Die unbekannten Mafia-Opfer

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Die unbekannten Mafia-Opfer

Ein Kommentar von Sandro Mattioli

Sandro Mattioli ist Jahrgang 1975, hat sich als Investigativjournalist auf die Mafia spezialisiert. Sein aktuelles Buch, „Germafia“, ist ein „Spiegel“- Bestseller. Seit 2012 ist der Deutsch-Italiener Vorsitzender des Vereins mafianeindanke in Berlin.

Viele im Saal weinten; manche hielten ein Bild ihres Kindes vor sich. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Mann, dessen Vater, ein Landgerätehändler, ermordet worden war. Er hatte das vom Mafiaboss gewünschte Mineralöl nicht besorgen können. Es war Jahre her, der Sohn hatte keine Tränen mehr, aber eine Frage: Warum?

Seit mehr als fünfzehn Jahren beschäftige ich mich mit der italienischen Mafia. Solch ergreifende Szenen wie im sizilianischen Messina im Jahr 2016 sind mir in Deutschland nie begegnet. In Italien wird alljährlich der Menschen gedacht, die schuldlos Opfer der Clans geworden sind. Die verwechselt wurden, die ein Querschläger traf, die als Polizistin oder Staatsanwalt ermittelten, als Kronzeugen aussagten.

Auch von Deutschlands Nachbarländern kennt man schuldlose Mordopfer. Nur in der Bundesrepublik scheint es sie so gut wie gar nicht zu geben. Wie kann das sein? Seit rund 70 Jahren sind die Mafia-Organisationen hier vertreten.

Paragraf 129 StGB soll die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sanktionieren, wird aber quasi nie angewandt

Im Jahr 2019 hat die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic, vor ihrer Zeit im Bundestag Polizistin, die Bundesregierung gefragt, wie viele Tötungsdelikte der Mafia seit 1990 bekannt sind. Die Antwort: 23 Delikte mit 30 Toten. Eine offizielle Statistik dazu werde nicht geführt. Streng genommen gibt es – in offizieller Hinsicht – in Deutschland nicht mal die Mafia selbst. Denn es fehlt ein Paragraf, der Mafia-Organisationen zielgenau erfasst. Der dafür vorgesehene Paragraf 129 StGB soll die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sanktionieren, wird aber quasi nie angewandt. Er muss dringend verändert werden, um die Mafia sichtbar zu machen. Mafiatypische Merkmale müssen bei Ermittlungen erfasst, das Strafmaß muss höher und die Verfolgung damit „attraktiver“ werden. Erst dann können Statistiken die Realität erfassen. Wie soll man sonst schuldlos Opfer gewordene Menschen der Mafia finden? Hinweise gibt es heute schon häufiger, doch die Suche ist schwierig.

In Italien wird berichtet, dass Raffaele Cutolo, ein wichtiger Mann der Camorra, in jungen Jahren in Deutschland zwei Polizisten ermordet habe. In einem weiteren Fall hatte sich eine Saarländerin von ihrem Partner, einem Wirt aus Sizilien, getrennt. Er bat seine Expartnerin, zu ihm zu kommen; seine Mutter sei zu Besuch und wolle ihre Enkelin sehen. Die Frau fuhr hin, seitdem fehlt jede Spur von ihr. Der Mann, inzwischen gestorben, galt als ein Boss der Cosa Nostra. Und in Sachsen erschoss ein Mafioso seinen 19-jährigen Neffen. Polizeiberichten zufolge stritten sie um ein Erbe, manche sagen um Drogen. Der Täter kam kurz in Haft und kehrte dann nach Italien zurück. Sein Onkel war Boss eines ’Ndrangheta-Clans.

Solange Aktivitäten der Organisierten Kriminalität nicht differenzierter erfasst werden, bleibt Annalise Borth aus Hamburg das einzige sichere deutsche Mafia-Opfer. Sie schloss sich mit 17 einer Anarcho-Gruppe in Italien an und arbeitete an einem Dossier dazu, wie rechtsextreme Terroristen und die ’Ndrangheta kooperierten und was das mit einem Anschlag zu tun hatte, bei dem sechs Menschen starben. Borth und ihre Freunde fuhren mit dem Bericht nach Rom und kamen bei einem ominösen Verkehrsunfall zu Tode. Die belastenden Unterlagen verschwanden.

Kaum Verurteilungen wegen Menschenhandels

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Kaum Verurteilungen wegen Menschenhandels

Trotz polizeilicher Durchsuchungen wegen Verdachts auf Menschenhandel in Wohnungen, Hotels oder Bordellen, bleibt die Anzahl an Verurteilungen solcher Delikte in Deutschland gering. Das sind die Zahlen.

Menschenhandel Verurteilungen Deutschland

*Bayern und Baden-Württemberg konnten für das Jahr 2024 bis Redaktionsschluss keine Statistik vorlegen.

Die Polizei durchsuchte im Oktober zwei Berliner Hotels, wo sieben Frauen zur Prostitution gezwungen worden sein sollen. Im April kam es in fünf Bundesländern und in Tschechien zu Razzien wegen des Verdachts auf Menschenhandel und illegale Prostitution. Mitte November durchsuchten 850 Ermittler bundesweit mehr als 90 Objekte, vor allem Reinigungsfirmen. Zu den Vorwürfen zählen Zwangsarbeit, „Schwarzarbeit“ und Menschenhandel. Arbeiter – darunter zwei Minderjährige – sollen in engen Kellerräumen ohne fließendes Wasser und funktionierende Toiletten untergebracht worden sein und überhöhte Mieten gezahlt haben.

Immer wieder wird über solche Durchsuchungen berichtet. Doch die Zahl der Verurteilungen wegen Menschenhandels ist gering. Das geht aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Statistischen Landesämtern und den Justizministerien der Länder hervor. Abgefragt wurden die einschlägigen Paragrafen 232 bis 233a des Strafgesetzbuches (StGB).

Bei den Zahlen gibt es was zu beachten

Demnach gab es 2024 in Nordrhein-Westfalen mit elf Schuldsprüchen die meisten, gefolgt von Niedersachsen und Berlin mit jeweils drei. In fast allen Ländern liegen die Werte im unteren einstelligen Bereich oder bei null, etwa in Sachsen-Anhalt oder Brandenburg. Im Jahr 2023 lag Bayern mit 13 Verurteilungen vorne, gefolgt von Hamburg und Berlin mit jeweils elf und NRW mit sechs. Keine Verurteilungen wurden in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und im Saarland erfasst.

Bei den Zahlen ist zu beachten, dass die Strafverfolgungsstatistik die innerhalb eines Jahres verurteilten Personen nur einmal erfasst, und zwar mit dem – der drohenden Strafe nach – schwersten Delikt. Dadurch ist es möglich, dass der mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bestrafte Menschenhandel nicht in der Statistik auftaucht, sondern eine schwerere begangene Tat. Allerdings weisen auch die vom Bundeskriminalamt (BKA) erfassten Zahlen zu Verfahren und Tatverdächtigen auf eine niedrige Verurteilungsquote hin: Im Jahr 2023 wurden allein bei Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung 319 Verfahren abgeschlossen, ein Jahr zuvor 346. Die Zahl der Tatverdächtigen bei dieser Straftat betrug 441 (2023) und 488 (2022).

Die Paragrafen

§232: stellt Menschenhandel, etwa, wenn eine Person durch Beschäftigung ausgebeutet werden soll, unter Strafe.
§232a: bestraft Zwangsprostitution.
§232b: bestraft Zwangsarbeit.
§233: bestraft Ausbeutung der Arbeitskraft, etwa bei der Bettelei. Auch die Vermittlung einer ausbeuterischen Beschäftigung ist strafbar.
§233a: bestraft Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung.

Darüber hinaus geht das BKA von einem großen Dunkelfeld aus. Experten sehen viele Gründe dafür, etwa die Tatsache, dass Menschenhandel ein Kontrolldelikt ist, sowie begrenzte Ressourcen bei zuständigen Behörden und Justiz. Hinzu kommt eine mangelnde Aussagebereitschaft bei vielen Opfern. Sie haben Angst vor den Tätern und einer Strafe, wenn sie während ihrer Ausbeutung selbst gegen das Gesetz verstoßen haben. Tillmann Bartsch, stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), fordert, § 154c – die Möglichkeit der Straffreiheit für von Menschenhandel Betroffene – klarer zu fassen und auszuweiten, weil das Gesetz bislang kaum angewandt wird.

Zudem arbeitete das KFN in einer Studie zu den Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels heraus, dass die Paragrafen sich als schwer nachweisbar, unklar und wenig praktikabel erwiesen hätten. Auch mangele es bei Strafverfolgung und Gerichten an Spezialisten, die mit der komplexen Materie vertraut seien.

Es fehle an Erfahrung und Kompetenz

Eliane Friess, Projektreferentin bei der Servicestelle gegen Zwangsarbeit, sagt, die Behörden hätten Fortschritte gemacht, aber noch nicht genug Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit dem Thema, weshalb Betroffene nicht als solche erkannt würden. Deswegen schult die Servicestelle Polizei, Zoll, Staatsanwaltschaften und andere Institutionen darin, Anzeichen für Menschenhandel zu identifizieren und sensibel mit Opfern umzugehen.

Neben den genannten Straftaten hat das WEISSER RING Magazin Statistiken zu Delikten recherchiert, die in Zusammenhang mit Menschenhandel stehen können. Auch hier sind die Verurteilungszahlen niedrig. So wurden bei § 180a – Ausbeutung von Prostituierten – in den allermeisten Ländern in den vergangenen beiden Jahren keine Verurteilungen registriert, ebenso bei § 181 – Zuhälterei.

Wie viel ist ein Mensch wert?

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Wie viel ist ein Mensch wert?

Jeden Tag werden in Deutschland Menschen auf dem Bau, in der Gastronomie und in Reinigungsfirmen ausgebeutet oder zur Prostitution gezwungen. Menschenhandel geschieht mitten unter uns. Im Kampf dagegen gab es in den vergangenen Jahren Fortschritte, die Zahl der abgeschlossenen Verfahren ist gestiegen. Doch viele Fälle bleiben nach wie vor ungestraft oder werden gar nicht erst erkannt. Fachleute fordern einen besseren Schutz für Opfer.

Menschenhandel in Deutschland: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Szenen aus dem Landgericht Bielefeld

Im schwarzen Ringelpullover und in Handschellen wird die Angeklagte in den großen Saal 1 des Landgerichts Bielefeld geführt. Die 57-Jährige setzt sich auf den Platz ganz links an einem der Tische, die in zwei Reihen vor dem Richtertisch stehen. Mit ihr nehmen neun weitere Beschuldigte im Alter von 29 bis 64 Jahren und rund 20 Verteidigerinnen und Verteidiger Platz. In einem Regal sind Dutzende Aktenordner aufgereiht. Es geht um Menschenhandel, Zwangsprostitution, Geldwäsche. Die Frau im Pullover soll eine zentrale Rolle in einem bundesweiten Schleusernetzwerk gespielt haben, das Frauen und trans Menschen nach Deutschland geschleust und zur Prostitution gezwungen habe.

Mehr als zwei Stunden trägt der Staatsanwalt die Anklage vor. Drei Dolmetscher übersetzen auf Thailändisch und Englisch. Die Beschuldigten, die ihnen per Kopfhörer folgen, sollen bandenmäßig Frauen und trans Menschen aus Thailand mit Touristenvisa nach Deutschland geschleust haben. Hier nahmen sie ihnen demnach die Pässe ab und zwangen sie, die Kosten dafür – zwischen 18.000 und 36.000 Euro – als Prostituierte abzuarbeiten. Es gab Fahrer, die sie vom Flughafen abholten und bundesweit von Bordell zu Bordell fuhren. Sie sollen dafür 15 Cent pro Kilometer bekommen haben. Es gab Kuriere, die das durch Zwangsprostitution erwirtschaftete Geld via Flugzeug nach Bangkok brachten, um es umzutauschen und auf die Konten der Drahtzieher zu überweisen, so der Vorwurf. In einem Fall versteckte ein Kurier 110.000 Euro in einer Süßigkeitenpackung. Die Prostituierten durften demnach keine Freier ablehnen. Egal, wie es ihnen ging.

Evaluation des Prostituiertenschutzgesetz

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat das Prostituiertenschutzgesetz evaluiert und festgestellt, dass es teils Erfolge, aber auch Schwächen aufweist. Es habe die Arbeitsbedingungen verbessert und die staatliche Überwachung gestärkt. Eine Schwäche sei fehlende Akzeptanz des Anmeldeverfahrens. Prostituierte hätten Sorge um die Sicherheit ihrer Daten. Es wurden über 2.300 Prostituierte, 800 Mitarbeitende von Behörden, über 3.000 Kunden und fast 300 Gewerbetreibende befragt. Es gab auch Kritik von außen: Die Evaluation sei methodisch unzureichend und vernachlässige vulnerable Gruppen wie Migrantinnen ohne Papiere.

Kapitel 1: Sexuell ausgebeutet

Was in einem Mehrfamilienhaus an der B 49 in Koblenz geschah, zeigt, was für ein Ende sexuelle Ausbeutung nehmen kann: Vor zwei Jahren wurde hier eine junge Frau tot aufgefunden. „Aufgrund der erheblichen Verletzungen, die der Leichnam aufwies, verständigten die Rettungskräfte die Polizei, die unverzüglich die Ermittlungen aufnahm“, erinnert sich der Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler. „Es war schnell klar, dass das Opfer über einen längeren Zeitraum massiv gequält, misshandelt und regelrecht zu Tode gefoltert worden sein musste.“ Auf Details verzichtet Mannweiler im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin, zu schrecklich seien sie.

Was er erzählen kann: Die Täter, ein Ehepaar, lockten Frauen aus Bulgarien durch Mittelsmänner mit falschen Versprechungen hierher, nahmen ihnen die Ausweise ab, sperrten sie ein, machten sie durch Gewalt und Bedrohungen gefügig: Menschenhandel mit dem Ziel Zwangsprostitution, ein besonders grausamer Fall von vielen.

Das Opfer wurde in Internetportalen angeboten. Trotz massiver Verletzungen durch die täglichen Misshandlungen musste die Frau zahlreiche Freier bedienen, über Jahre. „Da muss man sich schon die Frage stellen, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, dass ein solches Martyrium über Monate unbemerkt bleibt. Der Schluss liegt nahe, dass einfach viele weggeschaut haben“, sagt Mannweiler.

Sexuelle Ausbeutung ist ein wesentlicher Bereich des Menschenhandels, Hilfsorganisationen sprechen auch von „Frauenhandel“, da nicht nur, aber vor allem Frauen betroffen sind. Auch der WEISSE RING kümmert sich um die Opfer und verzeichnet mehr als 50 Fälle von Zwangsprostitution allein zwischen Januar und Oktober 2025, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 70 Fälle von Menschenhandel, Tendenz steigend. Drei Jahre zuvor gingen 47 Fälle in die Statistik ein.

Die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ kämpft seit vielen Jahren gegen Zwangsprostitution. Deutschland ist für Menschenhändler ein lukrativer Ort, da Prostitution legal ist: „Hier werden Betroffene rekrutiert und/oder zum Zweck der Ausbeutung hergebracht“, sagt Sophia Dykmann, Referentin Frauenhandel und Prostitution bei Terre des Femmes.

"Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden."

Wolfgang Fink

Ein Großteil seien migrantische Menschen, die unter falschen Angaben aus Westafrika, Rumänien, Bulgarien und Polen nach Deutschland gebracht werden oder vor Armut, Krieg und Klimakatastrophen flüchten. Aber auch deutsche Frauen werden Opfer, etwa durch „Partner“, die sie zur Prostitution zwingen. Wie schwer die Ermittlungen sind, weiß Wolfgang Fink, pensionierter Polizist und ehrenamtlicher Mitarbeiter des WEISSEN RINGS. Er leitete die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Schleuser und Menschenhandel, eine Kooperation zwischen Bundes- und Landespolizei in Baden-Württemberg. „Die Polizei ist auf die Zusammenarbeit mit NGOs angewiesen, um aussagebereite Betroffene zu finden. Ohne Opfer kann nicht gegen Zwangsprostitution vorgegangen werden“, sagt Fink. Da die Betroffenen von den Tätern bedroht würden, sei es schwer, Aussagen zu bekommen. Fink spricht von einer Art Parallelgesellschaft, die ihre eigenen Gesetze habe.

„Viele haben auch schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht“, kritisiert Sophia Dykmann. Sie sei früher in dem Bereich als Sozialarbeiterin tätig gewesen und habe unter anderem sexistische Strukturen erlebt. Fink gibt zu bedenken: „Die Polizei ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und auch da gibt es schwarze Schafe“, auch wenn er in seiner Zeit als Polizist zum Beispiel nie erlebt habe, dass Polizisten privat in ein Bordell gingen.

Recht und Gesetz

In Deutschland stellt vor allem Paragraf 232 des Strafgesetzbuches (StGB) Menschenhandel unter Strafe. Wer Menschen zum Zweck der Ausbeutung anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt, kann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren, zum Beispiel wenn die Ausgebeuteten psychische oder physische Gewalt erfahren, getäuscht oder entführt werden.

Vor gut neun Jahren erweiterte der Gesetzgeber die Straftatbestände. Seit Oktober 2016 werden die einzelnen Formen der Ausbeutung in den Paragrafen 232a bis 233a StGB explizit genannt: etwa Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung durch Bettelei, Begehung von mit Strafe bedrohten Handlungen, rechtswidrige Organentnahme. Zuvor hatte die Europäische Union vorgegeben, Menschenhandel umfassend zu bekämpfen und dadurch sowohl Kinder als auch Erwachsene besser zu schützen.

Bei der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 233 StGB ist nicht entscheidend, ob der Täter Einfluss darauf genommen hat, dass das Opfer die Tätigkeit ausübt. Es reicht, wenn er die wirtschaftliche Not der betroffenen Person kannte, dies ausnutzte und sie ausbeutete – zum Beispiel schlecht bezahlte, Vermittlungshonorare und Mieten verlangte, zu lange oder unter gefährlichen Bedingungen arbeiten ließ, Lohn vorenthielt. Arbeitsausbeutung verfolgen sowohl die Polizei als auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Die FKS soll dadurch Opfer von Menschenhandel besser identifizieren und andere Strafverfolgungsbehörden unterstützen können. Neben den genannten gibt es weitere Delikte und Paragrafen, die in Zusammenhang mit Menschenhandel stehen können: Dazu gehören Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB) und Zuhälterei (§ 181a StGB) oder auch Menschenraub (§ 234).

Am 1. Juli 2017 trat das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Kraft. Es sollte die Strafvorschriften ergänzen und durch eine Regulierung der Prostitution dazu beitragen, Ausbeutung entgegenzuwirken. Kritiker bemängeln, dies sei nicht gelungen.

Ein weiteres Problem sei, dass Behörden Opfer nicht zu 100 Prozent schützen könnten: „Die Täterseite ist gut vernetzt. Wir können im Ausland einen neuen Wohnsitz organisieren und erklären, wie sie sich im Internet zu verhalten haben, um nicht entdeckt zu werden, aber richtig schützen können wir die Frauen nicht“, räumt Fink ein.

Experten schätzen, dass täglich etwa 200.000 Frauen in Deutschland der Prostitution nachgehen. Das Statistische Bundesamt verzeichnete Ende 2024 rund 32.300 gemeldete Prostituierte. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums kaufen täglich etwa 1,2 Millionen Freier Sex. Im Bundeslagebild Menschenhandel sind für das vergangene Jahr 465 Opfer von sexueller Ausbeutung erfasst – ein Plus von 8,6 Prozent gegenüber 2023. Den Angaben zufolge liefen 364 Ermittlungsverfahren, was einen Anstieg um 14,1 Prozent und einen neuen Höchststand bedeutet. Dennoch ist diese Zahl vermutlich viel zu niedrig. „Meine Wahrnehmung war, dass sich nur ganz wenige Frauen freiwillig prostituieren“, sagt Fink.

Seine Arbeit hat ihn desillusioniert. „Männer machen die Gesetze, haben Einfluss, und sie wollen mit Geld Frauen kaufen“, sagt er. „Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden“, meint er ernüchtert. Es brauche auch in Deutschland das „Nordische Modell“: Der Kauf von sexuellen Dienstleistungen soll strafbar sein. „Dadurch entsteht auch ein Umdenken in der Gesellschaft: Eine Frau ist nicht kaufbar“, argumentiert Fink.

März 2024

Berlin/Brandenburg. Ermittler durchsuchten am 20. März 2024 in Berlin und Brandenburg 22 Wohn- und Geschäftsobjekte bei neun Beschuldigten. Diese sollen mehr als 20 indische Köche ausgebeutet haben, die bis zu 13 Stunden täglich hätten arbeiten müssen. Einige lebten in den Kellern der Restaurants.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundesinnenministerium zu der Forderung mit: „Angesichts der Rolle Deutschlands als Drehscheibe des Menschenhandels wollen die Koalitionspartner Anpassungs- und Umsetzungsbedarfe unter Einbeziehung aktueller Evaluationen, des Prostituiertenschutzgesetzes und des Nordischen Modells prüfen.“

Eine weitere Form von Menschenhandel, die hauptsächlich Frauen trifft, ist die Zwangsverheiratung. „Verlässliche aktuelle Zahlen gibt es kaum, weil dieses Gewaltphänomen meist im Dunkelfeld bleibt – auch deswegen, weil die Betroffenen sich nicht trauen, Hilfe zu holen, oder gar nicht wissen, dass es Beratungsstellen dazu gibt“, erklärt Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes. Aus einer Umfrage der Berliner Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Petra Koch-Knöbel aus dem Jahr 2022 gehen 496 Fälle von vollzogener oder drohender Zwangsverheiratung hervor. 91 Prozent der Betroffenen waren weiblich. „In der Umfrage war die jüngste Betroffenengruppe bei den zehn- bis zwölfjährigen Mädchen zu finden“, sagt Gernhardt. 88 Prozent der Zwangsverheiratungen fanden im Ausland statt.

Gernhardt weist darauf hin, dass viele Minderjährige potenzielle Opfer sind. Es sei wichtig, in der Schule früh auf das Problem aufmerksam zu machen – bevor es zu spät ist. Viele Opfer wüssten nicht, dass es Schulsozialarbeiter mit Schweigepflicht gibt, an die sie sich wenden könnten. „Das bedeutet: Nur weil in der Schule keine Fälle bekannt sind, heißt das nicht, dass es keine Zwangsverheiratungen gibt.“ Wenn Lehrkräften etwas auffalle, sollten sie nicht mit den Eltern sprechen, weil dies die Situation verschärfen und das Kind gefährden könnte. Eine häufige Masche sei, Mädchen in den Sommerferien unter falschem Vorwand in ihr Herkunftsland zu „verschleppen“ und zu verheiraten. Einige kehren nach Deutschland zurück, andere bleiben. Auch Jungen und Männer sind betroffen, daher sollten sie beim notwendigen Ausbau der Hilfssysteme nicht vergessen und Schulen stärker bei der Prävention unterstützt werden, fordert die Frauenorganisation.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

2011 erschien die bisher einzige bundesweite Studie zu Zwangsverheiratungen in Deutschland. Im Jahr 2008 wurden 3.443 Betroffene erfasst. 93 Prozent waren Mädchen und Frauen.

„Wenn ich nicht wollte, schlug er mich.“

Eine Frau erzählt, wie sie in die Zwangsprostitution kam und es wieder herausgeschafft hat.

„Ich komme aus Paraguay und habe dort 1995 ein deutsches Ehepaar kennengelernt. Sie boten mir eine Arbeit in Deutschland an. Ich war damals 35 Jahre alt. Es hieß, in Deutschland kann man Geld verdienen und ein besseres Leben führen. Angekommen, hat mir der Mann meine Papiere abgenommen – ich besitze auch einen deutschen Pass, da meine Großeltern Deutsche waren. Erst sollte ich mich um eine ältere Frau kümmern. Nachdem sie verstorben war, fing ich als Zimmermädchen im Hotel des Mannes an. Er hatte damals ein Stundenhotel direkt am Bahnhof eröffnet.

Erst sollte ich nur die Zimmer putzen, später war ich für die Sauna zuständig. Ich musste auf einer Matratze auf dem Dachboden des Hotels schlafen und leben. Irgendwann fing er an, in meinem Namen im Internet mit Männern zu schreiben, und zwang mich schließlich, mit ihnen in der Sauna Sex zu haben. Wenn ich nicht wollte, schlug er mich. Meine Nase war gebrochen, auch meine Rippen. Die Freier sahen die Wunden nicht richtig, es war zu dunkel in der Sauna. Ich hatte nichts, kein Geld, keine Papiere, wusste nicht, wohin. Mein damaliger Chef drohte mir: Er meinte, ich brauche nicht zur Polizei zu gehen, da sie mir nicht glauben würde. Auch weil er genug Geld hätte und alles machen könne, was er wolle.

Elf Jahre ging das so. Im Jahr 2006 vertraute ich mich einem Ehepaar an, das unter dem Hotel eine Bar hatte. Sie haben es einem gemeinsamen Freund erzählt. Er war wütend, als er erfuhr, was ich in dem Hotel erleide, und ging zu meinem Chef. Sie prügelten sich. Dabei verlor mein Freund sein Handy. Der Mann, der mich zur Prostitution zwang, rief die Polizei und meldete den Vorfall als Überfall. Die Polizei fand das Handy meines Freundes und machte ihn dadurch ausfindig. Er erzählte ihnen alles. Unter dem Vorwand, sie bräuchten meine Zeugenaussage, lud mich die Polizei ein. Damit ich mich ausweisen konnte, gab mir mein Chef meinen Ausweis zurück. Ich glaube, nach all den Jahren hat er einfach nicht daran geglaubt, dass ich ihn noch verraten würde. Aber ich nutzte die Chance, die sich für mich ergeben hatte, und sagte aus.

Anders als es der Ausbeuter dargestellt hatte, behandelte mich die Polizei gut, bestärkte mich darin, auszusagen, und brachte mich in ein Frauenhaus. Er hatte auch erzählt, das sei nur ein Ort für Suchtkranke, damit ich keines aufsuche. Er setzte sich bald nach Paraguay ab, da das Land keine Deutschen auslieferte.

Im Frauenhaus blieb ich 14 Monate und bekam viel Unterstützung, vor allem von der Hilfsorganisation ALDONA. Ich kann heute immer noch hingehen, wenn ich Probleme habe. Ich bekam psychologische Hilfe, ging in Therapie und kann jetzt offen über das Erlebte sprechen. Und genau dazu möchte ich andere Betroffene ermutigen: Verdrängt nicht, was euch passiert ist. Sprecht offen darüber und sucht euch Hilfe bei Organisationen.“

Kapitel 2: Menschenhandel 2.0

Menschenhandel passt sich aktuellen Entwicklungen an. Das zeigt eine Studie zur Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland im Auftrag des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK) aus dem Jahr 2022. Autorin der Studie ist die Wissenschaftlerin Dorothea Czarnecki. Im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin bestätigt sie, wie aktuell die Ergebnisse drei Jahre später noch sind. Sie sprach mit zuständigen Behörden, Organisationen, sammelte Fallbeispiele, wertete Statistiken aus. Das Ergebnis: Technologische Hilfsmittel sind in allen Stadien der sexuellen Ausbeutung gegenwärtig.

Die Täter finden ihre Opfer vor allem im Internet über Plattformen wie Instagram, TikTok, Snapchat sowie Videospiele mit Chatfunktion. Das Prinzip ist oft das gleiche: Ein Mann schreibt eine junge Frau an, und sie beginnen miteinander zu chatten. Er baut ein Vertrauensverhältnis auf. Eine Liebesbeziehung entsteht. Die sogenannte Loverboy-Methode führt dazu, dass die angeblichen Partner ihre Opfer in die Zwangsprostitution hineinmanipulieren. Dorothea Czarnecki beschreibt Social Media als „Fluch“ für den Menschenhandel.

März 2024

Osnabrück/Niedersachsen. Polizei und Staatsanwaltschaft durchsuchten am 5. März 2024 Wohnungen in Dissen
und Borgholzhausen. Laut den Ermittlern sollen drei Beschuldigte moldauische Staatsangehörige zur Arbeit und zum Betteln gezwungen haben, darunter Minderjährige. Ein 45-Jähriger kam in U-Haft.

Auch den Transport zu Freiern organisieren Menschenhändler meist digital. Frauen werden in Apartments mit digitalen Türcodes
untergebracht, so dass keine Übergabe an Mittelsmänner nötig ist. Bei anderen Betroffenen kommt es zur digitalen Zwangsprostitution, sie sollen auf Plattformen wie Onlyfans sexuelle Inhalte veröffentlichen, für die Nutzer zahlen. Die Täter müssen dadurch weder den Transport noch die Treffpunkte aufwändig organisieren, fast alles geht online von einem Ort aus.

Opfer von Zwangsprostitution können sich aufgrund der Digitalisierung kaum der Kontrolle der Zuhälter entziehen. Häufig werden sie durch ihr Handy überwacht und sind mithilfe von Tracking-Apps oder Stalkerware, die Freier installiert haben, aber auch durch ihre Social-Media-Accounts schnell auffindbar. Und wenn eine Frau aus der Zwangslage entkommen kann, üben Menschenhändler digitale Gewalt aus. Über Social Media kontaktieren sie die Opfer, bedrohen sie und ihre Familien, damit sie nicht zur Polizei gehen.

Könnte Digitalisierung nicht auch eine wichtige Hilfe bei den Ermittlungen sein? In der Theorie schon, sagt Expertin Dorothea Czarnecki: „Das Problem ist aber, dass in Deutschland Abteilungen der Strafverfolgungsbehörden getrennt sind: Cybercrime, Menschenhandel, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Jetzt ist die Abteilung Cybercrime technologisch gut ausgerüstet, aber die Abteilung Menschenhandel nicht – eine enge Zusammenarbeit ist daher nötig.“ IT-Analystin Czarnecki leitet beim Sachverständigenbüro FORENSIK.IT die Abteilung für Menschenhandelsbekämpfung und Kinderschutz. Ihre Auftraggeber sind Strafverfolgungsbehörden, wo es oft an Digitalisierung mangelt.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundeskriminalamt mit, die Onlinedimension von Menschenhandel und Ausbeutung nehme in allen Phasen zu, weshalb das BKA mit nationalen und internationalen Partnern innovative Lösungsansätze entwickle. Livestreams spielten bei Zwangsprostitution eine Rolle, konkrete Zahlen lägen jedoch nicht vor. Zu organisatorischen Strukturen und technischen Ressourcen äußere sich die Behörde aus „kriminaltaktischen Gründen“ nicht.

Dezember 2024

Tübingen/Baden-Württemberg. Das Landgericht Tübingen verurteilte am 12. Dezember 2024 einen 41-Jährigen zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis. Der Mann hatte die 15-jährige Tochter seiner Ex-Lebensgefährtin zur Prostitution gezwungen, sie mit Drogen gefügig gemacht und selbst vergewaltigt.

Auch an Hilfsorganisationen geht der technologische Wandel nicht spurlos vorbei. Betty Kneisler von „Projekt Schattentöchter“ betreut Opfer von Zwangsprostitution. „Vor allem die Online-Plattformen, auf denen die Frauen angeboten werden, haben einen hohen Zulauf erhalten“, beobachtet sie. In Freier-Foren werden Frauen bewertet, selbst bei Google-Bewertungen, meist schreiben die Verfasser abwertend über sie. Die Frauen werden dadurch „viel breitflächiger verkauft, und auf den Plattformen ist nicht ersichtlich, ob Zwang dahintersteckt oder nicht.“ Die enorme Kontrolle durch die Menschenhändler ist in der Beratung ebenfalls ein Thema: „Wir fanden in den Klamotten Tracking-Tools.“

Ein neues Leben zu beginnen, ist schwer. Fotos und Videos, die einmal im Internet sind, bleiben in der Regel für immer dort: „Die Betroffenen werden das nie wieder los, deshalb ist das Rauskommen so schwer.“

„Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon.“

Stefanie Hubig

Kneisler empfiehlt Ermittlern, in Foren von Freiern unterwegs zu sein. Viele davon würden mit Klarnamen kommentieren, offen Gewaltfantasien beschreiben oder von Zwangsprostitution berichten.

Um digitaler zu werden, schlägt Dorothea Czarnecki Behörden vor, auch frei verfügbare Open-Source-Intelligence-Tools zu nutzen: „Dafür muss man keine tiefe IT-Expertise mitbringen. Die Tools können vor allem Verknüpfungen erstellen zwischen Personen und Telefonnummern oder zwischen bestimmten Nicknames im Internet. Auch die Geolocation kann dadurch ermittelt werden – statt alles händisch suchen zu müssen.“

Kapitel 3: Bei der Arbeit ausgepresst

Außer den Bewohnern, der Polizei und den Sozialarbeitenden darf niemand die Adresse erfahren. Auch keine Details zur Wohnung, Umgebung oder den Männern, die hier leben. Sie sind Opfer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung geworden und haben in der schlicht eingerichteten Schutzwohnung, die der Internationale Bund (IB) in Berlin seit einem halben Jahr betreibt, Zuflucht gefunden. Es ist die einzige Einrichtung dieser Art in Deutschland. Hier wohnt ein Mann, der pro Woche etwa 80 Stunden arbeiten und an seinem Arbeitsplatz schlafen musste, aber kaum Geld bekam. Ein anderer wurde von seinem Chef nicht nur ausgebeutet, sondern auch schwer misshandelt. Wieder ein anderer ist sowohl Opfer von Arbeitsausbeutung als auch von Identitätsklau.

Der konspirative Umgang mit der Wohnung hat Gründe: Oft versuchen die Täter, die Opfer zu finden, unter Druck zu setzen und so von einer Aussage bei der Polizei oder vor Gericht abzubringen.

Januar 2025

Flensburg/Schleswig-Holstein. Das Landgericht Flensburg verurteilte am 28. Januar 2025 einen Mann unter anderem wegen besonders schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Der Mann hatte eine 16-Jährige zur Prostitution gebracht. Als sie aufhören wollte, bedrohte er sie.

Viele Fälle ähneln sich, sagt Stefan Ehrhardt vom Internationalen Bund, der das Hilfsangebot als Bereichsleiter mit aufgebaut hat: „Die Opfer werden in ihrer Heimat online oder durch Bekannte mit falschen Versprechungen vom großen Geld nach Deutschland gelockt. Hier müssen sie etwas anderes machen als vereinbart, bekommen gar kein oder wenig Geld, müssen Vermittlungshonorare, Ausbildungs- oder Unterkunftskosten abarbeiten.“

Die Betroffenen gerieten in einem fremden Land in eine Abhängigkeit, aus der sie sich schwer befreien könnten. In der Einrichtung des vom Berliner Senat beauftragten IB, die zehn Plätze bietet, sollen die Opfer zur Ruhe finden und mit Hilfe von Beratung eine Zukunftsperspektive entwickeln. Es besteht die Möglichkeit, dass sie Deutsch lernen und eine neue, nicht-prekäre Arbeitsstelle finden. Sie haben Anspruch auf eine dreimonatige Bedenk- und Stabilisierungsfrist sowie Sozialleistungen. Unter bestimmten Voraussetzungen, etwa bei einer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden, kann die Frist verlängert werden.

Mitunter sei es schwierig, die Betroffenenrechte durchzusetzen, wegen der bürokratischen Hürden und der Unerfahrenheit von Sachbearbeitenden beim Thema Menschenhandel. Es gebe aber auch positive Beispiele, betont Ehrhardt, wie „das für uns zuständige Bezirksamt, es ist dafür sensibilisiert und kooperativ, ebenso wie die Ermittlungsbehörden.“ Zu den Strategien der Täter gehört es, die Betroffenen mit Falschinformationen zu füttern. Etwa zu sagen, die Polizei sei korrupt und arbeite mit ihnen zusammen. Die Sozialarbeiter des IB versuchten, dem mit Aufklärung entgegenzuwirken. Die Entscheidung, ob sie aussagen oder nicht, liege jedoch bei den Opfern, so Ehrhardt.

März 2025

Hannover/Niedersachsen. Ein 37-Jähriger wurde im März 2025 vom Amtsgericht Hannover wegen Menschenhandels zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er hatte 2021 mindestens vier Arbeitskräfte mit falschen Versprechungen angeworben und bei Flut-Aufräumarbeiten im Ahrtal ausgebeutet.

„Wenn sie von der Polizei oder vom Zoll entdeckt werden, sind sie emotional am Anschlag“, sagt der Bereichsleiter. Sie haben Angst vor einer Abschiebung. Vor möglichen Racheaktionen der Täter. Und vor Geldnot. Die meisten wollen so schnell wie möglich wieder eine Arbeit finden, weil sie ihren Familien Geld schicken wollen.

Zunächst gehe es darum, psychologisch Erste Hilfe zu leisten, ihnen Sicherheit zu vermitteln und sie zurück ins „normale Leben“ zu begleiten, etwa mit Spaziergängen oder Gruppenangeboten. Unter den Bewohnern erlebe er eine „große Solidarität“, lobt Ehrhardt. Sie würden gemeinsam kochen, sich unterstützen und Halt geben. Der Bewohner, der die massivste Gewalt erfahren habe, sei fest entschlossen auszusagen, damit die Täter bestraft werden.

Wie aus dem Bundeslagebild Menschenhandel hervorgeht, ist die Zahl der abgeschlossenen Verfahren im Bereich Arbeitsausbeutung 2024 im Vergleich zu 2023 um 10,8 Prozent gestiegen, auf 41 – so viele wie noch nie. Dass das Hellfeld größer geworden ist, hängt auch mit Fortschritten auf staatlicher Seite zusammen: Seit 2019 kontrolliert der Zoll, ob Arbeitskraft ausgebeutet wird, und hat Opferbeauftragte in seinen Reihen. Polizei, Staatsanwaltschaften und BKA widmen dem Thema mehr Aufmerksamkeit als früher, decken bei vielen Durchsuchungen Missstände auf. Doch der Weg ist noch weit: Unter den Fällen sind Großverfahren, dennoch ist die Zahl weiterhin relativ klein.

Laut BKA sind fast 85 Prozent der Opfer männlich, haben ein Durchschnittsalter von 34 Jahren und kommen hauptsächlich aus Osteuropa und Südostasien. Sie seien oft bei Zeitarbeitsfirmen mit wechselnder Tätigkeit beschäftigt oder in der Logistik, auf dem Bau, in der Gastronomie und in Nagelstudios. Die Täter gehörten zum Teil der Organisierten Kriminalität an.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Im Bundeslagebild 2024 registrierte das BKA 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern, davon 195 wegen sexueller Ausbeutung.

Eliane Friess, Projektreferentin bei der Servicestelle gegen Zwangsarbeit, die unter anderem Behörden schult, sagt: „Die Missstände hängen auch mit dem Fachkräftemangel und der großen Ungleichheit zusammen: Viele Betroffene kommen aus Ländern, in denen die wirtschaftlichen Bedingungen viel schlechter sind. Deshalb nehmen sie viel in Kauf, um in Deutschland zu arbeiten.“ Dass eine solche Ausbeutung hier möglich  ist, hätten sie sich vorher nicht vorstellen können.

Manche sehen sich nicht als Opfer, weil sie noch schlimmere Bedingungen kennen, und sagen dementsprechend nicht aus. „Um Ausbeutung vorzubeugen, sollten die Menschen schon in ihrem Heimatland so viele Informationen wie möglich etwa über faire Arbeitsbedingungen und Anlaufstellen in Deutschland bekommen“, schlägt Friess vor. Hier seien „alle Akteure, die vor Ort sind und kontrollieren, wie zum Beispiel der Arbeitsschutz, gefragt, Hinweise auf Menschenhandel zu erkennen.“

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele gehört zu den wenigen in Deutschland, die auf Ermittlungen wegen Menschenhandels spezialisiert sind. Berlin ist hierbei eine zentrale Drehscheibe. Auch deshalb gibt es in der Hauptstadt eine Gemeinsame Ermittlungsgruppe Arbeitsausbeutung, an der Polizei und Zoll beteiligt sind. Höfele und ihre Kolleginnen und Kollegen waren in einer ganzen Reihe Verfahren erfolgreich. Die Juristin weiß um den Aufwand, der damit einhergeht: „Es handelt sich oftmals um Großverfahren mit zahlreichen Opfern und Beschuldigten, die Ermittlungsgruppen über Jahre beschäftigen können. Hinter den Taten, die oft einen Bezug zu mehreren Bundesländern und zum Ausland haben, stehen dabei oft organisierte Firmengeflechte mit zehn Unternehmen und mehr.“ Wobei auch die Täter sich fortbilden würden, indem sie zum Beispiel Gerichtsurteile studieren, um daraus zu lernen. Ermittlungen auf der Grundlage der Paragrafen zum Menschenhandel im Strafgesetzbuch seien sehr schwer und aufwendig.

März 2025

Kiel/Neumünster Schleswig-Holstein. Ermittler durchsuchten am 20. März 2025 Wohn und Geschäftsräume in Neumünster. Laut Staatsanwaltschaft wurde eine Person aus menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen befreit, ein 52-Jähriger festgenommen. Der Mann soll mehrere Opfer zur Arbeit gezwungen haben. Das Landgericht Kiel verurteilte ihn im Oktober zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und elf Monaten.

Anna Schmitt berät im Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit Betroffene von Zwangsarbeit, Arbeitsausbeutung und Menschenhandel. Die Ratsuchenden kommen entweder über die Sicherheitsbehörden zu ihr, mit denen sie kooperieren, oder über andere Anlaufstellen. Was sie am meisten beschäftige? „Ungewissheit und Angst. Etwa vor einer Abschiebung, weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Vor möglichen Racheaktionen der Täter nach einer Aussage. Und vor Geldnot, weil sie ihre Arbeit und damit die finanzielle Grundlage für sich und ihre Familie verloren haben, häufig auch ihre Unterkunft“, entgegnet die Sozialarbeiterin, die den Betroffenen hilft, ihre Rechte durchzusetzen. „Auch Gewalt spielt bei der Arbeitsausbeutung eine Rolle. Damit werden die Betroffenen eingeschüchtert.“

Im Hinblick auf die Opfersensibilität der Behörden fällt Schmitts Fazit geteilt aus. Es sei zum Beispiel gut, dass der Zoll Ansprechpersonen für Opfer habe. Andererseits würden die Betroffenen teilweise als Beschuldigte geführt, weil sie etwa keine Arbeitserlaubnis haben. Grundsätzlich gebe es Beamtinnen und Beamte mit einem guten Willen – die aber auf zu viele rechtliche Hürden stießen. So könnten beispielsweise Ausländerbehörden lediglich eine Grenzübertrittsbescheinigung ausstellen.

Schmitt spricht sich dafür aus, den Ausgebeuteten über längere Zeit einen sicheren Aufenthalt zu gewähren – auch wenn sie zumindest vorerst keine Aussage machen wollen – und sie besser zu schützen, etwa durch Anonymisierung in Verfahren. Das sei aus menschenrechtlichen Gründen geboten – und würde die Verfolgung von Menschenhandel erleichtern.

Kapitel 4: Politische Pläne

Menschenhandel ist in ganz Europa ein großes Problem, weshalb die EU ihre Richtlinie dagegen 2024 erweitert hat, unter anderem um Ausbeutung durch Leihmutterschaft und illegale Adoption. Alle Mitgliedsstaaten müssen bis Juli 2026 ihre Gesetze zur Bekämpfung von Menschenhandel überarbeiten.

Neben den relevanten Paragraphen im Strafgesetzbuch gibt es in Deutschland einen im Herbst 2024 veröffentlichten „Nationalen Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz der Betroffenen“ (NAP), der aus 126 Maßnahmen besteht, eine Laufzeit von vier Jahren hat und vor allem mehr Hilfen für Opfer, konsequentere Strafverfolgung und internationale Kooperation ankündigt. Zu den weiteren Plänen gehören eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Digitalisierung und eine verbesserte Datensammlung zu Menschenhandel.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins zum aktuellen Stand antwortete das Bundesministerium des Inneren allgemein: „Etliche Maßnahmen sind bereits in der Umsetzung oder befinden sich in der konkreten Vorbereitung. Weitere Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“

„Eine Schweinerei“

Ein Bauarbeiter aus Rumänien berichtet, wie ein Vermittler seinen Pass und einen Teil seines Lohnes einbehielt.

„Ich bin Anfang 20 und trage schon viel Verantwortung. Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Ich habe eine Freundin und ein Kind, muss für meine Familie sorgen. In Rumänien kann ich nicht genug Geld verdienen, deswegen komme ich nach Westeuropa, um auf dem Bau zu arbeiten. Das letzte Mal in Deutschland war schlimm – was ich nicht ahnen konnte. Ein Kumpel aus meinem Dorf in Transsylvanien hatte mir den Job empfohlen und den Kontakt zu einem Vermittler hergestellt, mit dem ich mich am Telefon auf zwölf Euro netto pro Stunde einigte. Ich sollte zunächst vier Monate in Bayern arbeiten, unter der Woche etwa zehn Stunden, am Samstag um die fünf. Nachdem wir angekommen waren, behielt der Vermittler, der auch die Unterkunft organisierte, unsere Ausweise ein. Er sagte, wir würden sie zurückbekommen, wenn wir die Summe, die wir ihm unter anderem für die Anreise schuldeten, abgearbeitet hätten. Er sprach von zwei Wochen. Tatsächlich erhielten wir unsere Dokumente erst nach einem Monat.

Außerdem zahlte er nur zehn Euro pro Stunde statt zwölf. Und die Hälfte des Lohns behielt er nach dem ersten Monat ebenfalls ein, als eine Art Garantie. Er wollte uns in der Hand haben, vielleicht sicherstellen, dass wir ordentlich arbeiten und nicht abreisen. Später habe ich gehört, dass er das Geld für eine Hochzeit brauchte. Eskaliert ist es, als wir an Ostern nach Hause fahren wollten, zu unseren Familien. Er wollte uns zum Bleiben zwingen und weigerte sich, uns – acht Leute waren betroffen – unser Geld zu geben. Ich bin wütend geworden. Angst hatte ich nicht, wollte unbedingt mein Geld.

Wir haben uns Hilfe geholt und schließlich mit Hilfe der Beratungsstelle Faire Mobilität und des Peco Instituts erfolgreich unsere Löhne eingefordert. Gezahlt hat nicht der Vermittler, sondern der Arbeitgeber.

Das war eine Schweinerei, wie mit uns umgegangen wurde. Erniedrigend. So etwas muss aufhören. Als Opfer von Ausbeutung sehe ich mich aber eigentlich nicht. Für mich ist es normal, bis zu zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten. Ich bin jung und stark. Wer schwach ist, wird aussortiert. So ging es einem älteren Mann, der einmal vermutlich einen epileptischen Anfall auf der Baustelle hatte. Er zuckte; der Rettungsdienst musste kommen. Als der Arbeiter nach etwa zwei Wochen zurückkam und wieder anfangen wollte, wurde er weggeschickt. Das war schlimm für ihn.

Ich arbeite inzwischen in Frankreich, regulär mit Arbeitsvertrag, und bin bislang zufrieden. Das Geld kommt pünktlich und die Arbeitsbedingungen sind in Ordnung.“

Seit 2022 berichtet das Deutsche Institut für Menschenrechte im Auftrag der Bundesregierung unabhängig darüber, ob und wie Deutschland die EU-Menschenhandelsrichtlinie umsetzt, und spricht Empfehlungen aus. Die Leiterin der Berichterstattungsstelle, Naile Tanış, rät, die Richtlinie vollständig umzusetzen und den Fokus noch stärker auf den Schutz der Betroffenen zu richten. Im Zuge einer Reform des § 232 StGB soll Menschenhandel etwa um nicht wirtschaftlich motivierte Ausbeutungsformen wie Zwangsheirat ergänzt werden. Außerdem gilt derzeit das schwer nachweisbare Merkmal der „Zwangslage“, das der Gesetzgeber laut EU-Richtlinie in „Missbrauch von Macht“ umwandeln soll.

Darüber hinaus fordert die Berichterstattungsstelle, dass Ermittlungsbehörden bei Bedarf Telekommunikationsüberwachung einsetzen dürfen, um Betroffene zu entlasten. Im Hinblick auf den Nationalen Aktionsplan mahnt sie weiteren Handlungsbedarf an: Viele Maßnahmen seien finanziell nicht gesichert, etwa die Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure. Planungssicherheit und Kontinuität seien bei Prävention aber entscheidend. Hinzu komme: „Der NAP enthält keine Maßnahmen zum Aufenthaltsrecht, obwohl Deutschland durch europäische und internationale Normen dazu verpflichtet ist, Betroffenen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit umfassende Hilfe zukommen zu lassen.“ Das BMI erklärte hierzu: „Nach Ablauf der vier Jahre soll der NAP Menschenhandel überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. So wird Kontinuität auch über die Laufzeit des derzeitigen NAP Menschenhandel hinaus sichergestellt.“

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD spielt das Thema keine große Rolle, das Wort Menschenhandel kommt lediglich ein Mal vor: „Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, steht in dem Papier. Die Opfer seien fast ausnahmslos Frauen. „Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern.“

April 2025

Chemnitz/Sachsen. Hunderte Polizisten nahmen am 9. April 2025 bei Durchsuchungen in Deutschland und Tschechien mehrere Verdächtige fest. Sie sollen vietnamesische Frauen mit falschen Visa nach Deutschland eingeschleust, sie hier zur Prostitution gebracht und ausgebeutet haben.

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat Ende Oktober Stellung bezogen. Als „moderne Sklaverei“ bezeichnete sie Menschenhandel und Deutschland als Tatort. „Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon“, sagte Hubig.

Ein Gesetzentwurf aus ihrem Ministerium, der die europäische Richtlinie gegen Menschenhandel umsetzen soll, sieht eine Änderung der Menschenhandelsdelikte (§§ 232 bis 233a StGB) und der Gesetze zur sexuellen Ausbeutung (insbesondere §§ 180a, 181a StGB) vor. So will Hubig die Strafen bei den erstgenannten Delikten erhöhen – grundsätzlich auf bis zu zehn Jahre Haft, nicht nur bei besonders schweren Fällen – und die Möglichkeit eröffnen, mehr Kunden von Ausgebeuteten zur Verantwortung zu ziehen.

Bisher griff die „Nachfragestrafbarkeit“ nur bei Freiern, die wussten, dass sie Dienstleistungen von Zwangsprostituierten in Anspruch nahmen. Künftig soll dies für alle Formen der Ausbeutung gelten, etwa wenn jemand bei einem Bauprojekt Arbeiter beschäftigt, obwohl er weiß, dass sie ausgebeutet werden.

Mai 2025

Frankfurt/Hessen und weitere Bundesländer. Ermittler durchsuchten am 8. Mai 2025 in acht Bundesländern 40 Wohn und Geschäftsräume sowie Bordellbetriebe, unter anderem in Frankfurt. Laut Staatsanwaltschaft ging es um den Vorwurf des bandenmäßigen Einschleusens von Frauen aus China zur Prostitution. Drei Tatverdächtige wurden festgenommen.

Auch plant das Justizministerium, wie von der EU gefordert, beim Menschenhandel durch Leihmutterschaft, bei Adoption und
Zwangsheirat gesetzlich nachzubessern. Kinder und Jugendliche sollen ebenfalls besser geschützt werden, durch neue Tatbestände und einen höheren Strafrahmen bei der sexuellen Ausbeutung gegen Entgelt.

Babette Rohner von Ban Ying, der in Berlin angesiedelten Koordinations- und Beratungsstelle gegen Menschenhandel, mahnt: „Solange der Opferschutz, für den es mehr Geld braucht, zu kurz kommt, wird sich nicht viel ändern.“ Die wenigen Schutzwohnungen seien meistens voll, die Beratungsstellen ausgelastet. „Bei vielen Betroffenen ist die Aussagebereitschaft gering, weil sie weder einen vernünftigen Aufenthaltstitel noch ausreichend Schutz bekommen“, sagt Rohner.

„Menschenhandel ist eine schwere Verletzung von Kinderrechten."

Martina Döcker

Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK), sagt, es fehle an Bewusstsein dafür, dass der „riesige Niedriglohnsektor in Deutschland Menschenhandel begünstigt“.

Darüber hinaus mangele es am politischen Willen sowie an Kapazitäten bei den Kontrollbehörden, die „Wirtschaft stärker zu durchleuchten“. Die Missstände würden eher stiefmütterlich behandelt und Betroffene von Ausbeutung noch oft als illegale Arbeiterinnen oder illegale Ausländerinnen betrachtet, die abgeschoben werden müssten. Fälle von Menschenhandel würden somit nicht erkannt.

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele erklärt, es brauche nicht unbedingt schärfere Gesetze. Auch sie sieht ein Kernproblem darin, dass es „keinen vernünftigen Schutz von Opferzeugen in Deutschland gibt“. Weder „können wir sie zum Beispiel anonymisieren“, damit sie nicht in Gefahr geraten, noch würden die Betroffenen, etwa bei Zwangsarbeit, pauschal entschädigt. Hinzu kämen Probleme beim Non Punishment-Prinzip für Opfer, die sich strafbar gemacht haben: „Wenn wir auf eine Bestrafung verzichten, etwa bei Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, können wir nicht sicher sein, dass die Ausländerbehörde dies auch so hält.“

Höfele spricht sich für eine bundesweit bessere Vernetzung und Zusammenarbeit der für Menschenhandel zuständigen Behörden, mehr Ressourcen und eine höhere Sensibilität aus: „In vielen Staatsanwaltschaften ist noch nicht angekommen, dass Menschenhandel in Deutschland ein Thema von großer Brisanz ist. Es benötigt viel mehr Aufmerksamkeit und vor allem eine Spezialisierung auf diesem Gebiet.“

Häufig würden Fälle heruntergebrochen auf Delikte wie Schleppen und Schleusen nach § 96 Aufenthaltsgesetz, weil dies viel einfacher nachzuweisen sei als Ausbeutung und Menschenhandel. Was sie bei ihrem Kampf dagegen antreibe? „Als eine Verfechterin der Menschenrechte finde ich: Ein Staat wie Deutschland sollte es sich nicht leisten, dass die Menschenrechte von bestimmten Gruppen mit Füßen getreten
werden. Menschenhandel ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das oberste Gebot des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Menschenhandel

2024 wurden laut BKA 83 Opfer durch die „Loverboy- Methode“ zur Prostitution gebracht, meist junge Frauen, die Täter zunächst emotional abhängig machten, um sie später finanziell auszubeuten.

Kapitel 5: Die dunkelsten Felder

Immer wieder werden Kinder einer Familie in Berlin und anderen Bundesländern straffällig, sie begehen zahlreiche Einbrüche und Diebstähle, vor allem in Mobiltelefongeschäften. Die Minderjährigen sind ohne ihre Eltern unterwegs und werden in den jeweiligen Städten und Landkreisen in Obhut genommen – verlassen die Jugendhilfeeinrichtungen aber kurz darauf wieder.

Nach und nach erreichen das zuständige Berliner Jugendamt wiederholt Meldungen von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ämtern und Polizeidienststellen.

IN VIA Berlin, die Fachberatungs- und Koordinierungsstelle bei Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen, ist die einzige dieser Art in Deutschland und kümmerte sich um den Fall. Dieser führt in eines der dunkelsten Felder: IN VIA hat die Minderjährigen als Opfer von Menschenhandel identifiziert, die offenbar durch den Zwang, Straftaten zu begehen, ausgebeutet werden. Die Beratungsstelle brachte Hilfen für den Kinderschutz auf den Weg. Das Landeskriminalamt ermittelt.

3.155

Betroffene von Menschenhandel haben Ermittlungsbehörden im Zeitraum 2020 bis 2022 identifiziert, wie die Berichterstattungsstelle Menschenhandel angibt.

3.704

Personen, bei denen der Verdacht auf Menschenhandel oder Ausbeutung vorlag, haben Fachberatungsstellen oder arbeitsrechtliche
Beratungsstellen im gleichen Zeitraum verzeichnet. Die Beratungsstelle vermutet, dass die Dunkelziffer viel höher liegt, bisher gebe es keine einheitliche Statistik in Deutschland.

15.000

Menschen wurden laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits vor 20 Jahren in Deutschland zur Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen gezwungen.

Die Zahl der Betroffenen nimmt zu. Das Bundeskriminalamt hat in seinem Lagebild Menschenhandel und Ausbeutung für das vergangene Jahr 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern (plus 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr) erfasst, 195 davon wegen sexueller Ausbeutung (plus 7 Prozent), jeweils zwei Verfahren wegen Arbeitsausbeutung und Ausbeutung durch den Zwang, Straftaten zu begehen, sowie zehn Verfahren wegen Entziehung Minderjähriger, Kinderhandel und Zwangsverheiratung. Insbesondere bei den ausgebeuteten Kindern und Jugendlichen, die sich strafbar machen mussten, gehen Fachleute – ebenso wie bei erwachsenen Betroffenen, wo 2024 lediglich zwei Verfahren abgeschlossen wurden – von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch der Menschenhandel in Zusammenhang mit Bettelei – insgesamt ein Verfahren im Jahr 2024, fünf im Jahr zuvor – trifft Minderjährige.

Martina Döcker, Leiterin der auf minderjährige Opfer spezialisierten Fachberatungsstelle von IN VIA, sagt: „Wir stellen immer wieder fest, dass die Ausbeutung hinter den vordergründigen Straftaten nicht erkannt wird, weil die betroffenen Kinder und Jugendlichen keine Aussage hierzu machen. Das Erkennen und Ermitteln der Hintergründe ist in solchen Fällen wesentlich.“ Döcker verweist darauf, dass in solchen Fällen gemäß der Europaratskonvention und der EU-Menschenhandelsrichtlinie von einer strafrechtlichen Sanktion abgesehen werden kann, es gilt das „Non-Punishment-Prinzip“, das in Deutschland in Paragraf 154 c Abs. 2 der Strafprozessordnung verankert ist, aber kaum angewendet wird.

Martina Döcker und ihr Team kümmern sich besonders häufig um sexuell ausgebeutete Minderjährige, etwa um einen verwaisten Jugendlichen: Als er 16 war, machte ein ausländischer Geschäftsmann ihm in seinem Heimatland in Subsahara- Afrika das Angebot, für eine angeblich gut bezahlte Arbeitsstelle nach Deutschland zu kommen. Mit gefälschten Ausweisdokumenten, die ihn als volljährig auswiesen, kam er in der Wohnung des Mannes unter. Dieser sperrte ihn ein und nötigte ihn, mit weiteren Männern Sex zu haben. Wochen später gelang dem Jungen die Flucht. Mit Hilfe von IN VIA, WEISSEM RING und Jugendamt bekam er eine Therapie und einen Platz in einer Wohngruppe. Er entschloss sich, Anzeige zu erstatten. Und will bald eine Ausbildung beginnen.

Aus dem Gericht: Bis zu 50 Freier an einem Tag

Zwei Verfahren, ein Muster der Ausbeutung: Vor dem Landgericht Münster haben im Oktober zwei große Prozesse wegen schwerer Zwangsprostitution begonnen. Sie zeigen exemplarisch, wie systematisch Täter junge Frauen in Abhängigkeit bringen, isolieren und zur Prostitution zwingen. Teils unter massiver Gewalt.

Im ersten Verfahren stehen fünf Angeklagte vor Gericht: drei Männer und zwei Frauen, darunter ein Elternpaar. Ihnen wird vorgeworfen, zwei junge Frauen – eine davon minderjährig – über Jahre unter Drohungen und Gewalt zur Prostitution gedrängt zu haben. Die Eltern stellten demnach ihre Wohnung bereit, und die Familie bestritt mit den Einnahmen ihren Lebensunterhalt. Der 33-jährige Sohn habe mehrfach versucht, eine der Betroffenen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, was an deren Gegenwehr scheiterte. Der ältere Bruder soll zudem versucht haben, eine weitere, damals 17-Jährige zur Prostitution zu drängen. Die Angeklagten hatten sich bis Redaktionsschluss vor Gericht nicht zu den Tatvorwürfen eingelassen. Die Geschädigten sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Ein Urteil sollte am 10. Dezember gesprochen werden.

In der zweiten Verhandlung geht es laut Anklage um 80 Taten zwischen Ende 2022 und Anfang 2025. Eine 26-Jährige und zwei Männer (36 und 32) sollen Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren zur Prostitution angeworben und ausgebeutet haben. Während die Angeklagte, die sich zu den Vorwürfen äußerte, die Abläufe plante, Hotels buchte, Anzeigen schaltete und sich auch selbst prostituierte, fuhren die Männer die Frauen laut Anklage zu ihren Einsätzen und sammelten das Geld ein. Die Angeklagte räumte ein, gewusst zu haben, dass mehrere der Mädchen minderjährig waren. Als die Polizei schon gegen sie ermittelte, sollen sie ihre Opfer weiter zur Prostitution gezwungen haben. Dies belegen Aufnahmen der Telefonüberwachung. In einem Fall zeichneten Ermittler auf, wie die Angeklagte ihre Opfer zwang, Fotos von ihren Handys zu löschen. Um den Geschädigten zu drohen, kam eine Schreckschusspistole zum Einsatz. Die Beschuldigte berichtete von einer der Frauen, die bis zu 50 Freier am Tag geschafft habe, ihr „bestes Pferd im Stall“. Besonders erschütternd: In einem Fall zwang die Angeklagte eine Schwangere in der 14. Woche zur Abtreibung in den Niederlanden, um ihren Körper weiter verkaufen zu können. Die Betroffenen sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Bis Redaktionsschluss hatten sich die männlichen Angeklagten nicht geäußert, kündigten jedoch umfassende Geständnisse an. Ein Urteil wird für Februar 2026 erwartet.

Auch viele in Deutschland aufgewachsene Kinder und Jugendliche sind von sexueller Ausbeutung betroffen, vor allem Mädchen. Die Anwerbung finde oft im digitalen Raum statt, so Döcker. Und stehe manchmal in Verbindung mit Drogenkonsum. Phänomene wie Cyber-Grooming oder Sextortion hätten die Gefahr erhöht, auch weil schnell Bilder produziert und sie damit unter Druck gesetzt werden können. Die Auswirkungen wiegen schwer: „Menschenhandel ist eine schwere Kinderrechtsverletzung, mit lebenslangen psychischen und physischen Folgen.“

Insgesamt hat IN VIA nach eigenen Angaben allein von Januar bis September dieses Jahres 57 minderjährige Opfer von Menschenhandel, 53 davon weiblich, beraten. Und damit deutlich mehr als in den vergangenen Jahren in den Statistiken erfasst waren. Ein Hinweis darauf, dass das Dunkelfeld tatsächlich groß ist. Bei einem größeren Teil handelt es sich um Minderjährige aus Drittstaaten und unbegleitete Geflüchtete. Manche werden sexuell ausgebeutet, andere zu Straftaten gezwungen, etwa bei Betrugsdelikten oder als Drogenkuriere. Die meisten Opfer sind zwischen 14 und 17 Jahre alt, das jüngste war acht.

Die Fachberatungsstelle will das Bewusstsein für das Thema schärfen, dafür sorgen, dass das Hellfeld größer wird und mehr Betroffene Hilfe bekommen. „Sensibilisierung und Schulung“ etwa von Jugendämtern, freien Trägern, Streetworkern oder Familiengerichten sind laut Döcker mit die wichtigsten Aufgaben. „In der fachlichen Diskussion fehlt oft der kindspezifische Blick“, so Döcker. Die Kinder selbst wiederum seien sich in vielen Fällen nicht der Tatsache bewusst, dass sie ausgebeutet werden, etwa aufgrund einer emotionalen Abhängigkeit. Oder sie gäben sich aus Angst vor den Tätern, die Teil der Familie sein können, nicht als Opfer zu erkennen. Manchmal werden sie als solche erkannt, verlassen Jugendhilfeeinrichtungen nach kurzer Zeit aber wieder. Es komme darauf an, sie für die eigene Situation zu sensibilisieren, ihnen auf sie zugeschnittene Hilfen und Schutz zu bieten.

Was bei Minderjährigen auf Menschenhandel hinweisen könne? Jeder Fall sei vielschichtig und einzeln zu betrachten, betont Döcker, nennt aber einige mögliche Anzeichen: Wenn im Umfeld von Kindern oder Jugendlichen zum Beispiel häufig eine unbekannte Person auftaucht, die sie zu kontrollieren scheint. Wenn sie plötzlich immer wieder straffällig werden, über viel Geld und Wertsachen verfügen oder wenn oft unklar ist, wo sie sind.

August 2025

Heilbronn/Baden-Württemberg. Der Zoll durchsuchte am 5. August 2025 einen landwirtschaftlichen Betrieb im Raum Heilbronn. Nach Angaben des Hauptzollamts bestand unter anderem der Verdacht auf Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte. Elf Erntehelfer untermauerten die Vorwürfe mit ihren Aussagen.

Am Landgericht Bielefeld legt ein Justizbeamter der 57-Jährigen, die eine führende Rolle im Schleusernetzwerk gespielt haben soll, auch während einer Prozesspause Handschellen an. 13 Justizbeamte sichern den Saal. Zum Prozessauftakt sind drei Vertreter der Nebenklage anwesend, die betroffenen Frauen sind bis zu ihrer Aussage als Opferzeuginnen in Schutzwohnungen untergebracht.

Laut BKA wird jedes zehnte Opfer nach seiner Anzeigenerstattung unter Druck gesetzt, um bei einer späteren Gerichtsverhandlung seine Aussage zurückzuziehen oder zu relativieren. Rechtsanwältin Petra-Maria Borgschulte kennt das: „Die Frauen haben Angst. Solche Verfahren scheitern häufig daran, dass die Frauen sich nicht mehr trauen, auszusagen.“ Sie vertritt eine der betroffenen Frauen vor Gericht. Vom Prozess erhofft sich Borgschulte, „dass es ein angemessenes Urteil gibt – und das man Hintergründe darüber erfährt, wie das Netzwerk zum Beispiel an so viele Touristenvisa kommen kann. Es muss Menschen in den EU-Botschaften in Thailand geben, die die Visa erteilen. Da profitiert auch wieder jemand. Das sind keine Menschenfreunde.“ Ein Urteil wird am 30. April 2026 erwartet.

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Karsten

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS spricht Professor Tillmann Bartsch, der mit seinem Team mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet wurde, über die schwierige Situation von Opfern von Menschenhandel, durch sie begangene Taten – und den Sinn einer Straffreiheit dafür.

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Professor Tillmann Bartsch ist mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden. Im Interview spricht er über die wichtigsten Erkenntnisse aus seiner Forschung.

Professor Bartsch, Sie und Ihr Forscherteam haben sich mit der möglichen Straffreiheit für Taten auseinandergesetzt, die von Opfern des Menschenhandels begangen werden. Weshalb halten Sie das Thema für wichtig, und wie ist Ihre Studie entstanden?

Nachdem wir für das Bundesjustizministerium bereits untersucht hatten, inwiefern die Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels wirken, wurden wir gefragt, ob wir ein Gutachten zum Non-Punishment-Prinzip erstellen könnten. Dieses Forschungsprojekt hat die Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel bei Arbeit und Leben DGB/VHS Berlin-Brandenburg e.V. in Auftrag gegeben, finanziert wurde es mit Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Aus wissenschaftlicher Sicht war das Thema vor allem aus zwei Gründen interessant. Zum einen gibt es noch nicht viele Arbeiten dazu, zum anderen ist dieses Prinzip in der Praxis von Bedeutung, für den Kampf gegen Menschenhandel: Die Betroffenen machen sich häufig selbst strafbar, etwa indem sie ohne Aufenthaltstitel einreisen, an „Schwarzarbeit“ beteiligt sind oder stehlen, weil sie dazu gezwungen werden. Sie gehen auch deshalb nicht auf die Strafverfolgungsbehörden zu und machen eine Aussage – obwohl sie selbst Opfer sind, zum Beispiel sexuell ausgebeutet werden. Den ermittelnden Behörden fehlen deswegen wichtige Informationen. Ein wirksam im Recht umgesetztes Non-Punishment könnte das ändern.

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?

Es gibt im deutschen Recht die Möglichkeit der Straffreiheit für von Menschenhandel Betroffene, sie ist in Paragraf 154c der Strafprozessordnung festgeschrieben. Dort heißt es: „Ist eine Nötigung oder Erpressung durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist. Zeigt das Opfer einer Nötigung oder Erpressung oder eines Menschenhandels diese Straftat an und wird hierdurch bedingt ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung des Vergehens absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.“ Wir haben analysiert, ob das Gesetz den internationalen Vorgaben genügt und inwiefern es in der Strafverfolgung zum Tragen kommt. Dazu haben wir unter anderem geschaut, wie oft der Paragraf in Fällen, die sich dafür hätten eignen können, angewendet wurde. Außerdem haben wir Interviews mit Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Richtern geführt.

Professor Tillmann Bartsch wurde mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet.

Welche wesentliche Erkenntnis haben Sie gewonnen?

Der Paragraf spielt kaum eine Rolle; das Non-Punishment-Prinzip wird in Deutschland weder in der Praxis noch unter rechtlichen Gesichtspunkten ausreichend umgesetzt. Es gibt zu viele Einschränkungen und Hürden. Eine davon ist der sogenannte Behördenleitervorbehalt. Wenn ein Staatsanwalt das Gesetz anwenden will, muss er sich dies von seiner Behördenleitung abzeichnen lassen. Ein Befragter sagte dazu im Interview: „Gehe nur zu deinem Behördenleiter, wenn du gerufen wirst.“ Manchmal kann das Problem anders gelöst werden, etwa durch eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld. Doch dies ist nur unter strikten Bedingungen möglich. Außerdem ist der Anwendungsbereich der Norm zu eng gefasst, er bezieht sich bislang bisher beispielsweise nicht auf Opfer von Zwangsprostitution. Schließlich handelt es sich nur um eine „Kann-Regelung“. Paragraf 154c Abs. 2 StPO räumt der Staatsanwaltschaft also ein weites Ermessen ein. Betroffene können sich daher nicht sicher sein, dass von der Einstellungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird.

Was schlagen Sie konkret vor?

Die Vorschrift zur Straffreiheit müsste deutlich geändert und klarer gestaltet werden. Wir haben einen konkreten Vorschlag zur Diskussion gestellt: „Bei Straftaten von Opfern von Menschenhandel oder Ausbeutung soll die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die Tat im Zusammenhang mit dem Menschenhandel oder der Ausbeutung steht und nicht wegen der Schwere der Schuld eine Strafe geboten ist. Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, soll das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren unter den Voraussetzungen des Abs. 1 einstellen.“ So muss die Staatsanwaltschaft in der Regel die Vorschrift anwenden. Erfasst würden künftig auch Opfer von Zwangsprostitution und anderen Formen der Ausbeutung im Rahmen des Menschenhandels. Und der Behördenleitervorbehalt würde auch abgeschafft. Auch das ist Gegenstand unseres Vorschlags.

Inwiefern könnte Non-Punishment helfen?

Man sollte das Prinzip nicht überhöhen und glauben, dass damit alle Probleme im Bereich des Menschenhandels gelöst wären. Aber es kann ein wichtiger Baustein bei der Verfolgung von Menschenhandel sein, der die Bereitschaft von Betroffenen, auszusagen, erhöht.

Fachberatungsstellen und auch das Bundeskriminalamt weisen immer wieder darauf hin, dass das Dunkelfeld beim Menschenhandel groß sei.

Aus kriminologischer Sicht kann man diese These sicherlich aufstellen, aber es fehlen eindeutige Belege dafür. Begründen lässt sich die These eines großen Dunkelfelds mit der Komplexität des Deliktes und der Besonderheit der Betroffenen zusammen: Sie kommen oft aus dem Ausland, haben Angst vor den Tätern und wenig Vertrauen in Behörden, wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Bei Arbeitsausbeutung sehen sie sich teilweise nicht als Opfer. Wenn sie nach ihren Maßstäben ordentlich bezahlt werden und die Familie in der Heimat versorgen können, besteht kaum Interesse, Menschenhandel anzuzeigen, auch wenn die Arbeits- und Unterkunftsbedingungen noch so gruselig sind. Hinzu kommt eine enge Bindung an Täter, eine Abhängigkeit, beispielsweise bei sexueller Ausbeutung durch die Loverboy-Masche. All das erschwert die Strafverfolgung. Deswegen ist es wichtig, Brücken für Betroffene zu bauen.

Was wäre aus Ihrer Sicht noch wichtig, um Menschenhandel besser entgegenwirken zu können? Was muss sich in den zuständigen Behörden ändern?

Weil die Fälle selten zur Anzeige gebracht werden, ist viel proaktiv zu ermitteln. Man muss hinterfragen, ob die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen reichen. Viele Opfer leiden massiv unter den Folgen von Menschenhandel, sind gerade bei sexueller Ausbeutung schwer geschädigt. Das Thema braucht deutlich mehr Aufmerksamkeit – in der Strafverfolgung und in der Wissenschaft. Es ist insgesamt noch viel zu tun, auch in der Gesetzgebung sowie in der juristischen Ausbildung. Im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Studiums findet Menschenhandel bislang kaum Beachtung, weil es in vielen Bundesländern nicht zum Pflichtfachstoff gehört. Dafür beschäftigt man sich intensiv mit Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Das ist – wenn auch hier zugespitzt – hochproblematisch.

Transparenzhinweis:
Professor Tillmann Bartsch ist seit 2022 Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und seit 2020 stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN). Gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Nora Labarta Greven und Marco Kubicki ist Prof. Bartsch für die Arbeit „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“ mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden.

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Selina

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS wird herausragende Forschung zu Opferschutz ausgezeichnet und über Menschenhandel diskutiert.

Der Weg im Kampf gegen Menschenhandel ist noch weit – darin sind sich während der Podiumsdiskussion alle einig. Foto: Lena Everding

„Es hängt bislang oft vom Zufall ab, ob Betroffene von Menschenhandel erkannt werden oder nicht“, sagt Tillmann Bartsch, Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht, am Donnerstag im festlichen Saal des Schlosses Biebrich in Wiesbaden. Bartsch und sein Forscherteam sind gerade mit dem Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes (BKA) und des WEISSEN RINGS geehrt worden, für ihre Arbeit zum Thema: „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“. Der Professor bedankt sich für die Auszeichnung der Studie und fügt hinzu: Es wäre eine noch größere Freude, wenn diese dazu beitragen könnte, den Faktor Zufall im Kampf gegen Menschenhandel zu reduzieren.

Der Preis, über den eine unabhängige, interdisziplinäre Jury entscheidet, ist in diesem Jahr zum zweiten Mal verliehen worden. Damit sollen Forschungsarbeiten zum Opferschutz gewürdigt und die Bedürfnisse von Betroffenen sichtbarer gemacht werden. Schirmherr der Preisverleihung ist Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU).

BKA-Vizepräsidentin Helen Albrecht sagte, in der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik seien 1,3 Millionen Opfer erfasst worden – ein Höchststand. Und das sei nur das „Hellfeld“. Der Wissenschaftspreis solle ihnen symbolisch „ein Gesicht geben“ und die Prävention stärken. Barbara Richstein, Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, erklärte: „Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Basis für nachhaltigen Opferschutz.“ Dadurch sei es zum Beispiel möglich, ein genaueres Bild von den Folgen von Straftaten für Betroffene zu bekommen.

Bartsch und sein Team haben herausgearbeitet, dass die Möglichkeit der Straffreiheit bei Taten, die von Opfern von Menschenhandel begangen werden, in Deutschland bislang kaum umgesetzt wird. Das erschwert den Opferschutz und die Verfolgung von Menschenhandel. Die Jury lobte unter anderem, die Studie sei methodisch breit gefächert und enthalte einen eigenen Gesetzesvorschlag.

Den Nachwuchspreis erhielt Dr. Marius Riebel für seine Dissertation „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ – laut Jury eine akribische Darstellung und Einordnung aller Möglichkeiten, Opfer im Rahmen von Verfahren zu informieren und zu schützen. Riebel sagte, er hoffe, dass seine Vorschläge für eine bessere Berücksichtigung von Opferinteressen sowohl in der Justiz als auch in der Wissenschaft intensiv diskutiert werden.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Der Gewinner des Wissenschaftspreises erklärt ,wie die Interessen von Opfern besser berücksichtigt werden könnten.

Nach der Preisverleihung widmete sich eine Podiumsdiskussion den Betroffenen von Menschenhandel „im Blick von Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft“. Tanja Cornelius, beim BKA Expertin für Menschenhandel, betonte: „Bevor wir den Opfern helfen können, müssen wir sie identifizieren.“ Das sei eine ressortübergreifende Arbeit, bei der auch zivilgesellschaftlichen Einrichtungen eine wichtige Rolle spielten. Helga Gayer, heute als Beraterin tätig und früher ebenfalls beim BKA, bezeichnete die Bekämpfung von Menschenhandel als Daueraufgabe – die vor einer neuen Herausforderung stehe. Nachdem das Thema in Europa eine relativ hohe Priorität gehabt habe, stehe es nun im Spannungsfeld mit der Debatte um „irreguläre Migration“.

Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, kritisierte, es fehle der politische Wille, Menschenhandel konsequent zu bekämpfen. Renzikowski plädierte zudem für eine bessere finanzielle Ausstattung der Fachberatungsstellen und ein „humanitäres Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel“.

Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, forderte unter anderem informierte sowie mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Diese sollten etwa auf Anzeichen von Arbeitsausbeutung achten, ihre Kaufentscheidung überdenken – und bei direkten Hinweisen oder Beobachtungen die zuständigen Behörden oder Beratungsstellen kontaktieren.