„Ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer“

Erstellt am: Donnerstag, 1. Dezember 2022 von Torben

„Ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer“

Mit Kerstin Claus hat zum ersten Mal eine Frau das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) übernommen, die selbst Missbrauch erlebt hat. Im ausführlichen Interview spricht sie über das Recht der Opfer auf Sichtbarkeit, über die Blindheit der Gesellschaft und über einen Wettstreit der Bundesländer um die beste Opferentschädigung.

Foto: Christoph Soeder

Frau Claus, Sie sind die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, kurz UBSKM. Wie erklären Sie jemanden, der zum ersten Mal über die sperrige Abkürzung stolpert, was sich dahinter verbirgt?

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gab es in der Vergangenheit, gibt es heute – und wird es trotz meines Amtes auch morgen noch geben. Unser aller Ziel muss aber sein, Kinder künftig besser zu schützen oder mindestens frühzeitig die Gewalt aufzudecken und zu beenden. Damit das gelingt, braucht es das Engagement von ganz vielen. Dazu gehört die Politik, weil sie Schutz und Hilfen ermöglichen muss. Dazu gehört aber auch die Gesellschaft. Denn jede und jeder von uns kann dazu beitragen, Kinder besser zu schützen. Und dann geht es auch um die vielen Betroffenen, die heute erwachsen sind. Auch sie haben ein Recht auf bedarfsgerechte Hilfe, ein Recht, heute gesehen und gehört zu werden. Wenn wir im Rahmen von Prävention Hilfe, Schutz und Beratung verbessern wollen, ist das Erfahrungswissen Betroffener immer wieder ein Schlüssel zum Verständnis auch und gerade im Blick auf Täterstrategien.  All das beschreibt ganz gut, worum es in meinem politischen Amt geht. Das UBSKM-Amt bin ich natürlich nicht allein, dafür arbeiten hier fast 30 Kolleginnen und Kollegen mit vielfältigster fachlicher Expertise.

Würden Sie sagen, dass es Ihre wichtigste Aufgabe ist, die Betroffenen und ihr Leid sichtbarer zu machen in der Gesellschaft?

Ich sehe es als Herausforderung, das Thema sexueller Missbrauch an Menschen heranzutragen, ohne dass sie sagen: „Oh je, schon wieder, damit habe ich nichts zu tun.“ Ich will dieses Tabu aufbrechen, damit wir alle in diesem Themenfeld handlungsfähiger werden.

Was meinen Sie mit „Tabu“?

Wir haben letztes Jahr eine Befragung zu sexualisierter Gewalt gemacht: Über 90 Prozent der Befragten bejahten die Aussage: „Sexualisierte Gewalt passiert überall an Kindern und Jugendlichen, vor allem in der Familie.“ Auf die anschließende Frage, ob diese Taten auch in ihrer Nähe stattfinden, lautete die Antwort: „Nee, nee, nicht hier.“

Woran liegt das?

Wir müssen wissen, wie Täterstrategien funktionieren, damit unsere Gesellschaft nicht blind bleibt. Wir Erwachsenen ziehen viel zu schnell den Schulterschluss zu anderen Erwachsenen und sagen: „Moment, wenn mir jemand eine Täterschaft vorwerfen würde, das wäre ja mein Ende, etwa im Job oder als Trainer im Sportverein. Mit so einem Vorwurf würde ich auch nicht konfrontiert werden wollen.“ Aber jede und jeder von uns sollte den Gedanken zulassen, dass auch Kinder in unserer nächsten Umgebung — in unserer eigenen Familie, in unserer Nachbarschaft — potenziell einer solchen Gefahr ausgesetzt sind und viele von ihnen diese ganz real erleben müssen. Wir müssen auch den Gedanken zulassen, dass jede und jeder von uns mit großer Wahrscheinlichkeit auch Täter und Täterinnen kennt. Erst wenn wir das begreifen, werden wir tatsächlich in die Verantwortung gehen und Partei für betroffene Kinder und Jugendliche ergreifen, ob als Eltern, Nachbarn, Lehrkräfte oder Politik. Ich sehe es als meine wesentliche Aufgabe, hier wachzurütteln.

Wie machen Sie das: wachrütteln?

Einmal ganz konkret über Interviews, in öffentlichen Vorträgen und Diskussionen. Wie alle müssen verstehen, worum es geht und dass wir individuell und als Gesellschaft in der Verantwortung stehen. Und dann natürlich politisch-fachlich: Wir sind eingebunden in Gesetzgebungsverfahren, befassen uns sowohl mit Prävention als auch mit Hilfen, Forschung, der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Wir entwickeln Kooperationen wie „Schule gegen sexualisierte Gewalt“, um in allen Bundesländern Schutzkonzepte in Schulen zu verankern. Wir vernetzen und ermöglichen Expertise gemeinsam mit dem Betroffenenrat und der Aufarbeitungskommission. Konkrete Strategien und Handlungsleitfäden beispielsweise zu kindgerechter Justiz werden im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen entwickelt, dem Bundesfamilienministerin Paus und ich gemeinsam vorsitzen. Und vieles ist schlicht politischer Austausch und Vernetzung: Hier geht es beispielsweise um den Austausch mit der Kinderkommission und dem Familienausschuss, aber auch allen interessierten Ministerinnen und Ministern und Abgeordneten, im Bund, aber auch in den Ländern.

Was erwarten Sie von der Politik? Auf welcher Ebene muss sie sich mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche befassen?

Ich möchte die politische Verantwortungsübernahme auf Bundes- und auf Landesebene. Als jemand, die selbst kommunalpolitische Erfahrung mitbringt, weiß ich aber sehr wohl, dass es am Ende die kommunale Verantwortung braucht, Bürgerinnen und Bürger, Eltern, Fachkräfte. Kommunale Netzwerke können dazu beitragen, dass zum Beispiel Vereine Wege finden, Schutzkonzepte zu entwickeln. Dass in einer Gemeinde oder einem Landkreis Schutzprogramme entstehen für alle Bereiche, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen. Es reicht bei der Prävention nicht, wenn es nur heißt: „Wir machen Kinder stark“ oder „Mein Körper gehört mir“, so wichtig diese Bausteine auch sind. Mein Ziel ist es, bundesweit immer wieder vor Ort zu sein, nicht nur mit Landespolitik, sondern auch mit Kommunalpolitik und dortige Initiativen einzubeziehen, um Räume zu öffnen und zu zeigen: Wir alle können was verändern und damit Gefahren abwehren, denen Kinder ausgesetzt sind.

Wie rütteln Sie Menschen außerhalb der Politik wach?

Wir müssen Orientierung und Handlungskompetenz in die Fläche bringen. Solange ich hilflos bin, versuche ich zu vermeiden, etwas zu tun. Das erleben wir bei Autounfällen: Liegt der Erste-Hilfe-Kurs schon ewig zurück, ist man froh, wenn es jemanden anderen gibt, der bei einem Unfall beherzt erste Hilfe leistet. Deswegen sage ich, nicht alle müssen Fachleute im Kinderschutz sein, aber wer ein komisches Bauchgefühl hat, weil ihm oder ihr etwas seltsam vorkommt, muss wissen, wo es Hilfe und Unterstützung gibt –  zum Beispiel beim bundesweiten Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch, aber auch bei Fachberatungsstellen vor Ort, die erst einmal Orientierung geben, beraten und unterstützen können. Man muss also nicht sofort vor der Frage stehen, ob man jetzt zur Polizei oder zum Jugendamt muss. Es geht um gute erste Schritte, die Möglichkeit, aktiv zu werden – und hierfür die Hürden zu senken.

Sie sagten, dass noch immer 90 Prozent der Menschen meinen, in ihrem eigenen Umfeld gebe es keinen Missbrauch von Minderjährigen – hat das Amt der UBSKM bisher zu wenig erreicht?

Allein meine Berufung zeigt, dass viel erreicht worden ist. Noch vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass jemand mit eigener Betroffenheit dieses Amt übernimmt. Auch medial wäre das ganz anders aufgenommen worden als heute, denn Opfer-Stigmatisierung greift gerade im Kontext sexualisierter Gewalt schnell. Meine Fachlichkeit wurde nie in Frage gestellt, ich durfte von Anfang an beides sein: kompetent und betroffen. Dies ist gelungen über die vielfältige Arbeit meiner beiden Vorgänger im Amt, auch weil sie Strukturen geschaffen haben, die für unsere Arbeit wichtig sind ­– etwa den Betroffenenrat, die Aufarbeitungskommission, den Nationalen Rat. Vieles was erreicht wurde, hat hier seinen Ausgangspunkt, daran knüpfe ich an.

Das U in UBSKM steht für unabhängig, Sie sind selbst Betroffene. Wie unabhängig können Sie da sein?

Ich habe sicher eine Parteilichkeit: Ich bin parteilich für die Belange von Betroffenen, und ich verstehe mich als jemand, die noch mal anders aufzeigen kann, warum etwas notwendig ist. Unabhängig bin ich, weil ich den Finger in die Wunde legen und Initiative ergreifen darf und mir niemand vorschreiben darf, wie ich das tue. Und natürlich haben Betroffene eine sehr spezifische Fachlichkeit: Sie haben erlebt, wie Täterstrategien funktionieren. Sie haben Wissen, was damals geholfen hätte, wie es hätte verhindert werden können, was heute gebraucht wird. Eine solche Expertise in fachliche Diskurse und in Fragen der Weiterbildung einzubringen, ist ein Plus und schadet der Unabhängigkeit in keiner Weise.

Wurde Ihnen die Parteilichkeit schon einmal zum Vorwurf gemacht?

Ich habe meinen Vorgänger Johannes-Wilhelm Rörig als sehr parteilich empfunden, und ich glaube, ohne diese Parteilichkeit hätte er weder den Betroffenenrat noch die Aufarbeitungskommission politisch durchsetzen können. Diese Parteilichkeit ist Teil des Amtes, und ich erlebe sie immer eher als Türöffner. Weil ich nicht an die Politik herantrete und sage: „Ihr wisst doch schon alles, jetzt macht endlich“, sondern weil ich erklären kann, warum etwas ein wichtiges politisches Ziel ist.

Was hören Sie von anderen Betroffenen, seitdem Sie das Amt übernommen haben?

Sie haben mehr Erwartungen und einen höheren Anspruch an mich. Ich merke, dass ich in einer Rechenschaftspflicht bin. Ich habe weder meine Telefonnummer geändert, noch bin ich sonst irgendwie abgetaucht, und daher stehe ich im Austausch mit anderen. Aber es gibt auch Social Media, und ich brauche nur bei Twitter mitzulesen, um zu sehen, dass Erwartungen an mich anders formuliert werden, als sie es bezogen auf meinen Vorgänger waren.

Was lesen Sie da heraus — mehr Ungeduld?

Es ist eine Mischung. Teilweise bekomme ich viel Rückendeckung, mit dem Tenor: gut, dass da jemand „von uns“ ist (lacht). Ungeduld lese ich auch heraus. Neulich habe mich mal bei Twitter eingeschaltet und versucht zu erläutern, dass UBSKM ein politisches Amt ist und dass es politische Prozesse sind, in denen es vor allem um Gesetze und fachliche Diskurse geht. Zum Beispiel um zu schauen, wie in der Ausbildung für pädagogische oder medizinische Berufe Grundkenntnisse zu sexualisierter Gewalt verankert werden können. Das geht erstens nicht schnell. Zweitens muss ich immer wieder mal erklären, dass ich nicht die Fürsprecherin von individuellen Belangen sein kann oder die persönliche Ansprechstelle für Betroffene. Trotzdem hilft es mir, auch mit Betroffenen vernetzt zu sein. Das, was ich da sehe und lerne, vervollständigt das Bild, mit dem ich auch in politische Verhandlungen gehe oder aber in Gespräche, beispielsweise mit dem Deutschen Olympischen Sportbund, mit der katholischen oder evangelischen Kirche oder der Jugendhilfe.

„Unabhängig und nicht weisungsgebunden“ steht in der Amtsbeschreibung der UBSKM. Sie sind an ein Ministerium angebunden, wir sitzen hier in Ministeriumsräumen. Sie sind Mitglied der Grünen. Wie unabhängig können Sie politisch sein?

Ich bin zwar organisatorisch angedockt an das Familienministerium, und das macht an vielen Stellen natürlich auch Sinn. Aber eine Ministerin kann nicht bei mir anrufen und sagen: „Ich möchte, dass Sie die Position unterstützen, die wir hier vertreten.“ Natürlich kann und werde ich, wenn es notwendig ist, Entscheidungen des Ministeriums oder der Bundesregierung kritisieren – oder sie eben unterstützen, wenn ich das fachlich für richtig halte. Das Thema sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige braucht alle demokratischen Parteien, wenn wir etwas verändern wollen. Deswegen spreche ich selbstverständlich auch mit allen – überparteilich und ressortübergreifend.

Kerstin Claus im Gespräch mit Nina Lenhardt und Karsten Krogmann. (Foto: Christoph Soeder)

Für Betroffene von sexuellem Missbrauch ist staatliche Opferentschädigung ein großes Thema, das entsprechende Gesetz wurde novelliert und tritt 2024 in Kraft. Ist 2024 endlich alles gut?

Das ist ein absolut wichtiges Thema, bei dem ich weiterhin Forderungen aufstellen werde. Das Gesetz ist zwar reformiert, das heißt aber nicht automatisch, dass alles besser wird und man nichts mehr anfassen muss. Ich bin der festen Meinung, dass die Neuerungen konsequent evaluiert werden müssen. Auch gibt es bisher gibt es keine Feedbackschleifen, in denen Betroffene im Verfahren gefragt werden: „Wie können Verfahren verbessert werden oder war die Beratung durch das Versorgungsamt hilfreich?“ Die quantitative und qualitative Evaluation ist aus meiner Sicht bei der Reform nicht ausreichend berücksichtigt worden. Für Betroffene sind das aber ganz wesentliche Fragen. Hier sehe ich die Länder in der Pflicht, zu erfassen und auszuwerten, was in ihren Behörden passiert.

Haben Sie als Betroffene persönlich Erfahrungen mit dem Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gemacht?

Ja, ich habe einen OEG-Antrag gestellt und in der Folge auch spezifische Leistungen beantragt. Ich kann mich aufgrund meines journalistischen Hintergrunds ziemlich in Themen verbeißen und habe mir so schrittweise eine recht hohe Kompetenz rund um das OEG angeeignet. Das hat nicht unbedingt für mein eigenes Verfahren geholfen — aber dabei, eine klare und vielleicht auch in Teilen wichtige Stimme in diesem Reformprozess zu sein.

Betroffene kritisieren nicht so sehr das Gesetz, sondern vor allem dessen Umsetzung durch die Behörden: langwierige Verfahren, belastende Befragungen und Begutachtungen, zu viele Ablehnungen. Was müsste sich tun, damit das Gesetz dieser Kritik in der Umsetzung gerecht wird?

Betroffene berichten immer wieder, dass sie sich nach ihrem Antrag beispielsweise auch einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung aussetzen mussten, dabei hat die im Opferentschädigungsrecht nichts zu suchen. Zum anderen ist die Anerkennung ja nur ein erster Schritt. Um konkrete Leistungen geht es erst nach der Anerkennung als Opfer einer Gewalttat und der mit der Tat einhergehenden Schädigungsfolgen. Wenn es dann darum geht, welche Hilfen gibt es konkret, beispielsweise um einen Schulabschluss oder eine Ausbildung nachzuholen, die aufgrund der häufig jahrelangen sexuellen Gewalt damals nicht möglich war, beginnt oft immer wieder eine neue Mühle im Verfahren. Viele Betroffene geben da irgendwann auf.

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Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Welche Rolle spielt dabei die Verfahrensdauer?

Die langen Zeitabläufe in den Verwaltungsbehörden können sehr belastend sein. Das war auch für mich immer wieder so. Ich weiß von sehr vielen Betroffenen, die schon ganz früh gescheitert sind, denen es nach der Antragstellung schrittweise immer schlechter ging, weil sie auf Hilfe hofften und stattdessen einem unkalkulierbaren und oft nicht verständlichen Verfahren ausgesetzt waren. Genau hier liegt meine Motivation. Es braucht endlich betroffenenzentrierte Verfahren, das sage ich als Unabhängige Beauftragte und auch als Kerstin Claus, die diese Verfahren selbst durchlaufen hat.

Wie sähe ein solches betroffenenzentriertes Verfahren aus?

Menschen in Versorgungsverwaltungen brauchen ein Grundverständnis zu komplexen Traumatisierungen aufgrund sexualisierter Gewalt. Das heißt, sie benötigen eine Qualifikation im Umgang mit Menschen, die massive sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt haben. Sie müssen Betroffene einbeziehen, ernstnehmen und Teil des eigenen Hilfeplanverfahrens werden lassen, so dass gemeinsam auf Augenhöhe der Bedarf festgestellt wird. Ideal wäre, wenn es jemanden als Ansprechpartner im Verfahren gäbe, der oder die alles weitere steuert. Betroffene als Kunden zu sehen, dafür braucht es in den Behörden eine spezifische Haltung, die letztlich gelernt werden muss. Das hat auch etwas mit Qualifizierung und Fortbildung zu tun.

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Betroffene beklagen immer wieder, dass sie zu wenig über die Verfahrensschritte erfahren, nicht wissen, was passiert, wo gerade nachgefragt wird, in welchem Zeitrahmen sie eine Antwort erwarten können. Ohne externe Hilfe, etwa durch die wenigen spezialisierten Anwälte und Anwältinnen, fehlen oftmals Erklärungen und Transparenz. Fachberatungsstellen, die viele Berichte von gescheiterten Verfahren hören, raten deswegen oft von einer Antragstellung ab. Verständlich, aber ich finde das total frustrierend, weil das Opferentschädigungsrecht eigentlich sehr viel bietet, wenn es nach solchen massiven Gewalterfahrungen in Kindheit oder Jugend darum geht, gute eigene Wege zu finden.

Ab 2024 soll es laut Gesetz in jedem Bundesland Fallmanagerinnen und -manager geben, die für die Behörden arbeiten. Wird damit alles besser?

Eine Frage ist, ob Fallmanager deutschlandweit gleich qualifiziert werden. Es kann ja nicht vom Glück abhängen, in welchem Bundesland ein Antrag bearbeitet wird. Eine Lösung für die Entwicklung und Implementierung für Qualifizierungsstandards in allen Bundesländern wäre E-Learning. Zu diesem Thema bin ich bereits in Gesprächen mit dem Sozialministerium. Im Nationalen Rat haben wir uns zudem Handlungsleitfäden für die Abwicklung von OEG-Verfahren auf unseren Arbeitszettel geschrieben, über die eine solche Vergleichbarkeit auch erreicht werden kann. Das von Ihnen angesprochene Fallmanagement ist, und das muss man sich klar machen, geplant als Teil der Versorgungsverwaltung — und darin sehe ich ein Problem.

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Vielleicht sollte das Fallmanagement bewusst extern aufgestellt sein, beispielsweise in Kombination mit Kooperationsverträgen, die zusätzlich externe, unabhängige Fachberatungsstellen einbezieht. Hessen etwa hat hier gerade spannende Ansätze entwickelt, im Rahmen der Aktualisierung des Landesaktionsplans. Ich bin überzeugt, dass massiv Kosten und Verwaltungsressourcen eingespart werden könnten, wenn über solche Wege die Verfahren fokussierter auf die Belange Betroffener und vor allem auch zügiger gestaltet werden. Damit will ich nicht dem Ausgang von Verfahren vorgreifen: Aber zügig Klarheit über Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen von OEG-Verfahren zu haben, hilft am Ende allen, insbesondere den Betroffenen. So können zusätzliche Verletzungen und Retraumatisierungen verhindert werden.

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Ist es ein Hemmnis, dass das OEG ein Bundesgesetz ist, für die Umsetzung aber die Länder verantwortlich sind?

Dem Bund sind ein Stück weit die Hände gebunden, etwa was Ausbildung und Qualifizierung von Mitarbeitenden in Landesbehörden angeht. Es wird beständig Prozesse brauchen, in die auch Betroffene mit ihrer Expertise eingebunden werden müssen. Auch dies ist ein Grund, warum ich Betroffenenräte auf Landesebene fordere, damit eine solche politisch beratende Struktur politische Entscheidungen fundiert begleiten kann. Das hat sich seit Jahren im Bund bewährt. Und ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer. Es wird Bundesländer geben, die vorangehen und die betroffenenzentrierter arbeiten, die Kooperationsverträge zur externen Begleitung Betroffener schließen — und dann wird es mein Job sein, den anderen Ländern zu sagen: „Hey, wenn die das können, könnt ihr das doch auch!“

Das UBSKM-Amt gibt es seit zwölf Jahren. Sind Missbrauchsopfer in der Gesellschaft sichtbarer geworden?

Ja und nein. Das Aufdecken bestimmter Strukturen — ausgelöst durch Fälle wie Lüdge, Bergisch Gladbach, Münster oder Wermelskirchen— hat geholfen, einen Scheinwerfer auf Gewalt zu richten, die es vorher schon gab. Und von der Betroffene auch berichtet haben, denen vielfach aber nicht geglaubt wurde. Auch Bild- und Tonaufnahmen gab es früher schon, aber das Internet macht jetzt sichtbar, was im monströsen Sinne möglich ist. Ja, wir sind weitergekommen, und wir sprechen auch nicht mehr nur von lauter Einzelfällen, sondern endlich auch von strukturellen Problemen, die Missbrauch begünstigen. Leider geht das in der Berichterstattung aber viel zu häufig einher mit einer Reduktion auf vermeintlich krankhafte Störungen. Selbst öffentlich-rechtliche Medien sprechen dann von den sogenannten pädophilen Tätern. Das ist einerseits zutiefst ungerecht gegenüber Menschen mit sexuellen Präferenzstörungen, die nie Täter oder Täterin werden. Wenn wir diese Taten nur in die Krankheitsecke schieben, verkennen wir, dass Täter und Täterinnen vor allem Macht- und Abhängigkeitsstrukturen ausnutzen. Dass sie also massiv manipulative Strategien anwenden, die immer wieder nicht erkannt werden, selbst in Strafprozessen nicht. Auch wir als Gesellschaft entlasten uns über diese Sichtweise immer wieder ein Stück weit, weil wir davon ausgehen, krankhafte Täter könne man erkennen – und deswegen den Gedanken nicht zulassen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eine verstörende Realität inmitten unseres vermeintlich unauffälligen Umfeldes ist. Wenn wir aber etwas verändern wollen, Taten verhindern wollen, müssen wir uns klarmachen, dass diese Taten überall in unserer Umgebung passieren können und passieren.

Wenn in den Medien von sexuellem Missbrauch die Rede war, schien es seit Bekanntwerden der Vorgänge am Canisius-Kolleg 2010 häufig, als sei Missbrauch vor allem ein Problem der katholischen Kirche. Hat diese Berichterstattung möglicherweise den Blick verstellt auf die vielen anderen gesellschaftlichen Bereiche, in denen es ebenfalls zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kam und kommt?

Natürlich hat sich mit 2010 die Wahrnehmung sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft verändert, auch wenn der Ausgangspunkt Kirche und elitäre Schulstrukturen waren. Für die öffentliche Wahrnehmung des Themas war auch ausschlaggebend, dass erstmals erwachsene Männer gesprochen haben, die oftmals aus gut situierten Familien kamen und oft auch beruflich erfolgreich waren. Damit gelang ihnen, was den vielen Frauen, die schon seit Jahrzehnten vor allem auf sexuellen Missbrauch im familiären Kontext hingewiesen hatten, verwehrt geblieben war: Das Thema gelangte in den medialen und gesellschaftlichen Fokus. Allerdings ging damit einher, dass bis heute der Fokus auf institutionellen Strukturen – also sexueller Missbrauch im Kontext von Sport, der Schule oder der Kirchen – liegt. Staat und Kirche stehen seit diesem sogenannten Missbrauchsskandal von 2010 in einem neuen Spannungsfeld, weil plötzlich der Staat – und in diesem Prozess sind wir aktuell – sein Wächteramt auch im Verhältnis zur Kirche neu definieren muss. Das sind lange Debatten und Lernprozesse, gerade wenn es um die staatliche Verantwortung im Kontext von Aufarbeitung geht, und es ist eine sehr grundlegende Frage, die alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend einschließen muss, also gerade auch die Betroffenen im Kontext Familie.

Wann werden wir so viel gelernt haben, dass die Aufgabe der UBSKM erledigt ist?

Solange sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausgeübt wird, wird dieses Amt gebraucht werden. Aktuell arbeiten wir an der gesetzlichen Verankerung der Aufgaben dieses Amtes. Nach meinem Verständnis ist diese Gewaltform tief gesellschaftlich verwurzelt. Nicht nur allein in Institutionen wie Kirche oder Sportverein, sondern auch und gerade im sozialen Nahfeld, besonders im familiären Kontext. Wird es möglich sein, diese Gewalt zu überwinden? Ich setze zumindest all meine Kraft ein, damit Kinder und Jugendliche besser geschützt, diese Gewalt besser verstanden und schneller gehandelt wird und Betroffene konsequent bedarfsgerecht unterstützt werden. Nur so können wir die individuellen Folgen und die traumatischen Belastungen für Betroffene reduzieren. Betroffene brauchen ein Recht auf Aufarbeitung jenseits von Gerichtssälen. Es geht um ein Recht auf Sichtbarkeit heute, denn es ist auch eine Generationenaufgabe: Die einen Betroffenen sind jetzt vielleicht in ihren Zwanzigern, die anderen mittlerweile über 70 Jahre alt. Es ist notwendig, sich diese Dimension bewusst zu machen, weil die Folgen sexualisierter Gewalt gerade nicht enden, wenn die Taten aufhören, sondern eine ganze Lebensspanne umfassen. Erst dann anerkennen wir die tatsächliche Dimension sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige in unserer Gesellschaft.

Foto: Christoph Soeder

Schlechte Erfahrungen mit dem Staat – Das schildern Betroffene

Erstellt am: Mittwoch, 30. November 2022 von Torben

Schlechte Erfahrungen mit dem Staat – Das schildern Betroffene

„Skandal“, „Folter“ und der Staat als „Mittäter“: Hunderte Nachrichten und Kommentare haben die Redaktion des WEISSEN RINGS nach der Veröffentlichung des #OEGreports in den sozialen Medien erreicht. Eine Auswahl.

Foto: Ahlers

Wut, Enttäuschung, Ohnmachtsgefühl: Hunderte Nachrichten und Kommentare haben die Redaktion des WEISSEN RINGS nach der Veröffentlichung des OEG-Reports in den sozialen Medien erreicht. Viele Nutzerinnen und Nutzer berichten auf Instagram, Facebook und Twitter von ihren zermürbenden Kämpfen in Verfahren um Opferentschädigung – und von retraumatisierenden Erfahrungen mit den Behörden. Ein Überblick über Reaktionen, in denen von „Skandal“, „Folter“ und dem Staat als „Mittäter“ die Rede ist.

Recherche, die wirkt: Was seit der Veröffentlichung des #OEGreports passiert ist

Gewaltopfer kennen Recht auf Entschädigung nicht

„Was nützt es, das OEG zu kennen, wenn dann doch der Großteil der Anträge abgelehnt wird? Im Falle eines Kindesmissbrauchs, der leider verjährt und bei dem es selten Zeugen gibt?“

„Ging mir leider ähnlich, bei mir waren es zehn Jahre und Revision. Hätte ich nicht so eine tolle Anwältin gehabt, hätte ich das nicht durchgestanden.“

„OEG ist ein qualvoll langer Weg. Mein Antrag läuft seit 2017, leider ist mein Anwalt verstorben. Nun bin ich auf der Suche nach einem neuen.“

„Das OEG ist ja schön und gut. Es hilft aber kaum jemandem, weil die Hürden so hoch sind und die Verfahren für die Opfer retraumatisierend und entwürdigend sind. In vielen Fällen werden damit mehr die Täter als die Opfer geschützt.“

„Manchmal schreckt es aber auch nur ab zu wissen, dass man schon wieder Fragen zur Tat beantworten muss, im kleinsten Detail. Mein Gutachter war schlimmer als der gegnerische Anwalt, da lässt man es eben bleiben und verzichtet.“

„Du bekommst nur was, wenn du auch eine Anzeige gemacht hast. Ich habe keine Beweise, war leider zu klein dafür. Das finde ich nicht fair.“

„Ich kenne das OEG. Nach neun Jahren (!) habe ich kürzlich dieses (teilweise unmenschliche) Verfahren letztendlich vor Gericht gewonnen.“

„Die Form der Ablehnungen, die Beurteilung der internen Gutachter und letztlich die Ablehnungen bei Gericht mit ihren Begründungen (…) sind schwerst retraumatisierend. Das Recht auf Opferentschädigung heißt nicht, dass man Recht bekommt. (…) Und solche Ablehnungen führen auch zu Angst, überhaupt einen Antrag (…) zu stellen.“

„Recht haben und Recht durchsetzen sind zwei verschiedene paar Schuhe. Nicht wenige Menschen, die Opfer wurden, entscheiden sich bewusst gegen das OEG, um sich die teilweise sehr schwierigen Behördengänge zu ersparen. Und das ist aus traumatologischer Sicht in vielen Fällen richtig.“

„Wer retraumatisiert werden will, der fordert Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz.“

„Ich kenne jemanden, die seit Jahren Angst hat, den Antrag zu stellen. Durch Missbrauch und Vernachlässigung ist sie seit Jahren psychisch krank. Es gab zwei Gerichtsprozesse (…), bei denen die Eltern nur Bewährung erhielten und vieles gar nicht erst zur Sprache kam. Manches war verjährt. (…) Wie soll sie das heute noch beweisen können? Außerdem hat sie Angst, dass die Eltern davon erfahren, wenn sie einen Bescheid bekommen, da sie in gleicher Stadt wohnen. Sie leidet noch immer unter Retraumatisierung. Diese Fragen und die Angst hindern sie, einen Antrag zu stellen.“

„Als Betroffene wurde mir mehrfach geraten, einfach meiner Wege zu gehen. Nicht ein Wort von einem solchen Gesetz. Weder von Kliniken, Ärzten noch von der Polizei.“

„Wer in Deutschland durch einen vorsätzlichen tätlichen Angriff unverschuldet gesundheitlich geschädigt wird, hat eigentlich Anspruch auf Opferentschädigung. Rente bekommt man aber erst, wenn nach einem halben Jahr noch gesundheitliche Einschränkungen da sind. Dass das gerade bei psychischen Problemen stark retraumatisierend ist und oft leider nicht bewiesen werden kann, dass Ängste, Depressionen etc., aber auch körperliche Beschwerden in der Straftat begründet sind, ist frustrierend, sollte aber niemanden abhalten, einen Antrag zu stellen, wenn die Probleme tatsächlich seitdem da sind.“

„Wir haben elf (!) Jahre prozessiert! (…). Ich finde es nach wie vor unerträglich, dass einem anerkannten Opfer jegliche Unterstützung verwehrt wird, das erlittene Trauma keinerlei Berücksichtigung findet! Warum müssen Opfer von Gewalttaten in der Beweislast sein?“

„Ich habe es so erlebt: Nervenaufreibende, immer wiederholende Fragen. Nach einiger Zeit habe ich mich wie eine Bittstellerin gefühlt. Die Sachbearbeiterin war unmöglich. Das Trauma wurde durch dieses Prozedere noch verstärkt. Und am Ende wurde abgelehnt.“

„Ich wusste es durch einen Betroffenen.“

„Ich hatte das Glück, eine sehr gute Polizistin zu haben, sie hat mich sofort (über das OEG, Anm. der Redaktion) informiert.“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt; am 4. Februar 2015 wurde ich tagsüber überfallen und beraubt. Ich hatte keine Zeugen, also gibt es auch keine Entschädigung. Kommt meine PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung, Anm. d. Red.) aus dem Nichts?“

„Die Masse an Anträgen. Immer wieder berichten, was geschehen ist. Das nie endende ‚Nachbohren‘ ist mehr als quälend (gerade nach einem langen Gerichtsverfahren – eventuell noch mit Glaubwürdigkeitsgutachten etc.). Die Anträge werden abgeschmettert.“

„Das viel größere Problem ist (…) die Anerkennung und Entschädigung von erlittenem Ungemach. Die Schäden, die oft am nachhaltigsten wirken, die psychischen, sind ausgerechnet diejenigen, die meistens am schlechtesten berücksichtigt werden.“

„Ich habe auch schon mal versucht, eine Entschädigung zu bekommen, nur leider ist es schon verjährt. Ich konnte mich als Kind nicht selbst darum kümmern. Ich verstehe solche Gesetze einfach nicht.“

„Ich hatte den Anwalt meines Betreuten darauf angesprochen. Es war ihm kein Begriff (!), nur Schmerzensgeld, was sinnlos war, weil der Angreifer mittellos war. Die Opferrente habe ich dann für meinen Betreuten beantragt.“

Sieben Fakten zum Opferentschädigungsgesetz

„Ich habe meinen Antrag zurückgezogen. Er war zu traumatisierend. Noch dazu wurde mir gesagt, dass der Täter ‚selbstverständlich‘ auch befragt wird und im Prinzip alles wie damals bei der Polizei sein wird, aber keine Unterstützung für mich. Man müsse ja sicher sein, dass keine Steuergelder unrechtmäßig ausgegeben werden. Ich habe denen nach dem dritten Telefonat, bei dem ich geheult habe, empfohlen, sich weiterbilden zu lassen.“

„Das OEG-Verfahren ist eine Zumutung. Ich habe über drei Jahre das Verfahren durchlaufen. War bei zwei Gutachtern, da dem Versorgungsamt das Gutachten nicht gepasst hat, wurde es dann nicht anerkannt. Mir ging es nach den Gutachten so schlecht, dass ich in die Klinik musste. Nach dem zweiten Gutachten habe ich das ganze Verfahren dann abgebrochen, da mich das ganze Verfahren so getriggert und fertiggemacht hat, dass ich einfach nicht mehr konnte. Sowas nennt man Folter!“

„Alle zwei Jahre Begutachtung = alle zwei Jahre Retraumatisierung. Geht es einem an diesem Tag gut, wird der GdS (Grad der Schädigung, Anm. der Redaktion) aberkannt, ohne Chance auf ein Gutachten eines anderen Psychiaters.“

„Ich bin leer ausgegangen, da ich bei meinem Überfall nicht verletzt wurde, bzw. die Pistole mich nicht berührt hat … Dass sich in diesem Augenblick das Leben von null auf 100 verändert, ist für die nicht nachvollziehbar.“

„Unser Sohn kämpft seit 6 Jahren. Es werden immer wieder neue Gutachten angefordert. Täter wurde zur Haftstrafe verurteilt und müsste jetzt entlassen worden sein.“

„12. Jahr jetzt, inzwischen wegen Therapiekosten hoch verschuldet. Wer das ohne Hilfe schaffen würde, bräuchte nicht, was beantragt wird. Ich kann nicht anders als zu denken: Das ist Absicht, in der Hoffnung auf das Ableben der Antragstellenden.“

„Bei mir war es ähnlich. Eine einzige Katastrophe.“

„Ich warte bereits drei Jahre darauf, dass mein Antrag endlich mal bearbeitet wird. Ständig kommt angeblich irgendwas dazwischen …“

„Das OEG ist erniedrigend, viel zu bürokratisch und viel zu langsam … ein Trauerspiel! (…) Traurig, dass der Staat nicht dazu fähig ist, traumatisierten Gewaltopfern adäquat und un-bürokratisch schnell zu helfen … stattdessen eine jahrelange Odyssee …“

„Wir haben den Antrag für unser Kind gestellt; Opfer jahrelangen Mobbings & gemeinschaftlicher Körperverletzung, Staatsanwaltschaft hat ermittelt. Nach drei (!) Jahren ablehnender Bescheid vom Amt, in dem man sich noch über Diagnosen lustig gemacht hat. Das ist eine Schande.“

„Dieses OEG ist ein Witz. Wie soll ein erwachsener Mensch Zeugen für den Missbrauch in der Kindheit benennen??? Die haben alle damals schon geschwiegen und wissen heute noch nichts davon!!! Folglich hat auch kein Verfahren stattgefunden. Das ist Triggern auf höchstem Niveau, was hier wieder einmal den Opfern angetan wird.“

„Es muss sich endlich etwas ändern beim OEG. Es kann nicht sein, dass Betroffene bis zu einem Jahr auf eine Entscheidung warten müssen. Es kann nicht sein, dass Betroffene alles noch einmal erzählen müssen, obwohl es Gerichtsakten gibt. Und wir müssen Betroffenen endlich Glauben schenken und sie nicht noch einmal missbrauchen, indem wir sie wie Täter behandeln.“

„Täterschutz ist immer noch vorrangig. Einfach katastrophal.“

„Das Verfahren dauerte fünf Jahre, zwischenzeitlich wurde die Papierakte geschreddert. Die digitale Akte war ohne Sinn und Verstand gescannt, wichtige Unterlagen waren verschwunden … Die dann festgelegte Entschädigung ist dafür ordentlich und erleichtert mir das Leben mit den Tatfolgen schon erheblich, besonders die Anerkennung der Tatfolgen hat mir psychisch SEHR geholfen. Das Verfahren hätte ich niemals ohne zwei Betreuerinnen und eine Anwältin schaffen können.“

„Alles, was ich bei meinem OEG-Antrag seit vier Jahren erlebe, ist Entwürdigung, Demütigung, Retraumatisierung. Hilfen? Gar keine. Ohne ärztliche Versorgung auf mich gestellt.“

„Es ist tatsächlich ein Trauerspiel, an dessen Ende die Menschen desillusionierter und mit Grundsicherung lebend dastehen. Jahre für eine mögliche Rehabilitation/Eingliederung in allen Bereichen des Lebens verpasst, stattdessen gibt es Kränkungen und Hindernisse.“

„Mein Antrag, den ich 2019 gestellt hatte, wurde 2020 abgelehnt. Begründung: Da das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, wird auch der Antrag auf OEG abgelehnt. Weiterer Aufwand und ein weiterer Schlag ins Gesicht!“

„Jetzt, nach vier Jahren, haben die Zeugen Briefe erhalten. Ich bin gespannt, ob da jemals etwas raus kommt.“

„Versorgungsämter sind Retraumatisierungsämter. Ich bin zwar anerkannt, aber schlage mich trotzdem seit nun sieben Jahren mit deren geballter Inkompetenz herum wg. jeder Kleinigkeit. Ich bekomme nicht die Hälfte dessen, was mir gesetzlich zusteht, weil ich keine Kraft für jahrelange Verfahren vor dem Sozialgericht habe.“

„Selbst bei diesem Formular brauchte ich die Hilfe einer Fachberatungsstelle. Ohne deren Hilfe und psychische Unterstützung hätte ich das nicht hinbekommen.“

„Die Prozesse sind nicht dazu da, es den Geschädigten leichter zu machen. Ganz im Gegenteil. Als müsste man zweimal nachweisen, dass man Opfer eines Verbrechens ist, wobei dies die Sachlage allein bestätigen sollte.“

„Da läuft so gut wie alles falsch, zum Nachteil der Betroffenen. Es zieht sich über Jahre hin, man bekommt wieder die Schuld zugewiesen, die Gutachter negieren ohne Ende usw. usf. Gerichte haben kaum Ahnung von dieser Misere. Meine Meinung.“

„Es wird alles getan, um den Tätern Hilfe anzubieten (Therapien, Ausbildungen und Jobs im Gefängnis). Aber NICHTS für die Opfer. Therapieplätze sind rar, Ausgleichszahlungen werden umgangen oder mit solchen Hürden versehen wie beim OEG. Unfassbar.“

„Diejenigen, die am übelsten dran sind, haben keine Chance, vom OEG Gebrauch zu machen. Erst wenn sie in ihrem therapeutischen Prozess weit fortgeschritten sind, könnten sie es in Anspruch nehmen. Grund sind die Voraussetzungen.“

„Ich habe meinen Antrag aufgegeben.“

„Wir haben gute Erfahrungen gemacht, auch wenn die Antragstellung sehr langwierig ist …“

„Kann man den Staat auf Schmerzensgeld wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen? Ich bin am Ende.“

„Das OEG-Verfahren ist nichts anderes als Retraumatisierung!“

Die OEG-Entscheidungen der Bundesländer im Vergleich

„Das Verfahren zu durchlaufen ist schon fast unmenschlich. Man wird von Gutachter zu Gutachter geschickt, retraumatisiert und wenn das Ergebnis dem Amt nicht passt, dann wird es halt nicht anerkannt. Habe weiter eine Rechtsanwältin beauftragt, um das vor Gericht zu bringen, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. Habe es nicht mehr ausgehalten, nach Terminen immer wieder in der Klinik zu landen und ständig alles wieder zu durchleben. Täterschutz vor Opferschutz … Leider …“

„Wenn ich von meinen Traumata und Erfahrungen erzähle, schlagen Therapeuten die Hände über dem Kopf zusammen. Alleingelassen von Vater Staat, retraumatisiert vom Gutachter, der mir sagte, dass meine Sitzung bei ihm ein Kinderspiel im Gegensatz zur Verhandlung sei, etc. Unfassbar, wie unsere Justiz und Vater Staat agieren.“

„Na toll. Ich lebe in Niedersachsen. Kämpfe seit fast fünf Jahren.“

„Ich würde sagen: Nicht am Bundesland, sondern an den Sachbearbeiter/innen.“

„Das Problem beginnt doch schon, wenn die Anzeige nicht ernst genommen wird.“

„Dieses Gesetz ist völlig sinnlos und nur da, um den Schein zu wahren. Echte Hilfe für Opfer gibt es da nicht. In diesem Verfahren werden Opfer wieder zu Opfern gemacht und immer wieder aufs Neue retraumatisiert. Völlig inakzeptabel für einen Sozialstaat.“

„Ich habe mich gegen das Verfahren entschieden und wurde von meiner Betreuerin verhöhnt … Ich kann mich bis heute nicht überwinden, darüber zu sprechen, und finde es unmenschlich, wie man behandelt wird.“

Was ist eigentlich das OEG? Und wer hat Anspruch darauf?

„Mein Verfahren wurde eingestellt, und damit folgte auch die Ablehnung. Also trotz der ganzen gesundheitlichen Schäden hilft das tolle OEG rein GAR NICHT.“

„Also, ich habe es beantragt, 2016, und habe es bekommen. Und vor dem Antrag wusste ich gar nicht, dass es sowas überhaupt gibt. Aber es dauert halt, bis es bearbeitet ist.“

„Das OEG richtet sich danach, ob ein Verfahren anhängig ist und wie dieses ausgeht. So war es jedenfalls bei mir. Nachdem man einmal alles schildern musste, war ein Jahr Stille, u. dann kam die Ablehnung, Begründung: da das Verfahren eingestellt wurde. Sieht so Hilfe aus? Das ist ein Witz!“

„Schade, dass die Praxis absolut nicht funktioniert. Die Umsetzung würde so viele Brücken bauen, von denen wir erst beim Eintreffen der negativen Folgen bewusst Kenntnis nehmen, sie gebraucht haben zu können. Im besten Fall bedingungslos. We need an update!“

„So, wie die Zustände gerade sind, sollte NIEMAND einen Antrag stellen. Man verliert zu viel Lebenszeit zusätzlich zu der bereits verlorenen.“

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

„Opfer werden im Stich gelassen – so ist es.“

„Möglicherweise liegt es auch daran, dass sich immer noch zu viele Beamtinnen/Beamte zu wichtig nehmen. Und gerne so entscheiden, als müssten sie das den Opfern zustehende Geld aus ihrer eigenen Tasche finanzieren.“

„Wie soll man da noch an Gerechtigkeit glauben?“

„Ich habe letztendlich aufgegeben … Der Gutachter hat voll gegen mich gearbeitet und hat dann geschrieben, meine Aussagen würden nicht stimmen. Dabei ist mein Leben so zerstört.“

„Ja, der Umgang mit den Opfern im OEG ist ein Skandal!“

Monica Gomes: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

„Das ist so gemein …“

„Meine damalige Therapeutin hat mir damals eindringlich vom OEG abgeraten. Sie hatte eine andere Klientin, die sie durch diesen Prozess begleitet hat, und es war die absolute Hölle … Diese Klientin hat es sehr bereut, dort einen Antrag gestellt zu haben, und würde auch jedem davon abraten. Täter-Opfer-Umkehr vom Feinsten. Schrecklich … Zum Glück gibt es noch den Fonds Sexueller Missbrauch.“

„Das klingt alles danach, als wäre es eher ein Opferbelastungsgesetz!“

„Ich hab’s auch nicht mehr ausgehalten. Hätte meinen Anspruch gerichtlich einklagen müssen (zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht meiner Anwältin kam, war ich schon wieder in der Klinik). Nach 1,5 Jahren war da ein Punkt für mich erreicht, an dem ich psychisch nicht mehr weitermachen konnte, weitermachen wollte, weil es mir so schlecht ging …“

„Auch nach der Bewilligung der Opferentschädigung hört es nie auf … Immer wieder kommt Post, es werden wieder Fragen gestellt …“

„Es ist einfach tragisch, dass die wirkliche Hölle mit der Bürokratie erst beginnt.“

„Bin seit über vier Jahren im Verfahren. Jetzt sogar mit Anwältin. Es ist nichts anderes als Retraumatisierung auf Retraumatisierung. Aber ich habe leider keine andere Wahl, da ich medizinische Behandlungskosten erstattet bekommen muss. Und das läuft nur, solange ich weiter diesen Antrag laufen lasse.“

„So erging es mir auch und ergeht es mir noch. Den Antrag werde ich abbrechen.“

„Ja leider interessiert es niemanden, was man aushält oder auszuhalten hat und was nicht!“

„Für mich als Opferhelfer ist es manchmal kaum auszuhalten, wenn man begründet den Hinweis auf einen Antrag nach dem OEG gibt und sieht/weiß, was auf das Opfer damit nochmals zukommt! Noch unverständlicher wird es, wenn man Opfer mit tatsächlichen lebenslangen physischen Beeinträchtigungen aufgrund einer Straftat betreut, bei denen keinerlei Hilfen und/oder Unterstützungen vom Versorgungsamt gewährt werden, weil das Strafverfahren gegen den/die Täter eingestellt wurde! Die Verletzungen/Beeinträchtigungen bleiben …“

„Davor habe ich Angst. (…) Und jetzt muss ich diesen Antrag stellen für meinen Sohn, und wenn ich das hier lese habe ich das Gefühl, alles fängt von vorne an“

„Das ist die Realität. Aber wer will das hören? Das Amt jedenfalls nicht. Man hat ja mit dem Täter zu tun, dass der wieder auf die Beine kommt. Schlimm, es macht wütend.“

„Retraumatisierung und es aushalten müssen haben mich die ersten drei Jahre nach der Antragstellung begleitet, ich wollte den Antrag auch erst nicht stellen, aber wurde von der Krankenkasse dazu aufgefordert.“

Flora-Nike Göthin: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt“

„Mich hat der Staat nur weiter traumatisiert, das geht jetzt bald fünf Jahre so. Und OEG habe ich noch nie erhalten. Stattdessen musste ich mir über die Opferhilfe eine Anwältin nehmen.“

„Mir wurde nicht geglaubt, dass ich letztes Jahr fast umgebracht worden bin, da der Täter meine Aussage umgedreht hatte und meinte, es sei Notwehr gewesen. (…) Ich habe aus dieser Sache gelernt: Als Opfer bist du auf dich allein gestellt, und man sollte lieber alles über sich ergehen lassen …“

„Bin seit 1993 betroffen. Nur durch Zufall wusste ich seit ca. 2001 vom OEG. Seither bin ich nicht nur tatgeschädigt, sondern auch von der Behörde. Was nützen einem Möglichkeiten, wenn man oftmals allein gegen den Wahnsinn und die Unterstellungen der Behörden kämpfen muss. Aufgeben war jedoch nie eine Option, denn es geht schließlich um die notwendige Unterstützung der Lebensqualität für den Rest meines Lebens. Never give up!“

„Der Staat als Mittäter.“

„Die deutsche Justiz ist für weibliche Opfer von Gewalt FATAL!“

„Das Sch***system tritt eher auf am Boden Liegende ein, als dass es sie auffängt.“

„Ich finde, wer Opfern nicht hilft oder deren Probleme nicht ernst nimmt, macht sich selbst mitschuldig.“

„Frau Göthin berichtet, in einem katholischen Kinderheim sexuell missbraucht worden zu sein. #EhemaligeHeimkinder haben es bei Verfahren zur staatlichen Opferentschädigung besonders schwer.“

Wie Maria Hagelkorn das OEG-Verfahren erlebte

„Ich bin seit fast fünf Jahren in diesen Antragsverfahren. Ich hätte es längst hingeworfen, wenn ich nicht darauf angewiesen wäre, weil bestimmte medizinische Therapien mir sonst nicht bezahlt werden, die ich aber zum Überleben brauche.“

„Ich bin ein Opfer der Kirche. Das OEG-Verfahren dauert schon seit 2017 und immer noch an. Der Verlauf? Eine Katastrophe.“

„Ein Prozess, in dem das Opfer noch mehr an Selbstvertrauen verliert. Und dabei dachte es, es hätte längst schon alles davon verloren. Nein. Es geht noch tiefer. Man muss sich über Dunkelziffern nicht wundern. Wer solche Prozesse durchlebt, erlebt die Hölle noch etliche Male wieder. Am Ende steht eine eventuelle Entschädigung gegenüber einer kaputten Seele. Wem ist es das wert?“

„Dieses Rechtssystem bringt aus meiner Sicht mehr Unglück als Glück.“

„Die Justiz handelt hier eindeutig nicht im Sinne der Opfer und stiehlt sich auf politische Weisung hin aus der Verantwortung.“

„Tja, hier in Deutschland steht Täterschutz vor Opferschutz. Und nicht zu vergessen: Die Täter-Opfer-Umkehr …“

„Mir hat man überhaupt nicht geholfen, und da es einmal abgelehnt wurde, hat man selbst als mehrfach Traumatisierte und Jahrzehnte lang Erkrankte keine Chance.“

„Eine Bekannte von mir hat mit viel Hilfe jetzt ein dreiviertel Jahr gebraucht um das Formular auszufüllen! Zu viel schlechte Gedanken. Jetzt ist fraglich, ob sie es bekommt.“

„Versorgungsämter versuchen immer, dem Staat Geld zu sparen. Der Umgang ist entwürdigend, der Ton drohend, das Ziel ist das Abwimmeln.“

„Insgesamt hat die Verachtung für Opfer von Straftaten in Deutschland eine besondere Tradition. Wenn es um Sexualstraftaten geht, wirken sich die vielen Fehlannahmen über Opfer und Täter*innen besonders negativ aus. Davon profitieren u. a. die Kirchen.“

Matthias Corssens Kampf um Anerkennung (Video)

„Das kenn ich sehr gut. Opfer haben wohl keine Rechte. Ich habe es aufgeben, das OEG ist ein Witz.“

„Mir geht es darum zu überleben. Ich habe in meinem Antrag klargemacht, dass ich kein Geld möchte, sondern nur die Übernahme einer überlebenswichtigen Therapie. Auch diese wird mir seit über vier Jahren verweigert. Meine Therapeutin hat mir gesagt, dass sie das zu 99% genau so bei jedem Fall erlebt. Sie hat mich jetzt gebeten, darüber nachzudenken, ob ich nicht davon Abstand nehmen möchte, weiter um das OEG zu kämpfen. Sie glaubt, dass das für mich eine immer wiederkehrende Retraumatisierung ist, dass ich es lassen sollte. Und das tut sehr weh, denn das ist nämlich genau das, was auch Matthias meint: Es wird nicht anerkannt, was man er- und überlebt hat.“

„Im Zweifel immer für das Opfer, damit sie nicht ein zweites Mal eins werden!“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt, trotz meiner offensichtlichen Verletzungen und Langzeitfolgen.“

„Es ist für Opfer bereits ein Kampf, überhaupt eine kleine Opferentschädigungsrente zu erhalten. 4,5 Stunden wurde ein Missbrauchsopfer im Auftrag des Landesamtes für Soziales in Oldenburg von einer Gutachterin befragt. Jetzt hat das Opfer gerade zwei, drei Jahre diese kleine (Rente, Anm. der Redaktion), jetzt kommt die Behörde aus Oldenburg schon wieder und möchte Auskunft der Fachärzte über den aktuellen Gesundheitszustand.“

„Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es um Anträge auf Leistungen, die den Opfern von Gewalttaten z-u-s-t-e-h-e-n, nicht um Leistungen aus Gnade und Billigkeit. (…) Das bedeutet konkret, dass eine Ablehnung nur aufgrund klarer, transparenter und auch für Laien verständlicher Gründe erfolgen darf bzw. dürfen sollte. Und das vor allem zeitnah. Von daher erscheint es mir schwierig, wenn von den ja nicht unbedingt häufig gestellten Anträgen (…) so viele abgelehnt werden.“

„Meine PatientInnen haben es nach einigen Versuchen aufgegeben, weil es für sie Retraumatisierung bedeutet hätte. Was für einen Sinn macht das Ganze also?“

„Niemand kann nachvollziehen, was in den vier Wänden bei den Ämtern abgeht. Wird ja auch nicht überprüft. Gibt keine Evaluation, keine Statistik über die Umsetzung der Gesetze. Und selbst wenn der Amtsschimmel Fehler macht, denen passiert doch nix, die haben ihr Gehalt pünktlich jeden Monat auf dem Konto.“

„Das ist echt lächerlich. Mein Antrag wurde abgelehnt, weil das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Ich habe 2019 meine Aussage bei der Polizei gemacht. Aber das Opfer soll halt so lange nicht in Behandlung, bis das Verfahren durch ist. Auch wenn die Staatsanwaltschaft die Akte verlegt.“

„Es ist einfach tragisch, dass die wirkliche Hölle mit der Bürokratie erst beginnt.“

„Ich wurde mehrmals vergewaltigt und bat um psychische Hilfe. Da ich zwar genau sagen konnte, wer wann in meiner Kindheit Täter war und was mein damaliger Ehemann tat, aber diese Menschen schwiegen, wurde mir nach einigen Stunden sehr schnell mitgeteilt: ‚Das war’s!‘“

„Die Sachbearbeiter der OEG zwingen einem förmlich die Rücknahme des Antrages auf. Es ist demütigend.“

„Habe den ersten Antrag kurz nach der Tat gestellt. Weil die psychische Belastung zu groß war, habe ich wieder zurückgezogen. Jahre später nochmal gestellt. Nach dem amtsärztlichen Gutachten Bescheid bekommen, dass die Tatfolgen nicht ausreichend seien, etc. Mit Fachanwältin Widerspruch eingelegt, das Versorgungsamt hat daraufhin den Bescheid komplett zurückgezogen und meinte, ich hätte gar keine Ansprüche. Zuletzt hätte ich gegen das Versorgungsamt klagen müssen … und das war zu viel für mich. Zu dem Zeitpunkt war ich wieder in einer Klinik, weil es mir so schlecht ging. Ich hatte und hab keine Kraft mehr …“

„Es waren auch staatliche Stellen, die mir als Kind vor über 30 Jahren nicht glauben/helfen wollten. Mit meinen Steuern bezahle ich deren Arbeit. Die verstehen nicht einmal ansatzweise, welche und wie viele Schäden, Ängste u.v.m. persistieren, jahrelang, Tag und Nacht, immer wieder.“

„Ich kämpfe seit mehreren Jahren um Entschädigung, verklage das Land Berlin – dieses System ist traurig und schockierend zugleich. Es ist nicht zu glauben, wie schwer traumatisierte Menschen behandelt werden. Wir sind Nummern und Zahlen, die unterm Strich nichts kosten dürfen. Geld, es geht nur ums Geld!“

„Diese Tatsache ist eine Schande für unser Land! Die Betroffenen werden ein zweites Mal zum Opfer! Das muss sich sofort ändern, verdammt!“

„Ich kann nicht mal mehr wütend sein vor lauter Enttäuschung. Wie können die noch in den Spiegel schauen?“

„Bearbeitungszeit laut Website: 295 Tage. Wirklich hilfreich. Wir müssen erstmal alle Kosten selber tragen. Sohn wurde unverschuldet im Bus geschlagen, zwei Zähne kaputt, Gehirnerschütterung, Kieferprellung. Täter gefasst, aber mittellos.“

„Und es ist eine so unfassbare Kraftanstrengung, das zu überstehen und ggf. auch eine Klage anzustrengen. Zahlt in die Gesundheitsfolgen ein.“

„Opfer werden fallen gelassen. Das OEG ist ein Witz, ich warte seit vier Jahren auf den Widerspruch, es passiert nix.“

„Es kann und darf nicht länger angehen, dass Opfer, Geschädigte und Angehörige mit all ihren Sorgen und Belangen im Stich gelassen werden.“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt. Wenn man sich auf den Staat verlassen soll, ist man verlassen. Es ist traurig, zermürbend und hoffnungslos.“

„Es ist einfach nur noch entwürdigend, wie wenig Hilfe man bekommt, wie wenig man scheinbar wert ist, dass man richtig um seine Gerechtigkeit kämpfen muss. Also warum soll man alles wieder so detailliert hochholen und offenlegen, wenn es dann eh abgelehnt wird? Man selbst ist dann wieder voll von Erinnerungen, Flashbacks und dieser schrecklichen Angst. Aber keinen von denen juckt es, was sie uns Überlebenden damit antun. Und dann wird sich ewig Zeit gelassen, nur um am Ende nicht zuzustimmen.“

„Das sind erschreckende und traurige Zahlen, aber auch leider die erschreckende Realität, die sprachlos macht.“

„Wenn wir ein Opferentschädigungs-Gesetz besitzen, müssen Opfer auch im zumutbaren Rahmen geprüft werden und ihren Anspruch erhalten. (…) Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Opfer und auch für den Steuerzahler, der sich darauf verlässt, im Ernstfall Hilfe zu erhalten und nicht noch zusätzlich belastet wird, nur um ihn los zu werden.“

Interview mit einem Sonderbetreuer

„Habe es aufgegeben, OEG zu beantragen. Warte seit drei Jahren auf meinen Widerspruch. Opfer werden so gedemütigt. (…) Ich frage ewig nach und bekomme keine Antwort.“

„Als Beispiel, ich beantrage das seit fünf Jahren, werde immer wieder abgewiesen. Ich beantrage nur weiter, weil ich ohne therapeutische Hilfe sterben werde. Ich will kein Geld in der Tasche, ich will leben!“

„Ich hatte vor einem Jahr das Gespräch beim Psychiater. Um ehrlich zu sein, kam ich mir eher vor wie ein Täter als ein Opfer. Denn es wurden mir nur Fragen zu meinen Schwächen gestellt und nichts zur Tat und den Schäden, die ich durch den Missbrauch erlitten habe. Dann ist es zudem noch so schrecklich, dass die Täter bei einer Anzeige oft mit einer Geldstrafe davonkommen – so wie in meinem Fall. Das ist doch echt ungerecht, dass wir Opfer unser Leben lang mit den Schäden zu kämpfen haben und die Täter sich mal eben mit einem läppischen Betrag freikaufen können und weitere Taten begehen können im schlimmsten Fall.“

Hinweis der Redaktion: Die Reaktionen veröffentlichen wir ohne Namen, sprachlich haben wir außer Kürzungen und Tippfehlerkorrekturen keine Änderungen vorgenommen.

Staatliche Hilfe für Gewaltopfer auf Rekord-Tiefstand

Erstellt am: Montag, 15. August 2022 von Torben

Staatliche Hilfe für Gewaltopfer auf Rekord-Tiefstand

Der WEISSE RING dokumentiert jährlich die Zahlen zu den Anträgen nach dem Opferschutzhilfegesetz. Demnach wurde 2021 fast jeder zweite Antrag auf Unterstützung abgelehnt.

Wer als Gewaltopfer Hilfe braucht, sollte besser nicht auf den Staat bauen: Fast jeden zweiten Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz haben die Ämter im vergangenen Jahr abgelehnt (46,6 Prozent). Das ist der schlechteste Wert seit mehr als 20 Jahren, wie aus der jährlichen Dokumentation des WEISSEN RINGS hervorgeht, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. „Das bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen“, sagt Prof. Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. „Die Bürokratie lässt Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind, immer öfter hilflos zurück.“

Prof. Jörg Ziercke. Foto: Christoph Soeder

Eine Ablehnungsquote von 46,6 Prozent bedeutet allerdings nicht, dass mehr als die Hälfte der Opfer Hilfe bekommen hat: Nur 27,6 Prozent der Entschädigungsanträge wurden von den Ämtern genehmigt – auch das ist fast ein historischer Tiefstand. Einzig im Jahr 2019 lag die Anerkennungsquote noch niedriger. Die übrigen Antragsteller blieben ohne Hilfe: 25,8 Prozent der Anträge bekamen in den Behörden den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe können zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Weitergabe des Falls in ein anderes Bundesland oder die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen sein.

Zermürbende OEG-Verfahren

Der Anteil der „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Die 25,8 Prozent aus 2021 sind der dritthöchste Wert in der Statistik des WEISSEN RINGS, 2020 und 2019 lag die Zahl sogar noch höher. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dahinter zum großen Teil Fälle verbergen, in denen Gewaltopfer ihre Anträge zurückgezogen haben – weil sie durch die Bürokratie und die langen Verfahren zermürbt sind“, sagt Ziercke. Warum Opfer ihre Anträge zurücknehmen, wird bislang bundesweit nicht einheitlich erfasst.

Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch, zu unterstützen. Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen.

Wie das OEG in der Praxis umgesetzt wird, hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend recherchiert und im Juni im Magazin „Forum Opferhilfe“ und online veröffentlicht. Die Ergebnisse zeichnen ein erschütterndes Bild, welches durch die Zahlen für das Jahr 2021 gestützt wird.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  1. Viel zu wenige Gewaltopfer stellen einen Entschädigungsantrag. Das Gesetz ist weitgehend unbekannt.
  2. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern bei den Anerkennungs- und Ablehnungsquoten.
  3. Gewaltopfer empfinden die Verwaltungsverfahren als unsensibel, belastend und vielfach sogar als retraumatisierend. (Betroffenenbericht: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“)

„2021 war ein sehr schlechtes Jahr für Opfer, die von Gewalt betroffen waren. Das OEG ist ein gutes Gesetz, aber der Staat hält sein Hilfsversprechen nicht. Die Unterstützung kommt nicht bei den Betroffenen an“, sagt Ziercke. Bezogen auf die Analyse der Zahlen, betont der Bundesvorsitzende: „Wer um die Schwachstellen weiß, kann auch etwas ändern.“ Vor allem brauche es jetzt einen Kulturwandel in den Ämtern: „Die Behörden müssen auf Anerkennung prüfen, nicht auf Ablehnung. In Deutschland muss der Leitsatz gelten: Im Zweifel für das Opfer!“

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Monica Gomes aus Unterfranken.

Foto: Ahlers/WR

Ihr Kopf und ihr Körper sollten endlich wieder Ruhe geben, also schluckte sie Tabletten, viele Tabletten. Sie krampfte. Ihre Atmung setzte aus. Das Herz gab nach. Der Notarzt kam, erst auf der Intensivstation wachte Monica Gomes wieder auf.

Monica Gomes: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

(Sie finden die Audiostory auch auf SpotifyApple Podcast und Deezer)

Ebern, Unterfranken, eineinhalb Jahre später. Draußen vor den Fenstern schlägt die Landschaft sanfte Wellen, darauf Grün und Gold und graue Streifen: Wälder, Felder, kurvige Straßen, hin und wieder weist ein Schild den Weg zur nächsten Burgruine. Drinnen sitzt Wolfgang, der Lebensgefährte von Monica; seine Stimme bebt vor Empörung, wenn er über den Tag spricht, an dem er sie bewusstlos fand. „Die Monica“, sagt er, „wäre fast gestorben!“ Neben Wolfgang sitzt Monica, sie sagt: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“

Was sie nicht mehr ausgehalten hatte, das erklärte ihr anschließend eine Ärztin, eine Psychiaterin: Es waren die ständigen Retraumatisierungen durch die Schriftwechsel mit dem Amt, das ihren Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) prüft. Schreiben, die Monica „martialisch“ nennt. Schreiben mit Fragen und Forderungen, die Monica immer wieder zurückzwangen: in ihre Kindheit, die damals erlebte Gewalt, „die ständige Ohnmacht und die kaum aushaltbare Angst“, wie sie sagt. Die Ärztin riet ihr dringend, das OEG-Verfahren zu beenden.

Zum ersten Mal vom OEG hörte Monica Gomes 2018. Ihr jüngster Aufenthalt in einer Nervenklinik lag noch nicht lange zurück, es war bereits der sechzehnte, als sie Kontakt zum WEISSEN RING aufnahm. Helmut Will, Leiter der Außenstelle Ebern, fragte sie: „Kennen Sie eigentlich das Opferentschädigungsgesetz?“ „Nein“, sagte Monica; wie die meisten Deutschen hatte sie nie davon gehört. Will erklärte ihr, dass sie als Gewaltopfer möglicherweise Anspruch auf Unterstützung nach dem OEG habe, vielleicht sogar auf eine lebenslange Rente. Monicas Krankheitsliste war lang: Posttraumatische Belastungsstörung, Agoraphobie, also Platzangst, Depressionen, es bestand Suizidgefahr. Arbeiten konnte sie schon lange nicht mehr, bereits mit 33 Jahren wurde sie unbefristet berentet. Heute ist sie 46.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Im Amt füllte sie den OEG-Antrag aus. Sie nannte die Täter, „Eltern, Adresse unbekannt“, sie nannte den Tatort, „Elternwohnung“, sie nannte die Tatzeit, „bis zum 19. Lebensjahr“. Sie beschrieb die Taten, „jahrzehntelange Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Psychoterror“. Sie kreuzte „Nein“ an bei der Frage, ob sie Strafanzeige erstattet habe, „Hauptgrund war, dass das Jugendamt mir von einer Strafanzeige abgeraten hat“.

Das Amt antwortete mit Schreiben in Amtsdeutsch. „Die Bearbeitung Ihres Antrags wird einige Zeit erfordern“, hieß es in einem ersten Brief. „Die zur Bearbeitung erforderlichen Unterlagen und Beweismittel sind einzuholen und mit Ihrer Mitwirkung zu vervollständigen.“ Das Amt hatte auch einen ersten Mitwirkungsauftrag für Monica: „Umgehend einzureichen“ seien Namen und Anschrift aller Hausärzte „ab Kindheit bis laufend“, außerdem Kopien sämtlicher Zeugnisse.

Weitere Schreiben folgten. Das Amt mahnte: Der Anspruchsteller oder die Anspruchstellerin, also Monica, habe den Nachweis zu erbringen über „das Vorliegen eines tätlichen vorsätzlichen Angriffs“. Das Amt forderte weitere Angaben „im Rahmen der behördlichen Sachverhaltsaufklärung“, zum Beispiel: Welche „konkreten Körperverletzungshandlungen (auf den Körper zielende gewaltsame Einwirkungen)“ hätten die Eltern an Monica vorgenommen? Was könne Monica vorbringen, damit „das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs“ geprüft werden könne?

Ohnmacht. Kaum aushaltbare Angst.Monica wusste, sie brauchte nun einen Anwalt.

Wo finden Gewaltopfer einen Anwalt, der sich mit dem Opferentschädigungsrecht auskennt? Monica suchte im Internet, das Suchergebnis war ernüchternd. Oben im Norden fand sie ein paar Namen. Gemeinsam mit Wolfgang stieg sie frühmorgens in Bayern in den Zug, um nach Hamburg zu reisen, erst spätabends kamen sie zurück, erschöpft. Eine Frau, arbeitsunfähig, agora­phobisch, kauft ein Zugticket für eine Fahrt quer durchs Land und setzt sich in ein Zugabteil voller Menschen. Monicas Kopf und Körper waren unruhig.

Im Norden fand Monica eine Anwältin, Ruhe fand sie dadurch nicht. Jetzt kam die Post nicht aus dem Amt, sondern aus der Anwaltskanzlei. „Nehmen Sie Stellung hier, nehmen Sie Stellung da“, so beschreibt es Monica.

Das Amt suchte Zeugen für die Körperverletzungen an Monica. Sie möge bitte den vollständigen Namen und die Anschrift ihrer Schwester übermitteln. Die Schwester war vor Jahren nach Portugal gezogen, Monica hatte keine Ahnung, wo sie lebt; die beiden hatten keinen Kontakt. „Jeder geht auf seine Weise mit dem Erlebten um“, sagt Monica. Sie setzte lange Antwortschreiben auf. Ja, antwortete das Amt, dann möge sie doch bitte den vollständigen Namen der Schwester und ihre zuletzt bekannte Anschrift mitteilen.

Monicas Kopf und Körper rotierten. Würde das Amt jetzt jahrelang nach der verschollenen Schwester suchen? Müssten zuerst die portugiesischen Behörden um Amtshilfe ersucht werden? Wieso glaubte ihr niemand? Monica spricht bis heute nur von der „Gegenseite“, wenn sie von der Behörde spricht. Jede Stellung­nahme, die sie schreibt, wird von der Gegenseite „mit Macht“ auseinandergenommen, so empfindet sie es. „Permanent steht die Behauptung der Gegenseite im Raum, dass meine Schilderungen nicht wahr seien!“, empört sie sich. „Das ist erniedrigend!“ Monica schlief kaum noch. Sie fragte: „Was bringt mir das alles?“ Sie recherchierte im Internet zu aktiver Sterbehilfe. Sie griff zu den Tabletten.

Nach der Entlassung von der Intensivstation stoppte Monica das OEG-Verfahren, das Amt setzte die Bearbei­tung ihres Antrags bis auf Weiteres aus.

„Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich niemals den Antrag gestellt“, sagt sie eineinhalb Jahre später in Ebern, Unterfranken. Vor einigen Wochen entschied sie sich dennoch, das Verfahren wieder aufzunehmen: „Wir haben schon so viel investiert.“ Sie hat eine Thera­peutin, die sie durch das Verfahren begleitet. Eine neue Anwältin. Ihre Schwester hat sich gemeldet, ein erster E-Mail-Kontakt besteht jetzt. Unterm Tisch kauert Kimi, eine Königspudeldame, Monicas Assistenzhund, finanziert mit Unterstützung des WEISSEN RINGS. Mit Außenstellenleiter Helmut Will hat Monica verabredet, dass alle Post vom Amt zum WEISSEN RING geht. „Die Monica kriegt keinen Brief mehr zu sehen“, sagt Wolfgang, ihr Lebensgefährte. Sie soll davon so gut es geht verschont bleiben.

Wenn sie doch mal eine Frage beantworten muss, dann stelle sie sich dem, sagt Monica, aber nicht allein. „Meine Therapeutin fängt mich auf.“ Gemeinsam laufen die beiden durch die Natur, lange Spaziergänge, lange Gespräche. Die Therapeutin sagt: „Wer so etwas erlebt hat, sollte nicht in einen Raum eingepresst werden.“

In Ebern drängelt Kimi, sie zupft an Monica, die Hündin will raus. „Sie will mich hier rausholen“, erklärt Monica, „das Gespräch dauert ihr schon zu lange.“

Aber zuerst möchte Wolfgang noch etwas sagen, er räuspert sich. Das hier, kündigt er an, sei ihm wichtig. Er sagt, er habe sein altes Haus in Unterfranken verkauft und eine neue Wohnung in Bayreuth gekauft, für die Monica und ihn. Behindertengerecht, mit Notfallknopf, betreutes Wohnen. Für die Monica, sagt er. Für ihn gebe es einen tollen Blick auf das Festspielhaus, er sei ja ein großer Wagner-Fan. Seine Stimme bebt, diesmal vor Entschlossenheit: „Niemals“, sagt er, „niemals werde ich die Monica im Stich lassen!“

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Matthias Corssen aus Niedersachsen.

Foto: Ahlers/WR

An einem Wintermorgen im Jahr 2019 reiht sich Matthias Corssen mit Dutzenden anderen in die Warteschlange vor dem Saal ein, in dem der größte Mordprozess in der jüngeren deutschen Geschichte verhandelt wird. Er hofft, dass er früh genug dran ist, um hinten im Saal noch einen Platz zu finden.

Vor Gericht steht der sogenannte Todespfleger, angeklagt wegen 100-fachen Mordes. Vorn im Saal gibt es reservierte Plätze für die 126 Nebenkläger: Angehörige der mutmaßlichen Mordopfer. Es gibt auch Plätze für 17 Rechtsanwälte, für Ersatzrichter und Ersatzschöffen, für Gutachter, für 80 Journalisten. Für Matthias Corssen ist kein Platz reserviert. Er ist der einzige bekannte Überlebende der größten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er ist der einzige Mensch im Saal, dem selbst Gewalt angetan wurde durch den Todespfleger. Aber hier gehört er nicht dazu.

Matthias Corssen: „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Fünf Jahre lang tötete der Todespfleger kranke und verletzte Patienten. Er spritzte ihnen tödliche Medikamente, um sich bei Wiederbelebungsmaßnahmen als Retter zu inszenieren. Er tat das auch bei Matthias Corssen: Als er im Juni 2004 einen schweren Verkehrsunfall hatte, war der Pfleger als Rettungssanitäter vor Ort. Er spritzte Corssen eine Medikamentenüberdosis, anschließend reanimierte er ihn, so ergaben es die Ermittlungen der Polizei. Corssen überlebte die Tat.

Im Gerichtssaal richten sich alle Blicke auf den Täter. Corssen, der seit Jahren darum kämpft, als sein Opfer anerkannt zu werden, sieht niemand.

Strafrechtlich hat Corssens Überleben die Sache verkompliziert. Wenn niemand stirbt, kann kein Mord geschehen sein. Zwar ist auch der Versuch des Mordes strafbar, aber dem stand im Fall Corssen Paragraf 24 des Strafgesetzbuches entgegen, „Rücktritt vom Versuch“: Weil der Todespfleger Corssen wiederbelebte, ist er rechtlich vom Mordversuch zurückgetreten. Bleibt der Vorwurf Körperverletzung. Aber im Fall des Todespflegers verschleppte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jahrelang. Seine Taten kamen erst Jahre später ans Licht, im Fall von Matthias Corssen Ende 2014. Corssen bekam Post, „aufgrund der Verjährungsfrist ist diese Tat nicht mehr verfolgbar“. So wurde der einzige bekannte Überlebende der Mordserie bei ihrer juristischen Aufarbeitung zum Zuschauer. „Das ist der Witz des Jahrhunderts“, findet Corssen.

Krampfanfälle, Panikattacken, Schlaflosigkeit. Eine tiefe Angst vor Spritzen. Träume von Mord und Tod. Corssen ging es schlecht. Er begann eine Traumatherapie, bezahlte sie selbst. Wenn er im Bekanntenkreis über die Tat sprach, hieß es oft, naja, so schlimm war das ja nicht. Wenn Journalisten über seinen Fall berichteten, schrieben ihm fremde Leute, er wolle sich doch nur wichtigmachen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Der Staat konnte Matthias Corssen nicht vor der Gewalttat schützen. Er schützte ihn auch nach der Gewalttat nicht: Der Staat ermittelte zu spät und zu langsam, er legte Paragraf 24 des Strafgesetzbuchs gegen Corssen aus, er legte die Verjährungsfrist gegen ihn aus. Er weigerte sich, Corssen als Opfer anzuerkennen.

Corssen ging zu einer Anwältin, die er von früher kannte. Die Anwältin drückte ihm den Antrag zum Opferentschädigungsgesetz in die Hand. Corssen hatte noch nie davon gehört. „Den nimmst du mit und füllst ihn aus“, sagte die Anwältin. „Da habe ich dann zu Hause gesessen mit dem Antrag“, sagt er. „Ich war absolut überfordert.“ Zum nächsten Termin bei der Anwältin nahm er den unausgefüllten Antrag wieder mit. „Das musst du mal in Ruhe machen“, sagte die Anwältin. Corssen schaffte es auch in Ruhe nicht.

Die Medien berichteten groß über den Todespfleger. Die Menschen in Corssens Umgebung sprachen über die Morde. Über die Toten. Über ihre Angehörigen. „Ich war immer unterm Radar“, sagt Corssen. Er sagte sich: Ich muss den OEG-Antrag ausfüllen! Wenn mein Anspruch auf Opferentschädigung anerkannt wird, dann bin ich doch ein Opfer!

Jemand wies ihn auf die Stiftung Opferhilfe hin. Corssen machte einen Termin. In Oldenburg war die Stiftung Opferhilfe im Gebäude der Staatsanwaltschaft untergebracht. Das Gebäude steht direkt neben dem alten Gefängnis: hohe Mauern, Stacheldraht, vergitterte Fenster. Corssen saß vor dem Gefängnis in seinem Auto und konnte nicht aussteigen. Sitzt da der Todespfleger?, fragte er sich. Steht er vielleicht am Fenster? Als er nach langem Ringen endlich im Büro der Stiftung saß, sagte er: „Wisst ihr eigentlich, wie es den Leuten geht, die hierherkommen?“

Die Stiftung half ihm mit dem Antrag. Zeit verging, Corssens Therapeut bekam Post, „dreimal das gleiche Schreiben von drei verschiedenen Sachbearbeitern“, sagt er. Auch Corssen bekam Post, es sei die „Durchführung einer speziellen psychiatrischen Begutachtung unbedingt erforderlich“, stand in dem Schreiben vom Amt. Der Einladung zur Begutachtung solle er „in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen“, andernfalls könne das „nachteilige Auswirkungen“ haben.

„Das klingt doch drohend, oder?“, fragt Corssen. Er folgte der Einladung. Herzklopfen. Schweißausbrüche. „Wie vor einer Prüfung“ habe er sich dabei gefühlt: „Ich soll mich rechtfertigen für das, was mir geschehen ist.“

Der Gutachter hob an: „Sie sind ja hier, weil Ihnen vermutlich diese Tat passiert ist…“ Corssen unterbrach den Mann: „Vermutlich?“ Es geschah schon wieder: Alles nicht so schlimm, du willst dich nur wichtigmachen, du lügst doch.

Im niedersächsischen Magelsen, auf dem flachen Land zwischen Bremen und Hannover, praktiziert auf einem jahrhundertealten Meierhof Klaus Römer, Corssens Therapeut. Corssen fährt eineinhalb Stunden zu seinen Traumatherapiestunden, sein Auto parkt er unter wuchtigen Bäumen. Hier ist alles ruhig, hier hört ihm jemand zu. Römer erklärt: „Damit jemand den Opferstatus verlassen kann, ist es unglaublich wichtig, dass eine dritte Instanz sagt: Du bist das Opfer, das ist der Täter. Es geht darum, gesehen zu werden.“ Corssen sagt, die Polizei habe ihn nicht gesehen nach der Tat, die Staatsanwaltschaft nicht, die Anwältin nicht, die Krankenkasse nicht, das Gericht nicht, der Gutachter nicht.

Im Juni 2019 spricht das Landgericht Oldenburg den Todespfleger schuldig wegen Mordes in 85 Fällen. Corssen war zweimal als Zuschauer im Prozess dabei, danach ging er nicht mehr hin, er habe dort keine Antworten erhalten.

Ende 2021 kommt der Anerkennungsbescheid. „Als Schädigungsfolgen werden anerkannt: ,Depressive Anpassungsstörung‘“, so steht es schwarz auf weiß im Bescheid über die „Gewährung von Beschädigtenversorgung“. Matthias Corssen, 46 Jahre alt, ist jetzt offiziell ein Opfer des Todespflegers: 17 Jahre nach der Tat, sieben Jahre nach der polizeilichen Ermittlung, sechs Jahre, nachdem ihm seine Anwältin den OEG-Antrag in die Hand gedrückt hatte.  Für die Jahre 2017 bis 2019 wird ihm eine niedrige Rente zugesprochen, danach fließt kein Geld mehr.

Corssen legt keinen Widerspruch ein. „Es ging mir nie um Geld“, sagt er. Er hat einen Beruf, er ist Fluggerätbauer. „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Maria Hagelkorn aus Niederbayern.

Foto: Ahlers/WR

An einem Esszimmertisch in Niederbayern sitzt Maria Hagelkorn* und sagt: „Es wäre schön, wenn man einfach die Reset-Taste drücken könnte und wieder ganz beschwingt wäre.“ Unter dem Tisch bewegt sie unruhig ihre Beine hin und her, eine Nervenkrankheit plagt sie. „Es ist einfach ein Teil vom Leben“, sagt Maria Hagelkorn. Sie meint die vielen Jahre der Angriffe, der Gerichtsprozesse und des OEG-Verfahrens. Und sie meint auch die Spuren, die diese Jahre bei ihr hinterlassen haben, bemerkbar an den Bewegungen unter dem Holztisch.

Maria Hagelkorn: „Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

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Es begann vor 20 Jahren als Stalkingfall, wie so viele ähnlich gelagerte Fälle. Der Nachbar ist das Problem: Er schikaniert Maria Hagelkorn, platziert tote Tiere oder ein Grabkreuz, das für ihren Tod stehen soll, an der Grundstücksgrenze, beschimpft, bedroht. Mit harmlosen Streichen oder einem Nachbarschaftsstreit hat das nichts mehr zu tun. Das ganze Dorf bekommt das mit, schaut im Vorbeigehen neugierig, was jetzt schon wieder los ist bei der Hagelkorn, einer Zugezogenen, es gibt Gerede.

Maria Hagelkorn schreibt Tagebuch, „wenn es mal wieder eskaliert ist“, hat Angst, fühlt sich als Opfer alleine gelassen. Und die Polizei? „Die kam, sprach den Täter an und sagte mir dann, sie könnte erst was machen, wenn er mir was antut.“ Genau das passierte dann auch: Der Mann wird gewalttätig, greift sie mit Gartengeräten an, gibt der Polizei einen Grund, nicht mehr nur zu zuschauen. Für Maria Hagelkorn aber ist das zu spät: Fünf Jahre, nachdem alles anfing, „da bin ich zusammengeklappt“. Die Taten haben nicht nur psychische Folgen für die Betroffene: Sie muss ihren Job aufgeben, kann seitdem nicht mehr arbeiten.

Drei Mal muss Maria Hagelkorn im Strafprozess erscheinen und aussagen, „ich hätte mir das gerne erspart.“ Das Urteil in zweiter Instanz: Bewährungsstrafe mit Annäherungsverbot.

Irgendwann, der Strafprozess läuft noch, kommt sie in Kontakt mit einem Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, der ihr vom OEG erzählt: „Vorher habe ich nichts, überhaupt nichts vom OEG gewusst.“ Sie, ihr Mann und auch ihre Anwältin, eine Strafrechtlerin, „wir hätten niemals gedacht, dass ich einen Rechtsanspruch auf Entschädigung habe.“ Die Strafrechtlerin macht klar: Ein OEG-Verfahren wird sie nicht begleiten. Also füllt Hagelkorn den Antrag alleine aus. Der Antrag wird abgelehnt.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

„Ich hätte das einschlafen lassen, wenn ich keine Anwältin vermittelt bekommen hätte. Mich alleine hinstellen und sagen: Schaut mich an, ich bin Opfer und hätte gerne Entschädigung, das hätte ich nicht gemacht.“ So landet Hagelkorn schließlich in einer Regensburger Kanzlei, weit weg vom Dorf. Weil es in der Nähe einfach niemanden gibt, der sich mit Sozialrecht auskennt, geschweige denn mit dem Teilbereich OEG. Die neue Anwältin habe gesagt, das machen wir jetzt, das könnte funktionieren. Zusammen legen sie erst Widerspruch ein, dann reichen sie Klage ein.

„Man musste immer irgendwo hin, aufs Amt, ins Gericht, das war der Horror. Weil man sich wieder damit beschäftigen muss“, sagt Maria Hagelkorn. Der Gang zum Postkasten wird zur Qual, sofort reißt Maria Hagelkorn die Schreiben der Anwältin auf, „jedes Mal war das wieder ein Urknall, alles wurde wieder aufgewühlt.“ Maria Hagelkorn bekommt in dieser Zeit Lähmungserscheinungen: „Ich dachte, meine Füße tragen mich nicht mehr.“ Bis heute hat sie bei schwierigen Gesprächen Spannungsgefühle, auch jetzt, wenn sie davon erzählt, wackeln ihre Beine unter dem Esszimmertisch hin und her.

Das Gericht entscheidet, dass die Klägerin zu einem Gutachter gehen muss. „Ich habe den Mann gegoogelt. Es gab viele negative Bewertungen, dass er sehr streng und direkt sei. In mehreren Rezensionen stand: ‚entspricht nicht der Wahrheit.‘“ Sie habe sich sehr viele Gedanken gemacht vor dem Termin. Eines der Tagebücher, in denen sie die Geschehnisse festgehalten hat, nimmt Maria Hagelkorn mit, der Sachverständige kopiert es sich in Auszügen.

„Ich habe mich oft gefragt, wieso sich der Täter mich als Opfer ausgesucht hat und ob ich selbst schuld bin.“ Als sie im OEG-Verfahren steckt, stellt sie sich die Frage, warum sie sich das überhaupt antut: „Man fühlt sich, als ob man beweisen muss, dass man selbst nicht der Schuldige ist, dass man sich rechtfertigen muss, dass einem das passiert ist.“

Irgendwann kommt der Tag des Prozesses am Sozialgericht. Die Richterin sei sehr nett gewesen. Aber sie fragt auch, ob Maria Hagelkorn ihre Klage nicht zurücknehmen wolle, schließlich lebe sie in unmittelbarer Nachbarschaft zum Täter. „Der Anwalt des Versorgungsamts sagte: Es ist ja nur ein Nachbarschaftsstreit. Das klingt mir bis heute nach. Das zu hören war ganz schrecklich. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass er anders über die Sache gesprochen hätte.“

Nach knapp sieben Jahren endlich bekommt Maria Hagelkorn eine Anerkennung nach dem OEG. Aber es folgen dann noch vier weitere Jahre, in denen mit den Behörden um Dauer und Umfang der Leistungen gestritten wird. Am Ende zahlt der Staat über einen befristeten Zeitraum eine Rente und übernimmt die Kosten für eine Psychotherapie. „Auf keinen Fall schafft man das OEG-Verfahren ohne Unterstützung, es kostet Kraft, aber die ist durch den Strafprozess schon aufgebraucht“, sagt Maria Hagelkorn, heute Anfang 50. Ihre Unterstützer waren eine Psychologin, die Hausärztin, die Anwältin und vor allem ihr Mann, der ihr immer Mut machte. Die Anwältin betont, Hagelkorns Partner habe „wie eine Eins hinter ihr“ gestanden.

Das Paar ist nicht weggezogen aus dem Dorf: „Wir hätten nicht gewusst, ob es woanders besser gewesen wäre.“ Momentan ist die Situation vor Ort ruhig, der verurteilte Nachbar hält sich fern. Vor dem Gespräch über ihre Erfahrungen mit dem OEG hatte Maria Hagelkorn eine schlaflose Nacht. Sie sagt: „Mir persön­lich nützt das jetzt nichts mehr. Aber anderen hilft es vielleicht zu sehen: Ich kann mich trauen, andere haben das auch überstanden.“

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Flora-Nike Göthin.

Foto: Ahlers/WR

Die Würde von Flora-Nike Göthin* umfasst 108 DIN-A4-Blätter. „Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk ever“, sagt die 62-Jährige über das psychologische Gutachten, das sie hat ausdrucken und binden lassen, weil es ihr so wertvoll ist. Auf den roten Kartondeckel hat sie geschrieben: „100 Seiten zurückbekommene Würde: 1965-2021“. Kurz vor dem letzten Heiligabend las sie das Schriftstück über ihre „Aussagetüchtigkeit“, so steht es auf Seite 1, zum ersten Mal. Sie weinte vor Glück und dachte im ersten Moment, „dass es mir ab jetzt vollkommen egal sein würde, was das Gericht entscheidet“. Dann kam der zweite Moment.

Flora-Nike Göthin: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt“

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„1965“ auf dem Cover steht für das Jahr, in dem Göthin in ein Kinderheim im unterfränkischen Würzburg kam, das von katholischen Nonnen geführt wurde. Das, was sie als Sechsjährige dort erlebte, nennt Göthin heute rituellen sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche, was von mehreren Priestern beobachtet und fotografiert worden sei. Sie verließ das Heim und die Bilder verblassten. Göthin wurde erwachsen, erlernte einen Beruf, ging arbeiten. Als sie Anfang 30 war, merkte sie, dass sich etwas veränderte. Sie bekam plötzlich Flugangst, konnte nicht weiter als Flugbegleiterin arbeiten, fiel immer wieder krankheitsbedingt aus, „alles kam wieder hoch“, so Göthins Schilderung: Ein Auf und Ab, das sie erst viel später verstanden habe, als sie sich in Therapie begab, wie sie erzählt: „Das hängt alles zusammen.“

Traumafolgestörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen und Schlafstörungen: Diese Schädigungsfolgen stellte Göthin bei sich fest und schickte 2013 den Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) an die zuständige Behörde. Diese bestellte sie zur persönlichen Anhörung ein, weil es „keine ‚neutralen‘ Beweismittel“ gebe, also „keine Unterlagen oder Zeugenaussagen“, wie es in einer Mail  heißt. Göthin schrieb zurück: Sie spreche nur mit einer Frau, und auch nur dann, wenn diese nachweislich traumaspezifisch qualifiziert sei im Umgang mit Betroffenen von Gewalttaten, um sich selbst vor einer Retraumatisierung zu schützen. Das Amt antwortete, dass „kein hierfür geschultes Personal zur Verfügung steht, das Ihren Vorgaben gerecht werden könnte“. Der Anhörungstermin kam nicht zustande, der Antrag wurde abgelehnt.

Göthin legte Widerspruch ein und klagte. Das Gericht wies die Klage ab und bezog sich unter anderem auf fehlende Nachweise, etwa Zeugen, Ermittlungs- oder Strafverfahren. Gerade mal 20 Minuten habe der Prozess gedauert. Sie findet, es sei gar nicht ermittelt worden, ärgert sich Göthin.

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Dass die Nachweispflicht aus Sicht des Staates bei den OEG-Antragstellenden liegt, empört die 62-Jährige. Sie sei im Laufe des OEG-Verfahrens aufgefordert worden, Anzeige zu erstatten, dem sei sie auch nachgekommen. Allerdings seien die Taten verjährt und das Verfahren eingestellt worden. Göthin versteht das nicht: „Warum muss ich Anzeige erstatten, wenn das eh verjährt ist? Es ist jedes Mal belastend, wenn ich aufs Neue davon erzählen muss.“ Nach Verfahrensbeginn seien zudem nicht nur der letzte beteiligte Pfarrer, sondern auch Schwestern, die sie als Zeugen benannt habe, gestorben. Diese Personen seien nicht befragt worden, man habe sie „wegsterben“ lassen.

Wenn die Aussagen eines Opfers die einzigen Beweismittel sind, ist nach Ansicht des Bundessozialministeriums ein aussagepsychologisches Gutachten „sinnvoll“, heißt es in einem Schreiben an die zuständigen Landesbehörden aus dem Jahr 2014. Aber erst als Flora-Nike Göthin in Berufung ging, beauftragte das Landes­sozialgericht eine Psychotherapeutin mit einem Gutachten. Das Gericht wollte wissen: „Können die Angaben der Klägerin (…) aus aussagepsychologischer Sicht mit relativer Wahrscheinlichkeit (hierbei genügt die gute Möglichkeit) als erlebnisfundiert angesehen werden?“

Für den Termin mit der vom Gericht beauftragten Gutachterin ließ sich Göthin 2018 in eine Klinik einweisen, weil sie hier schon wegen Traumata behandelt worden war und damit sie aufgefangen werden könnte, falls das Gespräch schwierig würde. Sie ließ die Befragung auf Video aufzeichnen. Weil sie befürchtete, „wie in Watte gepackt“ zu sein und nicht mitzubekommen, was sie gesagt hat, Fachleute nennen das dissoziieren. Göthin sagt: „Die Begutachtung hat mich wieder voll in die Traumatisierung getrieben.“ Der Chefarzt der Klinik, Alexander Jatzko, spricht von einer „Aktualisierung des Traumas“ und „massiven Triggern“ für Göthin. Sie habe mehrere Tage benötigt, bevor sie die Klinik wieder habe verlassen können.

Psychotherapeut Jatzko macht das Dilemma seiner Patientin bei der Begutachtung deutlich: einerseits die unangenehme, belastende Situation, alles wieder hochkommen zu lassen. Andererseits: „Es war ihr wichtig, beweisen zu können, dass ihr etwas ganz Schlimmes passiert ist“, sagt der Chefarzt. Über die angewandte Methode sagt er: „Ob die Aussagepsychologie das richtige Mittel ist, um Ergebnisse zu erhalten, ist umstritten.“ Hier brauche es noch einiges an Forschung.

Die Gutachterin schlussfolgerte: „Trotz vorliegender schwerwiegender psychischer Symptomatik“ könne nicht belegt werden, dass sich die Geschehnisse im Kinderheim wie berichtet zugetragen haben. Flora-Nike Göthin hat das 145 Seiten lange Gutachten akribisch durchgearbeitet, Kommentare an die Ränder geschrieben, Ausrufezeichen gesetzt, Sätze unterstrichen. Sie findet es „mangelhaft“.

Göthin hat verstanden: Wenn es keine „neutralen“ Beweise gibt, dann „ist die Glaubhaftigkeit das A und O“. So startete sie einen neuen Versuch, um zu belegen, dass ihre Schilderungen glaubhaft sind. Das Sozialgerichtsgesetz gestattet es Antragstellenden, sich selbst einen zweiten Gutachter zu suchen. Göthin fand einen, der schon andere Heimkinderfälle begutachtet hatte. Allerdings musste sie die Kosten vorschießen: Das Gericht forderte sie auf, 11.000 Euro zu zahlen, und zwar innerhalb von etwas mehr als einem Monat. „Das haut einen um“, sagt die 62-Jährige, das sei Geld gewesen, das sie nicht gehabt habe: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich.“ Der Kostenvoranschlag des zweiten Gutachters fiel dann aber deutlich geringer aus. Sie habe ihn gebeten, dies dem Gericht mitzuteilen. So habe sich der Betrag dann verringert und der WEISSE RING am Ende die Zahlung übernommen.

2021 musste Göthin wieder von 1965 erzählen, dieses Mal dem zweiten Gutachter. Dieser kam zu einem ganz anderen Schluss als die erste Sachverständige, seine Beurteilung endet mit dem Satz: „Im Rahmen der Glaubhaftmachung ist die Möglichkeit, dass ihre (Göthins, d. Red.) Angaben zutreffen, als die wahrscheinlichste anzusehen.“ Ein Satz, der dokumentiert, was für Flora-Nike Göthin größte Bedeutung hat: Sie hat ihre Würde zurück! Seit 2013 habe man ihr sagen wollen, dass das, was sie sagt, nicht stimmt. Nach neun Jahren, endlich, hat sie die Bestätigung: „Ich bin glaubwürdig!“

Zum Gesprächstermin im Frühjahr 2022 kommt Göthin mit einem hellgrünen Rollköfferchen, darin ein Teil ihrer Unterlagen zum OEG-Verfahren. Die Worte, mit denen die 62-Jährige ihre Empfindungen über Kontakte mit Behörden und Gericht beschreibt: Kampf. Demütigung. Ausgeliefertsein. Ständige Warteposition. Was wird sie machen, wenn das Verfahren abgeschlossen ist? Göthin blickt auf das aufgeklappte Köfferchen auf dem Fußboden, auf das Erstgutachten in einem zerfledderten Umschlag, die Gerichtsbeschlüsse: „Erstmal alle Akten verbrennen. Damit diese Papierflut aufhört.“

„Es kostet unendlich viel Kraft“, sagt Göthin über das Verfahren. Wann es abgeschlossen sein wird, ist offen. Bei Redaktionsschluss wartete sie noch auf Rückmeldung von Behördenseite: Das Amt muss mitteilen, ob es aufgrund des Zweitgutachtens eine grundsätzliche Anerkennung ausspricht oder ob es zu einer Berufungsverhandlung vor Gericht kommt. Göthins Anwalt Kai Nissen sagt: „Wir haben zwei gegensätzliche Gutachten. Sollte es zum Prozess kommen, wird das Gericht entscheiden müssen, welchem es folgt.“ Falls Göthin eine Anerkennung bekommt, bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch eine Entschädigung erhält. Laut Nissen müsste im nächsten Schritt dann ein entsprechend hoher „Grad der Schädigung“ nachgewiesen werden.

Es ist Flora-Nike Göthin nicht egal, wie das Verfahren ausgeht. Sie findet, dass sie einen Anspruch auf Entschädigung hat, deswegen wolle sie „wie ein Stachel im Fleisch sein“, wie sie kämpferisch sagt. Immer wieder habe sie nicht arbeiten können, sei krank gewesen, sie sei auf sich allein gestellt und erwarte eine nur kleine Rente. Sie müsse weitermachen, sagt Göthin, schon aus wirtschaftlichen Gründen: „Sonst hätte ich längst aufgegeben.“

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für die Familie Kreis aus Niedersachsen.

Foto: Ahlers/WR

Wenn Alexeis Kopf auf der linken Seite liegt, fällt sein Blick auf Bilderrahmen, ein Foto zeigt ihn in Kindertagen mit seiner kleinen Schwester Alina, die ihn am Ohr zieht. „Wir konnten immer sehr gut miteinander“, sagt Alina, 17 Jahre alt und sieben Jahre jünger als Alexei. Die Geschwister der Familie Kreis sind sich bis heute nah, daran hat auch dieser eine Septembermorgen 2018 nichts geändert. Aber Alina konnte nicht einfach nur die kleine Schwester bleiben. Sie musste neue, ganz unterschiedliche Rollen übernehmen. Das hat dieser eine Morgen schon geändert.

Familie Kreis: „Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

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Ausgerechnet „Infinity“, Unendlichkeit, hieß die Disco in Hannover, in der Alexei feierte und vor der er Opfer einer schweren Körperverletzung wurde. Eine Faust traf ihn, „wie ohnmächtig“ fiel Alexei „in gerader Position“ um, heißt es im Amtsgerichtsurteil, er schlug mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt auf. Auf die Notoperation folgte das Wachkoma, in dem sich der 24-Jährige bis heute befindet, laut Gerichtsunter­lagen „ohne Aussicht auf wesentliche Besserung“.

Alina, die Familiensprecherin, überlegt: „Wie sagt man Opferentschädigungsgesetz auf Russisch?“ Sie zückt ihr Smartphone, googelt. Es gibt kein russisches Äquivalent. Wirklich erklären kann die 17-Jährige nicht, was das Gesetz, abgekürzt OEG, genau besagt, wo welcher Vorgang – Gerichtsprozesse, Auseinandersetzung mit der Krankenkasse oder Behörden – anfängt und aufhört, an welcher Stelle welcher Ansprechpartner zuständig ist, von welcher Quelle am Ende Geld kommt. „Man kann es nicht mehr auseinanderhalten, es verwirrt einen.“

Alina, die Erklärerin: „Man stellt sich nicht vor, dass so etwas passiert. Deshalb denkt man gar nicht darü­ber nach, ob es so etwas wie eine Entschädigung geben könnte.“ Der Begriff „Schockschaden“ ist ihr und ihrer Mutter Larissa nicht geläufig, dennoch erlebt die Familie Kreis, was das Wort bedeutet: Sie selbst sind nicht unmittelbar Opfer des Angriffs geworden, leiden aber als Angehörige psychisch unter der Gewalttat gegen Alexei. Die Eltern seien wochenlang nicht in der Lage gewesen, zur Arbeit zu gehen, sie selbst, 13 Jahre alt damals, habe nicht am Unterricht teilnehmen können. Alina wiederholte ein Schuljahr, „wegen des Stresses“, wie sie es formuliert. Der Oma erzählten sie erst nichts, befürchteten, dass diese es nicht verkraften könnte. Kurz nachdem die Oma es schließlich erfuhr, erlitt sie einen Schlaganfall, wurde in eine Pflegestufe eingeordnet und lebt nun im selben Haushalt, in dem ihr Enkel gepflegt wird.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Wochenlang lag Alexei im Krankenhaus. Es kam nicht infrage, ihn in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, die Familie holte ihn, der nur noch 42 Kilo wog, nach Hause in die Wohnung im niedersächsischen Goslar. Aber sie wohnten im zweiten Stock, mehrere Menschen mussten mit anpacken, wenn Alexei mal nach draußen sollte, der Wohnraum war nicht für die Pflege eines Menschen mit Behinderung ausgelegt. Die Familie kaufte mit einem Kredit ein altes Haus im Landkreis Goslar, das sie mithilfe von Bekannten und Freunden von Alexei umbauten, im Oktober 2021 zogen sie ein, erzählt Mutter Larissa. Überhaupt hätten sie viel Unterstützung erfahren, sagt die Mutter. Immer wieder berichten Medien, mit verschiedenen Aktionen werden Spenden gesammelt.

Alina, die Deutliche: „Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht.“ Von der Polizei bekam die Familie, die aus Russland stammt, verschiedene Zettel, vielleicht auch zum OEG – „aber für solche Sachen hat man in so einer Situation definitiv keinen Kopf“. Unterstützung kam von einer Kanzlei und dem WEISSEN RING, die sich darum kümmerten, dass der OEG-Antrag für Alexei keine zwei Monate nach der Tat beim Versorgungsamt vorlag und auch die Anträge wegen der Schockschäden gestellt wurden. „Alleine hätten wir das gar nicht geschafft“, sagt Alina, weil sie sich nicht auskenne mit dem Gesetz, bei den Eltern eine Sprachbarriere bestehe und sie sich nur auf Alexei konzen­triert hätten. Doch wenn ein Mensch zum Pflege­fall wird, bedeutet das auch, dass von jetzt auf gleich Geld benötigt wird.

Mutter und Tochter erzählen: Alexei sei nur ein einziges Mal begutachtet worden, im Krankenhaus, danach nie wieder. Zwischen der Tat und der Anerkennung nach dem OEG für Alexei vergingen trotzdem mehr als drei Jahre. Erst nach der Verurteilung des Angreifers wegen schwerer Körperverletzung stellte das Versorgungsamt einen sogenannten Grad der Schädigung von 100 Prozent fest, berichtet Deniz Akinci, juristischer Mitarbeiter der Kanzlei, die die Familie im Verfahren begleitet. Dabei sei der junge Mann „von Tag eins an komplett ein Pflegefall gewesen“. Alexei ist der schwerwiegendste Fall, den Akinci bisher bearbeitet hat: „Wenn ich sehe, dass da jemand irreparable Hirnschäden hat und sich das nicht bessern wird, könnte man das Verfahren abkürzen. Dass das so lange gedauert hat, ist nicht nachvollziehbar. Ich verstehe die Handhabung der Behörden hier nicht.“

Alina, die Diplomatische: „Es wäre gut gewesen, wenn der OEG-Antrag früher bewilligt worden wäre.“ Der Familie geht es Akincis Einschätzung nach in erster Linie darum, Alexei pflegen zu können, aber dazu seien sie auf die Leistungen angewiesen. Sie hätten sich allein gelassen gefühlt. Mutter Larissa sagt, sie hätten Geld zurückgelegt gehabt, so hätten sie sich etwa bestimmte Massagehandschuhe anschaffen können, die nicht von der Krankenkasse übernommen worden seien. Akinci meint: „Es war eine zusätzliche Belastung für die Angehörigen, dass sie so lange auf wirtschaftliche Hilfe warten mussten.“

Alina, die Erwachsene: „Ich möchte Logopädin werden“, so wie die Frau, die sie über die Jahre bei der Arbeit mit ihrem Bruder beobachtet hat. Während der OEG-Antrag in der Schwebe war, hat sich das Leben der Familie enorm verändert: Sie musste von einem auf den anderen Tag lernen, wie man einen jungen Mann pflegt. Vater, Mutter, Tochter haben einen Kranken­kassenkurs besucht, um zu wissen, wie man einen Pflegebedürftigen umlagert. Nachts wechseln sich die Eltern, beide nebenbei auch berufstätig, mit Umpositionieren ab, damit Alexei sich nicht wund liegt. Auf einer Kommode in Alexeis Zimmer steht eine Kamera, so kann die Mutter nachts auf dem Smartphone nachschauen, ob alles okay ist oder ob sie aufstehen und ihm den Arm vom Gesicht nehmen muss, damit er besser Luft bekommt. Zwischen Aufstehen und Zubettgehen dreht sich alles darum, ob der 24-Jährige auf der Toilette war, die Tabletten genommen sind, wer ihn anzieht, wann er in den Rollstuhl gesetzt wird, ob heute Physio- oder Ergotherapie-Termin ist.

Alina, die Dolmetscherin, erzählt: „Alexei konnte besser Deutsch als ich.“ Von ihrem Bruder hat sie die Aufgabe übernommen, für die Eltern zu übersetzen, Briefe etwa, oder wenn Vater Sergej Termine bei der Bank hat. Diese Fähigkeit ist noch wichtiger geworden: „Mein Vater hat durch den Stress sein Sprachverständnis verloren“, sagt die 17-Jährige. Bevor sie weiterspricht, stockt sie. „Es geht ihm sehr schlecht, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.“ Der Vater sei schnell gereizt, ärgere sich, wenn niemand Alexei Gesellschaft leiste. Sein Hobby – zusammen mit dem Sohn war er oft angeln – habe er ganz aufgegeben, „er nimmt sich lieber die Zeit, bei Alexei zu sein“, beschreibt Alina.

Alina, die Realistische: „Wir hoffen, dass es irgendwann weniger wird mit den Zetteln, komplett aufhören wird das sicher nicht.“ Sie bemerkt, dass ihre Mutter jedes Mal, wenn Briefe ankommen und wieder Formulare ausgefüllt werden müssen, in Stress gerät, weil sie andere um Rat fragen muss. Larissa sagt: „Wäre das alles nicht passiert, hätte ich weiter die Aufgabe der Gärtnerin übernommen.“ Sie hatten einen kleinen Garten gepachtet, verbrachten vor der Tat viel Zeit dort als Familie. Vier Hände reichen kaum, wenn Larissa die einst angepflanzten Obst- und Gemüsesorten aufzählt. Heute weiß sie nicht mehr, wann sie ihren Garten das letzte Mal besucht hat.

Kanzleimitarbeiter Deniz Akinci hat die Leistungen  im Blick, er berichtet: Im Dezember 2021 kam endlich die Info, dass Alexei eine Nachzahlung rückwirkend bis zur Tat erhält, eine Rente und eine Zulage aufgrund der Schwerbehinderung. Was noch aussteht ist die Klärung zu einem Berufsschadensausgleich. Alexei wäre Tischler geworden, sollte es eine positive Rückmeldung geben, stünde der Familie ein monatlicher Betrag zu, der sich am Gehalt eines Tischlers orientiert. Seit Januar 2022 bekommen Schwester, Eltern und Oma als mittelbar Betroffene eine Rente und eine Nachzahlung wegen der Schockschäden.

Alina, die Starke, antwortet: Ja, sie bräuchten mal wieder Urlaub. Das letzte Mal waren sie 2017 zu viert unterwegs, in Polen. Ohne Alexei werden sie nirgendwo hinfahren. „Wenn er wieder mehr machen kann, dann wollen wir mal wieder weg“, sagt Larissa. Alinas Gesicht, bisher gefasst-professionell, hellt sich auf: „Er macht viele Fortschritte, das macht uns glücklich.“ Alexei kann rund viereinhalb Jahre nach der Tat am „Infinity“ fast eine halbe Stunde stehen, so erzählen es die Frauen. Wenn sein Körper festgezurrt ist in einem Gestell aus Stangen und Gurten. Sie möchten, dass Alexei eine kostenintensive „Robotertherapie“ macht, durch die sich sein Körper an Bewegungs­abläufe gewöhnen soll. Das Geld dafür und für den Verdienstausfall, weil Larissa ihn begleiten müsste, wollen sie von ihren Schockschäden-Renten zusammensparen. Immer gibt es etwas zu organisieren, zu bedenken.

Etwas, was keine Mühe macht und keine Sorgen: Netflix schauen. Haus des Geldes, The Walking Dead, Tierdokus, das sehe ihr Bruder gerne, sagt Alina, „wir schauen oft zusammen“. Als sie an diesem Nachmittag sein Zimmer betritt, grinst Alexei, gerade läuft auf dem Bildschirm an der Wand eine Angelsendung. Alina ist seit diesem einen Moment im September 2018 in so viele Rollen geschlüpft. Aber wenn sie jetzt an Alexeis Bett steht, ist sie einfach nur Alina, die kleine Schwester, die zurückgrinst und den 24-Jährigen sanft am rechten Ohr zupft.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Juliane

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Spurensuche.

Foto: Hauke-Christian Dittrich

Tatort Amtsstube?

Warum kommen Hilfen aus dem OEG bei Betroffenen nicht an?

(Sie finden die Audiostory auch auf SpotifyApple Podcast und Deezer)

Kapitel I: Draußen vor der Tür

An einem nasskalten Morgen im Januar 2022 kehrt Christophe Didillon an den Ort zurück, wo vor 40 Jahren alles angefangen hat. Mit einem Pappschild in den Händen stellt er sich vor den Eingang der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Landkreises Aurich, Ostfriesland. Didillon, 50 Jahre alt, beginnt eine Mahnwache, „das muss jetzt raus“, sagt er.

„In Gedenken an Judith T.“ steht auf seinem Schild. Die Studentin wurde 2015 erwürgt, im nahen Osnabrück läuft der Prozess gegen ihren mutmaßlichen Mörder, einen mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter. Didillon ist überzeugt, dass es sich um denselben Mann handelt, der ihn 1982 als Teenager bis zur Bewusstlosigkeit würgte, hier in der Beratungsstelle, im Wartezimmer.

„Ich finde es unerträglich, wie das Land Niedersachsen beim Opferschutz versagt hat“, sagt Didillon. Der Staat habe Judith T. nicht geschützt, er habe die Vergewaltigungsopfer des Mannes nicht geschützt, er habe den damals zehnjährigen Christophe nicht geschützt. Und jetzt versage er erneut beim Schutz des erwachsenen Didillon, den die Gewalt krank gemacht habe, schwerbehindert, arbeitsunfähig – und der deshalb Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz beantragt hat.

Didillon hat die Wollmütze tief über die Ohren gezogen, bis zum Abend will er der Kälte trotzen und warten. Er kennt das Gefühl; sein Verfahren dauert jetzt schon 13 Jahre.

Kapitel II: Die Zahlen

Wer infolge eines tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung.

So steht es in Paragraf 1 des Opferentschädigungs­gesetzes, kurz: OEG. Der Staat, der die Menschen nicht vor Gewalt beschützen konnte, verpflichtet sich mit dem Gesetz, sie nun wenigstens vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat zu schützen.

Es ist ein gutes Gesetz, betonen Fachleute. „Der Leistungskatalog ist hervorragend“, lobt eine Betroffene, die sich bundesweit in Expertengremien zum Opferschutz engagiert.

Doch es gibt ein Problem: Die versprochene Hilfe kommt bei den Gewaltopfern nicht an.

Das hat vor allem drei Gründe:

Zu wenig Anträge
In Deutschland werden kaum Anträge auf Opferentschädigung gestellt. Im Jahr 2020 gingen nur 17.578 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nicht einmal zehn Prozent der 176.672 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizei­lichen Kriminalstatistik erfasst hat. Der Wert liegt seit Jahren auf diesem niedrigen Niveau.

Warum werden „hervorragende“ Leistungen so wenig nachgefragt? Eine naheliegende Antwort darauf lautet: Die Opfer wissen nicht, dass es ein Gesetz für sie gibt; niemand hat sie nach der Tat darauf aufmerksam gemacht. Das OEG ist in Deutschland weitgehend unbekannt, das zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des WEISSEN RINGS: 76 Prozent der Befragten hatten noch nie davon gehört.

Bodo Kuhn, Fachanwalt für Sozialrecht im badischen Lörrach, sagt: „Vom Nichtwissen profitiert der Staat. Je unbekannter die Ansprüche sind, desto weniger wird beantragt.“

Zu viele Ablehnungen
Die wenigen Gewaltopfer, die von dem Gesetz wissen und eine Entschädigung beantragen, gehen größtenteils leer aus: Kaum mehr als ein Viertel der in Deutschland bearbeiteten Anträge wird genehmigt. Entsprechend hoch sind die Ablehnungsquoten, zwischen 40 und 50 Prozent der Anträge fallen in den Ämtern regelmäßig durch. Der Rest der Anträge bekommt in vielen Ländern den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. „Sonstige Gründe“ sind zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Rücknahme des Antrags oder die Weitergabe des Falls an ein anderes Bundesland.

Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Besonders schlecht stehen die Chancen auf eine Anerkennung in Bremen, Thüringen und Berlin. Bremen beispielsweise lehnte 2019 mehr als zwei Drittel aller Anträge ab. Etwas hoffnungsvoller dürfen Gewaltopfer dagegen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und im Saarland sein. Spitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern bewilligte zwischen 2018 und 2020 immerhin fast jeden zweiten Antrag.

Warum werden von den wenigen gestellten Anträgen so viele abgelehnt? Die Rückmeldungen aus den meisten Bundesländern auf Nachfrage des WEISSEN RINGS sind fast wortgleich: Die Gründe für eine Ablehnung werden statistisch nicht erfasst. Manchmal wird fehlende „Mitwirkung“ als häufiger Grund genannt, mal der fehlende „Vollbeweis“, mitunter fehlende „Glaubhaftmachung“.

Zu hohe Hürden
Der dritte Grund, warum Gewaltopfer ohne die beantragte Hilfe bleiben, sind die OEG-Verfahren selbst. Betroffene warten oft jahrelang auf eine Entscheidung, häufig müssen sie vorher aufwändige Beweiserhebungen durchstehen, psychologische Begutachtungen, Widerspruchsverfahren und Gerichtsprozesse, mitunter durch mehrere Instanzen. In dieser Zeit werden sie, denen oft finanzielle Mittel fehlen, mit neuen Kosten konfrontiert, zum Beispiel für anwaltlichen Beistand. Gleichzeitig sehen die Betroffenen sich schweren psychischen Belastungen ausgesetzt; häufig ist die Rede von Retraumatisierungen, die Psychotherapien notwendig machen und somit weitere Kosten verursachen können. Immer wieder geben Opfer auf und ziehen ihre Anträge zurück, oft auf therapeutischen oder ärztlichen Rat.

Wer die Statistiken zum OEG auswertet, wer mit Betroffenen spricht, mit Anwälten, Therapeutinnen, Wissenschaftlern und Opferhelferinnen, kommt zu dem Schluss, dass das OEG ein Gesetz mit einem hervorragenden Leistungskatalog sein mag – dass es bei der Umsetzung aber mächtig knirscht. Schlimmer noch: In vielen Fällen macht das Gesetz Opfer, denen es Hilfe verspricht, erneut zu Opfern.

Christophe Didillon, der in der norddeutschen Kälte seine Mahnwache hält, sagt:
„Ich bin nur ein einzelner Fall – aber ich bin kein Einzelfall.“

„Es ist ein Trauerspiel“, sagt ein langjähriger Opferbetreuer des WEISSEN RINGS aus Hessen über das OEG.

„Es ist eine Katastrophe“, sagt eine Traumatherapeutin aus Bayern.

„Für mich ist das der zweite Missbrauch“, sagt ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs aus Baden-Württemberg.

Kapitel III: Der Antrag

Der „Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten“ besteht aus acht Seiten: sechs Formblätter und zwei Zusatzblätter. Die Zusatzblätter sind dafür da, falls die vorgedruckten Formularzeilen nicht ausreichen, zum Beispiel bei Punkt zwei: Angaben zur Gewalttat.

Tatzeit. Tatort. Ist Strafanzeige erstattet worden? Nein? Gründe (bitte erläutern). Name und Anschrift des Täters/der Täter/der Täterin/nen. Tatzeugen. Ersthelfer. Tathergang: Bitte schildern Sie den wesentlichen Ablauf der Gewalttat. 

,,Für mich ist das der zweite Missbrauch"

Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs aus Baden-Württemberg

Manche Opfer füllen den Antrag allein aus und sind, so wie Christophe Didillon, „komplett überfordert“, wie er sagt, „es kommt alles in einem wieder hoch“. Einige Opfer brechen ab, beginnen erneut, brechen wieder ab. Andere holen sich Hilfe, wenn sie denn welche finden. Vielleicht reichen sie irgendwann einen ausgefüllten Antrag ein, vielleicht auch nicht: Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Opfer einen OEG-Antrag anfordern, aus einer Behörde mitnehmen, aus dem Internet herunterladen – und ihn niemals abgeben.

Erreicht ein Antrag die zuständige Behörde, macht sie ihre Behördenarbeit: Sie prüft zunächst ihre Zuständigkeit, dann die Vollständigkeit des Antrags und die Anspruchsberechtigung. Das Verfahren beginnt. Es können schriftliche Rückfragen folgen, Gesprächstermine zur Erläuterung des Sachverhalts in der Behörde, Begutachtungen, Gerichtsprozesse.

Bei vielen Opfern findet sich im Antrag unter Punkt drei, „Angaben zu Gesundheitsstörungen / Schädigungen“, die Angabe PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung. Ein Auslöser, ein sogenannter Trigger, kann das Opfer die Gewalttat wieder erleben lassen und die damit verbundene Bedrohung, die Angst, die Panik. Jedes Mal, wenn die Betroffenen sich mit der Tat beschäftigen müssen, setzen sie sich der Trigger­gefahr aus, jedes Mal müssen sie damit rechnen, dass es am Ende trotzdem heißt: Wir glauben Ihnen nicht.

Christophe Didillon erinnert sich an seine erste Begutachtung, im Dezember 2010 war das. Vor dem Termin ging es ihm wochenlang schlecht: Würde der Arzt ihm glauben? In der Praxis sah er dem Gutachter in die Augen, sie erinnerten ihn an die Täteraugen von damals. „Ich bekam eine so schwere Panikattacke, dass der Notarzt mich aus der Praxis holen musste“, sagt Didillon. Das Warten auf eine Entscheidung ging weiter, er brauchte einen neuen Gutachter und einen neuen Termin.

Die Therapeutin Hendrikje ter Balk ist eine der Initiatoren der „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“. 2020 hat ter Balk in sozialen Netzwerken im Internet eine Umfrage gemacht: Sie fragte Menschen, die in ihrer Kindheit körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt hatten, nach ihren Erfahrungen mit dem OEG. „Das ist natürlich nicht repräsentativ“, sagt sie. Aber  die Umfrage erlaubt doch einen Einblick. 156 Menschen, die in früher Kindheit Übergriffe erlebt hatten, antworteten auf ihre Fragen. 125 gaben an, einen OEG-Antrag gestellt zu haben. 44,4 Prozent von ihnen befanden sich in laufenden Verfahren, zum Teil seit Jahren oder sogar Jahrzehnten. Fast 80 Prozent empfanden das OEG-Verfahren als „sehr belastend“. 60,7 Prozent stimmten der Aussage zu: „Die behördlichen Strukturen haben mich retraumatisiert.“

OEG – was ist das?

Was besagt das Opferentschädigungsgesetz, wer hat Anspruch auf Leistungen und wie läuft das Verfahren ab? Ein Erklärstück.

„Das ist Körperverletzung!“, sagt die Bamberger Traumatherapeutin Dorothea Rau-Lembke, die Opfer frühkindlicher Gewalt betreut: „Diese schwer verletzten Menschen werden immer wieder neu traumatisiert!“ Bei ihr gehe zeitweise Tag und Nacht das Telefon, sagt sie, „ich habe schreiende Menschen am Telefon“.

Betroffene berichten von einer „Papierflut“. Ein Missbrauchsopfer sagt: „Die psychische Belastung, Briefe zu öffnen, ist immens.“ Andere schicken gleich ihre Partner an die Briefkästen und bitten diese, die Schreiben zu lesen und zu entscheiden, ob sie sie selbst lesen müssen. Christophe Didillon sagt, er reiße die Briefe auf, fotografiere sie schnell mit dem Smartphone und schicke sie direkt weiter an seinen Anwalt.

„Ich habe ständig Angst vor einer Nachprüfung. Ich könnte morgen einen Brief in der Post haben, dass ich wieder zum Gutachter muss und dort beweisen muss, dass es mir schlecht geht“, sagt eine Betroffene aus Nordrhein-Westfalen, die als Kind den Mord an der Mutter durch den Vater erlebte.

„Wie oft habe ich das schon gehört von anderen Betroffenen: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr“, sagt ein Vergewaltigungsopfer aus Nordrhein-Westfalen.

„Ich kann jedem nur sagen: Stell keinen OEG-Antrag. Es ist die Hölle“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Bayern.

Kapitel IV: Der Gegner

Kampf. Ohnmacht. Ausgeliefertsein. Machtmissbrauch. Es sind immer dieselben Worte, die Gewaltopfer benutzen, wenn sie über ihre OEG-Verfahren sprechen. Ihr erster Gegner war der Täter oder die Täterin. Ihr zweiter Gegner ist nun das System, in dem sie für ihr Recht auf Entschädigung kämpfen müssen: die Versorgungsämter, die Sozialgerichte und die von diesen Stellen beauftragten Gutachter. „Für Menschen, die Gewalt erlebt haben, ist jeder Mensch, der ihnen gegenübersitzt, ein potenzieller Aggressor“, sagt ein Traumatherapeut aus Niedersachsen.

Die für Gewaltopfer in OEG-Verfahren wichtigste Frage lautet: Glaubt man mir? Eine Entschädigung erhalten sie nur, wenn drei Dinge nachweisbar sind: die Gewalttat, die gesundheitliche Schädigung und der Zusammenhang zwischen Tat und Schädigung. Die Behörden sollen zwar selbst ermitteln, Antragsteller haben aber eine „Mitwirkungspflicht“. Für die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Opferaussagen können Ämter die Betroffenen zum Gespräch in die Behörde bitten oder eine psychologische Begutachtung in Auftrag geben.

Ein Missbrauchsopfer aus Baden-Württemberg, das als Kind Missbrauch erlebte, erinnert sich an ein Gespräch in der Behörde zu seinem OEG-Antrag. Eine Sachbearbeiterin habe ihn „wenig einfühlsam“ gefragt nach den damaligen sexuellen Handlungen; sie habe zum Beispiel wissen wollen, ob er, der kleine Junge, dabei eine Erektion gehabt habe.

Bis zur Anerkennung oder Ablehnung dauert es im Schnitt zwischen 12 und 18 Monaten. Das geht aus den Angaben derjenigen Bundesländer hervor, die die Bearbeitungszeit erfassen; einige Länder tun das nicht. Es kann aber auch länger dauern: Die Verfahrensdauer hänge „ganz individuell vom Umfang der Ermittlungen in jedem Einzelfall“ ab, teilt etwa Schleswig-Holstein auf Nachfrage der Redaktion mit.

Juristen berichten, dass Ämter oft abwarten, ob es einen Strafprozess gibt, in dem ein Täter verurteilt wird. „Das ist rechtlich nicht richtig, weil das OEG-Verfahren ein eigenes, vom Strafprozess unabhängiges Verfahren ist“, kritisiert Jürgen Walczak, der seit bald 30 Jahren als Fachanwalt für Sozialrecht im Hamburger Süden arbeitet. Eine Familie aus Niedersachsen zum Beispiel, deren Sohn nach einem Gewaltangriff ins Wachkoma gefallen war, musste auf die OEG-Anerkennung bis zum Abschluss des Prozesses warten – drei Jahre lang, obwohl sie von der Tat an Unterstützung brauchte.

Noch schwieriger wird es, wenn es kein Strafverfahren gibt, weil keine Anzeige erstattet wurde, zum Beispiel nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt. Das Amt blende diese Umstände aus, kritisiert Anwalt Walczak. „Gerade die Opfer von frühkindlichem Missbrauch geraten regelmäßig in Beweisnot“, sagt Dr. Stephan Porten, Fachanwalt für Medizinrecht und einer der Initiatoren von „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“: „Der einzige Zeuge ist oft der Täter.“ Die Regensburger Opferanwältin Christine Obermeier spricht von einem „Beweislastproblem, das kaum lösbar ist“.

In solchen Fällen soll dann oft ein amtlich bestelltes Gutachten Klarheit schaffen.

„Nächtelang nicht geschlafen“ habe sie vor dem Gutachtertermin, sagt eine Betroffene aus Bayern. Zu groß sei ihre Sorge gewesen, ob der Psychologe sie als glaubwürdig einschätzen würde. Ein anderes Opfer ist überzeugt, dass Gutachter von der sogenannten Nullhypothese ausgingen; ihr Ansatzpunkt sei es, Opfer der Lüge zu überführen.

Die bayerische Traumatherapeutin Dorothea Rau-Lembke sagt, vor und nach Gutachterterminen müsse sie immer wieder „Suizid-Prävention“ betreiben. „Ich rate den Menschen inzwischen meistens davon ab, einen OEG-Antrag zu stellen.“ Auch der Anwalt Kai Nissen aus Baden-Baden geht davon aus, dass der absehbare Stress, die Angst vor dem „Auseinandergenommenwerden“ in einer Befragung viele Opfer davon abhalte, einen Antrag zu stellen. Denn wenn am Ende in den Gutachten schwarz auf weiß steht, was die Opfer „angeblich“ erlebt haben, sehen sich die Betroffenen als Lügner dargestellt. Sie sind erneut schwer verletzt, diesmal durch Worte.

,,Es ist eine Katastrophe"

Traumatherapeutin aus Bayern

Die Worte. Behördenschreiben voller Paragrafenzeichen und Belehrungen. Sätze wie: „Im Rahmen der Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist zu beurteilen, ob das, was Sie schildern, auf tatsächlich Erlebtem beruht.“ Oder: „Teilen Sie uns bitte schriftlich mit, falls Sie Ihren Antrag (…) zurücknehmen wollen. Andernfalls werden Sie eine Einladung zur psychiatrischen Begutachtung erhalten, der Sie dann in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen sollten, um nachteilige Auswirkungen zu vermeiden.“ Ein Opfer aus Niedersachsen, das einen Mordversuch überlebt hat, sagt: „Ich empfinde den Ton als drohend.“

Eine Opferhelferin aus Baden-Württemberg berichtet von „furchtbar formulierten Schreiben“ und nennt Beispiele. In einem Fall von körperlicher Gewalt in der Kindheit habe es geheißen, die Züchtigungsmaßnahmen seien für damalige Verhältnisse normal gewesen. In einem Fall von häuslicher Gewalt habe das Amt mitgeteilt, wenn das Opfer dem Täter die Scheckkarte wie verlangt ausgehändigt hätte, wäre es nicht zur Gewalt gekommen. In einem weiteren Fall von Gewalt hatte sich das Opfer im Haus verschanzt, der Täter lauerte draußen. Weil die Frau später das Haus verließ und dort dem Täter in die Hände fiel, schrieb das Amt, sie habe ja den Schutzbereich verlassen und sich selbst in Gefahr begeben.

„Opfer von Straftaten sollten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden“, heißt es in der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten. Demgegenüber steht das, was Behördenarbeit in deutschen Versorgungsämtern bedeutet: Prüfen und Beurteilen, ob die Opfer die drei Voraussetzungen für den Bezug von Entschädigungsleistungen erfüllen.

„Eine fürchterlich niedrige Zahl“

Wie erlebt jemand, der Menschen zum Opferentschädigungsgesetz berät, Gespräche mit Betroffenen? Was denkt er über Personalstärken in den Ämtern? Interview mit Ralf Bartsch, der seit mehr als zehn Jahren in Oberbayern als sogenannter Sonderbetreuer arbeitet.

Für die Beamten und Beamtinnen gibt es mehr als 45 Jahre nach Verabschiedung des OEG kein einheitliches und verbindliches Schulungskonzept für einen sensiblen Umgang mit verletzten und oftmals traumatisierten Betroffenen. Rückmeldungen aus den Ländern zeigen, dass die Anforderungen, dem Job aus Behördensicht gerecht zu werden, vielerorts niedrig sind: Im Saarland etwa gehen Mitarbeitende „aufgrund ihrer Arbeits- beziehungsweise Lebenserfahrung sensibel mit den Antragstellern um“. In Hamburg gibt es „in erkennbar sensiblen Fällen“ eine Abstimmung mit dem Versorgungsärztlichen Dienst. Brandenburg berichtet von einer Mitarbeiterin, die einen „berufsbegleitenden Zertifikatskurs zur Fachberaterin für Opferhilfe“ absolviert hat. Mecklenburg-Vorpommern teilt mit: „Alle Mitarbeitenden sind aufgrund ihrer zum Teil langjährigen Tätigkeit in der Versorgungsverwaltung und insbesondere im Fachbereich Soziales Entschädigungsrecht für den Umgang mit traumatisierten Antragstellenden sensibilisiert.“

Die Berliner Behörde fasst das Problem zusammen: „Der Kontakt zu den Antragstellenden ist respektvoll und empathisch, dennoch ist es Wille des Gesetzgebers, den Sachverhalt zu ermitteln und den ursächlichen Zusammenhang der geltend gemachten Gesundheits­störung mit dem schädigenden Ereignis verwaltungsseitig zu prüfen. Es ist nicht auszuschließen, dass es hierbei für die Betroffenen zu belastenden Wieder­erinnerungen kommt.“

„Man kommt sich als Opfer vor wie ein Sozialschmarotzer“, sagt ein Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch aus Baden-Württemberg.

„Ein Leben in der Warteschleife“, sagt ein Missbrauchs­opfer aus Rheinland-Pfalz.

Wir sprechen hier ganz klar von einer sekundären Viktimisierung: Das Opfer fühlt sich wieder als Opfer, insbesondere wenn es nach einem Freispruch für den Täter im Strafprozess nun im OEG-Prozess um seine Ansprüche kämpfen muss“, sagt ein Anwalt aus Baden-Württemberg.

Kapitel V: Die Ablehnungen

Im Zollernalbkreis, Baden-Württemberg, unterstützt Heike Dachs seit 18 Jahren Gewaltopfer bei OEG-Anträgen: zunächst für die Frauenberatungsstelle Feuervogel, seit 2019 auch für den WEISSEN RING. Sie sagt, sie habe in dieser Zeit wohl 100 Anträge begleitet. Bis auf einen einzigen seien alle Anträge zunächst abgelehnt worden. „Da gibt die erste Hälfte schon mal auf“, sagt Dachs. Die zweite Hälfte lege Widerspruch ein, „nach gutem Zureden“, nach der nächsten negativen Rückmeldung gebe dann wieder die Hälfte auf.

Etliche Betroffene haben sich über das Internet vernetzt. Bei Facebook zum Beispiel gibt es mehrere geschlossene Gruppen, die das Wort „Opferentschädigungsgesetz“ oder das Kürzel „OEG“ im Namen tragen. Einige haben mehrere Hundert Mitglieder, einzelne mehr als tausend. Christophe Didillon aus Niedersachsen ist eine der bekanntesten Stimmen, ebenso wie Ralf Rupprecht aus Baden-Württemberg oder Martina Multhaupt aus Nordrhein-Westfalen. Andere Betroffene schreiben ihnen, rufen sie an. „Wir stützen uns gegenseitig“, sagt Multhaupt.

Die Mitglieder der Gruppen tauschen Informationen aus, Ratschläge – und immer wieder Erklärungsversuche, warum so viele Anträge abgelehnt werden oder in jahrelangen Verfahren hängen bleiben. „Uns liegen zahlreiche gleichlautende Berichte unzähliger Betroffener vor, ja sogar zahlreiche Verfahrensakten, anhand derer man die systematischen Entschädigungspflicht-Abwehrstrategien der Behörden und Gerichte gut erkennen kann“, sagt Ralf Rupprecht. Er ist überzeugt: Die Behörden prüfen nicht auf Anerkennung des Anspruchs, so wie es Paragraf 1 des Opferentschädigungsgesetzes nahelegt, sondern auf Ablehnung.

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Maria Hagelkorn aus Niederbayern.

In den Netzwerken ist immer wieder ist die Rede von „Whistleblowern“, die das zu bestätigen scheinen: dass es in den Behörden „informelle Gespräche“ mit Sachbearbeitern gebe, „interne Dienstanweisungen“ sogar, die nur eine begrenzte Zahl an Anerkennungen oder Begutachtungen erlaubten. Dass Gerichte Gutachter beauftragten, die verlässlich zugunsten der Behörden entschieden. Kurz: dass es dem Staat allein darum gehe, die Ausgaben zu begrenzen. Schon jetzt kostet das OEG den Staat viel Geld: 2019 lagen die Gesamtausgaben von Bund und Ländern bei mehr 330 Millionen Euro. Die Summe wächst mit jedem Jahr, rund 30 Prozent der Bewilligungen sind Rentenzahlungen.

„Sie wollen um jeden Preis Kosten sparen“, das schreibt auch der anonyme Informant „John Doe“ über „Politik und Verwaltung“ in einer E-Mail an Betroffene. John Doe, der nach eigenen Angaben in Niedersachsen „beruflich ständig mit Anträgen auf Opferentschädigung und Berufsschadensausgleich zu tun“ hat, nennt das OEG ein „Scheingesetz“: „Dessen Anwendung wird so weit als möglich und mit allen Mitteln verhindert.“ Laut dem anonymen Informanten prüfen Behörden OEG-Anträge nach dem „Worst-Case-Szenario“: „Alter der Antragsteller (wegen noch zu erwartender Lebensdauer und damit Bezugsdauer der Rente), eingereichte Diagnosen der Ärzte, abgeschlossene Berufsausbildung (hieraus errechnet sich die monatliche Höhe eines Berufsschadensausgleichs). Anträge, bei denen bei Bewilligung für das Land besonders hohe Kosten entstehen würden, bekommen einen speziellen Vermerk.“ Diese Antragsteller würden ausschließlich zu Gutachtern geschickt, die sich „im Sinne der Behörde bewährt“ hätten. „Die Aufgabe lautet: Die besonders teuren Fälle abweisen, abweisen um jeden Preis!“

Belegen lässt sich das nicht. Es gibt keine Studien zu OEG-Verfahren oder zu den Gutachten. Auch die Echtheit von „John Doe“ können wir nicht beweisen. Aber in den Betroffenen-Netzwerken nährt das alles den Eindruck vom Staat als Gegner.

Anwalt Jürgen Walczak aus Hamburg vermutet eher: „Die Beamten wollen keine Fehler machen. Mit einer Ablehnung sind sie erst mal auf der sicheren Seite, das spart dem Staat Geld. Das könnte eine Grundeinstellung sein.“ Manchmal, sagt eine Opferhelferin aus Nordrhein-Westfalen, habe sie das Gefühl: „Die gucken nicht individuell, sondern die gucken ins Gesetz.“

Ein Opferhelfer aus Schleswig-Holstein wiederum macht die hohe Ablehnungsquote am Personalmangel fest: Aus Gesprächen wisse er, dass die Ämter unterbesetzt seien. Es sei sogar schon gebeten worden, aussichtslose Anträge gar nicht erst zu stellen. „Es müsste personell aufgerüstet werden, damit die Anträge in angemessenerer Zeit erledigt werden können“, sagt er.

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Monica Gomes aus Unterfranken.

Belegen lässt sich auch das nicht. Auf Anfrage unserer Redaktion machten die Bundesländer teilweise keine Angaben zu Mitarbeiterstärken – oder sie teilten einschränkend mit, dass in den Abteilungen neben den OEG-Anträgen auch andere Aufgaben bearbeitet würden. Ohne Einschränkungen heißt es dagegen aus dem Saarland: „OEG-Anträge werden hier von zwei Mitarbeiter*innen bearbeitet.“ In Sachsen sind es zwölf, in Berlin 31, in Bayern 70 Vollzeitkräfte. Wer aber was genau leistet und ob das im Verhältnis zur Antragszahl ausreichend ist, lässt sich nicht nachvollziehen.

„Die drehen jeden Cent mehrfach um, als ob es ihr eigener wäre“, sagt ein Mitarbeiter des WEISSEN RINGS aus Hessen über die Sachbearbeiter in den Versorgungsämtern.

„Ich habe das Gefühl, in manchen Akten klebt ein roter Zettel mit dem Hinweis: Die bekommen nichts mehr“, sagt ein Opfer von ritueller Gewalt aus Hessen.

 „Ich allein kenne acht Leute, die ihren Antrag zurückgezogen haben – weil sie es nicht aushalten“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Baden-Württemberg.

Kapitel VI: Die Unterstützer

Warum nehmen Opfer den oft aussichtslosen Aufwand überhaupt in Kauf? Warum riskieren sie die Stigmatisierung durch übergriffige Behörden, die Traumatisierung durch das erneute Durchleben der Gewalttat? Die Antwort: Viele von ihnen sind auf die Hilfe angewiesen, die ihnen das Gesetz verspricht.

„Die meisten Menschen, die OEG-Anträge stellen, stellen sie, weil sie irgendwann im Leben nicht mehr zurechtkommen“, sagt die Betroffene Martina Multhaupt aus Nordrhein-Westfalen. Ralf Rupprecht aus Baden-Württemberg vermutet, dass in seiner Betroffenen-Gruppen „85 Prozent“ von Sozialhilfe lebten, „wo sie nicht hingehören“. In der nicht repräsentativen Online-Umfrage von Hendrikje ter Balk von der „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“ stimmten 55,5 Prozent der Gewaltopfer der Aussage zu: „Ich habe existenzielle Sorgen.“

Anderen Betroffenen geht es vor allem darum, dass ihr Leid anerkannt wird: dass amtlich bestätigt wird, dass sie unverschuldet zum Gewaltopfer wurden und dass die Gewalt ihr Leben verändert hat. Manchmal fließt gar kein Geld vom Versorgungsamt, weil den Opfern nur ein niedriger „Grad der Schädigungsfolge“ (GdS) zugesprochen wird – aber die Opfer werden durch den Bescheid als Opfer anerkannt. Das sei für viele Betroffene das Allerwichtigste, sagt die Regensburger Anwältin Christine Obermeier: „Das hilft der Seele – weil ihnen von offizieller Stelle geglaubt wird.“

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Flora-Nike Göthin.

Ein Satz, der von Gewaltopfern immer wieder zu hören ist, zum Beispiel von Christophe Didillon in Norddeutschland: „Ich habe mir das nicht ausgesucht!“

Das Ausfüllen eines OEG-Antrags mag ein sehr persön­licher und emotionaler Vorgang sein – das Verfahren, in dem darüber entschieden wird, bleibt ein Verwaltungsakt. Es geht um Rechtsvorgaben und die Überprüfung von Leistungsansprüchen, nicht um Rücksichtnahme auf die Antragsteller. Die Zeit zwischen Antragstellung und Bescheid wird für Gewaltopfer oft zur Belastungsprobe, fachlich, finanziell, psychisch. Berichte von Betroffenen und Experten zeigen, dass das ohne Unterstützer kaum jemand durchsteht: ohne Anwältinnen, Therapeuten, Hilfsorganisationen, Freunde, Familie.

Wer sich in den Kampf mit der Gegenseite begibt, braucht rechtliche Beratung. Die Anwälte und Anwältinnen, die in Strafprozessen Gewaltopfer als Nebenkläger vertreten, sind in der Regel Strafrechtler, aber eben keine Fachanwälte für Sozialrecht, in dem das OEG angesiedelt ist. Das führt dazu, dass diese Juristen ihre Mandate niederlegen, sobald das Strafverfahren erledigt ist. Die Betroffenen müssen sich neue Anwälte suchen. Aber, wie eine Ehrenamtliche des WEISSEN RINGS aus Bayern sagt: „Es ist schwierig, Sozialrechtler zu finden, die sich tatsächlich mit dem OEG auskennen.“

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Matthias Corssen aus Niedersachsen.

Laut der Bundesrechtsanwaltskammer gab es 2021 nur 1808 Fachanwälte für Sozialrecht. Wie viele auf das OEG spezialisiert sind, wird nicht erhoben. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) teilt auf Anfrage zu seinen 61.000 Mitgliedern mit: „Davon haben mehr als 500 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte angegeben, sich im Bereich Opferrecht oder Nebenklage/Opferrecht spezialisiert zu haben.“ Das sind 0,82 Prozent der Mitglieder.

Das OEG ist für Juristen unattraktiv, weil es nicht lukrativ ist, heißt es beim DAV: „Anwältinnen und Anwälte müssen von ihrem Beruf leben können. Im Bereich Opferrechte ist dies allein kaum möglich.“ Bodo Kuhn, Rechtsanwalt aus Lörrach in Baden-Württemberg, sagt: „Wer Opferanwaltsarbeit macht, muss das quersubventionieren und tut dies aus Engagement und Überzeugung.“ Deniz Akinci, juristischer Kanzleimitarbeiter im niedersächsischen Seesen, hat beobachtet: „Die meisten Mandanten haben nicht viel Geld, oft zahlen dann Hilfsorganisationen.“

Das Thema Geld wird für die Betroffenen aber auch aus anderem Grund zum Problem: Wer einen passenden Rechtsbeistand sucht, muss häufig quer durch die Republik fahren, so manches Mandatsverhältnis entsteht über Hunderte Kilometer Distanz hinweg und verursacht entsprechende Reisekosten. Wem das Gericht keine Prozesskostenhilfe bewilligt, weil es für das Verfahren keine Erfolgsaussichten sieht, der muss zudem die Anwältin oder den Anwalt aus eigener Tasche bezahlen. Wer das nicht kann, muss entweder die Ablehnung seines Antrags akzeptieren oder auf finanzielle Unterstützung von Hilfsorganisationen hoffen. Immer wieder verweisen die Bundesländer in ihren Schreiben auf Opferschutzvereine, auch auf den WEISSEN RING. Eine Betroffene aus Rheinland-Pfalz klagt: „Es gibt keine Clearingstelle, keine Ombuds­stelle, keine Stelle, an die sich die Betroffenen wenden können.“

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für die Familie Kreis aus Niedersachsen.

Die „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“ hat angekündigt, noch in diesem Jahr ein juristisches Kompetenzzentrum zum Sozialen Entschädigungsrecht einzurichten. „Wir sind dabei, ein rechtswissenschaftliches Expertenteam aufzubauen“, hieß es im Frühjahr.

Ebenso wichtig wie rechtliche und finanzielle Unterstützung ist für die Opfer das private Umfeld. Eine Betroffene aus Hessen etwa bittet immer einen Bekannten, sie zu Terminen zu begleiten: „Das ist enorm wichtig, dass jemand bei Gesprächen dabei ist. Ich selbst bin in solchen Situationen wie in Watte gepackt.“ Anschließend brauche sie jemanden, um sich auszutauschen. „Anders würde ich das nicht schaffen“, sagt sie.

 „Um das durchzustehen, braucht man erstens einen Therapeuten, zweitens einen guten Rechtsanwalt, drittens im Privaten einen Partner, der auffangen kann – und viertens eine Klinik, falls es ganz schlimm wird“, sagt eine Betroffene aus Hessen. 

Einen Anwalt muss man sich leisten können“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Rheinland-Pfalz.

„Das macht mich alles so, so wütend!“, sagt eine Opferhelferin des WEISSEN RINGS aus Baden-Württemberg.

Kapitel VII: Drinnen

In seinem Haus in Ostfriesland biegt sich der Bücherschrank unter Geschichtswerken, am Regal hängen 14 kleine Schildchen. „Geh deinen eigenen Weg“ steht auf einem, „Glaube an dich“ auf einem anderen, „Tanz im Regen“, „Genieße den Moment“.

,,Ich bin nur ein einzelner Fall – aber ich bin kein Einzelfall"

Christophe Didillon

Christophe Didillon, der in seiner Kindheit wiederholt Gewalt und Missbrauch erlebte, hat Abitur gemacht. Er hat eine Kaufmannslehre abgeschlossen. Er hat ein Sinologie-Studium beendet, Chinawissenschaften. „Aber“, sagt er, „es war wie gegen die Strömung anzuschwimmen.“ Erst nach und nach sei ihm klar geworden, was mit ihm los sei; mit jedem Jahr kamen mehr verdrängte Kindheitserinnerungen hoch. Die Strömung wurde zu stark. Panikattacken gehören seither zu seinem Leben, Nervenzusammenbrüche. Wenn er einen Raum betritt, setzt er sich so, dass er die Tür im Blick hat. Hört er irgendwo ein Geräusch, zuckt er zusammen.

Er sagt, er lerne weiter Chinesisch. Er gehe regelmäßig joggen. „Das gibt meinem Leben Struktur.“ Von seinem Zuhause in der Kleinstadt Norden sind es nur zwei, drei Kilometer Luftlinie zum Nordseedeich, dahinter starten die Fähren nach Norderney und Juist. „Hier kann ich selbst bestimmen, wie viel und wie schnell und wie laut ich es haben will“, sagt er. Von Beruf ist Christophe Didillon Kunstmaler. Seit 15 Jahren habe er kein Bild mehr fertiggemalt, sagt er. Seine OEG-Akten hat er an seinen Anwalt in Hamburg übergeben. „Ich bin froh, dass die nicht mehr hier sind.“

Christophe Didillon ist einer der wenigen Betroffenen, die ihr Anliegen immer wieder in die Öffentlichkeit tragen. Nach der Mahnwache vor der Beratungsstelle in Ostfriesland meldet er sich schriftlich bei seinem Netzwerk. „Eine solche Mahnwache abzuhalten ist sehr, sehr anstrengend“, schreibt er, „insbesondere für meine Seele.“

Neulich war Didillon im niedersächsischen Celle beim Landessozialgericht, es ging mal wieder um sein OEG-Verfahren. Es gab Metalldetektoren, er wurde durchsucht, an der Seite stand ein bewaffneter Wachmann das Gericht tagte hinter Glas. Didillon empfand das so: „Ich werde als Bedrohung angesehen!“ Er fordert: „Der Staat muss endlich aufhören, Verbrechensopfer wie Verbrecher zu behandeln!“

„Ich will nicht den Staat bekämpfen“, sagt Christophe Didillon, „ich glaube an die Notwendigkeit des Rechtsstaats. Ich will aber, dass er an den Stellen, wo er nicht funktioniert, verbessert wird.“ Er sagt, er wäre ja schon zufrieden, wenn er aus der Sozialhilfe herauskäme.

OEG – was ist das?

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

OEG – was ist das?

Was besagt das Opferentschädigungsgesetz, wer hat Anspruch auf Leistungen und wie läuft das Verfahren ab? Ein Erklärstück.

Foto: Ahlers/WR

Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Da er dies nicht immer garantieren kann, gibt es das Opferentschädigungsgesetz (OEG). Demnach entschädigt der Staat Betroffene von „tätlichen Angriffen“, wenn sie gesundheitliche Schäden erlitten haben, um sie sozial abzusichern. Betroffene sollen also nicht Sozialhilfe beziehen müssen, sondern einen Ausgleich für gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen der Tat erhalten.

Wer hat Anspruch auf Entschädigung?

Wer Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden ist und durch die Tat eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält laut §1 OEG Entschädigung. Entscheidend ist: Erstens muss es sich um eine Gewalttat handeln, etwa um eine Körperverletzung oder Vergewaltigung. Zweitens muss sich der Angriff auf deutschem Staatsgebiet ereignet haben, dazu zählen auch deutsche Schiffe oder Flugzeuge.

Ausländische Staatsbürger haben ein Recht auf die gleichen Leistungen wie Deutsche, wenn sie in Deutschland Opfer einer Gewalttat geworden sind. Wer in Deutschland lebt und im Ausland Opfer wird, kann leistungsberechtigt sein, allerdings mit Einschränkungen.

Können auch Zeugen, Helfer oder Angehörige Leistungen bekommen?

Bei Menschen, die beispielsweise eine Gewalttat beobachtet haben, werden sogenannte Schockschäden anerkannt. Ebenso entschädigt der Staat etwa Eltern oder Kinder, wenn sie das Opfer auffinden oder durch die Nachricht über die Tat gesundheitliche Schäden erleiden. Hinterbliebene von Getöteten erhalten unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Leistungen, etwa eine Witwen- oder Waisengrundrente.

Was sind die wesentlichen Leistungen?

Die Entschädigung für Taten im Inland gilt bei gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, reiner Schadensersatz oder Schmerzensgeld werden nicht gezahlt. Die Leistungen in Deutschland sind weitergehender als in anderen Staaten, dort sind es zumeist nur Einmalzahlungen. Es gibt keine Beschränkungen für die Dauer oder die Höhe der Entschädigung nach dem OEG. Im Wesentlichen geht es um:
– Heilbehandlungen: Das bezieht sich auf die akute medizinische Versorgung, Psychotherapie und Rehabilitation. Der Anspruch geht über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus, es fallen keine Zuzahlungen an, zum Beispiel zu Medikamenten oder Krankenhausaufenthalten, Fahrtkosten zu Behandlungen werden übernommen.
– Rentenzahlungen: Grundlage ist der sogenannte Grad der Schädigungsfolgen (GdS), der das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen der Gewalttat beschreibt. Besteht ein GdS von mindestens 25 Prozent voraussichtlich länger als ein halbes Jahr, haben Betroffene das Recht auf eine Grundrente. Diese ist unabhängig vom Einkommen und wird bei anderen Sozialleistungen nicht angerechnet. Sind die Einschränkungen gravierender, sind weitere Leistungen möglich. Ein zusätzlicher Berufsschadensausgleich hilft, wenn durch die Tat das Einkommen gemindert wurde.
– Leistungen der Kriegsopferfürsorge: Um wirtschaftliche Nachteile auszugleichen, unterstützt der Staat Geschädigte zum Beispiel dabei, eine Berufsausbildung oder ein Studium zu absolvieren.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Wie und wo stellt man einen Antrag?

Der Antrag wird beim Versorgungsamt gestellt, das für den Wohnsitz des Betroffenen zuständig ist. Das Formular des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ist für alle Bundesländer gültig, ebenso das Vorblatt. Einzelne Länder haben eigene Vordrucke entwickelt, auf einigen davon fehlt aber zum Beispiel der Hinweis, dass eine Strafanzeige bei der Polizei keine Voraussetzung ist, um den Antrag stellen zu können. Es besteht auch die Möglichkeit, sich zunächst mit einem einfachen Schreiben, telefonisch oder per E-Mail an die Behörde zu wenden, dann gilt der Antrag als eingegangen. Der ausgefüllte Antrag muss nachgereicht werden. Wird die OEG-Leistung innerhalb eines Jahres nach dem Angriff gestellt, wird rückwirkend ab der Tat entschädigt, bei späterer Antragsstellung erst ab Antragseingang.

Wer unterstützt bei der Antragstellung?

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Opferhilfsorganisationen, wie zum Beispiel dem WEISSEN RING, Fachberatungsstellen, aber auch Rechtsanwältinnen oder sogenannte Sonderbetreuer in den Versorgungsämtern einiger Bundesländer können Opfer beraten und bei der Antragstellung unterstützen.

Wie läuft ein Verfahren ab?

Betroffene müssen die Entschädigung nach dem OEG selbst beantragen und dabei die Gewalttat schildern. Gibt es eine Anzeige oder ein Ermittlungsverfahren, sollte das Aktenzeichen angegeben werden, dann sind erneute Angaben zum Erlebnis unter Umständen nicht erforderlich. Das Versorgungsamt kann Unterlagen anfordern und medizinische oder psychologische Gutachten über Betroffene in Auftrag geben. Es besteht für Opfer eine sogenannte Mitwirkungspflicht, um den Sachverhalt aufzuklären. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, verschickt die Behörde einen Bescheid. Gegen eine Ablehnung können Betroffene innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegen. Wird dieser zurückgewiesen, kann der Fall vor Gericht gehen. Es gibt drei Instanzen: das Sozialgericht (Klage), Landessozialgericht (Berufung) und das Bundessozialgericht (Revision). Im Prozess kann sowohl das Gericht als auch die Klägerseite Gutachter beauftragen.