in den zuständigen Behörden ändern?

Weil die Fälle selten zur Anzeige gebracht werden, ist viel proaktiv zu ermitteln. Man muss hinterfragen, ob die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen reichen. Viele Opfer leiden massiv unter den Folgen von Menschenhandel, sind gerade bei sexueller Ausbeutung schwer geschädigt. Das Thema braucht deutlich mehr Aufmerksamkeit – in der Strafverfolgung und in der Wissenschaft. Es ist insgesamt noch viel zu tun, auch in der Gesetzgebung sowie in der juristischen Ausbildung. Im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Studiums findet Menschenhandel bislang kaum Beachtung, weil es in vielen Bundesländern nicht zum Pflichtfachstoff gehört. Dafür beschäftigt man sich intensiv mit Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Das ist – wenn auch hier zugespitzt – hochproblematisch.

Transparenzhinweis:
Professor Tillmann Bartsch ist seit 2022 Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und seit 2020 stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN). Gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Nora Labarta Greven und Marco Kubicki ist Prof. Bartsch für die Arbeit „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“ mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden.

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Gregor

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden. Er hat erforscht, wie der Staat besser mit Betroffenen umgehen könnte. Riebel macht viele konkrete Vorschläge, etwa zur Gestaltung von Gerichtsprozessen.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Dr. Marius Riebel, der beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis geehrt worden ist (mehr zur Preisverleihung findet sich hier), spricht im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS darüber, welche Bedürfnisse Opfer im Strafverfahren haben, inwiefern diese berücksichtigt werden – und wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt.

Herr Dr. Riebel, Sie haben sich intensiv mit „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ befasst, einem Thema, dem sich die Rechtswissenschaft selten widmet. Wie sind Sie darauf gekommen?

Nach dem ersten Staatsexamen habe ich das Angebot angenommen, an der Universität Leipzig zu arbeiten, um mich tiefer mit rechtswissenschaftlichen Themen auseinandersetzen zu können. Daneben wollte ich etwas Praktisches machen, weshalb ich beim WEISSEN RING als ehrenamtlicher Berater angefangen habe. Oft wollten Betroffene über das anstehende beziehungsweise vergangene Strafverfahren sprechen. Ihr Blick darauf war regelmäßig negativ und mit Ängsten verbunden. Das gab mir den Impuls, dazu zu forschen, welche Erwartungen Betroffene an den Staat und staatliche Verfahren haben.

Was haben Sie mit welchen Methoden untersucht?

Ich habe untersucht, welche Interessen Verletzte haben und inwieweit diese im Strafverfahren, aber auch in anderen staatlichen Verfahren berücksichtigt werden. Dazu habe ich bereits vorliegende empirische Untersuchungen, die Verletzteninteressen herausgearbeitet haben, ausgewertet und die Erkenntnisse mit der derzeitigen Ausgestaltung des Rechts abgeglichen. Dabei habe ich mich zum einen abstrakt mit der Legitimität von Verletztenbelangen auseinandergesetzt. Zum anderen habe ich die bestehenden Rechtsinstitute auf ihr Befriedigungspotenzial hin untersucht und Verbesserungsmöglichkeiten entwickelt.

Was haben Sie im Wesentlichen herausgefunden?

Häufig wird davon ausgegangen, dass Verletzte eine möglichst harte Bestrafung wollen. Die Strafe ist für sie tatsächlich ein relevanter Aspekt. Hier geht es aber weniger um eine möglichst harte Sanktion, sondern mehr darum, dass überhaupt eine staatliche Reaktion erfolgt. Damit wird auch eine Form von Anerkennung verbunden. Daneben haben Betroffene materielle und immaterielle Bedürfnisse: Einerseits sollen Kosten – beispielsweise für die medizinische Versorgung oder den Rechtsbeistand – kompensiert werden. Andererseits wünschen Betroffene, dass während des Verfahrens auf sie eingegangen und Rücksicht auf ihre nicht selten bestehenden psychischen Belastungen genommen wird. Im Zuge dessen ist es relevant, dass sie informiert am Verfahren teilhaben und ihre Perspektive aktiv einbringen können.

Welchen Effekt hat das?

Ein solcher Umgang kann dazu beitragen, dass sie das erlittene Unrecht verarbeiten und damit langfristig leben können. Mit Blick auf den Strafprozess konnte ich feststellen, dass es schon eine ganze Reihe von Instrumenten gibt, die eine verletztengerechte Behandlung sicherstellen können. Gleichzeitig werden diese in bestimmten Bereichen aber nicht genug angewendet. Außerdem konnte ich weitere Gestaltungsspielräume herausarbeiten.

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

Welche Instrumente können helfen, die Interessen von Verletzten zu berücksichtigen?

In Untersuchungen wird von Verletzten beispielsweise die Aussage vor Gericht, aber auch die Konfrontation mit der Tatperson als besonders belastend beschrieben. Hier kann bereits heute Videotechnik eingesetzt werden, um derartige Situationen abzumildern und mehrfache Vernehmungen zu verhindern. Auch ein Ausschluss der Öffentlichkeit oder die Entfernung des Angeklagten kann helfen. Außerdem haben Verletzte Aktivrechte – wie beispielsweise die Möglichkeit, sich als Nebenkläger anzuschließen. Darüber hinaus existieren Informationsrechte, wobei das Gesetz das Idealbild eines über seine Rechte voll informierten Verletzten verfolgt. Die Interessen Betroffener haben aber auch Grenzen.

Welche Grenzen gibt es?

Etwa Rechte der Verteidigung oder rechtsstaatliche Prinzipien wie „in dubio pro reo“. All diese Maximen sind richtig und wichtig, können aber dazu führen, dass ein Urteil oder auch eine Einstellungsentscheidung dem Verletzten keine Anerkennung bringt. Umso wichtiger ist es, das Verfahren so opfersensibel wie möglich zu gestalten. Hier besteht aus meiner Sicht ein großes Potenzial in der Kommunikation mit Verletzten. Wenn ein Täter beispielsweise „in dubio pro reo“ freigesprochen wird, sollte dem Verletzten diese Entscheidung umfassend erklärt werden – auch gerichtsseitig. Dies kann die von Verletztenseite gewünschte Anerkennung bringen, Rechtsfrieden schaffen und zudem Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.

Mit welchen weiteren Mitteln könnte die Justiz den Bedürfnissen von Betroffenen besser Rechnung tragen?

Es gibt einige Stellschrauben. Um ein paar Details zu nennen: Im Bereich der Nebenklage könnten umfassendere Prozesskostenhilferegelungen geschaffen werden. Außerdem sollte der Kreis der Nebenklageberechtigten überarbeitet werden. Auch das Institut der psychosozialen Prozessbegleitung ist weiter optimierungsbedürftig. Ein großer Wurf könnte allerdings gelingen, indem die juristische Aus- und Fortbildung verbessert würde. Hier spielen Verletztenrechte und Disziplinen wie Viktimologie bisher kaum eine Rolle. Das muss sich ändern.

Inwiefern?

Juristinnen und Juristen sollten sich – zumindest, wenn sie später etwa mit häuslicher oder sexualisierter Gewalt zu tun haben – damit auseinandersetzen, was Straftaten und Verfahren mit Betroffenen machen. Ich plädiere dafür, Qualifikationsstandards zu normieren. Als Vorbild kann dabei das Jugendgerichtsgesetz (JGG) dienen, wo es unter anderem heißt, dass Jugendrichterinnen und Jugendrichter sowie Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein müssen. Paragraph 37 JGG fordert hier spezifische Kenntnisse in bestimmten Bereichen. Über eine vergleichbare Regelung für Beteiligte an für Verletzte besonders belastenden Strafverfahren sollte zumindest diskutiert werden. Abschließend ist es allerdings auch wichtig, den Blick auf andere Verfahren zu weiten. Hier birgt das soziale Entschädigungsrecht (SGB XIV) große Potenziale, die künftig noch weiter genutzt werden sollten.

Transparenzhinweis:
Dr. Marius Riebel befindet sich seit Mai 2024 im Rechtsreferendariat des Freistaates Sachsen im Landgerichtsbezirk Leipzig. Neben seinem beruflichen Engagement ist er seit 2019 aktives Mitglied beim WEISSEN RING. Vor seinem Referendariat war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, nach seinem mit Prädikat abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Kriminalwissenschaften. Für seine Arbeit zu „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ ist er beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und der WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

Gisèle Pelicot bei Social Media

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Selina

Gisèle Pelicot bei Social Media

Der Vergewaltigungsprozess im französischen Avignon hat die Menschen sehr bewegt. Auch in den Social-Media-Kanälen des WEISSEN RINGS fanden sich zahlreiche berührende Kommentare dazu. Wir veröffentlichen hier eine Auswahl.

Eine Skizze von einem Handy mit zwei Armen und Händen. Der eine Daumen zeigt nach unten und der andere Daumen zeigt nach oben.

Illustration: Studio Pong

Ein Instagram-Post von dem Instagram-Kanal des WEISSEN RINGS. Zu sehen ist Gisèle Pelicot und auf dem Post steht "Die Scham muss die Seite wechseln".
„Ich schicke dieser mutigen, starken Frau, alle Liebe, Kraft, Dankbarkeit und Anerkennung. Vom ganzen Herzen.“
„So stark von ihr… Kein Opfer muss sich schämen. Die Scham gehört an die Täter. Ihr zerstört Leben, ihr zerstört Träume, ihr zerstört Kindheiten…“
„Ich habe die größte Achtung vor dieser Frau, dass sie ihre furchtbare Situation für etwas Gutes nutzt und so viel Stärke zeigt!“
„Es sollten mehr Frauen sich wagen, sich dem anzuschließen.“
„Unfassbar und so widerlich 🤨 Ich bin wirklich schockiert von diesen Taten 😮‍💨 Keine noch so hohe Strafe kann DAS wieder gut machen. Ich wünsche ihr von Herzen, dass sie es, soweit möglich, irgendwann verarbeiten kann. 🙏❤“
„Also mir fehlen die Worte. 😢“
„💜 Was für eine mutige Frau! Ich bin in Gedanken bei Ihnen und sende Liebe und Heilung. 💜“
„Es sind nicht alle Männer die Taten begehen, aber unfassbar viele die schweigen und demnach mitmachen. Als Frau Angst zu haben, ist sehr wohl berechtigt.“
„Unfassbar. 😢“
„Tapfere und mutige Frau! 💪“
„Ich wünsche ihr Gerechtigkeit und inneren Frieden. ✊“
„😢😢😢“
Ein Instagram-Post von dem Instagram-Kanal des WEISSEN RINGS. Zu sehen ist Gisèle Pelicot und auf dem Post steht "Die Scham muss die Seite wechseln".
„Hab erst vor kurzem über sie erfahren und puh 😥 Ich komme immer noch nicht klar, was sie durchgemacht hat! Das geht in meinen Kopf nicht rein, es ist so surreal! Ich hoffe, sie wird es halbwegs verarbeiten und ein normales Leben führen. Das wünsche ich ihr so sehr 😥❤“
„Für mich persönlich, ‚Person of the year‘. Und noch viel mehr. ❤“
„Sie ist ein Vorbild für uns alle. Und doch unfreiwillig dazu gemacht worden.“
„Sie bewegt so viel! Wie stark, aus diesem Schicksal, so etwas Wertvolles zu schaffen. Danke Gisèle! Und danke Euch, für Eure Arbeit!“
„Wahnsinn!!! Zum einen, was diese Frau überstanden hat und schafft, und zum anderen die Worte ‚Die Scham muss die Seite wechseln.‘ Sehr treffend 🙏🙏🙏 !!!“
„Das ist für diese abscheulichen Taten das Mindeste. Sie ist ein Vorbild für alle Frauen und sie hat mir den Mut gegeben, Dinge, die passiert sind, zu benennen.“

„Avignon – Der Prozess Pelicot“

Erstellt am: Freitag, 14. März 2025 von Selina
Cover des Spiegel-Podcats "Acht Milliarden", mit der aktuellen Folge über den Prozess Pelicot in Avignon. Dazu sieht man das Opfer Gisèle Pelicot mit ihrer Sonnenbrille auf.

HÖREN

„Avignon – Der Prozess Pelicot“

Acht Milliarden/Der Spiegel

„Sie war immer noch ein Opfer, denn wie sie sagte, wusste sie von nichts. Also war sie immer noch ein Opfer. Aber sie war eine Frau mit einem Blick, mit einer Stimme. Zum ersten Mal erzählte sie ihre Version der Geschichte, und das war ehrlich gesagt ein unglaublicher Moment“, sagt Gerichtszeichnerin Marion Dubreuil über Gisèle Pelicot im „Spiegel“-Podcast von Britta Sandberg. In vier Folgen nimmt die Journalistin ihr Publikum mit in die „Innenansichten“ des Gerichtssaals.

Zu hören sind Auszüge aus Sandbergs Notizen, aus Wortprotokollen, Vernehmungen und der Anklageschrift. Zitiert werden Stellen aus dem Buch von Caroline Darian, der Tochter von Gisèle und Dominique Pelicot, das auch Briefe ihres Vaters enthält, die er aus dem Gefängnis an seine Familie geschrieben hat.

Neben der Heldin Gisèle Pelicot lernt der Hörer hier auch das Opfer Gisèle Pelicot kennen. Der Podcast zeigt hier außerdem, was so eine Tat für eine Familie bedeutet.

Es ist als Zuhörerin nicht immer leicht, all diese Details zu erfahren – ihnen zu folgen, ohne selbst betroffen zu werden. Aber wer sich für diese Geschichte interessiert, sollte diesen Podcast auf keinen Fall verpassen.

open.spotify.com

Warten auf besseren Schutz

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Warten auf besseren Schutz

Das neue Gewalthilfegesetz ist ein klarer Fortschritt, hat aber Lücken.

Skizze eines Paragraphen auf einem grünen Hintergrund. Sie spielt auf das Gewalthilfegesetz an für Opfer von häuslicher Gewalt.

Illustration: Studio Pong

Jeden Tag erleiden Hunderte von Menschen in Deutschland häusliche Gewalt. Nach jüngsten Zahlen des Bundeskriminalamtes sind im Jahr 2023 insgesamt 256.276 Opfer von Partnerschaftsgewalt oder Gewalt gegen Kinder, Eltern oder andere Familienangehörige erfasst worden – 6,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 70 Prozent der Betroffenen waren weiblich, 75,6 Prozent der Täter männlich.

Es mangelt an Hilfsangeboten. So standen deutschlandweit zuletzt etwa 7.800 Frauenhausplätze zur Verfügung. Nach der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, zu der sich Deutschland 2018 verpflichtet hat, wären aber 21.500 Plätze nötig. Immer wieder kommt es vor, dass Einrichtungen Betroffenen keinen Platz bieten können.

Um dem Mangel entgegenzuwirken, haben Bundestag und Bundesrat kürzlich das Gewalthilfegesetz beschlossen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) sprach von einem „historischen Moment“; Lücken im Hilfesystem würden geschlossen. Das Gesetz sieht ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vor. Es verpflichtet die Länder, ausreichend Angebote zu schaffen. Dafür bekommen sie vom Bund zwischen 2027 und 2036 insgesamt 2,6 Milliarden Euro. Betroffene können künftig Einrichtungen in ganz Deutschland aufsuchen, egal in welcher Kommune sie leben. Außerdem soll die Prävention ausgeweitet werden, zum Beispiel durch Täterarbeit.

Dorothea Hecht, Referentin Recht beim Verein Frauenhauskoordinierung, stimmt mit Paus darin überein, dass das Gesetz eine historische Dimension hat: „Nach jahrzehntelangen Schwierigkeiten, das Hilfesystem zu finanzieren, bekommt es jetzt eine solide Grundlage.“ Positiv sei etwa die in konkrete Zahlen gefasste Beteiligung des Bundes. In Jubel bricht Hecht aber nicht aus: „Es dauert noch sieben Jahre, bis der Rechtsanspruch greift.“ Und ob die bereitgestellten Summen reichen, sei fraglich. Den laufenden Bedarf zu decken, sei schon schwierig. Jetzt kämen hohe Investitionskosten hinzu, etwa für den Ausbau der Frauenhäuser. Zudem brauche es höhere Löhne, um Fachkräfte zu gewinnen. Fest stehe: „Die Länder werden sich finanziell mindestens genauso wie der Bund einbringen müssen.“

„Es dauert noch sieben Jahre, bis der Rechtsanspruch greift.“

Esther Bierbaum von der Zentralen Informationsstelle autonomer Frauenhäuser bezeichnet das neue Gesetz als „Meilenstein“. Noch nie hätten sich Bund, Länder und Kommunen so verbindlich und gemeinsam des Gewaltschutzes angenommen. So wie bislang könne es nicht weitergehen: „Es ist immer schwierig, die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Kolleginnen sind fast täglich damit beschäftigt, hilfesuchende Frauen und Kinder abzuweisen, weil der Platz nicht reicht.“

Das Gewalthilfegesetz lasse hoffen, aber: „Wir sehen auch Lücken.“ Bierbaum verweist darauf, dass etwa non-binäre Menschen nicht berücksichtigt werden, ebenso wenig wie Geflüchtete. Auch bleibe „wirtschaftliche Gewalt“ außen vor – von der viele Schutzsuchende betroffen seien: „Sie dürfen nicht eigenständig über Geld verfügen, müssen Rechenschaft ablegen und bekommen häufig nichts. Stattdessen kommt es zu Streit.“

Die Mission von Gisèle Pelicot

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ – dieser entschlossene Satz von Gisèle Pelicot hat sich zu einem Kampfruf entwickelt. Er prangt auf Schildern vor Gerichtssälen, mahnt auf Graffiti in den Straßen französischer Städte und geht als Hashtag in den sozialen Medien viral. Der Prozess gegen die Vergewaltiger Pelicots in Frankreich hat weltweit die Aufmerksamkeit auf die Situation der Betroffenen gelenkt. Beim Opfer-Telefon des WEISSEN RINGS meldeten sich nach Beginn der Verhandlung in Avignon vermehrt Betroffene von Sexualstraftaten. Hat die Scham bereits die Seite gewechselt, kann sie es überhaupt? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben.

Gisèle Pelicot steht seitlich und hat den Kopf direkt zum Publikum gedreht. Das Bild ist rötlich gefärbt und eine ausgestreckte Hand ist leicht zu erkennen.

Nach der Urteilsverkündung wendet sich Gisèle Pelicot an andere Betroffene. „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen“, sagt sie.

Der Kontrast zwischen dem Auftreten des Opfers und der Angeklagten könnte kaum größer sein. Gisèle Pelicot schreitet aufrecht und ruhig zum Gerichtsgebäude, flankiert von ihren Anwälten und ihrer Familie, begleitet von Kameras. Der Weg ist gesäumt von Frauen und Männern, die der 72-jährigen Französin applaudieren und ihr Dankesworte zurufen. Sie antwortet mit einem Lächeln und einem leisen „Merci“.

Die Angeklagten, die nicht in Untersuchungshaft sitzen, haben die Kapuzen ihrer Jacken und Pullover ins Gesicht gezogen. Alle tragen Schutzmasken, einige auch Handschuhe. So schnell wie möglich eilen sie an den Kameras und Zuschauern vorbei, betreten den Gerichtssaal und entfernen ihre Kapuzen und Masken erst, als die Richter den Saal betreten. Die Angeklagten in Untersuchungshaft werden an einem abgeschirmten Seiteneingang vorgefahren und huschen durch ein Spalier von Polizisten ins Gericht. Bloß nicht gesehen werden – Scham entsteht durch den direkten oder vorgestellten Blick anderer Menschen auf die eigene Person.

Gisèle Pelicot hat die Täter ins Licht gezogen und die Belastung eines Gerichtsprozesses auf sich genommen. Später, unmittelbar nach der Urteilsverkündung, wird sie sich an die Betroffenen wenden, die nicht den Weg in die Öffentlichkeit gehen, deren Geschichten im Dunkeln bleiben: „Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir den gleichen Kampf führen.“

Der Fall Pelicot

Die heute 72-jährige Gisèle Pelicot wurde von ihrem damaligen Ehemann Dominique jahrelang regelmäßig mit
Schlafmitteln betäubt und von ihm sowie von Fremden vergewaltigt. Er filmte die Taten. Ende Dezember 2024 wurde Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt. Neben ihm wurden 50 weitere Männer für schuldig befunden und zu Strafen zwischen drei und 15 Jahren Haft verurteilt. Die Verbrechen wurden aufgedeckt, nachdem Dominique Pelicot in einem Supermarkt dabei erwischt worden war, wie er mit seinem Handy unter die Röcke von Kundinnen filmte. Im Rahmen der Ermittlungen fand die Polizei Videos und Fotos von den Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot.

Kapitel I
Die Scham der Opfer

Anette Diehl ist Trauma-Fachberaterin des Frauennotrufs in Mainz, sie berät und begleitet Frauen und Mädchen schon seit fast 40 Jahren. „Man kann Gisèle Pelicot gar nicht genug dafür danken, was sie getan und gesagt hat. Sie hat erreicht, dass sowohl andere Betroffene als auch Politik und Gesellschaft sich dafür interessieren, wie die Situation für Opfer ist. Und dieser Satz, dass die Scham die Seite wechseln muss, hat sehr vielen Menschen geholfen“, sagt Diehl. Scham spiele eine große Rolle: „Neben den Mitschuldgefühlen, der Wut, dem Ekel, der Trauer, der Verzweiflung, ist Scham allen gemeinsam, die sich an uns wenden“, berichtet die Beraterin aus ihrer Arbeit. Scham habe etwas Sprachloses und Selbstzerstörerisches. Sie sei für viele Frauen und Mädchen eine hohe Hürde, die sie davon abhalte, über erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen oder diese anzuzeigen.

Im Jahr 2023 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 12.186 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in Deutschland, 10.106 davon wurden demnach aufgeklärt. Das bedeutet, dass mindestens ein Tatverdächtiger ermittelt wurde. In den vorangegangenen Jahren wurden 11.869 Fälle (2022) beziehungsweise 9.903 Fälle (2021) erfasst. Das bildet jedoch nur das Hellfeld ab. Laut einer Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamtes für das Jahr 2020 werden lediglich 9,5 Prozent der Vergewaltigungen überhaupt angezeigt.

Häufig melden sich Betroffene erst Jahre oder gar Jahrzehnte nach der Tat, weil sie unter den Spätfolgen leiden, etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

„Viele sagen uns dann, sie hätten sich so geschämt, dass sie all die Jahre nicht darüber sprechen konnten“, sagt Diehl. Sie weiß, wie wichtig es ist, wenn mutige Betroffene einen Stein ins Rollen bringen, wie bei „MeToo“. „Manchmal rollt der Stein eine ganze Weile, dann aber setzt leider oft wieder das Victim Blaming ein.“ Die Täter-Opfer-Umkehr, die den Opfern eine Mitschuld unterstellt.

Im Fall Pelicot – wo die Beweislast erdrückend war – brüllen Anwälte der Verteidigung das Opfer während seiner Aussage immer wieder an. Die Unterstellung, Gisèle Pelicot müsse irgendwie für die Vergewaltigungen mitverantwortlich sein, kommt von der Ehefrau eines Angeklagten: „Wenn mein Mann wirklich jemanden hätte vergewaltigen wollen, hätte er sich eine attraktivere Frau ausgesucht.“ Ein Angeklagter, von Beruf Krankenpfleger, sagt vor Gericht, man hätte den Bewusstseinszustand von Pelicot während der Vergewaltigungen medizinisch bewerten müssen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln stand. Er selbst hätte nicht unterscheiden können, ob das Opfer geschlafen oder nur so getan habe.

„Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann. Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter .“

Prof. Friederike Funk

Die Viktimologin Anne-Kathrin Kreft vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sieht Scham als eine zentrale emotionale Reaktion auf Vergewaltigungen, die tiefgreifende psychologische und soziale Folgen haben könne. Sie plädiert für eine gesellschaftliche Veränderung, hin zu einer Haltung, die Opfer entlastet. Kreft hat sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten in Kolumbien erforscht und mit betroffenen Frauen und Helferinnen gesprochen. Was weit entfernt klingt, rückt ganz nah, wenn es um Scham geht: „Selbst in diesen Fällen politisch motivierter sexualisierter Gewalt wurden die Frauen nach der Tat teilweise noch gefragt, was sie getan hätten, um das zu provozieren“, erinnert sich Kreft. Wenn die Gesellschaft dem Opfer immer wieder zu verstehen gebe, in irgendeiner Form mitverantwortlich zu sein für die eigene Vergewaltigung, steigere das die Scham und sei für die Betroffenen gravierend.

Aus der Befragung von BKA und Polizei zu Sexualdelikten

71 %

der Opfer geben an, dass
es keine Beweise gab

38 %

hatten Angst vor dem Täter
oder der Täterin

32 %

hatten Angst vor
einem Gerichtsverfahren

Dass Opfer nicht als solche wahrgenommen werden, ist ein tief verankertes Muster. Oft taucht die Frage auf, ob es sich überhaupt um Gewalt handelte oder nicht um ein großes Missverständnis. Im Prozess von Avignon sagen die Männer, die inzwischen zu langen Haftstrafen verurteilt sind, ihnen sei nicht klar gewesen, dass Pelicot schlief. Außerdem habe ihr Mann doch zugestimmt. Auch Pelicot wird unterstellt, sie hätte die Taten provoziert: als die Verteidigung ihr 27 intime Fotos zum Vorwurf machen will, die auf Dominique Pelicots Laptop gespeichert waren. 27 von insgesamt 20.000 Dateien. Sie wurden wohl mit ihrem Einverständnis aufgenommen. Eine Verteidigerin fragt Gisèle Pelicot, ob sie exhibitionistische Tendenzen habe. In diesem Moment verliert die sonst so beherrschte Gisèle Pelicot die Geduld. Die 72-Jährige reagiert empört: „Ich verstehe nun, warum die Opfer von Vergewaltigungen so selten Anklage erheben – schämen Sie sich, mir solche Dinge zu unterstellen!“

Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, schmerzten Pelicot besonders.

Es gibt die Vorstellung, wie ein Opfer zu sein habe: traurig, schwach, leise. „Betroffenen, die in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftreten, wird vorgehalten, dass es dann ja nicht so schlimm gewesen sein kann“, erklärt Friederike Funk. Die Professorin für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat viele Kommentare zum Fall Gisèle Pelicot gelesen. Sie forscht dazu, wie die Gesellschaft auf Täter und Opfer blickt. „Die Gesellschaft schiebt die Scham häufig den Betroffenen zu – und nicht dem Täter“, sagt Funk. Die Umkehr basiere unter anderem auf dem psychologischen Konzept des Gerechte-Welt-Glaubens, der Erwartung, dass es grundsätzlich gerecht zugehe und wir im Leben das bekommen, was uns zusteht. „Wenn objektive Fakten fehlen, verleitet dies leider häufig dazu, zu schauen, ob eine Person vielleicht selbst ein bisschen mit dazu beigetragen hat, was ihr passiert ist“, beschreibt Funk. Es ist eine Art Selbstschutz-Mechanismus: Weil wir uns ja nicht so verhalten würden, fühlen wir uns sicherer.

Die Versuche, die Vergewaltigungen zu verharmlosen, seien für sie besonders schmerzhaft gewesen, betont Gisèle Pelicot vor Gericht. Die Erklärungen einiger Täter, sie seien wie „fremdgesteuert“ gewesen, hätten sie zermürbt. Aber dann zeigt sich wieder die beeindruckende Stärke dieser Frau, als sie sagt: „Ich fühle mich für nichts von allem verantwortlich. Es war ein langer Weg für mich, das zu begreifen, aber in erster Linie bin ich ein Opfer.“ Allen Anschuldigungen zum Trotz.

Das Bild hat einen roten Hintergrund. Links sind große ausgestreckte Hände zu erkennen und auf der rechten Seite ist ein Man, ganz in schwarz dargestellt und hält sich die Hände vor sein Gesicht.

Mehr als 17.000 Frauen und Mädchen waren 2023 in Deutschland von digitaler Gewalt betroffen, etwa von Cyberstalking oder sexueller Belästigung. Gegenüber dem Vorjahr nahmen die Delikte um 25 Prozent zu.

Auch bei häuslicher Gewalt fragen manche absurderweise schnell: Warum ist sie nicht gegangen? Statt: Warum hat er sie geschlagen? Anette Diehl hat das schon so oft gehört, dass sie die Einstellung manchmal wütend macht. Aber sie ist nicht entmutigt, im Gegenteil: „Das gesellschaftliche Klima hat sich in den vergangenen fünf Jahren schon sehr zum Positiven verändert“, findet Diehl. „Es gab ‚MeToo‘, Fälle wie den von Gisèle Pelicot, die weltweit verfolgt werden, immer mehr Betroffene melden sich in den sozialen Medien und Podcasts zu Wort.“ Wichtig sei aber, anzuerkennen, dass andere, die dasselbe Schicksal erlitten haben, nicht den Weg von Pelicot wählen müssen. „Das darf nur jede Betroffene für sich selbst entscheiden.“ Ob sie aus der Opferrolle in die aktiv handelnde Rolle findet, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie die Gesellschaft damit umgeht, vom sozialen Umfeld über die Polizei bis zum Gericht.

„Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt.“

Prof. Ruth Linssen

Kapitel II
In den Mühlen der Strafverfolgung

Die erste Hürde ist die Anzeige bei der Polizei, damit setzt sich die Mühle der Strafverfolgung in Gang. Welche Erfahrungen Betroffene dabei machen, hat Ruth Linssen, Professorin für Soziologie und Strafrecht an der Fachhochschule Münster, im Rahmen einer Studie für das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen untersucht. „Eigentlich sollten sich die Täter schämen und nicht die Betroffenen. Es ist aber fast immer umgekehrt“, sagt Linssen. Viele Opfer, die sie befragte, hätten Angst vor Ausgrenzung geäußert und schämten sich besonders, wenn nahe Angehörige bei der Vernehmung dabei waren. Der Umgang der Polizei mit Betroffenen hingegen habe sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich geändert – im positiven Sinne. Linssen führt das auch darauf zurück, dass dort mittlerweile mehr junge Frauen arbeiten, die ein anderes Problembewusstsein hätten.

Eine Frau gewann durch das Verfahren ihre Souveränität wieder.

Doch eine Aussage vor Gericht kann extrem belastend sein. Eine Befragte berichtete ihr, was für ein gutes Gefühl ihr ihre Aussage vor Gericht gab. Der Täter habe während des Prozesses auf den Boden geguckt und sich geschämt. „Die Frau hatte ihre Souveränität durch das Verfahren wiedergewonnen, als würde der Prozess die Verhältnisse wieder zurechtrücken. Das war aber lange nicht bei allen so“, so Linssen. „Ganz ehrlich, ich war mir nach der Studie noch viel weniger sicher als vorher, ob ich eine Vergewaltigung anzeigen würde. Ich wäre im Gericht im Boden versunken, wenn ich in diesen Details die Tat hätte schildern müssen, wie Frauen mir das berichtet haben.“

„Ich kann nichts riskieren“

Eine von sexualisierter Gewalt betroffene Frau berichtet, weshalb sie viele Jahre nach dem Missbrauch durch ihren Stiefvater doch noch Anzeige erstattet hat und – anders als Gisèle Pelicot – anonym bleiben möchte.

„Als ich elf Jahre alt war, ging es mit den körperlichen Übergriffen los. Ab meinem 14. Lebensjahr begann mein Stiefvater, mich auch zu vergewaltigen, bis zu meinem 17. Lebensjahr. Ich habe niemandem davon erzählt. Meinen Freunden nicht, meinem Freund nicht und auch meiner Mutter nicht. Ich war einfach froh, als nach der Trennung Ruhe einkehrte.

Viele Jahre später bin ich ihm begegnet, nur einen Ort von meinem Wohnort entfernt. An der Hand hatte er einen kleinen Jungen. Da kam alles wieder hoch. Kurz darauf saß ich mit meiner Mutter und meinem Freund zusammen und wir kamen auf ihn zu sprechen. Und da erzählte ich es ihnen. Meiner Mutter liefen die Tränen, sie hatte nichts geahnt. Gemeinsam beschlossen wir, zur Polizei zu gehen.

Es dauerte vier Jahre, bis die Gerichtsverhandlung begann. Obwohl der Fall mir alt und klein erschien, war am ersten Prozesstag viel Presse da. Die Lokalzeitung berichtete am nächsten Tag. Bei meiner Aussage waren keine Medien erlaubt. Trotzdem kannten sie alle Details, auch über meine Entjungferung. Eine Journalistin hatte nie mit mir gesprochen, ihre Infos stammten von den Anwälten meines Stiefvaters.

Vor der Anzeige hatte ich ähnliche Fälle recherchiert und wusste, wie schwer es für Opfer ist – das jahrelange Verfahren und die Unterstellungen. Ein Täter darf schweigen, aber das Opfer muss alles erzählen, auch intime Details.

Das Schlimmste war, als die Videoaufzeichnung meiner Aussage im Gerichtssaal vor dem Täter abgespielt wurde. Ich dachte, ich wäre in einem geschützten Raum bei der Polizei. Und dann sieht und hört der Täter mich sagen: Ich habe Angst vor ihm, ich habe eine kleine Tochter, ich wohne nur einen Ort weiter, ich gehe in seinem Ort einkaufen.

Ich konnte also nicht in die Öffentlichkeit gehen. Ich wusste nicht, wie das Verfahren ausgehen wird. Es gab zu Beginn keine Beweise aus der Zeit. Während des Verfahrens tauchten Beweise auf, wie Fotos von meiner Schwester und mir.

Das, was Gisèle Pelicot gemacht hat, ist unfassbar mutig und stark. Aber nicht jedes Opfer kann das. Sie ist älter, hat kein kleines Kind zu Hause. Ihr Mann saß von Anfang an im Gefängnis. Es gab eine Vielzahl an Beweisen. Die Ausgangslage in solchen Fällen ist meistens viel schlechter für Opfer. Außerdem schützt Deutschland eher die Täter als die Opfer.
Trotzdem bin ich froh, dass ich es gemacht habe. Letztes Jahr wurde er zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Noch hat er die Haftstrafe, die kurz ist, nicht angetreten. Als Mutter bleibe ich anonym, da ich nichts riskieren kann. Ich weiß nicht, was er macht, wenn er entlassen wird.“

Lena*

Gerichtsprozesse können für Betroffene extrem belastend sein. Forderungen nach verpflichtenden Weiterbildungen für einen sensibleren Umgang mit Opfern weisen Richterinnen und Richter mit Verweis auf ihre Unabhängigkeit zurück. „Das eine schließt das andere nicht aus“, findet hingegen Professor Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden. „Man kann unabhängig und neutral sein und trotzdem zwischenmenschlich in angemessener Form sensibel mit diesen schwierigen Themen umgehen.“

Ein Versuch des Rechtssystems, mit dem vermeintlichen Interessenskonflikt umzugehen, ist die Psychosoziale Prozessbegleitung. Tina Neubauer ist Prozessbegleiterin in Stuttgart und arbeitet für die PräventSozial gGmbH. Sie unterstützt in Baden-Württemberg seit mehr als 20 Jahren Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer bei Gerichtsprozessen und kennt die Fälle von gut 1.000 Betroffenen. Sie bildet auch Begleiter aus, unter anderem an der Akademie des weissen rings. „Ich habe jetzt die ganzen Jahre nur wenige Frauen betreut, denen es nicht unangenehm war, über sexualisierte Übergriffe zu sprechen. Das Thema Scham ist bei den meisten vorhanden“, sagt Neubauer. Bislang beschließe lediglich ein kleiner Teil: „Ich zeige das bei der Polizei an. Ich mache meine Aussage vor Gericht.“

„Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil: Es ist gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt.“

Professor Martin Rettenberger

Viele Menschen belaste es, dass sie dort „erneut die Kontrolle abgeben, so wie bei der Tat“, schildert Neubauer. Ein Strafverfahren ist immer öffentlich, selbst wenn die Öffentlichkeit eingeschränkt werden kann. Betroffene sind Opferzeugen, die in der Regel aussagen müssen und zur Wahrheit verpflichtet sind. Die Begleiterin erklärt ihnen den Ablauf des Verfahrens, ihre Rechte als Zeugen und die Möglichkeiten der Nebenklage. Ziel ist es, den Opfern mithilfe von Informationen mehr Sicherheit zu geben. Die Psychosoziale Prozessbegleitung kooperiert mit NERO, einem Netzwerk von Opferanwälten, das Betroffene schon vor der Anzeige juristisch unterstützt. „Ich finde, die Betroffenen müssen wissen, worauf sie sich einlassen“, sagt Neubauer.

Wenn sie Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt, dass der Täter verurteilt wird. Die Kriminologische Zentralstelle hat Verlaufsstudien ausgewertet und Verurteilungsquoten zwischen 16 und 30 Prozent zusammengetragen. Es gibt aber auch Auswertungen, die auf eine Quote unter 10 Prozent kommen.

Wenn Opfer Anzeige erstatten und sich dem Prozess aussetzen, ist noch lange nicht gesagt,dass der Täter verurteilt wird.

Der Kriminologe Martin Rettenberger verweist darauf, dass „wir auch in anderen Deliktsbereichen einen hohen Schwund zwischen angezeigten Fällen und Verurteilung haben“. Aufgrund eines größeren Bewusstseins für sexuelle Grenzüberschreitungen werde insgesamt mehr angezeigt. „Steigende Zahlen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind also nicht immer negativ zu bewerten, ganz im Gegenteil“, sagt Rettenberger. Es sei gut, dass mehr aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gelangt. Relativ viele Anzeigen führten zu Ermittlungen, die dann aber nicht ganz eindeutig seien. Mögliche Gründe: Betroffene ziehen ihre Aussage zurück oder machen Angaben, die kaum verwertbar sind. Beteiligte können sich nicht mehr richtig erinnern. Oft steht Aussage gegen Aussage. „Wenn die Fälle unklar sind, dann werden sie im Rechtsstaat für die angeklagte Person ausgelegt. Die Schuld muss zweifelsfrei feststehen. Das ist ein hohes Gut, und das sollten wir nicht über Bord werfen“, sagt Rettenberger.

Das soll auch vor Falschbeschuldigungen schützen. Laut Forschung kommen diese Fälle vor, sind aber selten. „Diese Einzelfälle sind schrecklich, keine Frage, werden aber meist medial aufgebauscht“, sagt Claudia Igney vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). „Das steht in keinem Verhältnis zu der Vielzahl an Fällen, wo es andersrum ist: Die sexualisierte Gewalt hat stattgefunden, aber sie lässt sich nicht beweisen. Die Anforderungen des Strafrechts sind sehr hoch. Die Täter gehen straffrei aus. Aber das bedeutet eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden hat.“

Im Falle von Gisèle Pelicot war die Beweislage gegen die Angeklagten so eindeutig, weil die Taten gefilmt und akribisch archiviert worden waren. „Auch wenn es kein prototypischer Fall ist, war dieser Prozess wichtig, weil er dazu geführt hat, dass Menschen sich vorstellen können, was es alles gibt in unserer Gesellschaft und dass solche Taten nicht von Monstern begangen werden, sondern von Männern aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen – ja sogar vom eigenen Ehemann“, sagt Igney.

„Ich habe Angst“

Was Gisèle Pelicot geleistet habe, sei beeindruckend, sagt eine Frau, die eine Attacke nur knapp überlebte. Mehr Betroffene müssten sich äußern, doch das ginge oft nicht.

„Nach meiner Scheidung hatte ich zwei Jahre eine On-off-Beziehung mit meinem Expartner. Irgendwann trennte ich mich endgültig von ihm. Danach suchte er weiter Kontakt und stand öfter vor meiner Tür. Heute würde ich von Stalking sprechen. Freunde warnten mich, aber ich habe das nicht ernst genommen. Er hatte mir nie etwas getan. Als er alkoholisiert vor meiner Tür stand, dachte ich zum ersten Mal daran, die Polizei zu rufen. Dann waren zwei Wochen Ruhe.

Plötzlich stand er wieder vor meiner Tür. Es war ein Freitag, meine beiden Jungs waren schon im Haus, meine Tochter und ich kamen gerade. Ich schickte sie ins Haus. Da holte er völlig unvermittelt ein Messer raus und stach auf mich ein. In Tötungsabsicht – gezielt in Richtung Herz, dann in den Oberkörper. Ich habe mich mit meinen Händen versucht zu schützen, schrie laut, ging zu Boden. Und dann sah ich eine dunkle Gestalt, sie zog ihn von mir, nahm ihn in den Schwitzkasten. Es war ein junger Mann.

Mein Expartner versuchte, sich selbst zu töten, indem er das Messer in seinen Bauch stach. Erst sechs Monate später ging das Gerichtsverfahren los, was mich nervös machte. Ich wusste, dass er nach sechs Monaten ohne Gerichtstermin wieder aus der Untersuchungshaft darf. Nach sechs Verhandlungstagen wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt. Das ist kurz für versuchten Mord und schwere Körperverletzung. Das Gericht berücksichtigte, dass er Ersttäter ist, ein Alkoholproblem und eine psychische Erkrankung hat. Aus juristischer Sicht kann ich das Urteil nachvollziehen, aber aus Opfersicht ist es ein Schlag ins Gesicht.

Ich bin traumatisiert, arbeitsunfähig und schwerbehindert aufgrund meiner Verletzungsfolgen. Ich habe Angst um mich und meine Kinder: Vor knapp zwei Jahren wurde er in ein forensisches Krankenhaus gebracht. Ich weiß nicht, ob er wegen guter Führung vielleicht bald rauskommt.

Nach der Tat klingelten Journalisten an meiner Haustür und bedrängten Familienmitglieder. Meine Kinder wurden in der Schule von Mitschülern angesprochen, weil die Eltern neugierig waren. Es ist beeindruckend, was Gisèle Pelicot geleistet hat, aber ihr Täter bleibt im Gefängnis. Mehr Opfer müssten auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam machen, aber das ist oft nicht möglich. Zu kurze Haftstrafen, Kinder, die man nicht in Gefahr bringen möchte, oder andere Gründe sorgen dafür, dass Menschen wie ich das nicht machen.

Am ersten Gerichtstag war Presse anwesend, auch ein Kamerateam. Meine Anwältin sagte zu mir, dass ich mir eine Akte vor das Gesicht halten könnte. Aber das tat ich nicht – ich muss mich nicht verstecken, der Täter muss es.“

Antonia*

Links steht ein Mann, mit den Händen im Gesicht und rechts hinter ihm ist ein sehr großer Damenfuß mit hohen Schuhen zu sehen. Es wirkt, als könnte die Frau auf den Mann treten, als wäre er ein Käfer.

Gisèle Pelicot hat vielen Frauen Mut gemacht. Sie hat einen Wandel in Gang gesetzt, doch der Weg ist noch weit. Expertinnen fordern ein gesellschaftliches Klima, in dem Betroffene nicht stigmatisiert werden.

Kapitel III
Die Scham der Täter

In der psychologischen Betreuung von Inhaftierten spielt Scham eine Rolle, weil sie eine Hürde bei der therapeutischen Arbeit sein kann. „Hartnäckiges Leugnen und auch das vollständige Schweigen sind ein Mechanismus, um mit dem eigenen Schamgefühl umzugehen“, sagt Martin Rettenberger. „Scham hat mit der Angst davor zu tun, soziales Ansehen zu verlieren. Das unangenehme Gefühl lenken einige Männer unmittelbar in Aggression um“, weiß Rettenberger aus seiner Tätigkeit als Gutachter.

René Cuadra ist Gefängnis-Psychologe in der Justizvollzugsanstalt Offenburg und blickt auf fast drei Jahrzehnte Erfahrung mit Sexualstraftätern zurück. „Ich verstehe Gisèle Pelicot so, dass natürlich die Täter sich schämen sollten und nicht die von ihnen vergewaltigten Frauen“, sagt Cuadra. Die Äußerung könne aber auch so verstanden werden, dass die Scham von der einen Person zur anderen übergehen, dass man die Scham übertragen könne. „Das, so denke ich, funktioniert nicht. Hat ein Opfer eine Scham nicht mehr, hat sie nicht automatisch der Täter. Wenn die Täter von Avignon Scham erleben können, ist es eine eigene.“ So wie es der Psychologe im Gefängnisalltag erlebt, ist kein Affekt bei Inhaftierten so wenig zugänglich wie die Scham. „Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele gar keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“ Dabei spiele Scham in den Lebenswegen vieler inhaftierter Menschen eine große Rolle, sie hänge häufig eng mit Gewalt zusammen.

Im Pelicot-Prozess übernehmen die Männer kaum Verantwortung für ihre Taten. Die Psychologin Annabelle Montagne, die sechs der Täter begutachtet hat, sagt vor Gericht, dass keiner von ihnen sich der Vergewaltigung schuldig bekennen wolle. Haben diese Männer eine Trennung zwischen ihrem öffentlichen und sexuellen Leben gezogen? Haben sie eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können? Die Psychologin bejaht dies.

Haben die Täter eine Art Abwehrmechanismus entwickelt, damit sie normal weiterleben können?

In der Kriminalpsychologie wird dieser Mechanismus mithilfe „kognitiver Verzerrungen“ erklärt. Das sind „Gedankenkonstrukte, mithilfe derer die Straftat relativiert und entschuldigt wird“, erklärt Psychologin Lydia Benecke, die mit verurteilen Sexualstraftätern arbeitet. „Auch Menschen, die schwere Straftaten begehen, neigen dazu, automatisch ein insgesamt positives Bild von sich selbst aufrechtzuerhalten und auch entsprechend von anderen wahrgenommen werden zu wollen.“

Einige Vergewaltiger Pelicots verzerren vor Gericht die Wirklichkeit, indem sie behaupten, davon ausgegangen zu sein, es handele sich um ein Spiel des Paares. 35 der 51 Angeklagten beharren bis zum Schluss darauf, Gisèle Pelicot nicht vergewaltigt zu haben, weil ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass das Opfer dem Sexualakt nicht zugestimmt hatte.

„Die Leute sprechen in der Justizvollzugsanstalt nicht darüber. Natürlich ist das sehr individuell, aber nach meiner Beobachtung haben viele keinen Begriff davon, was Scham bedeutet.“

René Cuadra

Als „Prozess der Feigheit“ bezeichnet Gisèle Pelicot die Erklärungsversuche der Angeklagten. Immer wieder verzieht sie spöttisch das Gesicht oder rollt mit den Augen. Die Männer sollen zugeben, was sie getan haben, fordert sie. Als ihr der Vorsitzende zum zweiten Mal das Wort erteilt, konfrontiert sie die Männer direkt: „Wann genau hat Madame Pelicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?“ Die Antwort: Schweigen und gesenkte Blicke.

Benecke arbeitet mit ihren männlichen Klienten daran, solche kognitiven Verzerrungen abzubauen, damit sie Verantwortung übernehmen können. Wenn sie ihre Taten ungeschönt wahrnehmen, empfinden viele von ihnen Scham. Diese „ist eine unglaublich starke negative Emotion, die Menschen manchmal regelrecht überwältigt und im besten Fall dazu beitragen kann, dass sie bestimmte Dinge nicht oder nicht mehr tun“. Kann aus öffentlicher Beschämung Scham entstehen? „Möglich ist das schon“, sagt Benecke. „Scham kann soziales Verhalten fördern, aber auch kognitive Verzerrungen auslösen, um dadurch die Scham zu reduzieren oder sogar aggressive Empfindungen auslösen.“ Im Pelicot-Prozess gab es ihrer Meinung nach einen Moment, in dem beginnende Zweifel der Täter sichtbar geworden seien: Als die Videos der Taten gezeigt werden, schauen sie weg. Nicht ein Einziger möchte sich ansehen, was er getan hat.

Kapitel IV
Das letzte Wort

Zumindest während ihres Prozesses hat Gisèle Pelicot das Ziel ihrer Mission erreicht. Der Großteil der Gesellschaft blickt mit Bewunderung auf sie und mit Unverständnis auf die Täter. Verteidigerinnen wie Nadia El Bouroumi, die auf ihrem TikTok-Kanal Gisèle Pelicot verhöhnt, indem sie zu „Wake me up, before you go go“ tanzt, erntet einen Shitstorm. Gegen Verteidiger Christophe Bruschi, der nach der Urteilsverkündung die wütenden Zuschauerinnen als „hysterisch“ und „zickig“ bezeichnet, startet Change.org eine Petition mit dem Ziel, ihn von der Anwaltsliste zu streichen. Eine weitere Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben. In der Zeit von Gisèle Pelicot lassen viele Frauen und Männer Täter-Opfer-Umkehr und Macho-Gehabe nicht mehr durchgehen. Die Scham wechselt die Seiten.

9,5%

Anzeigequote bei sexuellem Missbrauch oder Vergewaltigung

2,2 %

Anzeigequote bei körperlicher
sexueller Belästigung

Was muss geschehen, damit das dauerhaft so bleibt? Für Pelicot ist die Sache klar. Als der Vorsitzende Richter ihr zum letzten Mal das Wort erteilt, fordert sie gewohnt ruhig und würdevoll: „Es ist an der Zeit, dass sich die machistische und patriarchalische Gesellschaft endlich ändert und aufhört, Vergewaltigung zu verharmlosen. Wir müssen dringend unsere Sichtweise auf Vergewaltigung ändern.“ Ihre Tochter Caroline Darian geht weiter. Sie nutzt das große Interesse, um sich mit ihrer neu gegründeten Stiftung M’endors pas (Betäub mich nicht) dafür einzusetzen, dass die sogenannte chemische Unterwerfung als Straftat verfolgt wird.

Und in Deutschland? „Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft bewusst auf unseren Umgang mit Opfern achten“, sagt Sozialpsychologin Friederike Funk. „Vor allem in Zeiten von Social Media, in denen wir alles in Echtzeit kommentieren können, wäre es doch schön, einfach mal keine voreilige Meinung zu posten, wenn man die Fakten schlichtweg nicht kennt.“ Kriminologe Martin Rettenberger meint: „Damit die Scham die Seite wechseln kann, braucht es langfristige Veränderungen statt Schnellschüsse. Und das fängt schon bei einer frühen Sensibilisierung von Jungs für die Gleichberechtigung an.“

Eine Petition schlägt Gisèle Pelicot für den Friedensnobelpreis vor. Innerhalb weniger Wochen haben mehr als 170.000 Menschen unterschrieben.

Claudia Igney sagt: „Sexualisierte oder andere Formen von Gewalt erlebt zu haben, gehört zur Biografie vieler Frauen. Das macht sie aber nicht für immer zum Opfer. Da sind auch viel Stärke, Mut und Kraft und Wege der Bewältigung. Darüber sollte mehr berichtet werden. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem Frauen offen über all das sprechen können, ohne Stigmatisierung befürchten zu müssen.“

Mit einem Lächeln im Gesicht und sichtlich erleichtert verlässt Gisèle Pelicot am 19. Dezember 2024 nach Prozessende den Gerichtssaal, in dem kurz zuvor die Urteile verkündet worden waren. Sie hat es gerade noch durch den Metalldetektor geschafft, mehr Platz am Ausgang war wegen des Presseandrangs nicht. Aufrecht, selbstbewusst und ruhig, im Kreise ihrer Familie, sagt sie: „Ich wollte, dass die Gesellschaft an den Debatten teilhat, die am 2. September stattfanden, als ich die Türen zu diesem Prozess öffnete. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Ich habe jetzt Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der jede Frau und jeder Mann in Harmonie, Respekt und gegenseitigem Verständnis leben kann.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
Zum Fall Pelicot hat sich auch der WEISSE RING öffentlich positioniert. Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer sagte zum Prozessende: „Gisèle Pelicot ist nicht nur eine bewundernswert tapfere Frau – ihr ist ohne jede Einschränkung zuzustimmen, wenn sie fordert: ,Die Scham muss die Seite wechseln.‘ Niemand muss sich schämen, Opfer einer Straftat geworden zu sein. Für Taten sind Täter verantwortlich, niemals die Opfer. Ich wünsche mir sehr, dass diese Erkenntnis endlich auch in Deutschland die letzten Zweifler erreicht, die immer noch meinen, die Kleidung eines Vergewaltigungsopfers oder der Trennungswunsch eines Femizidopfers hätten etwas mit dem Verbrechen zu tun. Vielleicht tragen das Beispiel von Gisèle Pelicot und ihr furchtloses Auftreten in der Öffentlichkeit dazu bei. Unabhängig davon sollte man jedem Opfer eines Verbrechens, das seine Privatsphäre schützen möchte und auf Anonymität besteht, dies auch zugestehen.“

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Negativrekord bei der staatlichen Entschädigung für Gewaltopfer im Bund und bei den Ländern. Die Zahlen von 2023 im Überblick

Eine Landkarte von Deutschland, die in rot und grüner Farbe zeigt wie viele Ab- oder Zusagen es für die Opferentschädigung gab im Jahr 2023 pro Bundesland.

Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54,4), am niedrigsten in Sachsen (38,6), Niedersachsen (38,9) und Rheinland-Pfalz (42,4).

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Bund

48 %

Ablehnungen

23 %

Anerkennungen

29 %

Erledigungen aus sonstigen Gründen*

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

*Erledigungen aus „sonstigen Gründen“ sind u. a. Rücknahme des Antrags, Abgabe an andere Ämter, Wegzug, Tod.