Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Erstellt am: Freitag, 11. Juli 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 11.07.2025

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Der rückwirkende Antragsstopp beim Fonds Sexueller Missbrauch hat bei Opfern und Beratenden Empörung ausgelöst.

Sabrina Lange* wurde mehrfach missbraucht und ist dadurch schwer traumatisiert. So schwer, dass sie unter anderem an Krampfanfällen leidet. Um ihren Alltag zu erleichtern und ihrer Belastungsstörung besser entgegenwirken zu können, wollte sie ihren dafür gut geeigneten Hund zum Assistenzhund ausbilden lassen. Sie hoffte dabei auf eine Finanzierung durch den Fonds Sexueller Missbrauch (FSM). Zusammen mit Ingeborg Altvater, die ehrenamtlich für den WEISSEN RING arbeitet, hatte sie in den vergangenen Wochen einen Antrag vorbereitet, gewissenhaft Informationen gesammelt und Formulare ausgefüllt.

Vor wenigen Tagen, kurz vor dem Fertigstellen des Antrags, rief Altvater Sabrina Lange an, um ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen: Der Fonds wird zumindest vorerst kein Geld mehr auszahlen. Als Lange das hörte, schwieg sie. Nach einer langen Pause fragte sie: „Was mache ich jetzt?“ Altvater konnte ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Denn einen Assistenzhund etwa über das Soziale Entschädigungsrecht zu finanzieren, ist nur schwer möglich, und wenn, dann dauert es jahrelang.

Nach dem Stopp beim Fonds – rückwirkend zum 19. März – hat Altvater wiederholt Reaktionen wie die von Sabrina Lange erlebt, wie sie im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt. Sie berät zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS), dessen Teil der Fonds ist, und begleitete Opfer hierbei in mehr als 100 Fällen. Altvater bezeichnet die aktuelle Entwicklung als „Katastrophe“. Dass sie die Betroffenen nach und nach anrufen und informieren musste, habe ihr „in der Seele wehgetan“. Am anderen Ende der Leitung habe „Stille und Entsetzen“ geherrscht. Alleine in Hessen, wo die ehrenamtliche Mitarbeiterin im Einsatz ist, hätten in acht bis zehn Fällen Beratungstermine kurzfristig abgesagt werden müssen. Und dass, obwohl bei denen der Antrag fast fertig gewesen sei. Andere Verfahren – bei denen die Betroffenen teils weite Wege und die erneute Konfrontation mit dem Missbrauch auf sich genommen hätten – liefen schon und nach jetzigem Stand vergeblich.

Fonds ist wichtige niedrigschwellige Hilfe

Die Sprachlosigkeit sei für einen Teil der Missbrauchsopfer typisch, sie gehörten zu den Schwerstbetroffenen, fühlten sich wehrlos und könnten nur schwer ihre Stimme erheben, um sich für ihre Belange einzusetzen. Umso schlimmer sei der Umgang mit ihnen – zumal es nicht um Milliardensummen gehe, kritisiert Altvater.

Vor zwei Wochen hatte die Geschäftsstelle des FSM auf ihrer Webseite mitgeteilt, dass sie Erstanträge, die ab dem 19. März dieses Jahres eingegangen sind, voraussichtlich nicht mehr annehmen könne. Die Mittel im Bundeshaushalt reichten nicht, hieß es.

Der Fonds ist für viele Betroffene eine niedrigschwellige Unterstützung, auf die sie nicht verzichten können. Er kann einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums haben bislang 36.000 Betroffene einen Antrag gestellt, ausgezahlt wurden 165,2 Millionen Euro.

Ministerin Prien kündigt an, sich für mehr Geld einzusetzen

Ministerin Karin Prien (CDU) kündigte an, sie werde sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch engagieren und das System neu aufstellen. Doch ob und wann die Reform kommt, und wie viel Geld dafür zur Verfügung steht, ist ungewiss.

Bereits im Frühjahr war bekanntgeworden, dass der Fonds auslaufen soll. Das damals von Lisa Paus (Grüne) geführte Familienministerium führte haushaltsrechtliche Bedenken des Bundesrechnungshofes als Grund an und sah die künftige Regierung in der Pflicht, für Ersatz zu sorgen. In seinem Koalitionsvertrag versicherten Union und SPD zwar: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort.“ Aber es kam anders.

Nach dem angekündigten Auslaufen des Fonds im März rief Ingeborg Altvater Betroffene, die bereits erste Kontakte wegen einer Antragstellung zu ihr aufgenommen hatten, an und klärte sie darüber auf. Daraufhin wurden einige von ihnen aktiv und stellten noch einen Antrag. Manche machten sich nun den Vorwurf, sie hätten zu lange gewartet. Zu Unrecht, sagt Altvater. Sie könnten nichts für den Stopp, der auch noch rückwirkend erfolgt sei. Manche Opfer kämpften jahrzehntelang mit den Folgen des Missbrauchs, sie bräuchten viel Kraft und Zeit, um sich zu einem Antrag auf Unterstützung durchzuringen.

Schlag ins Gesicht für traumatisierte Menschen

Susanne Seßler, die sich für den WEISSEN RING vor allem in Südbayern als EHS-Beraterin engagiert, macht derzeit ähnliche Erfahrungen wie Altvater und spricht von einem Schlag ins Gesicht. „Erschüttert“ seien die Betroffenen. Sie hätten sich überwunden und würden nun wieder „hinten herunterfallen“, was bei traumatisierten Menschen besonders schlimm sei. „Manche sagen bitter enttäuscht: ,Sehen Sie, ich wusste, dass ich nichts bekomme‘“, berichtet Seßler. In den vergangenen Monaten habe sie zusammen mit Betroffenen knapp 20 Anträge fertiggestellt, etwa fünf weitere seien geprüft und noch mehr vorbereitet worden.

Dass das Geld nicht reiche, kann Seßler nicht nachvollziehen: Zum einen hätten die Verantwortlichen nach ihrer Mitteilung im März damit rechnen müssen, dass aufgrund der Befristung mehr Anträge kommen. Zum anderen lägen diese geschätzt im vierstelligen Bereich, so dass sich die Ausgaben bei einer Unterstützung von in der Regel 10.000 Euro in Grenzen hielten.

Zwei Frauen, die Seßler beriet, wurde eine Reittherapie genehmigt, die allerdings von der Therapeutin verschoben werden musste. „Was jetzt? Wird das Geld noch ausgezahlt?“, fragen sich die Betroffenen.

Neuer Missbrauchsfonds gefordert

Seßler fordert, kurzfristig die entstandenen Lücken mit zusätzlichem Geld zu schließen und mittelfristig einen neuen Fonds aufzusetzen. Das neue Soziale Entschädigungsrecht, das seit 2024 gilt, sei nicht umfassend genug, um die „wichtigen Komplementärtherapien“ abzudecken.

Der WEISSE RING und vier weitere Fachorganisationen – die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen – haben den Stopp kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung scharf kritisiert. Sie forderten, die Hilfen zu erhalten und das dafür nötige Geld im Etat des Bundes bereitzustellen.

Auch Ingeborg Altvater hofft noch. Sie hat die Opfer gebeten, ihre Unterlagen aufzuheben.

*Name geändert

 

 

Maßregelvollzug: Kein Ende in Sicht

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Sabine

Maßregelvollzug: Kein Ende in Sicht

Die Unterbringung nach §63 StGB dauert oft länger als gedacht – im Schnitt sechs bis zehn Jahre, teils sogar deutlich länger. Für viele Betroffene ist das belastender als eine Haftstrafe.

Maßregelvollzug in Deutschland: Grafik von Deutschland in Bundesländer aufgeteilt. Am Rand steht pro Bundesland die durchschnittliche Haftzeit in forensischen Psychiatrien.

Je nach Bundesland dauert die Unterbringung nach §63 StGB im Maßregelvollzug in Deutschland unterschiedlich lange.

Wie lange dauert die Unterbringung nach §63 StGB im Maßregelvollzug in Deutschland? Durchschnittlich zwischen 6,03 und 10,35 Jahre blieben Patienten bis zu ihrer Entlassung im Maßregelvollzug. Das ergab eine Umfrage des WEISSER RING Magazins bei allen 16 Bundesländern. Die Unterbringung nach §63 StGB ist keine Haftstrafe, sondern eine Maßnahme zur Behandlung psychisch erkrankter Straftäter. Sie wird angeordnet, wenn jemand eine schwere Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder mit erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen hat und als gefährlich gilt.

Immer wieder flammt die Diskussion auf, ob die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung milder ist als eine Haftstrafe. „Das ist nicht miteinander vergleichbar, weil es im Maßregelvollzug um kranke Menschen geht“, sagt Professor Dr. Jürgen Leo Müller. Der Chefarzt der Asklepios Fachklinik Göttingen leitet das Fachreferat Forensische Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Es gibt im Maßregelvollzug viele Patienten, die lieber in Haft sitzen würden. Weil sie dann wüssten, wie lange sie hinter Gittern sind.“ Im Maßregelvollzug ist das anders.

Denn die Dauer der Unterbringung ist bei erheblichen Straftaten nicht begrenzt. „Menschen im Maßregelvollzug haben eine schwere psychische Störung. Sie müssen so lange in der Klinik bleiben, bis sie keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellen“, erklärt Müller. Mehr als jeder Vierte verbringe mehr als zehn Jahre im Maßregelvollzug.

Schleswig-Holstein versucht, die Rückfallquote mit Prävention zu verringern: Forensische Institutsambulanzen der beiden Maßregelvollzugskliniken betreuen Patientinnen und Patienten während der Bewährungs- und Führungsaufsicht nach der Entlassung, und zwar auch aufsuchend. Außerdem wird nach Angaben des Justizministeriums derzeit ein „Handlungskonzept“ für Menschen in der Bewährungshilfe entwickelt, die sich in besonders problematischen Lebenslagen befinden und nach der Zeit im Vollzug womöglich Schwierigkeiten haben, Zugang zu einer geregelten sozialen und psychologischen Nachsorge zu bekommen. Geplant sei ein „Fallmanagement“ mit individuellen Hilfen. Zur Zielgruppe könnten auch aus dem Maßregelvollzug entlassene Personen gehören.

Die Daten aller Bundesländer des Jahres 2023 zeigen deutliche Unterschiede bei den durchschnittlichen Verweildauern. In Hessen war sie mit 6,03 Jahren am kürzesten, gefolgt von Bremen mit 6,29 Jahren und Baden-Württemberg mit 6,38 Jahren. Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete 9,81 Jahre, Brandenburg 9,82 Jahre und Schleswig-Holstein 10,35 Jahre. Anders als bei der Betrachtung aller Insassen zu einem Stichtag, bei denen die endgültige Verweildauer noch nicht feststeht, werden in unserer Grafik nur Patienten betrachtet, deren Maßregel im Jahr 2023 beendet wurde. Es handelt sich also um abgeschlossene Fälle, deren Dauer rückblickend gemessen wurde.

„Trotz intensiver therapeutischer Angebote gelingt es nicht immer, die Rückfallgefahr auf ein hinnehmbares Maß zu reduzieren“, teilte das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt (durchschnittliche Verweildauer: 6,81 Jahre) dem WEISSER RING Magazin mit. „Daher ist ein längerer Verbleib in einer Maßregelvollzugseinrichtung zum Schutz der Allgemeinheit nicht auszuschließen.“

Es fehlt an Platz und Personal

Laut DGPPN sind in Deutschland rund 10.000 psychisch oder suchtkranke Straftäter im Maßregelvollzug untergebracht – verteilt auf 78 Einrichtungen. „Mit der Unterbringung dürfen wir die Patienten aber nicht automatisch behandeln“, schildert Müller. Für eine Behandlung gegen ihren Willen sind die rechtlichen Hürden hoch und in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. „Wir beobachten, dass Patienten, denen geholfen werden könnte, keine Therapie annehmen und viele Jahre bleiben müssen.“

Viele der forensisch-psychiatrischen Einrichtungen seien überfüllt, fand die DGPPN bei einer Umfrage heraus: Es fehle an Platz und Personal. Und selbst wenn von einem Patienten keine Gefahr mehr ausgehe, könne es sein, dass eine Entlassung nicht möglich sei, weil es zu wenig Anschlussbehandlungsmöglichkeiten und Wohnangebote gebe.

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Gregor

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Ein Rassist mit einer paranoiden Schizophrenie ermordete Serpil Temiz Unvars Sohn Ferhat. Sie ist vom ebenfalls psychisch auffälligen Vater des Täters immer wieder gestalkt worden.

Serpil Unvar: Ihr Sohn wurde am 19. Februar von einem Rassisten in Hanau ermordet.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau den Sohn von Serpil Unvar aus rassistischen Motiven.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit mein 22-jähriger Sohn von einem Rassisten erschossen wurde. Einen größeren Schmerz gibt es nicht, er wird nie weggehen. Aber ich fühle, dass Ferhat noch da ist. Es ist, als würde ich weiter mit ihm in unserem Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt leben. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Spuren hinterlassen. Weil ich Ferhat sonst verlassen würde, werde ich auf keinen Fall wegziehen. Obwohl der Vater des Attentäters, der wie sein Sohn rassistisch und psychisch auffällig ist, in der Nähe wohnt. Lange hat er mir nachgestellt und Briefe geschickt, in denen er eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb.

Er stand vor meinem Fenster, verstieß gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot. Sein Psychoterror hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine alleinerziehende, starke Frau bin, die in die Öffentlichkeit geht. In letzter Zeit ist es recht ruhig, doch ich gehe davon aus, dass er uns weiter Angst machen will.

In einem Sammelverfahren wurde er 2024 wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung und anderen Delikten zu einer Geldstrafe von gut 20.000 Euro verurteilt. Mein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Urteil ist nicht hart genug.

Der Anschlag

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau an zwei Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Laut dem forensischen Gutachten von Professor Henning Saß war der Attentäter paranoid-schizophren und rechtsextrem. Der Vater des Täters hat Anfragen bisher nicht beantwortet. In früheren Stellungnahmen wies er alle Vorwürfe zurück und stellte sich und seine Familie als unschuldige Opfer dar. Er tue niemandem etwas Böses. Und für die Morde – auch an seiner Frau und an seinem Sohn – sei eine weltweite Geheimorganisation verantwortlich.

Was muss noch alles passieren? Diese Frage stelle ich nicht nur für mich selbst. Vor allem Frauen werden oft massiv bedroht, etwa vom Ex-Partner, aber die notwendigen Konsequenzen bleiben aus. Trotz Warnsignalen. Diese gab es auch beim Attentäter von Hanau. Er schrieb zum Beispiel Briefe mit Verschwörungstheorien an Behörden, war mal in die Psychiatrie eingewiesen worden – und durfte legal Waffen besitzen. Wir müssen die Prävention verbessern, um solche Taten zu verhindern. Besonders wichtig ist das Waffenrecht. Waffen dürfen nicht in die Hände von Extremisten oder psychisch Kranken gelangen. Alle für Sicherheit zuständigen Stellen sollten Warnzeichen besser erkennen.

Wenige Monate nach dem Mord an meinem Sohn habe ich die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet. Wir haben 45 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die an Schulen Workshops gegen Diskriminierung geben, deutschlandweit. Bald werden wir auch in Grundschulen unterwegs sein. Den Wunsch hatte mein jüngster Sohn, der auch Vorschläge für das Konzept macht.

„Sein Psychoterror gegen mich hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Serpil Temiz Unvar

Ende 2024 haben wir in Hanau eine internationale Konferenz mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Für das Leben“ veranstaltet, inspiriert von Ferhats Worten: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Wir haben mit Betroffenen über Hassverbrechen – antisemitische, islamistische, rechtsextremistische – und Strategien dagegen diskutiert. Alle haben die gleichen Schmerzen; im Endeffekt sind alle Opfer von Menschenfeindlichkeit. Wir müssen gemeinsam dagegen kämpfen. Überlebende und Hinterbliebene aus Utøya waren auch da. Sie haben bei der Prävention den Fokus früh auf Bildung gelegt und neben einem Museum durchgesetzt, dass der Anschlag in Norwegen Teil des Lehrplans ist.

Manchmal bin ich müde und traurig – auch wegen der aktuellen Krisen und rechten Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Aber aufzuhören oder aufzugeben ist keine Option, wir müssen zusammen und dagegenhalten. Ich glaube an das Gute im Menschen und die Möglichkeit zur positiven Veränderung. Was mir – neben Ferhat – Mut macht und mich antreibt, sind die jungen Menschen, die sich bei uns engagieren.

Transparenzhinweis:
Serpil Unvar wurde zeitweise vom WEISSEN RING unterstützt, unter anderem mit einer finanziellen Soforthilfe.

Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Erstellt am: Mittwoch, 25. Juni 2025 von Gregor
Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Betroffene leiden oft ein Leben lang unter den Folgen. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Datum: 25.06.2025

Fonds sexueller Missbrauch: Antragsstopp und Aus

Der Fonds sexueller Missbrauch, eine wichtige Hilfe für Opfer, ist schon länger in Gefahr. Jetzt spitzt sich die Situation zu. Ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge können vermutlich nicht mehr berücksichtigt werden.

Eine unverzichtbare, niedrigschwellige Unterstützung ist der Fonds sexueller Missbrauch (FSM) für Betroffene. Er ist Teil des Ergänzenden Hilfesystem (EHS), kann Folgen des Missbrauchs lindern und einspringen, wenn notwendige Leistungen nicht durch Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht abgedeckt werden, etwa Physiotherapie oder Ergotherapie.

Nun gibt es einen Antragsstopp. Außerdem steht der Fonds in seiner jetzigen Form vor dem Aus – trotz einer zuversichtlich stimmenden Ankündigung im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Die Parteien hielten darin fest: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“

Alarmierende Mitteilung der Geschäftsstelle

Am Mittwoch veröffentlichte die Geschäftsstelle des Fonds eine Mitteilung, die deutlich macht, wie sich die Situation zugespitzt hat: In den vergangenen Wochen seien mehr Anträge auf Unterstützung eingegangen als erwartet. „Zu unserem Bedauern werden die im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel zur Gewährung von Billigkeitsleistungen für Betroffene nicht ausreichen, um alle bisher eingegangenen Anträge zu bewilligen“, so die Geschäftsstelle. Derzeit sei davon auszugehen, dass ab dem 19. März 2025 eingegangene Erstanträge nicht mehr berücksichtigt werden. Darüber hinaus könnten nur vollständige Anträge bis 31. Dezember 2025 beschieden werden. Die Geschäftsstelle bittet Antragstellende, bereits eingereichte Anträge selbstständig zu vervollständigen.

Weiter heißt es in der Mitteilung, dem Bundesfamilienministerium sei bewusst, dass die Fristen und Kürzungen viele Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend enttäuschen und vor große Herausforderungen stellen. In der bisherigen Form könne das System – auch weil in den Haushaltsverhandlungen keine Mittel vorgesehen seien – aber nicht fortbestehen. Unbürokratische Hilfen seien aber nach wie vor wichtig. Deshalb setze sich das Ministerium in Gesprächen dafür ein, dass Opfer weiterhin Hilfen bekommen – in welcher Form werde geprüft und brauche noch Zeit.

Kritische Stimmen sprechen von Abwicklung

Aus Fachverbänden sind Stimmen zu hören, die von einer Abwicklung des Fonds sprechen. Kürzlich hatte das von Karin Prien (CDU) geführte Bundesfamilienministerium auf Anfrage des WEISSER RING Magazins noch mitgeteilt: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Der Fonds ist schon länger in Gefahr: Unter Priens Vorgängerin Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte das Ministerium das geplante Aus mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 moniert hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte damals mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht auf eine Reform des EHS einigen können. Das müsse die neue Bundesregierung übernehmen.

Der „Rheinischen Post“ sagte Prien nun, sie wolle sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch einsetzen. Auch werde sie gezielt das Gespräch mit der Unabhängigen Beauftragten Kerstin Claus und dem Betroffenenrat suchen, um eine „tragfähige Lösung“ zu finden. Das System könne nicht wie bisher weitergeführt werden, räumte die Ministerin ein. Die Neuaufstellung sei für Anfang 2026 geplant.

Claus hat die aktuelle Entwicklung mit deutlichen Worten kritisiert: „Einfach rückwirkend bereits vorliegende fristgerechte Anträge auszuschließen und die Annahme von weiteren Anträgen bis zum kommunizierten Antragsende am 31. August 2025 zu verweigern, kommt einem neuerlichen Verrat an Betroffenen gleich“, sagte Claus. Sie appellierte an die Bundesregierung, „sicherzustellen, dass eine kurzfristige Nachsteuerung noch in diesem Jahr erfolgt, um Versorgungslücken zu verhindern“.

Rund 27.500 Menschen wurden unterstützt

Im Jahr 2023 wurden Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent) gezahlt, aus Bundesmitteln flossen in dem Jahr 32 Millionen Euro in den Fonds. Laut dem zuständigen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Unterstützung durch den Fonds.

Bundesweite Razzien gegen Hass im Netz

Erstellt am: Mittwoch, 25. Juni 2025 von Selina
Razzien wegen Hasspostings: Frau hält ein Handy in der Hand.

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 25.06.2025

Bundesweite Razzien gegen Hass im Netz

Das Bundeskriminalamt hat im Rahmen des 12. Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz, bundesweite Durchsuchungen durchgeführt. Vor allem Hasspostings mit rechten Inhalten sind stark angestiegen.

Mit gut 180 Maßnahmen in mehr als 140 Ermittlungsverfahren sind Polizei und Justiz am Mittwoch bundesweit gegen strafbare Hasspostings im Internet vorgegangen. Das teilte das Bundeskriminalamt (BKA) mit, das den zwölften Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz koordinierte. In mehr als 65 Fällen kam es den Angaben zufolge zu Durchsuchungen, zahlreiche Beschuldigte wurden vernommen.

Die meisten Ermittlungen betreffen Politisch motivierte Kriminalität (PMK) – insbesondere rechtsextreme Inhalte. Etwa zwei Drittel der Hasspostings sind dem Bereich „rechts“ zuzuordnen. Zusätzlich gab es Fälle aus dem Bereich „sonstige Zuordnung“ sowie vereinzelte Fälle aus den Bereichen „religiöse Ideologie“, „links“ und „ausländische Ideologie“.

Zu den häufigsten Vorwürfen zählen Volksverhetzung (§ 130 StGB), das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB), die Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB).

Enormer Anstieg strafbarer Posts

Hintergrund der bundesweiten Maßnahmen ist ein enormer Anstieg strafbarer Hasspostings. Laut BKA haben sich die registrierten Fälle zwischen 2021 (2.411 Fälle) und 2024 (10.732 Fälle) mehr als vervierfacht. Der Großteil stammte aus den Bereichen „rechts“ sowie „sonstige Zuordnung“. Neben einem realen Anstieg der Fälle spielt auch die bessere Aufdeckung durch die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI BKA) eine Rolle.

Das BKA ruft Bürgerinnen und Bürger auf, aktiv gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen – durch das Anzeigen und Melden strafbarer Inhalte bei Polizei, sozialen Netzwerken oder spezialisierten Meldestellen wie „Hessen gegen Hetze“ und „REspect!“.

Weitere Informationen und Anlaufstellen gibt es unter: https://www.bka.de/MeldestelleHetzeImInternet

Psyche & Gewalt

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Selina

Psyche & Gewalt

Nach Messerattacken wie in Hamburg und Amokfahrten wie in Mannheim wird intensiv über Gewalt durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung diskutiert. Sind sie gefährlicher als andere? Falls ja: Wie lässt sich das Risiko senken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, bei Fachleuten aus der Wissenschaft, Betroffenen, Ministerien und in Statistiken.

Was sich nach Attentaten wie in Aschaffenburg, Mannheim und Hamburg ändern muss.

Kapitel 1: Aschaffenburg und Mannheim

Sie legen Kuscheltiere, Blumen und Kerzen nieder. Und Briefe, in denen sie Anteil nehmen. Viele der 3000 Menschen, die sich am Abend des 23.Januar in Aschaffenburg versammeln, sind schockiert, sprachlos und weinen. Ihre Kerzen tauchen den mitten in der Stadt gelegenen Park Schöntal an diesem Winterabend in ein warmes Licht. Manche der Trauernden appellieren auf Transparenten an den Zusammenhalt; es ist ein stilles Gedenken, das seinen Namen verdient. Während in der Bundesrepublik, kurz vor der Wahl, hitzig debattiert wird.

Am Tag zuvor, am Vormittag, hatte ein 28-Jähriger in dem Park ein Messer gezogen und eine Kindergartengruppe angegriffen. Er erstach ein Kleinkind und einen 41-Jährigen, der helfend einschritt. Drei weiteren Menschen, darunter einer Kindergärtnerin, die sich ihm entgegenstellte, fügte er schwere Verletzungen zu. Vorher war der ausreisepflichtige Asylbewerber aus Afghanistan mehrfach straffällig und psychisch auffällig geworden.

Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss an, das forensisch-psychiatrische Gutachten war aber abgeschlossen. Wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mitteilte, geht der Gutachter davon aus, dass dem Beschuldigten „infolge einer psychiatrischen Erkrankung die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gefehlt habe“. Und dass die Erkrankung nicht vorübergehend sei. Falls sie nicht doch geheilt wird, sei „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren, auch hochaggressiven Taten zu rechnen“. Daher deutete alles auf ein Sicherungsverfahren hin, mit dem Ziel, den Mann dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen.

Bereits vor der Attacke im Januar wurde gegen ihn ermittelt – wegen „tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung“. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben, aber ausgesetzt. Der Grund: Der Geflüchtete gab an, freiwillig ausreisen zu wollen. Voraussetzungen für einen Haftbefehl hätten nicht vorgelegen, so die Staatsanwaltschaft.

2018

Münster. Am 7. April 2018 lenkte ein 48-Jähriger in Münster einen Kleinbus in eine Menschenmenge am Kiepenkerl-Denkmal im Stadtzentrum. Vier Menschen starben, mehr als 20 erlitten teils schwere Verletzungen. Der deutsche Täter erschoss sich anschließend selbst. Der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt kannte Jens Alexander R. bereits. Laut Informationen von SZ, WDR und NDR war der Mann bei Polizeieinsätzen als nervenkrank aufgefallen.

Der Angreifer war zu dem Zeitpunkt schon zweimal polizeilich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, am 12. Mai 2024 und im August desselben Jahres. In beiden Fällen wurde der 28-Jährige nach kurzer Zeit entlassen, im letztgenannten Fall soll er in einer Flüchtlingsunterkunft eine Bewohnerin mit einem Messer attackiert haben. Dieser Vorfall sei ihr erst nach dem Attentat vom 23. Januar dieses Jahres bekannt geworden, schreibt die Staatsanwaltschaft. Hier ermittle sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Wenige Wochen nach dem Messerangriff von Aschaffenburg, am Mittag des dritten März, fährt ein 40-Jähriger in Mannheim mit einem Kleinwagen in eine Menschenmenge. Der Deutsche tötet eine 83-Jährige und einen 54-Jährigen und verletzt elf weitere Menschen teils schwer. Ein Taxifahrer mit pakistanischen Wurzeln stellt sich ihm mit seinem Auto in den Weg. Der Angreifer schießt mit seiner Schreckschusspistole und flieht. Als die Polizei ihn festnimmt, schießt er sich in den Mund, überlebt aber.

2019

Frankfurt. Im Juli 2019 stieß der 40-jährige Habte A. eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Der Sohn starb, die Mutter überlebte. Habte A. litt an paranoider Schizophrenie. Das Landgericht Frankfurt am Main ordnete wegen der Schuldunfähigkeit des Eritreers die Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim erklärte auf Anfrage, die Ermittlungen, unter anderem wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes, liefen. Deswegen könne sie weder zum Tatablauf noch zu Motiven nähere Angaben machen. Sie habe ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliege.

Kurz nach der Tat hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund oder mögliche Mittäter gesehen. Wenige Tage später veröffentlichte das Recherchenetzwerk Exif Hinweise darauf, dass der Verdächtige früher der Neonaziszene und der „Reichsbürger“- Bewegung angehört und rechtsradikale Ansichten geteilt haben soll. Im Jahr 2018 war der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er bei Facebook unter ein Foto von Hitler in einem Kommentar „Sieg Heil from Germany“ schrieb.

Bald nach der Amokfahrt vermuteten die Ermittler, dass ein psychischer Ausnahmezustand eine Rolle spielte. Der Fahrer soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, im Jahr vor der Tat auch stationär.

Die mutmaßlichen Täter haben sich laut den Staatsanwaltschaften nicht zu den Vorwürfen geäußert. Noch ist vieles unklar, doch eines haben die Attentate von Mannheim und Aschaffenburg gemeinsam: Die Beschuldigten hatten psychische Probleme, und es gab Warnsignale. Nach Fällen wie diesen werden immer wieder Fragen laut: Wie gefährlich sind psychisch kranke Menschen? Gibt es Schutzlücken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, mit dem Fokus auf eine bessere Prävention.

Kapitel 2: Wahn und Warnsignale

Henning Saß ist einer der erfahrensten forensischen Psychiater Deutschlands. Er hat in vielen aufsehenerregenden Fällen Gutachten erstellt, etwa beim rassistischen, psychisch kranken Attentäter von Hanau oder bei NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Das Haus des emeritierten Professors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule liegt auf einem Hügel und bietet einen guten Blick über Aachen. Saß, ein sportlich wirkender Mann Anfang 80, hat einige wissenschaftliche Aufsätze bereitgelegt und bietet etwas zu trinken an. Mit seiner ruhigen Stimme schafft er auch bei dem komplexen wie brisanten Thema eine entspannte Atmosphäre.

2020

Hanau. Am 19. Februar tötete der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nach seinen Angriffen auf Bars und einen Kiosk tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst. Gutachter Henning Saß sah beim Täter klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie.

Aufmerksam verfolgt der Psychiater, der schnell und präzise antwortet, die Diskussion nach Attentaten wie in Aschaffenburg und Mannheim. „Nach solchen Einzeltaten, die in die Schlagzeilen kommen, betrachte ich die Debatte mit großer Sorge, weil sie zu einer Diskriminierung der psychisch Kranken insgesamt führen kann“, sagt er. „Aussagen wie ,Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlicher‘ sind unsinnig.“ Man müsse differenzieren. Während die meisten Betroffenen nicht gewalttätig seien, bestehe bei bestimmten Krankheiten tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko, „und zwar in doppelter Hinsicht: Gewalt auszuüben und Opfer davon zu werden“. Das treffe insbesondere auf die schizophrenen Psychosen zu, aber etwa auch auf die dissoziale Persönlichkeitsstörung und die Substanzkonsumstörungen.

Die Rechtslage

Wenn bei psychisch kranken Menschen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden. Geregelt ist dies in den Psychisch-Kranken- beziehungsweise Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen der Bundesländer. Ziele seien Gefahrenabwehr und Hilfe für die Erkrankten. Eine Unterbringung – für die es eine ärztliche Einschätzung braucht – wird in der Regel vom Gesundheitsamt beantragt. Die Entscheidung fällt das Amtsgericht. Nur wenn es nicht schnell genug entscheiden kann, kommt eine „vorläufige Unterbringung wegen Gefahr im Verzug“ durch das Amt selbst infrage. Zudem kann eine Unterbringung nach einer Verurteilung oder einem Sicherungsverfahren beschlossen und im Maßregelvollzug vollstreckt werden. Gemäß § 63 Strafgesetzbuch ist dies bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, die zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und bei denen weiter erheblich rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Dauer ist nicht befristet, sondern von der Risikoeinschätzung abhängig, die mindestens einmal pro Jahr erfolgt. Laut § 64 StGB können Menschen mit Suchterkrankungen, die unter Drogeneinfluss oder infolge ihrer Abhängigkeit straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die Unterbringung ist in der Regel auf zwei Jahre befristet. Darüber hinaus können Polizeibehörden psychisch auffällige Personen bei Gefahr im Verzuge festhalten und einem Arzt oder Psychiater vorstellen.

Saß verweist unter anderem auf eine schwedische Studie zum Gewaltrisiko von Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Wissenschaftler betrachteten die Entwicklung von 250.000 Patientinnen und Patienten. Dafür werteten sie Register aus. Insgesamt hatten die Erkrankten demnach ein drei- bis viermal höheres Risiko, gewalttätig zu werden oder Gewalt zu erfahren. Bei einer akuten Schizophrenie kann der Faktor höher liegen. Eine andere Untersuchung fokussierte sich auf diese Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass zehn Prozent der männlichen Patienten eine Gewalttat begangen hatten.

Die psychische Erkrankung, betont der Professor, sei aber jeweils – neben Drogen, Alkohol, männlichem Geschlecht, Jugend und prekären sozialen Bedingungen – nur ein Risikofaktor. Und damit nur eine potenzielle Ursache für Gewalt.

Unsichere Lebensverhältnisse beträfen auch Geflüchtete: „Sie sind sozial und ökonomisch entwurzelt, haben oft keinen Kontakt zu ihrer Familie und wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Das kann sie psychisch labilisieren und anfällig für extremistische Gedanken machen.“

„Am Ende bleibt die Unsicherheit“

Ein Mann schlägt eine Frau brutal zusammen. Er gilt als schuldunfähig. Während die Betroffene um psychologische Hilfe kämpfen muss, bekommt der Täter sofort eine Behandlung.

Ich war auf dem Weg zu meinem Mieter. Als ich das Wohnhaus betrat, kam mir ein Mann entgegen. „Guten Tag“, mehr habe ich nicht zu ihm gesagt. Er fragte, ob ich hier wohne, und ich antwortete, dass ich hier eine Wohnung habe. Er schrie mir hinterher: „Wohnst du hier?“ Dann packte er mich an den Haaren, zog mich die Treppe hinunter und prügelte auf mich ein. Ich kannte den Mann nicht, war ihm nie zuvor begegnet.

Es stellte sich heraus, dass er paranoide Schizophrenie hat. Mir war es wichtig, dass er weggesperrt wird, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie hochgradig gefährlich er ist. Das Gericht war der Meinung, er sei schuldunfähig, und steckte ihn in eine forensische Klinik. Es wertete die Tat als schwere Körperverletzung, aber für mich war es versuchter Mord. Er holte im Laufe der Tat extra einen Metallgegenstand aus seiner Wohnung, um damit weiter auf mich einzuschlagen. Wäre mein Mieter nicht gekommen, hätte er mich getötet.

Meine Anwältin sagte, dass es gut sei und er in der Klinik bleiben werde. Aber im Nachhinein ist da eine Unsicherheit. Was ist, wenn er einen Psychologen hat, der es gut mit ihm meint und ihn früh entlässt? Aus Gerichtsunterlagen kennt er meine Adresse. Was ist, wenn er Rache möchte? Ich werde über eine Entlassung nicht informiert. Dazu kommen die Kosten. Der Mann ist mittellos. Alles musste ich selbst bezahlen, die

Gerichtskosten, die 4000 Euro für die zehn ausgeschlagenen Zähne. Ich bin selbstständig und kann bis heute nur zwei Stunden am Tag arbeiten. Ich habe einen Grad der Behinderung von 40 attestiert bekommen. Meine Wortfindungsstörung ist besser geworden, aber mein Neurologe sagte mir, dass alles an Verbesserung nun ausgeschöpft sei. Nach drei Jahren habe ich eine kleine Rente bekommen. Meine Eigentumswohnung musste ich verkaufen.

Drei Monate habe ich nach einem Therapieplatz gesucht. Der Traumatherapeut war schon kurz vor dem Ruhestand, aber nachdem er vom Fall gehört hatte, nahm er mich auf. Alles musste von mir organisiert werden, mir hat niemand geholfen außer meiner Betreuerin vom WEISSEN RING. Der Täter kam in eine Klinik, bekam ein Therapieangebot, auch für seine Cannabis-Sucht. Um die Täter kümmern sie sich, um die Opfer nicht. Es sollte so etwas wie einen Code für Opfer von solchen Delikten geben. Diesen könnte das Gericht für eine schnelle psychologische Unterstützung an die Krankenkasse weiterleiten. Opfer sollten informiert werden, wenn der Täter wieder freikommt. Und Menschen mit einer solchen Gewaltbereitschaft sollten strenger beobachtet werden.

Petra

Treffen die Risikofaktoren Wahnerkrankung und Extremismus aufeinander, können sie sich vermischen und verstärken, so Saß. Wie im Fall des Hanauer Terroristen, wo bei der posthumen Begutachtung eine „Amalgamierung“ erkennbar war, also eine Verbindung von „Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken“.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren bei der Gewaltkriminalität allein im vergangenen Jahr 217.277 Fälle registriert, bei einem Anstieg von 1,5 Prozent gegenüber 2023. Ob ein Verdächtiger psychisch krank war, wird in der Regel jedoch nicht in der PKS erfasst.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gleich „Gefährder“.

Erste Hinweise auf das Ausmaß des Gewaltproblems bei psychisch Kranken können Statistiken des Maßregelvollzugs geben. Tendenziell ist die Zahl der untergebrachten Straftäter gestiegen, wie aus einer Länderumfrage des WEISSER RING Magazins hervorgeht. In Hessen zum Beispiel nahm die durchschnittliche Belegung von 672,5 Patienten im Jahr 2015 auf 939,2 im Jahr 2024 zu, in Berlin von 801 auf 848, in Rheinland-Pfalz von 604 auf 715. Darunter sind allerdings nicht nur Gewalttäter, sondern auch Menschen, die gemäß Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund einer Suchterkrankung im Maßregelvollzug sind. Bei Personen, die nach § 63 untergebracht worden sind, zählen Körperverletzung, Tötungs- sowie Sexualdelikte zu den häufigsten Taten. Auch bei diesem Paragraphen sind die durchschnittlichen Belegungszahlen in einem Großteil der Bundesländer gestiegen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel von 242 Patienten im Jahr 2015 auf 257 im vergangenen Jahr, in Baden-Württemberg von 535 auf 805 und im Saarland von 89 auf 129.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit: „Die Zahl der schwer psychisch erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Straftaten begangen haben, ist in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren angestiegen.“ Zu den wenigen Bundesländern, die die vor einer Unterbringung begangenen Gewalttaten – etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung und Sexualdelikte – detailliert aufschlüsseln können, zählt Baden-Württemberg: Die Zahl dieser Delikte ist von 523 im Jahr 2013 auf 789 zehn Jahre später gestiegen. Im Jahr 2023 saßen dort 3232 Menschen im Maßregelvollzug. Wie viele Geflüchtete unter den Patienten sind, ist in keiner Länderstatistik erfasst.

2020

Trier. Am 1. Dezember 2020 fuhr ein 51-jähriger Mann mit einem Geländewagen durch die Fußgängerzone von Trier und tötete sieben Menschen, darunter ein Baby. 22 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der deutsche Täter war betrunken und litt an einer paranoiden Schizophrenie. Schuldunfähig sei er zum Tatzeitpunkt jedoch nicht gewesen. Das Landgericht Trier verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Britta Bannenberg empfängt in ihrem auffallend aufgeräumten Büro, wo alles seine Ordnung zu haben scheint, auch dank der unzähligen Ordner. Die Kriminologin war früher Langstreckenläuferin. Bannenberg – offenes Lächeln, starker Händedruck – ist nach wie vor fit und ausdauernd, in mehrfacher Hinsicht: Die Professorin der Universität Gießen, an der sie unter anderem die kurzen Wege schätzt, forscht seit gut 20 Jahren zu Amok und Terror. „Es handelt sich um sehr seltene Taten, die in den vergangenen Jahren aber zugenommen haben“, sagt Bannenberg. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Anschlägen verhindert. Zu den möglichen Gründen für den Anstieg zählten die vielfältigen Herausforderungen in jüngster Zeit, etwa die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die stärkere Zuwanderung seit 2015. All dies könne dazu beitragen, dass manche Menschen in eine Krise geraten, andere dafür verantwortlich machen und einen enormen Hass entwickeln, zum Beispiel auf Zugewanderte.

Bannenberg beschäftigt sich intensiv mit den Attentätern, um Erkenntnisse für die Ursachen und die Prävention zu gewinnen. Sie beobachtet gewisse Nachahmungseffekte beim Zeitpunkt der Tat und bei den Methoden: Täter fühlten sich durch andere Täter und die Berichterstattung über sie angeregt, jetzt zu handeln, hätten oft aber schon vor Jahren über einen Anschlag nachgedacht. Zum Teil seien sie ideologisch, etwa islamistisch oder rassistisch, zum Teil persönlich motiviert.

2021

Witzenhausen. Ein 31-Jähriger fuhr am 29.Oktober 2021 mit einem Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige starb, eine Sieben und eine Achtjährige wurden schwer verletzt. Das Landgericht Kassel ordnete die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an. Aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie galt der Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig.

Die Rechtswissenschaftlerin hat weitere Merkmale gesammelt: Fast alle Täter sind demnach männlich und die meisten psychisch gestört, ein Drittel auch psychisch krank. Dennoch seien sie in der Lage, die Tat detailliert zu planen. Im Gegensatz zu den paranoid schizophrenen Tätern seien die persönlichkeitsgestörten in der Regel schuldfähig und wüssten genau, was sie täten und weshalb. Sie wollten möglichst viele Menschen töten, Aufmerksamkeit und eine Art Heldenstatus bekommen und sich an der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen rächen. Es handele sich um Einzelgänger, die soziale Defizite aufweisen, keine Empathie hätten und sich einerseits überlegen, andererseits gedemütigt fühlten. „Die Kälte zeigt sich im Tötungsakt“, so Bannenberg.

Kapitel 3: Maßregelvollzug und Missstände

Die Sonne scheint auf die graugrüne Fassade, die im Licht beinahe freundlich wirkt. Auf den ersten Blick erinnert das Gebäude an eine moderne Schule – bis Kameras, Sicherheitsdienst und eine drei Meter hohe Hochsicherheitstür klarmachen: Dies ist kein Platz für Kinder. In der forensischen Psychiatrie am Europakanal im bayerischen Erlangen werden Straftäter mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt. Sie sind nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt worden und wurden als schuldunfähig eingestuft. Das Nachbargebäude entspricht eher dem Bild, das viele vom Maßregelvollzug haben: schmutzige Betonwände, ausgebleichtes Orange an den Fensterrahmen – ein Ort, der auf Abstand hält. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Paragraf 64 StGB verurteilt wurden. Sie sind schwer suchtkrank und haben dadurch Straftaten begangen. „Das Gebäude wird noch saniert“, sagt Chefarzt David Janele.

2021

Würzburg. Am 25. Juni 2021 tötete ein 24-jähriger in der Würzburger Innenstadt drei Frauen und verletzte mehrere weitere Personen mit einem Messer. Der Mann war bereits zuvor wegen psychischer Probleme auffällig geworden. Das Würzburger Landgericht, das die Taten unter anderem als dreifachen Mord wertete, ordnete die dauerhafte Unterbringung des zum Tatzeitpunkt wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähigen Somaliers in die Psychiatrie an.

Die Führung beginnt in dem sanierten Gebäude, bei den psychisch erkrankten Straftätern. Pflegekräfte und Patienten sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. „Alle tragen Alltagsklamotten“, erklärt Janele. Dies unterstütze die therapeutische Behandlung, da eine weniger „klinische“ Atmosphäre helfen könne, die Rehabilitation zu erleichtern. Locker geht es hier deshalb nicht zu. Es befinden sich Gitter an den Fenstern, die kleinen Zimmer sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Bett, Tisch, Bad. Und niemand kommt einfach raus. „Paragraf 63 ist unbefristet – das schärfste Schwert der Justiz und der tiefste Eingriff ins Persönlichkeitsrecht.“ Beengt wirkt die Station nicht, obwohl die Zahl der schuldunfähigen Täter gestiegen ist. In Bayern wurden 2015 2.561 Menschen behandelt, zehn Jahre später liegt die Zahl bei rund 3.000. Eine Zunahme um etwa 17 Prozent, die Chefarzt Janele auch in seinem Klinikum wahrnimmt. Aber: „Bei uns, wie auch in ganz Bayern, haben wir im Maßregelvollzug ausreichend Betten sowie Kapazitäten, um alle gut zu versorgen.“

Eine Aussage, die nicht alle Bundesländer treffen. Das WEISSER RING Magazin hat bundesweit Träger forensischer Kliniken angefragt. In Berlin gibt es 549 ordnungsbehördlich genehmigte Betten, im Oktober 2024 waren aber 622 belegt. Im Jahr 2024 kam es wiederkehrend dazu, dass Patienten aufgrund von Platzmangel nicht aufgenommen wurden. Im März 2024 waren nur 75,4 Prozent aller Personalstellen besetzt: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die sich aus der Risiko-Nutzen-Abwägung ergeben und notwendig wären“, sagt die Senatsverwaltung.

2022

Berlin. Am 8. Juni 2022 fuhr ein 29-Jähriger mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Eine Lehrerin starb, 32 Menschen wurden verletzt. Wegen einer gutachterlich bestätigten chronischen paranoiden Schizophrenie wurde der Deutsch-Armenier vom Landgericht Berlin dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.

Und das sind nicht die einzigen Probleme in Berlin. Die räumliche Enge in der Forensik hat in der Vergangenheit zu Konflikten sowie Gewalt beigetragen, was wiederum eine hohe Zahl von isolierten Patienten zur Folge hatte. Ein Umstand, mit dem der ehemalige ärztliche Leiter Sven Reiners aus Gewissensgründen nicht zurechtkam und deshalb kündigte.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist Träger von sechs Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist das Patientenaufkommen in den vergangenen zehn Jahren von 1236 auf 1357 gestiegen. Auf Anfrage entgegnet ein LWL-Sprecher, die Häuser seien gut besetzt. Gleichwohl
räumt er ein: „Der Stellenmarkt der forensischen Kliniken unterliegt mehrfachen Herausforderungen.“ Gründe seien Fachkräftemangel, Stadt Land-Gefälle, Überalterung. Auf die Frage, ob sie in ihrer Einrichtung die Patienten gut versorgen können, antwortet das LWL knapp: „Die Versorgung ist per Gesetz geregelt.“

„Ich fühlte mich verarscht“

Eine Frau wurde vergewaltigt. Für die Betroffene unverständlich: Obwohl ein Gutachten den Täter als schuldfähig einstufte, möchte der Richter ihn in eine forensische Klinik schicken.

Er hätte mich getötet, wenn niemand gekommen wäre. Er sagte es mir auch immer wieder, während er mich vergewaltigte und würgte. Dabei wollte ich nur auf die Toilette gehen. Es war morgens, um neun Uhr, in einer Kneipe. Meine Freundin wartete draußen. Als ich nicht wiederkam, ging sie hinein, um nach mir zu sehen. Der Täter floh. Später werde ich erfahren, dass er an diesem Tag noch eine weitere Frau vergewaltigt hat.

Vor Gericht hörte ich das Gutachten eines Psychologen: Er erklärte, warum der Täter zu beiden Tatzeitpunkten schuldfähig war. Der Gutachter betonte, dass er die Taten nicht aufgrund eines Alkoholproblems begangen hat. Der Täter sei bei mir so brutal gewesen, das hätte er auch nüchtern gemacht, sagte der Gutachter. Laut ihm war er auch nicht betrunken, da er motorisch nicht eingeschränkt war. Ich roch auch keinen Alkohol während der Tat. Der Barkeeper sagte mir später, er gab dem Mann nur zwei Bier und einen Kurzen.

Acht Jahre Haft bekam der Täter. Nach zwei Jahren und neun Monaten soll er in eine Entzugsklinik, bis sein Alkoholproblem gelöst sei. Ein Alkoholproblem, das laut Gutachter gar nicht existiert. Ich fühlte mich verarscht. Während der acht Prozesstage schien es, als sei der Richter auf der Seite der beiden Opfer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er voreingenommen war. Es kommt mir so vor, dass er in der Akte „morgens in einer Kneipe“ las und dazu seine Vorstrafen: Einmal schlug er einen Mann mit einer Flasche. Das Opfer ist teilerblindet. Auch bei dieser Tat war wohl Alkohol im Spiel, daher sah der Richter trotz des Gutachtens ein Alkoholproblem.

Ich glaube, dass dem Gericht der Schutz von Frauen wichtig ist, aber meine Schädigungen hatten nicht genug Gewicht bei der Urteilsfindung. Der Richter sah die Bisswunden an meinem Körper, die gebrochenen Rippen, die Prellungen – aber nicht, was die Tat nachhaltig für mich bedeutet. Ich bin arbeitsunfähig mit 28 Jahren, habe Ängste und Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln, habe eine posttraumatische Belastungsstörung, ich konnte lange nicht ohne Begleitung auf öffentliche Toiletten gehen.

Ich glaube daran, dass sich Menschen in Haft positiv entwickeln können – aber nicht bei ihm. Er wäre bereit gewesen zu töten. Ich akzeptiere das Urteil nicht. Am 11. Juni wird der Bundesgerichtshof über den Fall diskutieren. Eine erneute Verhandlung bedeutet auch, dass alles noch mal von vorne losgeht. Ich muss wieder jedes intime Detail der Vergewaltigung vor Gericht erzählen.

Nele

Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme

Zurück in Erlangen. Das alte Gebäude mit den Verurteilten nach Paragraf 64 StGB sieht voll belegt aus. Auf den dunklen Gängen tummeln sich viele Männer, im Aufenthaltsraum schaut eine Gruppe fern. „Der Paragraf 64 war lange nicht trennscharf zwischen wirklich schwer Suchtkranken und Menschen, die nur mal Suchtmittel probiert haben. Seit der Reform des Paragrafen 2023 kommen wirklich nur Menschen zu uns, die schwer abhängig sind“, so Janele. Daher sinke die Zahl der Patienten langsam wieder. Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme. Durch medikamentöse, psycho-, störungs- und deliktspezifische Therapien – teils einzeln, teils in Gruppen – sollen Rückfälle verhindert werden. Das Bundesjustizministerium hat 2020 eine bundesweite Untersuchung dazu veröffentlicht. Schuldunfähige Straftäter aus forensischen Kliniken werden demnach seltener rückfällig. Nach drei Jahren liegt die Rückfallquote bei Entlassenen aus Gefängnissen bei 45 Prozent, aus forensischen Kliniken zwischen zehn und 38 Prozent.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt Janele. Unter Suchterkrankten sei das Risiko eines Rückfalls höher als unter psychisch erkrankten Menschen.

Kapitel 4: Prävention und Politik

Nach den jüngsten Attentaten ist der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko haben können, zum Politikum geworden. Auch Union und SPD gehen in ihrem Koalitionsvertrag darauf ein: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen“, heißt es in dem Papier. Die Regierungsparteien planen „eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement“. Viel konkreter werden die Koalitionspartner nicht, ebenso wenig wie bei ihrem Ziel, zu verhindern, dass Waffen legal in die Hände psychisch Kranker gelangen.

Die Bundesländer beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema. Das saarländische Innenministerium beispielsweise teilt auf Anfrage mit, es betrachte „mit Sorge, dass psychisch kranke Gefährder beziehungsweise Gewalttäter wiederholt in Erscheinung getreten sind“. Rheinland-Pfalz stellt auch im Strafvollzug eine „starke Zunahme“ bei den psychisch auffälligen und erkrankten Gefangenen fest. Bremen gibt zu bedenken, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland insgesamt stetig steigt und damit auch der Anteil der von den Betroffenen begangenen Straftaten, ohne dass diese per se mit den Krankheiten zusammenhängen müssten.

2023

Berlin. Am 3. Mai 2023 verletzte ein Mann mehrere Kinder mit einem Messer auf dem Schulhof einer Berliner Grundschule. Der Täter wurde in einem Gutachten als psychisch krank und schuldunfähig eingestuft und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Landgericht Berlin in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Bei der Innenministerkonferenz stehen „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ auf der aktuellen Agenda weit oben. Die Konferenz sieht Lücken in dem Bereich und fordert in erster Linie, bundesweit Sicherheits- und Gesundheitsbehörden sowie Ausländer- und Waffenbehörden miteinander zu vernetzen und den Informationsaustausch zu erleichtern – wenn nötig mithilfe von Gesetzesänderungen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt auf Anfrage, Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Störungen seien nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Das BKA beteiligt sich an einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, deren Ziel die Früherkennung schwerer Gewalttaten ist. Auch das Bundeskriminalamt betont, dass nur wenige Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für Gewalt einhergehen. Und dass eine Erkrankung in der Regel höchstens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren Gewalt auslösen könne.

Schon jetzt können Polizeibehörden Personengebundene Hinweise (PHW) sammeln, darunter Psychische und Verhaltensstörung (PSYV), wenn das für die Eigensicherung der Beamten und zum Schutz der Person nötig ist. Im bundesweiten Informationssystem der Polizei waren zuletzt etwa 16.000 Menschen mit einer psychischen Störung erfasst. Die Hinweise sind umstritten, auch aus Datenschutzgründen. In Hessen, teilt das Innenministerium mit, wurden im Jahr 2024 307 Tatverdächtige mit dem Hinweis „Psychische oder Verhaltensstörung“ registriert, darunter 21 Asylsuchende. Im Jahr 2019 waren es 255 Verdächtige mit PSYV, drei Jahre zuvor 154. Wie die Polizei diese Hinweise nutzt, werde wie in anderen Ländern nicht statistisch erfasst.

„Aufgrund der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten“ hat das Bundesland beim Landeskriminalamt die Task Force Psychisch Auffällige/Vielschreiber/Gewalttäter (PAVG) eingerichtet. Sie sei Teil der polizeilichen Gefahrenabwehr und prüfe zunächst alle in den Informationssystemen erfassten Personen mit dem Hinweis „Psychische und Verhaltensstörung“. Dabei prüfe die Task Force „Risiko- und Schutzfaktoren“, beispielsweise die Wohnsituation und die familiäre Struktur, Alkohol- und Drogenkonsum, Suizidgefahr, Waffenaffinität und Gewaltneigung. Kritik an der Datenbank und der neuen Einheit weist das Ministerium zurück: Es würden lediglich auffällige, polizeibekannte Personen registriert, bei denen durch ein ärztliches Gutachten oder Attest eine psychische Erkrankung beziehungsweise Auffälligkeit festgestellt worden sei. Im Fokus stünden Menschen, die eine schwere Gewalttat begehen könnten. Dadurch sei der Personenkreis „stark begrenzt“, weshalb Erkrankte weder stigmatisiert noch unter Generalverdacht gestellt würden. Mittlerweile sei die Prüfung zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie betrifft rund 1600 Menschen.

2024

München. Ein Mann hat am 23. Juli 2024 in einer Einkaufsstraße im Münchner Stadtteil Pasing einen 18- und einen 25-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter war nach Angaben der Justiz zum Zeitpunkt des Angriffs aufgrund einer paranoiden Schizophrenie von dem Gedanken beherrscht gewesen, Deutschland müsse von Muslimen befreit werden. In einem sogenannten Sicherungsverfahren ordnete das Landgericht München 1 die Unterbringung des Mannes in einer Psychiatrie an.

Die Task Force solle Behörden und andere Institutionen informieren, etwa Gesundheitsämter, Gerichte und Ausländerämter. Als Handlungsoptionen nennt das Ministerium Gefährderansprachen, Kontakt-, Annäherungsverbote, bei einer konkreten Gefahr auch Observationen und Gewahrsam oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Nordrhein-Westfalen hat ein ähnliches Konzept: „PeRisikoP“ (Personen mit Risikopotenzial). Dabei arbeiten ebenfalls verschiedene Stellen, darunter Justizbehörden und Gesundheitsämter zusammen, um Straftaten psychisch auffälliger Personen zu verhindern. Das ist in einigen Fällen gelungen, in anderen nicht. So zündete in Krefeld Hasan N., den Mitarbeitende des Präventionsprojekt auf dem Schirm hatten, ein Kino an.

Mehrere Länder, darunter Bayern, Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, erwägen oder planen, ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz zu ändern, um die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu erweitern. Im hohen Norden wird dabei zum Beispiel auch über die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug diskutiert, um chronischen Erkrankungen und einer möglichen „langanhaltenden Selbst- und/oder Fremdgefährdung“ entgegenzuwirken.

Die Pläne und Maßnahmen haben Lob, aber auch Kritik hervorgerufen: Einige Rechtswissenschaftler sehen die Freiheitsrechte in Gefahr. Und der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen warnte bereits nach dem Attentat von Aschaffenburg vor „schnellen Lösungen wie Zwangsmaßnahmen“. Er forderte stattdessen: „Eine menschenwürdige psychiatrische Versorgung muss gestärkt werden, insbesondere durch den Ausbau von Krisendiensten und ambulanter Hilfe.“

„Die beste Prävention“, sagt der forensische Psychiater Henning Saß in seinem Haus in Aachen, „ist eine gute psychiatrische Versorgung und eine konsequente Behandlung, die sich nicht nur auf die Akutphase beschränkt, sondern so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist.“ Er macht eine kurze Pause und wiederholt seine Aussage sinngemäß, mit Nachdruck, weil sie ihm so wichtig ist. Im Zweifelsfall, so Saß, könnten Patienten nach einer Unterbringung etwa unter der Auflage entlassen werden, regelmäßig in der Ambulanz oder beim sozialpsychiatrischen Dienst zu erscheinen. Grundsätzlich, betont der Psychiater, brauche es mehr als Neuroleptika und Antidepressiva, etwa Soziotherapie. „Man muss sich zum Beispiel auch um die sozialen Beziehungen der Menschen kümmern, um ihre Wohn- und Arbeitssituation, um sie zu reintegrieren.“

Beim Waffenrecht rät er, psychische Erkrankungen intensiv zu berücksichtigen. Dafür müssten Daten von Gesundheitsämtern ausreichend lange gespeichert und ein Austausch zwischen Behörden über Ländergrenzen hinweg ermöglicht werden. Der Hanau-Attentäter war 2002 in Bayern in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden. Als er gut 15 Jahre später im hessischen Main-Kinzig-Kreis eine Waffenerlaubnis beantragte, lag diese Information der zuständigen Behörde offenbar nicht vor.

Ansonsten ist Saß kritisch, was das Sammeln von Daten angeht. Ein in den vergangenen Monaten diskutiertes Zentralregister für psychisch kranke Menschen lehnt er ab, warnt davor: „Das würde zur Stigmatisierung beitragen und die Schwellenangst, sich bei psychischen Problemen behandeln zu lassen, erhöhen.“ Was wiederum die Prävention behindern würde.

2025

Aschaffenburg. Ein 28-Jähriger hat am 22. Januar in einem Park in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann mit einem Messer getötet und drei Menschen schwer verletzt. Ermittler hatten schnell Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gefunden, etwa entsprechende Medikamente in seinen Wohnräumen. Er wurde in der Psychiatrie untergebracht. Laut Gutachten war der Mann zum Tatzeitpunkt schuldunfähig.

Auf dem Campus in Gießen will Kriminologin Britta Bannenberg dazu beizutragen, Amoktaten und Anschläge zu verhindern. Das treibt sie an. Sie hat regelmäßig Kontakt mit Opfern und weiß, was diese durchmachen. Bannenberg hat herausgefunden, dass vor solchen Verbrechen „klare Warnsignale“ zu erkennen sind. „Die Gedanken an die Tat sind jahrelang da, die Tatvorbereitungen geschehen vor allem in den letzten vier bis acht Wochen.“ Dann komme es im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, bei Behörden oder im Netz vermehrt zu verdächtigen Aussagen. Die Täter bekunden beispielsweise ihre Sympathie für andere Attentäter oder werden konkreter. Gleichzeitig bereiten sie die Attentate intensiv vor, kundschaften mögliche Tatorte aus. Als Beispiel nennt Bannenberg die mehr als 100 Drohungen und anderen bedenklichen Äußerungen des Magdeburg-Attentäters, bei dem mehrere Gefährderansprachen stattfanden, allerdings ohne weitere Konsequenzen. „Manche werden als Querulanten eingestuft und früher oder später nicht mehr ernstgenommen. Das ist falsch. Gerade wenn explizite Aussagen fallen, müssen sie intensiv abgeklärt werden.“ Wichtig sei es herauszufinden, in welcher Verfassung sich ein Mensch befinde, ihn deutlich mit seinen problematischen Aussagen zu konfrontieren und ihn eventuell in der Psychiatrie vorzustellen. Eine Gefährderansprache reiche dazu oft nicht.

Die Polizei sei „ein wichtiges Einfallstor“, helfe in vielen Fällen, müsse aber noch stärker sensibilisiert werden, um gefährliche Personen zu erkennen, ebenso wie andere Behörden und die allgemeine Psychiatrie. „Im Gegensatz zur Forensik gehören dort etwa fremdgefährliche, persönlichkeitsgestörte Menschen nicht zum Alltag.“ Bei der Polizei komme es darauf an, dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen in Verdachtsfällen auch in der „letzten Polizeistation“ ernstgenommen und die Gefährdung intern abgeklärt werde.

Um in konkreten Fällen zu helfen, hat Bannenberg das Beratungsnetzwerk Amokprävention entwickelt. Eine Art Hotline für Menschen, die befürchten, jemand aus ihrem Umfeld könnte ein Attentat begehen. Die Ratsuchenden erhalten dort eine erste Einschätzung zur Lage und Hinweise zum Umgang mit dem potenziell gefährlichen Menschen. „Gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“, sagt Bannenberg und fügt hinzu, dass die Sorge von etwa 80 Prozent der Anrufenden berechtigt sei.

2025

Mannheim. Am 3. März 2025, Rosenmontag, fuhr ein 40-jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge in der Mannheimer Innenstadt. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Es gibt laut Staatsanwaltschaft Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters sowie einen psychischen Ausnahmezustand zur Tatzeit. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ein weiteres Präventionsangebot hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOSBW) geschaffen, eine beim Oberlandesgericht Karlsruhe ansässige gemeinnützige Einrichtung. „Unser Ziel ist immer der Opferschutz, auch wenn wir Täter behandeln“, sagt Sylvia Kubath-Heimann, Fachpsychologin für Rechtspsychologie bei BIOS. „Im Rahmen der Führungsaufsicht bei therapeutischer Anbindung können eventuelle Krisen schneller erkannt und es kann eingegriffen werden. So lässt sich auch das Rückfallrisiko begrenzen.“

Darüber hinaus hat BIOS eine Anlaufstelle für Menschen, die Angst haben, ein Gewalt- oder Sexualdelikt zu begehen. BIOS-Sprecherin Sabrina Sengler erinnert an das Attentat in Mannheim: „Der Täter hatte Gewaltfantasien, und es ist bekannt, dass er nach Hilfe suchte“, sagt sie. Er hätte an BIOS vermittelt werden sollen. „Hilfe suchen und Hilfe bekommen ist ein großer Teil bei der Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten“, sagt Sengler. Wöchentlich melden sich circa fünf Personen aus Angst, zum Täter werden zu können. Doch aufgrund fehlender Fördermittel könne das Angebot nicht offensiver beworben werden, da es an Therapeuten mangele.

Kapitel 5: Versorgung und Mangel

Prävention bedeutet nicht nur, straffällig gewordene psychisch Kranke zu therapieren, sondern auch, Menschen frühzeitig zu behandeln, damit es nicht erst zu einer Tat kommt. Das WEISSER RING Magazin hat eine Länderumfrage zur Versorgung gemacht. Die Gesundheitsministerien sprechen in ihren Antworten meist von einer Überversorgung bei Psychotherapeutenplätzen. Und von einer Wartezeit auf einen Therapieplatz von vier Wochen.

„Die beste Prävention ist eine gute psychiatrische Versorgung, die so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist“

Professor Henning Saß

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die Rahmenrichtlinien für die Bedarfsplanung fest – auf dieser Grundlage entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) über die Zahl der Kassensitze in einer Region. Eine Überversorgung bedeutet, dass die Sitze belegt sind. Aber ob das den tatsächlichen Bedarf deckt, bezweifeln Experten. „Zum Beispiel können nicht alle Einwohner das gesamte Angebot nutzen, da es unter den Psychotherapeuten Spezialisierungen gibt“, sagt der Erlanger Chefarzt Janele. In Sachsen herrscht laut KV eine Überversorgung mit 1.103 Psychotherapeuten, die auf 4,05 Millionen Einwohner kämen. Das entspricht einem Therapeuten für fast 3.700 Einwohner. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.

Nordrhein-Westfalen findet klare Worte: „Die rechnerisch gute Versorgungslage steht im Widerspruch zu den Wartezeiten auf eine Richtlinientherapie.“ Bayern bestätigt, dass die Lage schon lange angespannt sei und die Vorgaben der Planung nicht den tatsächlichen Bedarf abbildeten.

Der G-BA erklärt auf Anfrage, nach den Hausärzten habe keine fachliche Berufsgruppe so viele Kassensitze wie Psychotherapeuten. Studien hätten ergeben, dass es nicht mehr Plätze brauche, sondern eine Umverteilung. Mehr Therapeuten müssten aus der Stadt aufs Land ziehen.

Die Diskussion um Kassensitze betrachtet Janele als nicht zielführend: „Am Ende ist es doch so: Die Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung wie paranoide Schizophrenie gehen damit nicht zu einem einfachen Psychotherapeuten. Der könnte sie nicht allein zielführend behandeln.“ Dazu brauche es eine Mitbehandlung durch einen niedergelassenen Psychiater und mehr ambulante psychiatrische Anlaufstellen für solche Fälle. Darüber hinaus fordert Janele einen Ausbau der rechtlichen Rahmenbedingungen beispielsweise für behandlungsunwillige Patienten mit einem hohen Gefährdungspotential.

2025

Hamburg. Eine 39-jährige Frau stach am 23. Mai im Hauptbahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende ein. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Ein Haftrichter ordnete an, die Verdächtige in einer Psychiatrie unterzubringen. Sie war erst am Tag vor der Tat aus einer solchen Einrichtung entlassen worden. Die Frau soll bereits im Februar auf einem Spielplatz a Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben.

BIOS-Psychologin Sylvia Kubath-Heimann mahnt, eines nicht zu vergessen: „Bei der psychischen Erkrankung Schizophrenie kriminalisieren sich nur drei bis zehn Prozent der Betroffenen überhaupt.“ In Deutschland ist laut Schätzungen etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt.

 

Psychisch kranke Menschen: Ein illustrierter Mensch mit einem Riss im Kopf.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt David Janele.

Clara (Name geändert) hat eine psychische Erkrankung. „Es hat Jahre gedauert, bis ich meine Borderline-Diagnose annehmen konnte“, sagt sie. Ein Grund sei das gesellschaftliche Stigma gewesen. Selbst unter Fachleuten gälten Menschen mit der Krankheit oft als „unberechenbar“. Mit 17 Jahren war sie erstmals in der Psychiatrie, seitdem regelmäßig. Die Aufenthalte hälfen ihr, aber es gebe viel Verbesserungsbedarf: Eine psychotherapeutische Behandlung finde kaum statt, meist böten die Kliniken nur Gruppengespräche mit Sozialarbeitern oder Beschäftigungstherapie. Patientinnen und Patienten auf einer geschützten Station dürften teils nicht allein ins Bad, seien darauf angewiesen, dass das Personal „Zeit hat“ für alltägliche Bedürfnisse wie Zähneputzen. Das könne auch mal Stunden dauern. „Vermutlich wegen der Überforderung der Pflegekräfte aufgrund des Personalmangels“, sagt Clara.

Der Personalmangel wird auch in Zahlen deutlich

Laut dem zweiten Quartalsbericht 2024 des Institutes für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfüllten nur rund ein Drittel der Einrichtungen die Personalstandards: 34,7 Prozent der Erwachsenenpsychiatrien, 34,6 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und 33 Prozent der psychosomatischen Kliniken. Die Daten basieren auf Auswertungen von 1.090 Standorten. Kurz gesagt: Es fehlen 500.000 Pflegepersonal-Arbeitsstunden.

Der Sprecher des LWL in Nordrhein- Westfalen sieht prekäre Situationen in den Allgemeinpsychiatrien: Es sei zu beobachten, dass immer häufiger Menschen aus den Kliniken im Maßregelvollzug landen, weil sie zuvor nicht intensiv genug behandelt worden seien. Der LWL-Maßregelvollzug fordert mit weiteren Trägern forensischer Kliniken eine Reform der Versorgung von Menschen mit schweren Erkrankungen unter dem Titel „Weckruf“.

Als besonders belastend beschreibt Clara den Übergang von der Klinik in den Alltag – oft ohne Anschlussbehandlung: „Ich musste mich immer selbst um einen Therapieplatz kümmern, nach meinem aktuellen habe ich eineinhalb Jahre gesucht.“ Das Problem: Viele Psychotherapeuten behandeln so schwere psychische Erkrankungen wie Borderline nicht. Über die von den Gesundheitsministerien angegebene vierwöchige Wartezeit lacht sie nur müde.

Transparenzhinweis:
Der Artikel wurde am 26. Juni bearbeitet. In einer früheren Version war fälschlicherweise die Rede davon, dass sich zwei Tötungsdelikte im Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik im Bad Zwischenahner Ortsteil Wehnen ereignet hätten. Tatsächlich geschahen die Vorfälle in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Den entsprechenden Absatz haben wir deshalb gelöscht.

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Juliane

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Alle Jahre wieder: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt und umgehend emotional diskutiert. Das eine Medium schreibt in großen Lettern, wie gefährlich doch alles geworden sei, und das andere versucht, mithilfe von Kriminologen zu erklären, dass das gar nicht stimme mit der Gefährlichkeit. Wer hat recht? Und welche Aussagen trifft überhaupt die PKS? Eine kleine Analyse.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Arbeitsbericht. Das ist ein Begriff, den Kriminologen gerne nutzen, wenn es um die PKS geht. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist keine verlässliche Grundlage für irgendeine Aussage“, warnt Thomas Feltes. Der Kriminologe hatte bis 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Denn die PKS erfasst keine gerichtlich bestätigten Straftaten, sondern sogenannte Verdachtsfälle – also Anzeigen, unabhängig davon, ob es zur Anklage oder Verurteilung kommt. Laut Statistischem Bundesamt wird weniger als ein Drittel aller Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt. Die PKS spiegelt also nicht die Kriminalitätswirklichkeit wider – anhand ihrer Daten können keine Aussagen über aktuell lauernde Gefahren im deutschen Alltag getroffen werden.

Registrierte Gewaltdelikte steigen weiter

In diesem Jahr hat besonders die hohe Zahl der angezeigten Gewaltdelikte 2024 Wellen geschlagen. Während die Gesamtzahl aller Verdachtsfälle seit 2009 stetig sinkt, ist die Zahl der angezeigten Gewaltdelikte zuletzt tatsächlich gestiegen – auf 217.277 Fälle. Das liegt nur knapp unter dem Höchststand im Jahr 2007 mit 217.923 Fällen. Die Zahl ist also sehr hoch. Aber wird das Leben auf unseren Straßen tatsächlich immer gefährlicher, wie die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite schrieb? Sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt weiter? Das sind Fragen, die die PKS nicht beantworten kann.

Wird das Leben auf den Straßen tatsächlich immer gefährlicher?

Denn es gibt bei den gestiegenen Zahlen einiges zu beachten: Wo mehr angezeigt wird, steigen auch die Zahlen. Im ersten Moment bedeutet es lediglich, dass 2024 mehr Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht wurden – und das ist sogar etwas Gutes. Sensibilisierung, Aufklärung und der Ausbau von Opferschutzstellen haben beispielsweise dafür gesorgt, dass mehr Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt werden. Der aktuellste Periodische Sicherheitsbericht des BKA (2021) zeigt, dass die Anzeigerate bei Körperverletzungen zwischen 2012 und 2017 von 32,9 auf 36,6 Prozent gestiegen ist. Das veränderte Anzeigeverhalten kann direkten Einfluss auf die Statistik haben – ohne dass sich das reale Geschehen im gleichen Maß verändert haben muss. Darauf verweist die PKS 2024 selbst immer wieder. Zahlen zum aktuellen Anzeigeverhalten gibt es allerdings nicht. Natürlich ist es trotzdem wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo benötigt es jetzt besonders Prävention? Und da kann die PKS durchaus eine Unterstützung sein.

Migration und Kriminalität: Die Faktenlage

Besonders brisant wird die PKS im Zusammenhang mit Migration interpretiert – oft fälschlicherweise. Die „Bild“-Zeitung etwa suggeriert regelmäßig, die Statistik zeige eine klare Verbindung zwischen Migration und Kriminalität. Dabei betonte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der PKS 2024 ausdrücklich: „Es liegt nicht an der Herkunft.“ Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München kommt in seiner aktuellen Studie „Steigert Migration die Kriminalität?“ zu einem eindeutigen Ergebnis: „(Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität.“ Dies entspricht dem internationalen Forschungsstand.

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 36 %.

Zuwanderer machen weniger als 20 % aller Tatverdächtigen aus.

Amnesty International hat Anfang April einen offenen Brief mit dem Titel „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet“ gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen und Initiativen veröffentlicht, um gegen das verbreitete Narrativ von den „kriminellen Migrant*innen“ vorzugehen.

Auch ist die Kategorie „Nichtdeutsche“ wenig aussagekräftig. Sie umfasst nämlich sehr unterschiedliche Gruppen – von Touristen und reisenden Straftätern über Geflüchtete bis hin zu dauerhaft hier lebenden Personen ohne deutschen Pass.

Die Fakten: Trotz eines Anstiegs der ausländischen Bevölkerung um 72 Prozent zwischen 2005 und 2023 lag die Zahl der allgemeinen registrierten Straftaten 2024 laut PKS rund 11,7 Prozent unter dem Niveau von 2005, wie der Mediendienst Integration veröffentlichte. Die gestiegene Zuwanderung hat also – anders als häufig behauptet – nicht zu einem gleichzeitigen Anstieg von erfassten Straftaten geführt.

Erheblich verzerrt wird die PKS durch sogenanntes Racial Profiling

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 3,6 Prozent. Das Bundeskriminalamt weist zudem darauf hin, dass die nichtdeutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Entsprechend sei es statistisch zu erwarten, dass auch die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger absolut steigt. Zuwanderer machen weniger als 20 Prozent aller Tatverdächtigen
aus. In Deutschland leben 83,6 Millionen Menschen, von denen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,3 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte haben und 12,3 Millionen Ausländer sind.

Bei den Gewaltdelikten allerdings stieg die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen um 7,5 Prozent auf 85.012. Aber auch
diese Zahl muss eingeordnet und sollte nicht absolut betrachtet werden. Erheblich verzerrt wird die PKS nämlich durch sogenanntes Racial Profiling: Laut einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration werden Personen, die als „ausländisch“ wahrgenommen werden, etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie als „deutsch“ wahrgenommene Menschen. Auch BKA-Präsident Holger Münch spricht von einem Verzerrungseffekt und sagt: „Wenn uns jemand sehr fremd erscheint, neigen wir eher dazu, Anzeige zu erstatten.“

„Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden“

 

Schlagzeilen über die Polizeiliche Kriminalstatistik

Auch die Lebenssituation spiele eine Rolle: In Massenunterkünften für Geflüchtete leben meist junge Männer teilweise Jahre auf engstem Raum zusammen. Kriminologin Gina Wollinger verweist darauf, dass es in Unterkünften häufiger zu Kontrollen komme oder bei Konflikten die Polizei gerufen werde als in privaten Kontexten. Sie sagt: „Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden.“

Pandemie-Effekte und ihre Spätfolgen

Ein weiteres großes Thema in den Medien war nach der Vorstellung der PKS 2024 die gestiegene Zahl der Verdachtsfälle im Bereich Gewaltkriminalität, bei denen der mutmaßliche Täter ein Kind oder Jugendlicher war. Oft wurde der Begriff „junge Täter“ verwendet. Auch diese Aussage ist auf Grundlage der PKS nicht korrekt. Schließlich fehlt die juristische Schuldfeststellung, und solange gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung der Zahlen: Die Folgen der Corona-Pandemie wirken bis heute nach, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastung gerade bei Kindern und Jugendlichen über diese Zeit der Beschränkung hinauswirkt, also aktuell noch andauert“, so BKA-Chef Münch. Solche Ausnahmesituationen beeinflussen die Kriminalitätszahlen. Dank der PKS wird deutlich, dass die betroffene Altersgruppe weiterhin Unterstützung benötigt, um die psychische Belastung durch die Pandemie zu verarbeiten. Panikmache durch stigmatisierende Aussagen wie „Kinder und Jugendliche werden immer gefährlicher“ helfen nicht.

Mehr Prävention statt Schuldzuweisung

Fazit: Die Diskussion über Kriminalität braucht mehr Sachlichkeit. Weitere Stigmatisierung von Menschen mit einer Migrationsgeschichte führt nicht zu einem gewaltfreien Miteinander. Kaum eine Rolle spielt in der aufgeheizten Diskussion, dass Migranten zunehmend Zielscheibe von Gewalt und Hass werden. Die erfassten rechten Delikte sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und erlangten 2024 einen neuen Rekord mit 42.788 Verdachtsfällen. Beratungsstellen für Opfer von rassistischer Gewalt verzeichnen immer mehr Betroffene. Dazu benötigt es weiter Präventionsarbeit: Psychologische Betreuung, Integrationsarbeit und Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind wirksamer als pauschale Schuldzuweisungen. Die PKS kann Hinweise geben, wo es Handlungsbedarf gibt, etwa bei Gewaltdelikten oder Jugendkriminalität – aber sie ist kein Spiegel objektiver Realität. Kriminalität ist komplexer, als sie in Zeitungsschlagzeilen oft dargestellt wird.

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

„ Ohne Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS eine Arbeitsstatistik.“

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins. Jörg Ziercke

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

Sie haben als BKA-Präsident lange die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verantwortet und vorgestellt. Was ist die PKS für Sie?

Die Kriminalstatistik ist eine valide Annäherung an die reale Wirklichkeit – allerdings ohne zu wissen, wie nah man herankommt. Um zu verstehen, was die tatsächliche Situation ist, müssen das Hellfeld – also polizeilich registrierte Fälle – und das Dunkelfeld betrachtet werden. Bei der Internetkriminalität etwa gibt es ein großes Dunkelfeld. Ohne mehr Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS lediglich eine Arbeitsstatistik der Polizei. Die Ergebnisse hängen zudem stark von der Bevölkerung ab, da nur fünf bis acht Prozent der Anzeigen durch die Polizei erstattet werden. Die PKS ist eng mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Kriminalität und dem Vertrauen in die Polizei verknüpft.

Lassen sich mit der PKS Schlagzeilen wie „Das Leben auf unseren Straßen wird immer gefährlicher“ begründen?

Nicht wirklich. Man kann sagen, dass die Zahlen gestiegen oder örtliche Brennpunkte erkannt worden sind. Aber ich bin gegen dramatisierende Schlagzeilen wie die von Ihnen genannte, da sie das Sicherheitsgefühl der Menschen stark beeinflussen können. Die Person, die nachts auf der Straße
bei einem Überfall um Hilfe ruft, bekommt eventuell keine Hilfe, weil die Angst die Straßen leergefegt hat. Zivilcourage braucht Unterstützung auch durch andere Personen. Bei der Vorstellung der Statistik werden die Trends und Schwerpunkte der Arbeit der Polizei durch den Bundesinnenminister und das Bundeskriminalamt der Öffentlichkeit ausführlich erläutert. Erfahrene Journalistinnen und Journalisten bewerten die Zahlen und Aussagen zusätzlich. Das Hauptproblem ist die reißerische Überschrift.

Welche Zahlensammlung bräuchten wir, um ein genaueres Bild von der Sicherheit zu bekommen?

Eine Gewichtung der Straftaten wäre sinnvoll. Ein Mord wird statistisch genauso gezählt wie ein Diebstahl. Die enorme Anzahl der Ladendiebstähle oder Sachbeschädigungen relativiert das Gesamtbild der Kriminalität. Die Zahl der Straftaten ist zwar insgesamt höher, aber die Schwere der verschiedenen Straftaten wie zum Beispiel durch einen Mordfall geht in den Gesamtzahlen unter. Ferner müsste die Polizei- mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz im Zusammenhang betrachtet werden. Das Problem ist, dass alles zeitversetzt stattfindet: Eine Tat, die jetzt passiert, wird nicht sofort abgeurteilt. Zu bedenken ist auch,
dass die Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften bei polizeilich durchermittelten Fällen aus unterschiedlichen Gründen hoch sind, circa 60 Prozent. Neben den deliktischen Verurteilungsquoten der Gerichte sollte man sich die Rückfallquoten der verurteilten Täter anschauen. Mit dieser Bewertung kämen wir der Realsituation ein ganzes Stück näher. Sinnvoll wäre auch eine Verlaufsstatistik für Beschuldigte – von der Anzeige bis zur Verurteilung –, aus der sich die Wirksamkeit der Maßnahmen von Polizei und Justiz ablesen ließe.

Wie sicher leben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland?

Wir leben immer noch in einem der zehn sichersten Länder der Welt. Diese Bewertung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Staaten. Eines sollten wir aber nicht übersehen: Die täglichen Nachrichten liefern uns die besonders schwere Kriminalität aus aller Welt ins Wohnzimmer. Auch das beeinflusst unsere Angst vor Kriminalität!

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Erstellt am: Montag, 2. Juni 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 02.06.2025

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Eine neue Studie hat die Häufigkeit, den Kontext und die Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Etwa jeder Achte in Deutschland zwischen 18 und 59 Jahren ist als Kind oder Jugendlicher mindestens einmal Opfer sexualisierter Gewalt geworden – hochgerechnet sind das 5,7 Millionen Menschen. Mit 20,6 Prozent ist bei Frauen ein deutlich höherer Anteil betroffen als bei Männern mit 4,8 Prozent. Die Täter sind überwiegend männlich und lediglich in 4,5 Prozent der Fälle weiblich.

Repräsentative Studie mit 3000 Teilnehmenden

Das geht aus einer repräsentativen, am Montag veröffentlichten Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg hervor. Die Forschenden haben in Kooperation mit dem Umfrageinstitut infratest dimap eine repräsentative Stichprobe von Menschen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren angeschrieben. Rund 3000 Personen nahmen teil. Die Institute untersuchten sowohl die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als auch den Kontext und die Folgen der Taten. Es handelt sich um die erste bundesweite und repräsentative Studie zu diesem Thema.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, erklärt Prof. Dr. Harald Dreßing, der die Studie koordiniert hat und die Forensischen Psychiatrie am ZI leitet. Dieses gehört zum Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG).

Tatorte Familie und digitale Kanäle

Bei jüngeren Frauen, den 18-29-Jährigen, war die Betroffenenrate am höchsten: 27,4 Prozent. Unter allen Befragten gaben die meisten an, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Wobei Männer laut der Studie viel öfter in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Zusammenhängen und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe betroffen waren. Dies zeige, wie wichtig „differenzierte Schutzkonzepte“ für Kinder und Jugendliche seien, mahnen die Forschungsinstitute.

Gut 37 Prozent der Opfer hatten demnach bislang nicht mit anderen Menschen über die sexuellen Angriffe gesprochen, aus Scham und aus Angst, dass ihnen niemand glaube.

31,7 Prozent der Fälle betrafen digitale Kanäle. Dabei erhielten die Betroffenen beispielsweise ungewollt pornographisches Material, wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert oder gezwungen, sexuelle Bilder zu teilen.

Betroffene haben psychische Schwierigkeiten

Ein weiterer wichtiger Befund: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gehe es psychisch deutlich schlechter als Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, fordert Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm.

Die Untersuchung wurde mit Eigenmitteln der Institute finanziert sowie mit Hilfe der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch und des Kinderschutzbundes.

Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Erstellt am: Samstag, 24. Mai 2025 von Christiane
Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden.

Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden. Foto: Christian Charisius/dpa

Datum: 24.05.2025

Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Am Freitagabend hatte es am Hamburger Hauptbahnhof einen Messerangriff gegeben. Eine Hotline für Betroffene ist bereits eingerichtet.

Nach dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof können sich Betroffene an die Hotline 0800/0007558 wenden. Das Telefon steht Hilfesuchenden rund um die Uhr zur Verfügung und ist mit erfahrenen Psychologinnen und Psychologen des Zentrums für Trauma und Konfliktmanagement besetzt. Melden können sich Opfer des Angriffs und ihre Angehörigen ebenso wie Augenzeugen oder Ersthelfer.

Eingerichtet hat die Hotline der Hamburgische Opferbeauftragte. Es wird zudem einen Runden Tisch zu dem Messerangriff geben, an dem auch der WEISSE RING Hamburg teilnehmen wird.

Am Freitagabend hatte laut Polizeiangaben eine 39-jährige Frau gegen 18 Uhr im Bahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende eingestochen. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Die Polizei sprach bereits kurz nach der Tat von „sehr konkreten Hinweisen“ auf eine psychische Erkrankung der Tatverdächtigen. Ein Haftrichter ordnete an, sie in einer Psychiatrie unterzubringen. Wie die Polizei mitteilte, lauten die Tatvorwürfe versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Hinweise auf ein politisches Motiv gebe es nicht.

Die Angreiferin, die wohnungslos ist und aus Braunschweig kommt, war erst am Donnerstagmorgen aus einer psychiatrischen Einrichtung in Niedersachsen entlassen worden. Laut einem Bericht des „Spiegel“ fixierte ein 19-jähriger Geflüchteter aus Syrien die Verdächtige am Bahnsteig, bis die Polizei kurz darauf eintraf und sie festnahm.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll die Frau bereits im Februar auf einem Spielplatz am Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben. Daraufhin seien Ermittlungen wegen des Verdachts der Körperverletzung eingeleitet worden, die noch liefen. Nach dem Vorfall habe die Polizei einen Amtsarzt hinzugezogen, der sie in der Klinik unterbringen ließ. Dort habe eine Mitpatientin die Tatverdächtige im März angezeigt, weil sie sie getreten haben soll. Am Tag vor der Tat soll ein Rettungsdienstmitarbeiter am Flughafen die Polizei informiert haben, nachdem ihm die Frau wegen Wunden im Gesicht aufgefallen sei.

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.