Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

 

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Erstellt am: Montag, 31. März 2025 von Gregor

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 31.03.2025

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Nachdem der Landtag eine Gesetzesreform beschlossen hat, kann die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt werden. Die Landesregierung verspricht sich davon einen besseren Schutz. Die Zahl der Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist auch im Norden gestiegen.

Kiel/Mainz. Im Kampf gegen häusliche Gewalt setzen die Bundesländer zunehmend auf die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild. Kürzlich hat der schleswig-holsteinische Landtag mit breiter Mehrheit – nur die FDP stimmte nicht zu – eine entsprechende Gesetzesreform verabschiedet. Bislang konnte die sogenannte Aufenthaltsüberwachung in dem Bundesland nur bei terroristischen Gefährdern genutzt werden, künftig ist das auch bei Partnerschaftsgewalt und Stalking möglich. Voraussetzung ist ein richterlicher Beschluss. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sagte in Kiel, die Fußfessel werde Lücken beim Schutz schließen und diesen verbessern.

Wie bundesweit ist in Schleswig-Holstein die Zahl der von häuslicher Gewalt Betroffenen gestiegen, im vergangenen Jahr um 8,8 Prozent auf 9.360. Gut 71 Prozent der Opfer waren Frauen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Beim spanischen Modell kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Dadurch wird sowohl der Standort des Täters als auch der Betroffenen überwacht, und die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch. Der Alarm wird ausgelöst, falls sich der Überwachte und das Opfer einander nähern.

In Spanien wurde keine der geschützten Frauen getötet

Sachsen und Hessen setzen die neue Technik schon ein. Das Saarland hat ein Gesetz dafür verabschiedet, und in weiteren Bundesländern wird derzeit darüber diskutiert, etwa in Niedersachsen, wo ein Gesetzentwurf in Arbeit ist.

Die noch amtierende Bundesregierung hatte zu Jahresbeginn ein neues Gewaltschutzgesetz auf den Weg gebracht, das die elektronische Aufenthaltsüberwachung vorsieht. Der alte Bundestag hat den Entwurf jedoch nicht mehr beschlossen. Laut dem Papier könnten Familiengerichte in Risikofällen für drei Monate eine Fußfessel anordnen und die Maßnahme um drei Monate verlängern.

Der WEISSE RING hatte sich auf Bundes- und Länderebene intensiv für die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell eingesetzt, unter anderem mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition.

Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hatte in einer umfassenden Recherche aufgezeigt, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die Aufenthaltsüberwachung in Spanien eingesetzt wird: Dort wurde seitdem keine Frau, die mit Hilfe der Fußfessel geschützt wurde, getötet. Insgesamt ging die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent zurück.

Der Netzwerker

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Sabine

Der Netzwerker

Nicht erst helfen, wenn etwas passiert, sondern verhindern, dass es zu Verbrechen kommt. Das treibt Günther Bubenitschek an. Seit über 40 Jahren bringt der ehemalige Polizist Menschen zusammen, knüpft Netzwerke und entwickelt Lösungen, um Kriminalität vorzubeugen und Betroffene zu unterstützen.

Günther Bubenitschek (65) ist seit sechs Jahren ehrenamtlich Landespräventionsbeauftragter des WEISSEN RINGS in Baden-Württemberg.

Günther Bubenitschek kommt aus dem Hotel Silber in Stuttgart. Die ehemalige Gestapo-Zentrale Württembergs ist heute ein Gedenkort, der sich mit der Rolle der Polizei in der NS-Zeit und dem Thema Verfolgung beschäftigt. Zum ersten Mal besuchte der ehemalige Polizist die Ausstellung. Wer ihm begegnet, merkt sofort: Er ist jemand, der Dinge anstößt.

Auf die Frage, ob man zum Gespräch in ein Café in der Nähe gehen wolle, winkt er ab: „Nein, nein, das haben wir schon abgecheckt.“ Hier gebe es Seminarräume. „Ich habe einfach gefragt, ob einer frei ist und wir ihn nutzen könnten“, sagt der 65-Jährige lächelnd und hält die Tür auf.

Schnell fällt auf: Bubenitschek ist ein Netzwerker. Dadurch hat er zahlreiche Hilfsangebote ins Leben gerufen. Wie viele, das kann man kaum zählen. Seit sechs Jahren ist Bubenitschek ehrenamtlich Landespräventionsbeauftragter des WEISSEN RINGS in Baden-Württemberg.

Seine Lebensleistung wurde 2018 mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt – als „Gestalter, Motor und Organisator der Kriminalprävention“. Bubenitschek ist zwar stolz auf diese Auszeichnung, betont sie aber nicht selbst. Es ist allgemein nicht so leicht, mit ihm auf seine Vergangenheit zu blicken. Viel lieber spricht er über die Projekte, die ihn derzeit beschäftigen. Beispielsweise ein Online-Weiterbildungsprogramm der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zum Thema Extremismus und Radikalisierung für Fachkräfte aus der Bildungs- und Sozialarbeit. „Wir arbeiten da auch mit echten Fällen und zeigen, was der WEISSE RING leisten kann“, erklärt er und händigt eine Informationsbroschüre aus.

„Ich will hier auch immer vermitteln: Ihr macht eine wichtige Arbeit, und Prävention ist ein zentraler Bestandteil davon.“

Neben dem Weiterbildungsprogramm engagiert er sich unter anderem auch in Grundlagentrainings für neue Mitarbeitende und Ehrenamtliche des Vereins. „Ich will hier auch immer vermitteln: Ihr macht eine wichtige Arbeit, und Prävention ist ein zentraler Bestandteil davon“, sagt er. „Die Seminare sind auch eine gute Gelegenheit, mich vorzustellen. Wenn jemand Unterstützung braucht, bin ich da.“

In Berührung mit dem WEISSEN RING kam Bubenitschek schon früh in seiner Polizeikarriere. „Ich trat 1976 in den Polizeidienst ein, im selben Jahr, als der WEISSE RING gegründet wurde“, erinnert er sich. Das war in Heidelberg, wo er noch immer gerne lebt. „Ich bin Kurpfälzer aus Überzeugung“, meint er schmunzelnd.

Er betont, wie wichtig ihm in seiner Rolle als Landespräventionsbeauftragter die 38 Außenstellen des Vereins im Bundesland sind. „Die sind für mich das Herzstück des WEISSEN RINGS.“ Es sei für ihn entscheidend, dass diese vom Landesbüro die nötige Unterstützung für den direkten Austausch mit Betroffenen vor Ort bekommen. Bei der Beschreibung seiner Tätigkeiten sagt er vor allem „wir“, selten „ich“: ein Teamplayer.

Nach seiner Ausbildung in Heidelberg durchlief Bubenitschek verschiedene Stationen innerhalb der Polizei. Mit der Zeit verlagerte sich sein Schwerpunkt auf Präventionsarbeit. 1996 übernahm er die Leitung der Kriminalpolizeilichen Beratungsstelle in Heidelberg und kam dabei intensiver mit dem WEISSEN RING in Kontakt. „Ich habe gesehen, dass es oft nur um die Täter geht – was in einem Rechtsstaat völlig in Ordnung ist“, sagt er. „Doch es braucht auch Menschen, die Betroffene an die Hand nehmen und begleiten.“ Der WEISSE RING unterstützte ihn und seine Stelle damals bei Fortbildungen. „In dieser Zeit wurde mir klar: Diese Organisation will ich auch unterstützen“, sagt er.

Als Leiter der Beratungsstelle stieß er zahlreiche Präventionsprojekte an, darunter die Gründung ehrenamtlicher Präventionsvereine in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis sowie die Zusammenarbeit mit Jugendarbeitsträgern, mit denen er mobile Krisenteams etablierte. Diese boten eine Alternative zur polizeilichen Intervention bei Konflikten. Zudem initiierte er Ehrungen für Menschen, die deeskalierend eingriffen.

Bubenitscheks Ansatz als Polizeibeamter war stets, durch enge Netzwerke frühzeitig gesellschaftliche Probleme zu erkennen und anzugehen. Er arbeitete damals mit der Uni in Heidelberg zusammen und machte etwa Bürgerbefragungen zum Sicherheitsempfinden. Die Ergebnisse dienten als Grundlage für seine präventiven Maßnahmen. Professor Dieter Hermann, mit dem er in Heidelberg zusammenarbeite, habe auch Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen angestellt und nachgewiesen: „Prävention zahlt sich mit einer sehr hohen Rendite aus.“

Bubenitscheks Ansatz als Polizeibeamter war stets, durch enge Netzwerke frühzeitig gesellschaftliche Probleme zu erkennen und anzugehen.

„Deswegen ist es wichtig, viel in Prävention zu investieren“, sagt der Polizist, der sich mittlerweile im (Un-)Ruhestand befindet. Ein Grundgedanke, der auch seine Arbeit mit dem WEISSEN RING prägt. Als der ihn fragte, ob er die Rolle des Präventionsbeauftragten übernehmen wolle, sagte er sofort zu und bringt seither sein Wissen engagiert in den Verein ein. „Wir stehen als WEISSER RING immer auf der Seite der Betroffenen, ohne Wenn und Aber. Unser Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir aus dem direkten Kontakt mit ihnen ihre Bedürfnisse und Umstände kennen“, sagt er. „Dieses Wissen müssen wir meines Erachtens auch in die Prävention zurückgeben. Das verhindert zwar nicht die Taten, aber wir können daraus für die Zukunft lernen.“

Diese Aussage trifft er auch unter dem Eindruck der Ausstellung im Hotel Silber, die ihn sehr bewegt hat. Sie macht besonders die gesellschaftliche Stimmung vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten greifbar – und wie sie schließlich zu den Verbrechen der damaligen Polizei führte. „Ich mache mir aktuell schon Sorgen um die politische Kultur“, sagt er. „Eine Zusammenarbeit mit extremen Kräften ist für mich ein absolutes No-Go.“

Wenn sich jemand mit Extremismus auskennt, dann Günther Bubenitschek. 2016 kehrte er von der Präventionsarbeit zurück in den Ermittlungsdienst und wechselte später zum Staatsschutz. „Kaum war ich dort, gab es das Attentat vom Breitscheidplatz in Berlin“, erzählt er. Er setzte sich danach intensiv mit der Personengruppe der Gefährder und deren Opfer auseinander. Auch durch diese Erfahrung betont er, wie froh er ist, dass es seit 2015 eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Polizei in Baden-Württemberg und dem WEISSEN RING gibt. Sie ermöglicht es der Polizei, Opfer direkt an die Organisation zu vermitteln.

Wenn sich jemand mit Extremismus auskennt, dann Günther Bubenitschek.

Nach seiner Zeit in der Prävention in Heidelberg wechselte Bubenitschek zum Landeskriminalamt nach Stuttgart. Hier arbeitete er an mehreren landesweiten Vorhaben, darunter ein Forschungsprojekt zur Zivilcourage. Daraus entstand die Initiative „Zivile Helden“, die junge Menschen interaktiv ermutigt, in kritischen Situationen mutig zu handeln. „Wichtig ist, dass wir mit Jugendlichen sprechen, nicht über sie“, betont er. Zudem initiierte er die Aktion „Beistehen statt rumstehen“, die für eine Kultur des Hinschauens und Helfens eintritt, und setzte sich für Präventionsmaßnahmen gegen Mobbing an Schulen ein.

Auch beim WEISSEN RING engagiert er sich gegen digitale Gewalt wie Cybermobbing und Cyberstalking. „Wir müssen sichtbarer werden, gerade in der digitalen Welt“, betont er. „Viele junge Menschen kennen uns gar nicht mehr.“

Unter anderem in der WEISSER RING Akademie bietet Bubenitschek regelmäßig ein Argumentationstraining an. Gemeinsam mit der Heidelberger Initiative „Mosaik“ und den Expertinnen Yasemin Soylu und Dzeneta Isakovic vermittelt er, wie man souverän gegen Hass und Hetze vorgeht – sowohl im realen als auch im digitalen Raum. Die Teilnehmenden lernen, populistische Parolen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.

Bubenitschek ist zudem seit 2011 als Zivilcourage-Trainer tätig und bietet in der Akademie des WEISSEN RINGS ein Training an, das sich auf Gewalt im öffentlichen Raum konzentriert. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Stefanie Ferdinand entwickelte er hier ein praxisnahes Konzept mit situativem Training zur Deeskalation.

„Wir stehen als WEISSER RING immer auf der Seite der Betroffenen, ohne Wenn und Aber.“

Er möchte durch seine Arbeit die Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation vermitteln: „Das bedeutet, sachlich zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen und erst einmal nachzudenken, bevor man reagiert.“ Ein Verhalten, das auch bei der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung helfen würde. „Es geht nicht darum, immer recht zu haben, sondern darum, dass wir überhaupt wieder vernünftig miteinander reden.“

Kaum ist das Gespräch zu Ende, tritt er in die Lobby des Hotel Silber. Er spricht das Personal noch mal auf die Seminarräume sowie das Workshop-Programm des Gedenkorts an. „Das wäre doch vielleicht ein Ort, an dem der WEISSE RING eine Veranstaltung anbieten könnte“, überlegt er laut und erntet Zustimmung. Günther Bubenitschek hat wohl noch einiges vor.

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Juliane

„Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde für uns Realität“

Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen: Am 11. September 2023 wurde ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg entführt und sexuell missbraucht. Die Polizei nahm später einen vor Kurzem aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter fest. In Schul-WhatsApp-Gruppen war vor dem Mann gewarnt worden, der Rechtsstaat hatte sich zuvor hilflos gezeigt, unter anderem konnte der Mann das Tragen einer Fußfessel verweigern. Mit der Redaktion des WEISSEN RINGS sprach der Vater des entführten Kindes erstmals öffentlich über den Fall.

Eine Straße mit dem Ortsschild "Edenkoben". Dazu sieht man ein Feld. Hier wurde ein kleines Mädchen entführt.

„Wein – Wald – Kultur“, mit diesem Slogan wirbt Edenkoben im Internet um Touristen. Bundesweite Bekanntheit erlangte die kleine Stadt in der Südpfalz allerdings erst als Tatort eines Verbrechens. Fotos: Anna Ziegler

Ein Reihenhaus am Ende einer Sackgasse, dahinter Weinbau, so wie überall hier: kilometerweites Grün, bis irgendwann der noch grünere Wald beginnt. „Wein – Wald – Kultur“, mit diesem Slogan wirbt Edenkoben auch im Internet um Touristen.

Bundesweite Bekanntheit erlangte die 7.000-Einwohner-Stadt in der Südpfalz allerdings erst als Tatort eines Verbrechens. Im September 2023 entführte ein Mann ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg und missbrauchte es sexuell. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd befreite die Polizei das Kind aus dem Auto des Entführers und nahm den Fahrer fest, einen frisch aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter. Im ganzen Land berichteten Medien über den Fall, allen voran die „Bild“-Zeitung veröffentlichte Dutzende Texte über den „Kinderschänder von Edenkoben“ und warf Politik und Behörden „Totalversagen“ vor.

In dem Reihenhaus am Ende der Sackgasse sitzt Mathias am Esstisch, der Vater des Mädchens. Hinter Mathias hängen eingerahmt Porträtzeichnungen an der Wand, sie zeigen die Tochter und ihren älteren Bruder, auf Regalbrettern stapeln sich Spiele und Bücher. Vor einer anderen Wand steht ein altes Küchenbuffet, aus dem obersten Fach quellen Zeitungen, „das sind die gesammelten Artikel über den Fall“, sagt der Vater. Mathias, 44 Jahre alt, von Beruf Fachkrankenpfleger, spricht erstmals aus der Betroffenenperspektive über die Tat.

Mathias, im September 2023 wurde Ihre zehnjährige Tochter entführt, im April 2024 hat das Landgericht Landau einen mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. Wie geht es Ihrer Tochter heute, wie geht es Ihrer Familie, wie geht es Ihnen?

Ich würde sagen, uns geht es den Umständen entsprechend gut. Wir haben die Gerichtsverhandlung hinter uns, und wenn man das so sagen darf: Das Ergebnis war ein voller Erfolg für uns.

Das Gericht hat den Angeklagten zu zwölf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Hat Sie das Urteil überrascht?

Ja. Zwölf Jahre und Sicherungsverwahrung sind doch eher selten nach solchen Taten.

Sie hatten ein milderes Urteil für den Angeklagten erwartet?

Nach allem, was ich so mitbekomme vom deutschen Rechtssystem, hätte das Urteil auch anders ausfallen können. Von daher ist meine Erleichterung groß.

Der Fall Ihrer Tochter hat ein großes Medienecho ausgelöst, nach der Tat war immer wieder der Satz zu lesen und zu hören, dass Ihre Tochter und Ihre ganze Familie jetzt womöglich für den Rest ihres Lebens mit den Folgen der Tat zu kämpfen hätten. Versuchen Sie, sich gegen solche Langzeitfolgen zu wappnen?

Es gibt eine ganze Menge, was man machen kann und auch machen sollte. Ich absolviere im Moment noch eine Traumatherapie, das tut mir persönlich unheimlich gut. Meine Tochter ist ebenfalls weiterhin in Therapie, das entwickelt sich auch sehr gut. Es gibt aber auch Menschen, denen sexualisierte Gewalt widerfährt und die ohne Therapie gut klarkommen. Der Satz „Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben“, den wir gerade in den ersten Tagen nach der Entführung so oft gehört haben, der ist nicht zwangsläufig richtig.

Empfinden Sie den Satz als stigmatisierend?

Ja, das hat etwas von Stigmatisierung. Ich möchte nicht kleinreden, was passiert ist. So etwas kann heftigste Konsequenzen haben für die Seele, für die Psyche. Aber ein Mensch verfügt auch über viele Ressourcen, mittel- bis langfristig mit so einer Erfahrung umgehen zu können und einem Schaden vorzubeugen.

Hilft Ihnen Ihre Berufserfahrung als Intensivpfleger, nicht nur als Betroffener, sondern auch mit einer gewissen professionellen Distanz auf das Geschehene zu blicken?

Ja, vermutlich ist das so.

Mathias blickt nicht nur als Vater und Intensivpfleger auf das Geschehene, sondern auch mit der forschergleichen Neugierde eines Mannes, der unbedingt verstehen will, was passiert ist. Er hat sich akribisch vorbereitet auf das Gespräch; vor ihm liegt ein prall gefüllter Aktenordner, daneben ein Zettel mit handschriftlichen Notizen.

„Nach allem, was ich so mitbekomme vom deutschen Rechtssystem, hätte das Urteil auch anders ausfallen können. Von daher ist meine Erleichterung groß.“
Wie haben Sie den 11. September 2023 erlebt?

Die grausamste Horrorvorstellung aller Eltern wurde bei uns Realität. Diese Stunden waren extrem traumatisch und sind auch der Hauptgrund, warum ich heute noch in Therapie bin. Aber ich erzähle einfach mal von Anfang an. Meine Frau ist ja auch Krankenschwester und hatte Frühschicht, ich hatte Spätschicht. Folglich habe ich mich morgens um die Kinder gekümmert. Unsere Tochter ist sehr selbstständig und hat sich eigenständig fertig gemacht. Bemerkenswerterweise war sie recht früh an diesem Morgen. Sie war bereits um 7:25 Uhr fertig und hat gemeint, sie gehe jetzt in die Schule. Da habe ich gesagt: „Dann bist du ja etwas früher als sonst, du kannst dir ja Zeit lassen.“ Sie verlässt also das Haus, den Schulweg geht sie schon seit vier Jahren. Um halb neun ruft dann meine Frau von der Arbeit an und sagt: „Unsere Tochter ist nicht in der Schule angekommen.“

Der Täter griff das Mädchen morgens auf dem Schulweg auf. Nach einer filmreifen Verfolgungsjagd befreite die Polizei das Kind aus dem Auto des Entführers und nahm den Fahrer fest. Fotos: Anna Ziegler

Fast eine halbe Stunde lang schildert Mathias minutiös den Ablauf des 11. September. Seine Notizen braucht er dafür nicht einmal. Er erzählt, wie er ins Zimmer der Tochter ging, um zu schauen, ob sie vielleicht doch zurück ins Bett gegangen und wieder eingeschlafen ist. Wie er den Schulweg abfuhr, „ganz langsam und mit offenen Fenstern“. Wie er mit der Schulsekretärin die Klassenzimmer und die Sporthalle absuchte. Wie der Schulrektor und er ganz diskret die beste Freundin der Tochter befragten. Wie er sich selbst fragte, ob er gleich die Polizei verständigen soll oder ob er noch eine halbe Stunde warten soll. Wie er sich die Frage selbst beantwortete: Nein, du fährst sofort zur Polizei. Wie er vorher doch noch einmal nach Hause fuhr, um nachzuschauen, ob seine Tochter in der Zwischenzeit vielleicht zurückgekehrt ist.

Und dann bin ich zur Polizei: Guten Tag, meine zehnjährige Tochter ist vermisst. Da habe ich schon gemerkt, irgendwas passiert hier. Leute stehen auf, es entsteht eine merkwürdige Unruhe. Und ich denke noch so für mich: Toll, die nehmen das total ernst! Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass es Parallelmeldungen gab, dass die Polizei den aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter bereits auf dem Schirm hatte und dass es sogar eine Anruferin gab, die die Entführung beobachtet hatte.

Hatten Sie keine Angst zu diesem Zeitpunkt?

Ich fuhr dann zurück nach Hause, und auf dem Weg dorthin rief mich die Polizei an und sagte, ich müsse wiederkommen, die Kollegen aus Neustadt seien jetzt da. Da dachte ich: Das ist die Kripo. Und als ich so durch Edenkoben fuhr, drängte sich mir der Gedanke auf: Meine Tochter könnte tot sein! Angst griff nach mir, Angst und Ohnmacht. Das war für mich der schlimmste Moment. Der hat dann sogenannte Intrusionen bei mir ausgelöst: flashbackartige Bilder mit dem gleichen Gefühl, das ich in der Angstsituation hatte. Das haben zum Beispiel Soldaten, die aus Kriegsgebieten kommen. Das konnte ich später in der Traumatherapie aufarbeiten. Heute habe ich die Intrusionen nicht mehr.

Hatten Sie in dieser Situation der Ungewissheit Unterstützung?

Wir haben maximale Hilfe und Empathie erfahren in diesen dunklen Stunden. Die Polizei war wirklich super. Da herrschte ein extremer Stresspegel auf den Polizeiwachen. Und trotzdem war man immer bemüht, mit uns bestmöglich umzugehen.

Mathias rekapituliert weiter das Geschehen des 11. September 2023. Bis zu dem Zeitpunkt, als seine Frau und er bei der Polizei in Landau endlich ihre Tochter wieder- sahen: eingehüllt in einen weißen Kunststoffanzug, wegen der Spurensicherung.

„Der Satz ‚Das Mädchen hat jetzt einen Schaden fürs Leben‘, den wir gerade in den ersten Tagen nach der Entführung so oft gehört haben, der ist nicht zwangsläufig richtig. “

Wer hat Ihnen mitgeteilt, was Ihrer Tochter angetan wurde?

Letztlich hat es uns unsere Tochter selbst gesagt. Ich habe sie gefragt: Mensch, was ist dir denn passiert? Und dann erzählte sie: Da war ein Mann, der habe sie gewaltsam gepackt und in sein Auto gestoßen. Sie habe versucht, sich zur Wehr zu setzen, sie habe geschrien, aber es habe sie keiner gehört. Sie sagte, sie habe Angst gehabt und ihrem Entführer Fragen gestellt, um ein Gefühl von Kontrolle zu haben. Der Entführer habe sie beruhigt. Der Mann sei mit ihr an einen unbekannten Ort gefahren und habe sie gezwungen, ein Handtuch über ihrem Gesicht zu tragen. Und dann hat sie das umschrieben mit „und dann passiert das, was bei so einer Entführung nun mal passiert“. Da war uns klar, sie umschreibt den sexuellen Missbrauch jetzt mit diesen Worten. Ich musste dann erst mal eine rauchen gehen. Als später die Zeugenvernehmung von unserer Tochter stattfinden sollte, haben wir ihr gesagt: Auch wenn es schwer ist, wäre es gut, wenn du das alles sehr konkret benennst. Sie hat dann laut Polizei eine super Zeugenaussage gemacht.

Waren Sie dabei?

Ja, am Anfang. Als es dann in Richtung Missbrauch ging, habe ich angeboten, dass wir als Eltern rausgehen. Dem hat sie direkt zugestimmt, damit sie freier reden kann. Sie hat dann auch wohl sehr detailliert geschildert, was passiert ist. Wobei das, was passiert ist, weniger das ist, was man sich jetzt vielleicht vorstellt.

An dieser Stelle stockt Mathias. Etwas umständlich versucht er zu erklären, dass Missbrauch nicht immer gleich Missbrauch ist. Er bemüht sich zu sagen, was geschehen ist, ohne aussprechen zu müssen, was geschehen ist. Was er eigentlich sagen möchte ist: was nicht geschehen ist.

„Wir haben maximale Hilfe und Empathie erfahren in diesen dunklen Stunden. Da herrschte ein extremer Stresspegel auf den Polizeiwachen. Und trotzdem war man immer bemüht, mit uns bestmöglich umzugehen.“

Nach Straftaten wird zum Schutz der Betroffenen häufig darauf verzichtet, das Geschehene konkret zu benennen. Ganz besonders, wenn die Betroffenen Kinder oder Jugendliche sind. In Ihrem Fall habe ich aber das Gefühl, dass Sie gern mehr sagen würden – auch zum Schutz der Betroffenen. Stimmt das?

Hier in Edenkoben weiß jeder, dass wir die betroffene Familie sind. Also alle in unserem sozialen Umfeld, jeder Lehrer, jeder Mitschüler. Viele gehen nach der Medienberichterstattung automatisch von den schlimmsten Horror-Szenarien aus. Ich habe das Gefühl, dass ich einer Stigmatisierung ein wenig entgegenwirken kann, wenn ich sage: Ich will nichts schönreden, das war ein sexueller Missbrauch, das ist eine schwere Straftat. Aber es war vielleicht auch nicht das, was ihr jetzt im Kopf habt.

Medien in ganz Deutschland berichteten über den Fall, allen voran die „Bild“-Zeitung veröffentlichte Dutzende Texte über den „Kinderschänder von Edenkoben“ und warf Politik und Behörden „Totalversagen“ vor. Fotos: Anna Ziegler

Behörden, Hilfsorganisationen, oft auch Medien unternehmen sehr viel dafür, Betroffene zu schützen, indem sie möglichst wenige Informationen preisgeben. Denken Sie, dass sie damit manchmal das Gegenteil erreichen von dem, was sie erreichen wollen?

Das ist eine gute Frage. Ich habe es als positiv empfunden, dass man vor allem vor Gericht so konsequent versucht hat, die Intimsphäre unserer Tochter zu schützen. Trotzdem spürte ich auch das Bedürfnis, zum Schutz meiner Tochter zumindest so viele Informationen transparent zu machen, dass das Kopfkino bei den Leuten nicht schlimmer ausfällt als die Wirklichkeit.

Die Medien warfen Politik und Behörden nach der Tat schweres Versagen vor. 2020 empfahl ein Gutachter im Prozess gegen den Mann eine anschließende Sicherungsverwahrung, aber das Landgericht ordnete sie nicht an. Nach seiner Entlassung 2023 sollte er dann per Fußfessel überwacht werden, der Mann weigerte sich einfach. Das hat für viel Empörung gesorgt. Sie als Betroffene haben sich mit Kritik auffällig zurückgehalten – warum?

Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat. Es fällt uns schwer zu sagen: Die Polizei ist schuld, das Gericht ist schuld, die Führungsaufsichtsstelle ist schuld. Nehmen wir das Beispiel Führungsaufsicht: Da gab es ja extra Mitarbeiter, um auf den Mann aufzupassen. Aber die Führungsaufsicht war das völlig falsche Instrument, mit einem Straftäter dieses Kalibers umzugehen. Der hätte in Sicherheitsverwahrung gehört.

„Meine Frau und ich sind tatsächlich der Meinung, dass jede Institution in Deutschland ihre Arbeit gemacht hat. Es fällt uns schwer zu sagen: Die Polizei ist schuld, das Gericht ist schuld, die Führungsaufsicht ist schuld.“

Als der Mann 2020 wegen Körperverletzung und Verstößen gegen Weisungen der Führungsaufsicht verurteilt wurde, waren die Einzelstrafen angeblich zu gering ausgefallen, um eine anschließende Sicherungsverwahrung anordnen zu können.

Das ist komplizierter, ich habe mich damit intensiv beschäftigt. Es ist mir nicht bekannt, dass ein Gericht in Deutschland wegen eines Verstoßes gegen die Führungsaufsicht Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Erst in diesem Jahr, nach unserem Fall, hat ein deutsches Gericht erstmalig einen Sexualstraftäter wegen Verstößen gegen die Führungsaufsichtsauflagen mit Sicherungsverwahrung belegt. Es war sogar dasselbe Gericht. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Gerichts damals zu kritisieren.

Wenn es jemandem zusteht, dann doch wohl Ihnen als Betroffener dieser Entscheidung?

Die Frage ist doch: Wird der Job gemacht? Tut jeder, was er tun sollte? Nehmen wir die Führungsaufsicht: Das Gericht hatte eine wöchentliche Kontaktaufnahme mit der Person vorgesehen. Die Führungsaufsicht hat das sogar täglich gemacht. Die haben viel mehr getan, als sie eigentlich hätten machen müssen, weil sie wussten, wie gefährlich der Mann ist. Die Führungsaufsicht ist einfach das völlig falsche Instrument gewesen. Ich bin Fachkrankenpfleger auf einer Intensivstation, für mich klingt das so, als würde man einen kritisch kranken Intensivpatienten nicht auf die Intensivstation legen, sondern auf Normalstation. Und wenn der Patient dann abends tot im Bett liegt, dann wundert man sich. Natürlich bin ich der Meinung, dass da grundsätzlich etwas schiefläuft. Wie oft kommen Sexualstraftäter aus dem Gefängnis wieder frei und werden rückfällig? Es muss sich grundsätzlich etwas ändern. Es muss vielleicht härtere Strafen geben. Es muss öfter die Sicherheitsverwahrung verhängt werden. Es muss eine mit Zwang durchsetzbare Fußfessel-Überwachung möglich sein. Vielleicht passiert das jetzt ja.

Vor Gericht trat der Vater des betroffenen Mädchens als Nebenkläger auf. Das gab ihm das Gefühl, wichtige Informationen zu erhalten und den Prozessverlauf im Sinne des Opfers beeinflussen zu können. Fotos: Anna Ziegler

Es wäre Ihr gutes Recht, wütend darüber zu sein, dass das alles damals nicht passiert ist, und die dafür verantwortlichen Stellen zu kritisieren. Sie haben sicherlich schon mal den Begriff „Victim Blaming“ gehört?

Sie meinen damit eine Täter-Opfer-Umkehr oder auch Schuldverlagerung? Also den Versuch, die Verantwortung für eine Straftat nicht dem Täter, sondern dem Opfer zuzuschreiben? Man denkt auf einmal, man findet die Schuldigen überall. Als Erstes ist es natürlich die Polizei. Dann ist es der böse Staat. Später war es die Schule, die hätte doch bessere Sicherheitskonzepte haben sollen. Und wir Eltern, ich hätte meine Tochter nicht allein zur Schule laufen lassen sollen! Das ist Victim Blaming, uns als Eltern wird die Schuld für das Verbrechen an unserer Tochter gegeben. Das kann einen ganz schön fertig machen.

Hat man Ihnen diesen Vorwurf gemacht?

Das hat mir niemand persönlich gesagt, aber das kann man zum Beispiel bei Facebook lesen. „Also ich bin ja Helikoptermutter und stehe dazu. Ich hätte meine Tochter niemals allein …“ Schon ist der Vorwurf da. Unsere Tochter hat sich auch selbst die Schuld gegeben: „Ich hätte den Weg nicht nehmen sollen.“ Das ist doch ein Klassiker in der Psychologie! Ich sage ganz klar: An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand. Das habe ich auch als Nebenkläger vor Gericht gesagt.

Die „Bild“-Zeitung zitierte ein Mitglied des Innenausschusses im rheinland-pfälzischen Landtag mit dem Satz: „Der Rechtsstaat ist hier an Grenzen gestoßen.“ Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Im Prozess habe ich mich an die Vorsitzende Richterin gewandt. Dabei habe ich diesen Satz zitiert und gesagt: „Bei vielen Menschen in der Bevölkerung entsteht tatsächlich der Eindruck, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers an seine Grenzen kommt. Dies soll heute anders sein. Sehr geehrte Frau Vorsitzende, hohes Gericht, bitte beweisen Sie uns das Gegenteil. Beweisen Sie uns, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers umzugehen weiß.“ Ich bat das Gericht, dafür zu sorgen, dass dieser Mann nie wieder die Möglichkeit bekommen wird, ein Kind zu entführen und zu missbrauchen.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, Betroffene besser zu schützen?

Ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland zu häufig nur die Scherben aufkehren, nachdem etwas zerbrochen ist. Es wird viel auf Prävention gesetzt; Kinder lernen, wie sie sich im Falle eines Falles zu verhalten haben. Es gibt Psychologen, die die Folgen eines Missbrauchs aufarbeiten und therapieren. Es gibt den WEISSEN RING und viele weitere Hilfsorganisationen. Doch im Endeffekt behandeln wir Symptome. Ich kann mir vorstellen, dass härtere Strafen ein Mittel gegen Sexualstraftäter sind. Häufiger verhängte Sicherungsverwahrung. Fußfesselzwang. Weniger Datenschutz. Aber das müssen Fachleute beantworten, ich bin kein Fachmann. Dieser Fall ist in jeder Hinsicht besonders: Vor dem Mann wurde ja gewarnt, sogar unsere Tochter hatte vorher ein Foto von ihm auf ihrem Smartphone, weil das nach seiner Haftentlassung über Schul-WhatsApp-Gruppen geteilt worden war. Meine Frau und ich kannten die Nachricht leider nicht. Besonders war an dem Fall auch das hohe mediale Interesse. Das hat den Nachteil einer möglichen Stigmatisierung, aber auf der anderen Seite kann es auch ein Vorteil sein.

„Sehr geehrte Frau Vorsitzende, hohes Gericht, bitte beweisen Sie uns das Gegenteil. Beweisen Sie uns, dass der Rechtsstaat mit Tätern dieses Kalibers umzugehen weiß.“

Das müssen Sie erklären.

Wir haben sehr viel Empathie erfahren, ganz viele Menschen haben extrem viel Rücksicht auf uns genommen. Der WEISSE RING war sofort da, noch am Entführungstag. Ein paar Tage später saß der Opferbeauftragte des Landes hier. Es sind Spendenaktionen gelaufen, was tatsächlich eine große Hilfe ist in dem Moment. Dann war da unser Arbeitgeber, der uns freigestellt und in jeder Hinsicht unterstützt hat. Freunde, Familie. Unser Anwalt, Matthias Bär aus Edenkoben, stand uns fachlich wie im menschlichen Sinne zur Seite. Das Gymnasium in Edenkoben hat uns sehr geholfen. Wir haben uns wöchentlich getroffen, um die Situation meiner Tochter zu besprechen. Die Traumaambulanz in Landau, die Therapeutin meiner Tochter, sie alle haben uns sehr geholfen. Ich glaube, dass all diese Unterstützung nicht die Regel ist bei Missbrauchsfällen.

Was, glauben Sie, ist denn die Regel?

Die Regel ist, dass man erst gar nicht weiß, dass was passiert ist. Dann kommt irgendwann ein dunkler Verdacht. Der Verdacht erhärtet sich. Man geht zur Polizei und stellt fest, dass es schwierig wird, den Missbrauch nachzuweisen. Es kommt zu einer Aussage-gegen-Aussage-Situation. In der Regel finden die meisten Missbrauchsfälle im sozialen Umfeld statt, da ist keine externe Person der Täter. Da gibt es nicht so viele Unterstützer. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir ein Stück weit privilegiert waren wegen des hohen medialen und gesellschaftlichen Interesses an diesem Fall.

Mathias atmet durch. „Ich muss erst mal eine rauchen“, sagt er und geht in den Garten. Er beeilt sich, er hat noch viel zu sagen. „Sie merken ja, dass ich das Thema sehr konfrontativ angehe. Aber ich muss damit auch mal wieder aufhören. Die letzten Monate gab es für mich nur das Thema Entführung, ich habe alle Kraft auf dieses Thema aufgewendet. Meine Frau tickt da zum Beispiel ganz anders. Sie sorgte für Normalität bei uns in der Familie. Das passte super.“

„Ich hätte den Weg nicht nehmen sollen – das ist doch ein Klassiker in der Psychologie! Ich sage ganz klar: An so einer Tat ist zu 100 Prozent der Täter schuld. Sonst niemand.“

Sie sind als Nebenkläger vor Gericht aufgetreten. Wie haben Sie den Prozess vor dem Landgericht Landau erlebt?

Sicherlich ist „Vorfreude“ nicht das treffende Wort, aber für mich war der Prozessbeginn sehr positiv besetzt, weil ich erwartet habe, dass der Entführer meiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Es war eine Möglichkeit für mich, mich zur Wehr zu setzen. Das hat auch meine Traumatherapeutin zu 100 Prozent unterstützt. Ich hatte von Anfang an das Bestreben, den Prozessverlauf so gut wie es mir möglich ist zu beeinflussen – und zwar, indem ich unsere Perspektive aufzeige. Ich wollte objektiv und nachvollziehbar die Konsequenzen so einer Tat aufzeigen, vor allem für uns. Konkret habe ich zum Beispiel aufgezeigt, dass unsere Tochter zum Prozesszeitpunkt immer noch Schwierigkeiten mit dem Schulweg hatte und eine Traumatherapie machte.

Mit der Urteilsverkündung konnte die Familie „ein ganz großes Stück dieser Lebensphase abschließen“, sagt der Vater des Opfers. Er blickt optimistisch in die Zukunft: „Das Leben geht weiter.“ Fotos: Anna Ziegler

Hatten Sie das Gefühl, man hört Ihnen zu?

Ja, ich hatte das Gefühl, alles anbringen zu dürfen und Gehör zu bekommen. Ich habe auch vor Gericht Empathie von allen Seiten erfahren. Vom Gericht selbst, aber auch von der Verteidigerin des Angeklagten. Dafür habe ich mich am Ende auch bedankt. Mir war es aus mehreren Gründen wichtig, als Nebenkläger dabei zu sein. Erstens: Ich kann den Prozessverlauf beeinflussen. Zweitens: Ich bekomme wichtige Informationen. Es gab zum Beispiel Erkenntnisse aus dem Verfahren, die mir wiederum für die Therapie meiner Tochter hilfreich erschienen. Und dann gab es für mich auch noch die Möglichkeit, durch eine allumfassende Aussage von mir es meiner Frau zu ersparen, ebenfalls als Zeugin aussagen zu müssen.

Musste Ihre Tochter aussagen?

Nein, sie musste nicht aussagen, weil der Angeklagte geständig war.

Im Strafprozess stehen die mutmaßlichen Täter im Mittelpunkt. Hatten Sie das Gefühl, dieser Prozess war auch ein Prozess für das Opfer?

Es liegt natürlich in der Natur der Dinge, dass in einem Strafverfahren der Angeklagte im Mittelpunkt steht. Zeitweise hatte ich auch das starke Gefühl, dass wir als Geschädigte komplett aus dem Fokus geraten sind. Zum Beispiel haben wir einen ganzen Vormittag damit verbracht, darüber zu reden, ob der Angeklagte durch den Polizeieinsatz Verletzungen davongetragen habe. Polizisten wurden befragt, Untersuchungsbefunde besprochen, der Angeklagte angehört.

„Von den Folgen für Geschwister, für die Eltern, von den Therapien, von den unzähligen Tränen, all das muss das Gericht wissen. Es ist auch aus psychologischer Sicht wichtig, sich zur Wehr zu setzen.“

Was konnten Sie als Nebenkläger tun, um die betroffene Seite in den Vordergrund zu rücken?

Wir haben zum Beispiel über die Nebenklage den Rektor der Schule meiner Tochter als Zeugen geladen. Die Schule befand sich ja auch im absoluten Ausnahmemodus. Da wird auf dem Schulweg ein paar Meter vor dem Schulgelände ein Mädchen entführt. Da war ein Kriseninterventionsteam da. Da waren täglich sechs Psychologen da. Es gab Krisentreffen. Viele Lehrer hatten Tränen in den Augen. Der Rektor hat das einsortiert, er sagte: Für eine Schule gibt es nur zwei andere Szenarien, die eine ähnliche Dramatik zur Folge haben – ein Amoklauf oder der Tod eines Schülers. Wir wollten aufzeigen, dass so etwas kein isoliertes Verbrechen ist, sondern dass es Kreise zieht.

An wen denken Sie bei den Kreisen noch, abgesehen von der Schule?

Ich denke zum Beispiel an unseren Arbeitgeber. Meine Frau und ich sind beide seit über 20 Jahren in dem Krankenhaus tätig, wir sind dort natürlich gut vernetzt und bekannt. Wir wissen, dass in der ersten Woche die Betroffenheit so groß war, dass die Kollegen auf dem Boden gesessen und geweint haben. Das sind ja auch Eltern mit Kindern, das ist auch deren schlimmste Horrorvorstellung.

Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie das Urteil als „vollen Erfolg“ bezeichnet. Wie wichtig war Ihnen die Strafzumessung?

Es war uns natürlich wichtig, dass der Täter bei nachgewiesener Schuld angemessen bestraft wird. Und die Folgen einer Tat sind für die Strafzumessung nicht irrelevant. Ich wollte das Gericht dabei unterstützen, indem ich bestmöglich die Konsequenzen der Tat für alle Beteiligten aufzeige – mit dem Ziel, so auf die Strafzumessung einzuwirken. Ich habe, sachlich und objektiv, von den Folgen für meiner Tochter berichtet. Von den Folgen für Geschwister, für die Eltern, von den Therapien, von den unzähligen Tränen, von meiner beruflichen Reduzierung, all das muss das Gericht wissen. Auf diesem Weg konnte ich mich nach dem schrecklichen Angriff auf meine Familie zur Wehr setzen. Es ist auch aus psychologischer Sicht wichtig, sich zur Wehr zu setzen.

Wir sprachen über die öffentliche Aufmerksamkeit, die Ihr Fall und der Prozess erfahren haben, und die Empathie, die Sie erfahren haben. Wie haben Sie die Medien wahrgenommen?

Eigentlich auch sehr positiv. Es war ja sehr viel los in den Medien, vor allem in den ersten Tagen. Ich bin mehrfach gewarnt worden, dass Reporter bald vor unserer Haustür stehen würden. Uns hat aber nie jemand direkt angesprochen.

Fast vier Stunden sind mittlerweile vergangen, die Rebstöcke hinter der Sackgasse liegen längst im Dunkeln. Mathias sortiert seine Unterlagen und legt die Dokumente zurück in den Aktenordner. Ein letztes Mal liest er seinen Notizzettel, „habe ich etwas Wichtiges vergessen?“ Er schüttelt den Kopf.

Wenn alles vorbei ist, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist – was werden Sie dann tun?

Ich habe mich ja bewusst für diesen konfrontativen Weg der Auseinandersetzung mit dem Geschehen entschieden. Zwischendurch habe ich aber mal gedacht, dass es auch ein guter Weg gewesen wäre, das alles zu 100 Prozent den Juristen zu überlassen. Jeden Tag, wenn ein Gerichtstermin stattfindet, hätte ich dann etwas Cooles mit meinen Kindern machen können. Wir wären ins Schwimmbad gegangen, wir wären ins Kino gegangen, wir wären auf den Markt gegangen. Aber ich glaube, dass es auch gut war, wie es war, und dass ich vor Gericht einiges erreichen konnte. Mit der Urteilsverkündung konnten wir aus Perspektive meiner Familie bereits ein ganz großes Stück von dieser Lebensphase abschließen. Das Leben geht weiter, und ich blicke total optimistisch in die Zukunft.

Transparenzhinweis:
Die Familie von Mathias wurde von der Außenstelle Südpfalz des weissen rings unter Leitung von Heinz Pollini betreut. Unter anderem finanzierte der Verein eine einwöchige Erholungs‑ maßnahme für die Familie nach der Tat.

Ein Besuch in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 19. Februar 2025 von Sabine

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet solch ein Großereignis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Gemeinsam betreuen sie Opfer des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt (v.l.): Uta Wilkmann, Friederike Bessel und Uwe Rösler vom weissen ring in Magdeburg

Es ist Freitag. Nur noch vier Tage bis Heiligabend. Die einen denken über die letzten fehlenden Geschenke nach, andere planen das Weihnachtsessen. Plötzlich leuchtet eine Eilmeldung auf dem Handy auf und vertreibt jeden Gedanken an Besinnlichkeit. Ein Mann ist mit seinem Auto 400 Meter über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Es gab zwei Tote und 70 Verletzte, heißt es in den ersten Nachrichten. In den nächsten Stunden und Tagen steigen die Zahlen immer weiter bis auf sechs Tote und 600 Betroffene.

„Der Anschlag geschah um 19 Uhr, ich hatte davon um 19.30 Uhr durch die Nachrichten im Fernseher erfahren“, erinnert sich Cornelia Stietzel. Sie ist die Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Magdeburg und damit die erste Anlaufstelle für Opfer vor Ort. Die Außenstellenleiterin und ihr Team treffen sich monatlich im Magdeburger Rathaus, um über Erlebtes, aber auch Organisatorisches zu sprechen. Nur wenige Meter entfernt befindet sich nun eine Gedenkstelle mit Blumen und Bildern der Opfer.

Im Rathaus von Magdeburg trifft sich die Außenstelle des WEISSEN RINGS monatlich, um über Organisatorisches sowie Soziales zu sprechen.

In der Außenstelle arbeiten zehn Ehrenamtliche, darunter Uwe Rösler. Zum Tatzeitpunkt war er im Skiurlaub. „Meine Frau schickte mir eine Nachricht, und ich wollte es erst nicht glauben“, sagt Rösler. Als plötzlich seine Freunde ebenfalls Nachrichten bekamen, wurde ihm klar: Das ist wirklich passiert. „Während wir uns vergnügt haben und Bierchen tranken, starben in Magdeburg Menschen – das war heftig für mich“, sagt er.

„Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Yvonne Reinicke

350 Kilometer südwestlich von Magdeburg, in Mainz, stufen noch am Abend der Gewalttat Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer, Verena Richterich, die Leiterin der „Opferhilfe“, und die Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Kerstin Godenrath, den Anschlag als „Großereignis“ ein. Schnell müssen eine Reihe von Fragen beantwortet werden, wie es die Leitlinien des Vereins für solche Ausnahmesituationen vorgeben: Kann die Außenstelle vor Ort die Betreuung übernehmen? Welche Telefonnummer sollen Betroffene wählen, um schnell Hilfe zu bekommen? Können wir die finanzielle Soforthilfe für Betroffene erhöhen? Richten wir ein Spendenkonto ein? Verschicken wir eine Pressemitteilung? Wer beantwortet Medienanfragen? Am Wochenende telefonieren Bundesgeschäftsführung, Opferhilfe, Landesvorstand, Außenstelle und Pressestelle immer wieder miteinander. „Bereits am 23. Dezember fanden in Magdeburg erste Beratungsgespräche mit Betroffenen statt“, sagt Cornelia Stietzel.

Es hätte jeden treffen können

Das Großereignis ist für die Ehrenamtlichen von Anfang an eine große Herausforderung, aus verschiedenen Gründen. „Da ist die Nähe zum Geschehen. Magdeburg ist meine Heimat – es hätte jeden treffen können“, sagt Friederike Bessel sichtlich angefasst. Ihre Kollegin Yvonne Reinicke fügt hinzu: „Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Ein Herz aus Steinen soll an die Opfer erinnern. In Magdeburg lassen sich viele solcher kleinen Gedenkstätten finden. Vor der Johanniskirche liegen beispielsweise Dutzende Blumen.

Hinzu komme die Anzahl der Betroffenen, die die Außenstelle betreut. „Wir haben bis jetzt über 100 Fälle betreut – und das als kleines Team“, sagt Cornelia Stietzel. Die oberste Priorität des WEISSEN RINGS ist es, die Opfer zu schützen. „Wir können daher keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, und das darf nicht passieren“, erklärt sie.

Wohl aber können die Ehrenamtlichen berichten, wie es ihnen mit der Beratung so vieler Betroffener geht. „Einzelberatungen habe ich gut im Griff, aber wenn ich größere Gruppen habe, mit den unterschiedlichen Emotionen, unterschiedlichen Verletzungen, da bin ich am Ende einer Beratung einfach platt“, sagt Ingrid Männl. Das Team unterstütze sich gegenseitig und lenke sich durch Gespräche für einen Moment ab. „Einmal traf ich Friederike zwischen zwei Beratungen, und wir kamen ins Gespräch. Ich erfuhr, dass sie Deutsche Meisterin ist – die Anekdote hat mich zwischenzeitlich runtergeholt“, sagt Cornelia Stietzel. Deutsche Meisterin? „Ich habe zwei Hunde und trainiere mit ihnen die Zielobjektsuche, und 2024 lief das ganz gut“, erklärt Friederike Bessel. Alle im Raum können für einen kleinen Augenblick lachen.

„Wir können keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, das darf nicht passieren.“

Cornelia Stietzel

Cornelia Stietzel lobt den Zusammenhalt der Menschen in der Stadt. Ein Beispiel: „Ganz große Unterstützung erhalten wir von der Kontakt- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen der Caritas mit der unkomplizierten Bereitstellung von Räumlichkeiten“, erzählt sie. Hier können sich die Opferhelferinnen und Opferhelfer mit Betroffenen treffen.

Unterstützung erfahre das Team von Tag eins an auch vom Landesbüro Sachsen-Anhalt und aus der Bundesgeschäftsstelle des WEISSEN RINGS in Mainz, vor allem durch Jana Friedrich. Sie arbeitet im Referat „Opferhilfe“ und ist als Sachbearbeiterin für sogenannte Großereignisse zuständig. Als Friedrich am Tattag die Eilmeldung las, war ihr erster Gedanke ein Schimpfwort, das sie nicht wiederholen möchte. „Danach habe ich das ganze Wochenende den Live-Ticker verfolgt“, sagt sie. Ihr war klar: Diese Tat wird vom Verein als Großereignis eingestuft werden.

Uta Wilkmann erzählt, dass sie am Abend der Gewalttat im Kino war. Als sie es verließ, war alles voller Blaulicht. Im Radio erfuhr sie, was passiert ist, und dachte sofort an die ganzen Opfer sowie ihre Arbeit als Ehrenamtliche.

Jana Friedrich ist genau für solch einen Fall ausgebildet. „Ich habe die Akte angelegt, E-Mails an die Außenstelle Magdeburg und das Landesbüro Sachsen-Anhalt vorbereitet, mit allen wichtigen Informationen und Unterlagen“, sagt sie. Wichtige Informationen sind zum Beispiel, dass der Soforthilferahmen hochgesetzt und die Bedürftigkeitsprüfung ausgesetzt wird. Friedrich gab dazu eine Liste der verantwortlichen Leistungsträger weiter und das Spendenkonto mit dem dazugehörigen Stichwort. „Ich helfe den Außenstellen, die Opfer zu unterstützen“, beschreibt sie ihre Arbeit als hauptamtliche Mitarbeiterin in der Bundesgeschäftsstelle.

Ein Rückblick

Die Einstufung von Taten als „Großereignis“ gab es nicht von Beginn an. Der Auslöser, Kategorien mit passenden Leitlinien zu entwickeln, war das Großereignis 2016 – als in Berlin auf dem Breitscheidplatz ein Mann mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt fuhr. 13 Tote. Dutzende weitere Opfer. Sabine Hartwig war damals die Berliner Landesvorsitzende beim WEISSEN RING, und als ehemalige Kriminalbeamtin wusste sie sofort, was bei solch einer Dimension zu tun war. In jenem Jahr schuf der Verein Maßnahmen und Strukturen, die noch heute gelten:

„Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen.“

Cornelia Stietzel

Etablierung einer Krisenstruktur: Jährlich bietet die WEISSER RING Akademie ein zweitägiges Großereignis-Seminar an, das Ehrenamtliche auf Taten wie in Magdeburg vorbereitet. Jeder der 18 Landesverbände hat einen sogenannten Koordinator für Großereignisse, der als Ansprechpartner fungiert und zum Beispiel kontrolliert, ob die zuständige Außenstelle überlastet ist. Und der gegebenenfalls nach Unterstützung in anderen Außenstellen Ausschau hält. Dazu gibt es Supervision für die hilfeleistenden Ehrenamtlichen.

Dokumentation und Kommunikation: In Krisensituationen ist eine gründliche Dokumentation aller Vorgänge wichtig, um die Übersicht zu behalten. Die Ehrenamtlichen in den Außenstellen sowie die Hauptamtlichen in der Bundesgeschäftsstelle dokumentieren alle Opferfälle, jede Presseanfrage und die Spendeneingänge.

Medienmanagement: Damit sich die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort auf die Opferarbeit fokussieren können, wird festgelegt, wer Auskünfte an die Presse gibt. Alle Medienanfragen gehen an das Team Medien & Recherche der Bundesgeschäftsstelle in Mainz.

Finanzielle Soforthilfen: Soforthilfen bis zu 1.000 Euro können durch einen Opferhilfe-Fonds unbürokratisch und schnell ausgezahlt werden, um unmittelbare Bedürfnisse der Opfer und Angehörigen zu decken, etwa für Reisekosten, Einkommensausfall oder medizinische Behandlungen.

Die aktuelle Situation in Magdeburg

„Ich habe zwar die Schicksale in schriftlicher Form auf dem Tisch liegen, ich spreche aber nicht direkt mit Opfern“, sagt Jana Friedrich aus der Bundesgeschäftsstelle. Ansprechpartner für die Betroffenen vor Ort sind die an der WEISSER RING Akademie ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem in der Außenstelle Magdeburg, aber auch in anderen Außenstellen des WEISSEN RINGS. Besucher des Weihnachtsmarktes waren beispielsweise aus Niedersachsen oder Bayern angereist. Auch wenn die Opferhelferinnen und -helfer teilweise bereits jahrelange Erfahrung in der Opferarbeit haben, ist es für sie kein Alltag, dass Angehörige am Telefon weinend zusammenbrechen. Friedrich hat daher mehrmals in der Woche mit der Außenstellenleiterin Cornelia Stietzel Kontakt. „Ich frage immer als Erstes, wie es ihr geht“, sagt sie. Aktuell liegen mehr als hundert Fälle auf dem Schreibtisch von Friedrich. Die Zahl der einlaufenden Fälle steigt kontinuierlich.

An einem Baum in der Innenstadt von Magdeburg liegen Blumen, Kerzen und Engel, um an die Opfer der Gewalttat zu erinnern.

In den kommenden Wochen wird Magdeburg weniger in der Medienlandschaft auftauchen. Die Opfer aber bleiben. „Denn viele Betroffene kommen erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat auf uns zu. Vielfach versuchen sie, ihr Leben zunächst weiterzuleben, und merken erst mit der Zeit, dass Unterstützung benötigt wird“, erklärt Verena Richterich, Leiterin der Opferhilfe. „Der WEISSE RING steht den Betroffenen zu jedem Zeitpunkt zur Seite.“

Die Erfahrung von 2016, vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz, zeigt, dass der WEISSE RING noch viele Jahre mit Opfern in Kontakt steht. Cornelia Stietzel möchte in Zukunft die Betroffenen aus Magdeburg zusammenführen. „Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen“, sagt die Außenstellenleiterin. Ein gemeinsames Treffen in einem geschützten Raum soll Abhilfe schaffen.

Der WEISSE RING ist von Montag bis Freitag im Einsatz, die Ehrenamtlichen sind in Notfällen auch am Wochenende ansprechbar.