Angriffe auf Minderheiten und den Staat

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Gregor
Das Cover der aktuellen Ausgabe.

Datum: 01.10.2025

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

In der aktuellen Ausgabe setzt sich das WEISSER RING Magazin mit Rechtsextremismus, aber auch mit anderen Formen der Politisch motivierten Kriminalität auseinander. Die Entwicklung ist alarmierend.

Rechtsmotivierte Straftaten werden zunehmend von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen, bundesweit. In Bayern zum Beispiel ist die Zahl der Tatverdächtigen in diesen Altersgruppen von 291 im Jahr 2023 auf 517 im vergangenen Jahr gestiegen, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Hauptsächlich handelt es sich um Propagandadelikte, teilweise aber auch um Gewalttaten: In Nordrhein-Westfalen etwa wurden hierbei im vergangenen Jahr 30 Verdächtige zwischen 14 und 20 Jahren ermittelt, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Diese Zahlen gehen aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Landeskriminalämtern und Innenministerien hervor.

Kritische Medienbildung gegen rechte Tendenzen bei jungen Leuten

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, sagte dem Magazin: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen.“ Es gehe „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“. Zu den Ursachen erklärte der Politikwissenschaftler: „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“ Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert deshalb für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit.

Die Recherche ist Teil eines Schwerpunkts in der aktuellen Ausgabe des WEISSER RING Magazins zu Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Für die Titelgeschichte sprach der auf Rechtsextremismus spezialisierte Autor Michael Kraske mit Betroffenen, Experten sowie Sicherheitsbehörden. Politisch motivierte Kriminalität ist 2024 so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488.

Ausweitung der Gefahrenzonen

Zu den Folgen rechtsextremer Gewalt sagte Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Das Gewaltpotenzial sei stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern. „Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, so Kleffner. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. Andererseits habe sich etwa in Sachsen kaum etwas zum Positiven verändert.

In anderen Bereichen der PMK, etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die PMK ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark. Im Interview warnt Heike Pooth, Referatsleiterin im Polizeilichen Staatschutz des Bundeskriminalamtes: „Entspannung ist nicht in Sicht.“ Konflikte und Ereignisse im Ausland wirkten sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren seien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Nahostkonflikt.

Religiöse Repräsentanten am häufigsten von Attacken betroffen

In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts hätten sie stark zugenommen. Das BKA ergreife deshalb verschiedene Maßnahmen, tausche beispielsweise intensiv Informationen mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden aus und bewerte permanent die Gefährdungslage, vor allem für die besonders bedrohten jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der Politisch motivierten Kriminalität geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben). Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal.

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

Jung, rechtsradikal, gefährlich

Zahl der jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen stark gestiegen.

Rechtsradikale Jugendliche in Deutschland

Jugendliche und heranwachsende Verdächtige bei politisch motivierten Straftaten pro Bundesland. *Hier ist die Summe der Straftaten mit jugendlichen und heranwachsenden Verdächtigen angegeben. **Hier ist die Summe der Fälle mit mindestens einem jugendlichen beziehungsweise heranwachsenden Verdächtigen angegeben. Quelle: Länderumfrage des WEISSEN RINGS. Vier Länder haben die Anfrage bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.

Ein hessischer Jugendlicher soll sich rechtsradikal geäußert, Sprengstoff hergestellt und im Wald gezündet haben. In den Räumen eines Vereins in Sachsen, der sich für Demokratie einsetzt, sollen 13- bis 16-Jährige aus der Nazi-Szene eine Frau bedroht haben. Und in Brandenburg verletzten junge Leute zwischen 17 und 19 Jahren offenbar einen 41-Jährigen, nachdem dieser sie aufgefordert hatte, mit dem Grölen rechter Parolen aufzuhören.

Im Jahr 2024 häuften sich die Verfahren mit jungen Tatverdächtigen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität rechts. Eine exklusive Länderumfrage des WEISSER RING Magazins zeigt nun das Ausmaß. Demnach hat die Zahl der Fälle, an denen Jugendliche sowie Heranwachsende beteiligt gewesen sein sollen, stark zugenommen: in Sachsen etwa von 310 Tatverdächtigen zwischen 14 und 20 Jahren im Jahr 2023 auf 1297 Verdächtige im vergangenen Jahr, in Bayern von 291 auf 517, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Die Berliner Statistik differenziert auch nach Geschlecht: Demnach waren 136 der 143 Tatverdächtigen im Jahr 2023 männlich, sieben weiblich. Im Jahr darauf gab es insgesamt 175 Verdächtige, 149 männliche und 26 weibliche.

Männlich dominiert

In Berlin waren im Jahr 2023 von 143 verdächtigen Jugendlichen und Heranwachsenden 136 männlich und 7 weiblich. Im Jahr 2024 wurden 175 Verdächtige gezählt, davon waren 149 männlich und 26 weiblich.

Auch Nordrhein-Westfalen verzeichnet eine deutliche Steigerung, von 247 auf 610 Tatverdächtige in dem Alter. Die Landesregierung sieht dies als „eine zentrale Herausforderung für die innere Sicherheit“ und beobachtet eine „zunehmende Dynamisierung“ von rechtsextrem beeinflussten Jugendmilieus, wobei das „Tatmittel Internet“ weiter an Bedeutung gewinne. Bei der Bekämpfung setze das Land auf einen „Dreiklang von Repression, Prävention und Ausstiegshilfe“. Überwiegend geht es um Propagandadelikte, mitunter aber auch um Gewalt: In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangenen Jahr 30 jugendliche und heranwachsende Tatverdächtige ermittelt, in Berlin 28, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Bei den Gewalttaten sind die Zahlen tendenziell auch gestiegen.

Die Steigerungen passen zur Gesamtentwicklung. Nach Angaben des BKA sind die rechtsmotivierten Taten 2024 um fast 48 Prozent auf 42.788 angewachsen.

„Rechtsextreme Positionen werden selbstbewusst vertreten“

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, überraschen die Tendenzen nicht: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen“, sagt der Politikwissenschaftler. Es geht „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“.

Die Täter seien jünger geworden; vereinzelt suchten schon Grundschulen Rat. In den vergangenen Jahren hätten sich eher lose, rechte Jugendcliquen gebildet. Sie seien „stark diversifiziert“, auch in ihrem Erscheinungsbild, hätten teils Kontakt zur organisierten Szene und beteiligten sich etwa an Protesten gegen Veranstaltungen zum Christopher Street Day. „Man muss die Bedingungen des Großwerdens, etwa die politische Kultur, das Gemeinwesen, die Eltern, in den Blick nehmen“, so Becker. „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“

Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit: „Sie ist ein Schlüssel. Es kommt darauf an, mit den jungen Leuten im Gespräch zu bleiben, ihnen Angebote zu machen und sie nicht aufzugeben, wenn sie durch rechte Parolen aufgefallen sind. Dazu braucht es Haltung und pädagogisches Wissen.“

Der Flächenbrand

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Sabine

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Das Spektrum reicht von Propaganda über spontane körperliche Attacken bis zu rechtsterroristischen Brandanschlägen – und die Täter werden jünger. Sie verfolgen und greifen Angehörige von Minderheiten an. Opferberatungsstellen schlagen Alarm und fordern den Staat auf, endlich entschlossener zu handeln.

Rechte Gewalt: "Rechts Land" Julius Schien

18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.

Monatelang haben sie sich vorbereitet, die Vorfreude war groß. Zum fünften Mal baute ein breites Bündnis auf dem Marktplatz in Brandenburg Stände, Bänke und eine Bühne auf, um im Juni ein Fest der Vielfalt zu feiern. Darunter eine Trommelschule, der DanceClub vom Jugendzentrum Offi, „Schülis“ und Omas gegen
Rechts. Das Motto: „Bad Freienwalde ist bunt.“ Was dann geschah, hat Tom Kurz beobachtet, der bei der ehrenamtlichen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch Oderland arbeitet: Maskiert mit Sturmhauben, bewaffnet mit Schlagstöcken stürmte eine Gruppe junger Gewalttäter auf den Platz. „Die Neonazis waren erst im Moment des Angriffs sichtbar“, erinnert sich Kurz. „Ich habe sie auf mich zu rennen sehen. Alles ging sehr schnell.“

Vier Personen seien durch Schläge verletzt worden. In einem Video des RBB ist zu sehen, wie ein Angreifer einem Mann gezielt mit der Faust ins Gesicht schlägt. „Mehrere Leute sind dazwischengegangen und haben Schlimmeres verhindert“, sagt Kurz. „Die Neonazis haben wohl nicht mit Gegenwehr gerechnet und mussten
ihren Angriff abbrechen.“ Der orchestrierte Gewaltakt habe viele derjenigen, die unbeschwert feiern wollten, schockiert. „Es waren ja auch Familien da. Viele haben zum ersten Mal so massive rechte Gewalt erfahren.“ Das Fest fand trotzdem statt, aber der brutale Überfall habe den ganzen Tag überschattet.

Der Flächenbrand

Rechtsextreme Straftaten nehmen zu – von Propaganda bis zu Gewaltdelikten. Opferberatungsstellen fordern stärkeres staatliches Gegensteuern.

Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort

Nach der Tat kam Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos) nach Bad Freienwalde. Er sprach von einem „Angriff auf die Art unseres Zusammenlebens“ – ein seltenes Signal der Solidarität mit der queeren Community. Die Veranstalter haben jedoch in einer Stellungnahme klargemacht, dass Betroffenheit nicht ausreicht: „Als der Angriff erfolgte, war die Polizei nicht vor Ort. Die Gefahr, der unsere Veranstaltung ausgesetzt war, wurde falsch eingeschätzt. Das muss sich ändern!“ Tom Kurz kritisiert, dass die Polizei auch gegen diejenigen ermittle, die sich gegen die militanten Neonazis wehrten, um sich und andere zu verteidigen.

Das WEISSER RING Magazin hat die Brandenburger Polizei nach den Gründen dafür gefragt und weshalb trotz Warnungen im Vorfeld keine Beamten vor Ort waren. Die Anfrage blieb unbeantwortet. Gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung wies ein Polizeisprecher Kritik zurück. Er sagte, die bei der Veranstaltung eingesetzten Beamten seien während des Angriffs nicht am Tatort gewesen, weil sie im Umfeld des Festgeländes unter anderem „Fahrzeugbewegungen“ überprüft hätten Einige Tage nach dem Überfall hat die Polizei die Wohnräume eines mutmaßlichen Angreifers durchsucht.

Für Tom Kurz hat der Angriff eine lange Vorgeschichte. Er beschreibt gefestigte rechtsextreme Strukturen in der Region, mit alten Neonazis aus den 1990er-Jahren, einer stark verankerten AfD und aktionistischen Jugendorganisationen wie der vom III. Weg, einer neonazistischen Kleinstpartei. Nicht rechte Jugendliche würden in Bad Freienwalde zur Zielscheibe der jungen Rechtsextremen. Mitglieder des Bündnisses würden im Ort regelmäßig bepöbelt und bedroht.

Kurz betont, wie wichtig prominente Persönlichkeiten wären, die sich klar positionieren: „Denn die Neonazis sehen sich als ausführende Gewalt eines Volkswillens.“ Stattdessen gab Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) dem RBB nach dem brutalen Überfall ein verstörendes Interview. Der Täter habe zwar „nicht hauen dürfen“, so das Stadtoberhaupt, das Opfer „hätte ihn aber auch nicht festhalten dürfen“. Wie unter einem Brennglas zeigt der Fall die Enthemmung rechter Gewalt – und die Missstände im Umgang damit, wenn Verantwortliche eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben.

2024

haben politisch motivierte Straftaten laut der jährlichen Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht.

84.172

Delikte waren es insgesamt.

42%

als im Jahr zuvor.

42.788

der Delikte waren rechtsextremistisch motiviert.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.

„Rechtes Land“

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch ein Aufhören kommt für ihn nicht infrage, wie er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin erzählt.

Rekordniveau rechter Straftaten

Politisch motivierte Kriminalität ist im vergangenen Jahr so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten, die bereits in den vergangenen Jahren beunruhigende Rekorde erreicht haben, am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488. „Ein Beleg für die hohe und weiterhin zunehmende Gewaltbereitschaft“, erklärt ein BKA-Sprecher.

Noch dramatischer sind die Zahlen, die der Verband der auf rechte Gewalt spezialisierten Opferberatungsstellen (VBRG) erhoben hat. In zwölf von 16 Bundesländern kam es demnach zu 3.453 rechten, rassistischen und antisemitisch motivierten Angriffen mit 4.681 direkt Betroffenen – ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Ländervergleich liegt Berlin mit 9,99 Taten pro 100.000 Einwohner vorn, gefolgt von Sachsen-Anhalt (8,3) und Mecklenburg-Vorpommern (6,59). Bei den absoluten Zahlen steht ebenfalls Berlin mit 366 Angriffen vor Nordrhein-Westfalen mit 294 (1,63 pro 100.000 Einwohner) auf dem ersten Platz. Mehr als die Hälfte aller Taten seien rassistisch motiviert. Gleichwohl hätten die Angriffe auf „politische Gegner“ um zwei Drittel und queerfeindliche um 40 Prozent zugenommen.

2024

Magdeburg. Am Abend des Terroranschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wird ein Student auf dem Nachhauseweg von einer Männergruppe rassistisch beleidigt. „Ihr gehört hier nicht her“, rufen die Männer. Der Student wird mit dem Tod bedroht und geschlagen. Der Terroranschlag des Angreifers saudi-arabischer Herkunft löst in der Stadt eine Welle rassistischer Gewalt aus. So wird ein 13-Jähriger im Fahrstuhl seines Wohnhauses von einem Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt.

Im Gegensatz zum BKA erfassen die Opferberatungen auch Fälle von Nötigung und Bedrohung, was die höheren Fallzahlen teilweise erklärt. Der VBRG notierte 1.212 Bedrohungen/Nötigungen sowie 1.143 einfache und 681 gefährliche Körperverletzungen. Sowohl die Zahlen des VBRG als auch die des Bundeskriminalamtes spiegeln jedoch „nur einen Ausschnitt aus einer sehr bedrohlichen und gewaltvollen Realität für sehr viele Menschen in diesem Land“ wider, betont die Geschäftsführerin des Verbandes, Heike Kleffner. „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Man gehe nicht mehr auf Stadtfeste, verlasse Veranstaltungen früher und bewege sich in Angsträumen und nach Einbruch der Dunkelheit nur noch in Gruppen.

„Das Gewaltpotenzial ist stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern“,
sagt Heike Kleffner. Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, bezogen auf die Einwohnerzahl weiterhin vorn, aber der Westen holt auf. Täter, so Kleffner, griffen dabei auch zu Messern und Schlagwerkzeugen und schlügen auf ihre Opfer ein, selbst wenn diese schon am Boden lägen. Gelegenheitstäter schreckten auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche zu verletzen.

Zwar liegt der Osten, was rechte Angriffe betrifft, weiterhin vorn, aber der Westen holt auf

In Brandenburg wurde im Dezember ein Schüler auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe junger Rechter so schwer verletzt, dass er unter Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen litt. Diese Täter seien oft in einem Umfeld sozialisiert, in dem Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit mehrheitsfähig seien, sagt Kleffner. Sie nennt Gründe für die gesellschaftliche Klimaverschärfung: „Mit den Wahlerfolgen der AfD geht nicht nur eine Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus einher, sondern auch eine beunruhigende NS-Verherrlichung.“

Kleffner erinnert daran, dass der AfD-Politiker Björn Höcke für den Gebrauch einer SA-Parole verurteilt wurde. Aus diversen Strafverfahren sei bekannt, dass
rechte Täterinnen und Täter „ganz oft nationalsozialistische Propaganda, Hitler-Bilder und SS-Runen konsumieren, liken und teilen“. Man dürfe auch nicht unterschätzen, welche Wirkung ein migrationsfeindlicher gesellschaftlicher Diskurs habe. Eine Studie der Uni Bielefeld belegt zudem, dass Wählerschaft und Sympathisanten der AfD im Vergleich zu anderen Parteianhängern überdurchschnittlich oft Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele befürworten. „Die Wähler*innen radikalisieren die AfD, aber die Partei radikalisiert auch ihre Wählerinnen und Wähler“, so Kleffner.

12

Bundesländer hatten in diesem Jahr ein Rekord an registrierten Fällen bei der Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

3.400

Fälle wurden circa aufgenommen.

20%

als im Vorjahr.

Darüber hinaus greifen AfD-Politiker immer wieder selbst zu Gewalt. So wurde der Vorsitzende der AfD-Jugendorganisation in NRW, Felix Alexander Cassel, dafür verurteilt, am Rande eines „AfD-Bürgerdialogs“ in Köln einen Gegendemonstranten mit dem Pkw angefahren zu haben. In Berlin wurde der AfD-Bezirksverordnete Kai Borrmann für eine Beiß-Attacke gegen die schwarze Musikjournalistin Steph Karl verurteilt, die er zuvor rassistisch beleidigt hatte. Im November 2024 ließ die Bundesanwaltschaft drei AfD-Mitglieder festnehmen, die verdächtigt werden, der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Sächsische Separatisten“ angehört zu haben.

Ein BKA-Sprecher verweist darauf, dass rechte Straftaten nicht in jedem Fall tief verinnerlichte rechtsextreme Denkmuster voraussetzen. Nicht selten würden nur „Versatzstücke aus Ideologien“ übernommen: „Rechtsextreme Ideologien und gezielte Mobilisierung durch rechte Akteure schaffen und fördern jedoch Rahmenbedingungen, die an der Motivation zu solchen Straftaten andocken.“ Etwa, indem bestimmten Personengruppen eine Sündenbockfunktion zugeschrieben wird oder sie durch Täter-Opfer-Umkehr als bedrohlich markiert werden.

Immer stärker ins Visier rechter Straftäter geraten queere Menschen, etwa in Sachsen, beobachtet Michel Röhricht vom Bürgerrechtsverband Queere Vielfalt (LSVD): „Die gestiegene Bedrohung ist auf alle Fälle spürbar. Die Lage ist erheblich unsicherer geworden.“ Zwar gibt es auch in kleineren sächsischen Orten wie Döbeln oder Riesa CSD-Veranstaltungen, aber Ankunft und Rückfahrt seien gefährlich, weil Rechtsextremisten die Veranstaltungen systematisch anfeindeten. „Teilnehmende müssen in Gruppen anreisen“, sagt Röhricht. Immer wieder meldeten sich Personen, die berichten, sie seien in ihrem Alltag angegriffen worden. Oftmals scheuten sie sich aber, Straftaten anzuzeigen. Betroffene würden ausgelacht, beleidigt und ausgegrenzt. Auch Schulen seien häufig Tatorte. „Die meisten, die sich an uns wenden, sind voller Angst und fressen das in sich rein“, so Röhricht.

Das Leben der queeren Community werde durch eine feindliche Grundstimmung in der Gesellschaft stark eingeschränkt. Viele täten alles, um in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. „Die Sichtbarkeit nimmt ab“, so Röhricht. Zwar sei die Lage in ländlichen Regionen noch schwieriger, vor allem für queere migrantische Personen. Dort liege  ein „Mantel des Schweigens“ über Diskriminierung und Gewalt; Hilfsangebote gebe es oftmals nicht. Selbst Großstädte wie Chemnitz bieten Röhricht zufolge keinen Schutz, weil viele Treffpunkte aufgrund mangelnder Förderung weggebrochen seien. „Es gibt queere Menschen, die eine Serie von Angriffen und Beeinträchtigungen erlitten haben“, berichtet er. „Da gibt es ganz viel Hoffnungslosigkeit und Resignation.“

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.

Während sich Opfer zurückziehen, fühlen sich Täter ermutigt. Eine entscheidende Rolle im Radikalisierungsprozess spielen nach Erkenntnissen des BKA die sozialen Medien: mit einer ungefilterten Flut von Hetze, Desinformation und Propaganda. In den digitalen Hasskammern verbreiten Rechtsextremisten toxische Erzählungen über eine angebliche „Umvolkung“, „Gender-Wahn“, „Frühsexualisierung“, „Globalisten“ und „linksgrüne Ökofaschisten“. Menschen werden aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung als Hassobjekte angefeindet.

Ins Visier geraten alle, die nicht der homogenen Norm einer völkisch-deutschen Ideologie entsprechen. Die sozialen Medien bieten Rechtsextremisten und Rassisten dabei nicht nur eine Plattform für niedrigschwellige Kontaktaufnahme, Rekrutierung und Vernetzung, sondern werden auch als Tatort und Labor für politisch motivierte Straftaten genutzt. Hasskriminalität ist im vergangenen Jahr um 28 Prozent auf 21.773 Fälle angestiegen. Mehr als zwei Drittel aller Hassdelikte sind rechts motiviert.

2025

Cottbus. Eine Gruppe greift am 28. März das Hausprojekt „Zelle79“ in Cottbus (Brandenburg) an. Die Täter brüllen rechte Parolen und werfen mit Pflastersteinen. Wenige Stunden später attackieren vermummte Täter das Haus erneut mit Steinen. Im Mai informiert die Polizei über einen weiteren Angriff von fünf Personen mit Böllern und Leuchtfackeln. Dabei werden verfassungsfeindliche Parolen gerufen, Eingangstür und Fassade beschädigt.

Seit Mitte 2024 beobachten die Sicherheitsbehörden einen beunruhigenden Trend. In der Neonazi-Szene treten viele neue Jugendgruppen in Erscheinung, die „Jung und Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ heißen. Rechtsextreme Straftäter werden immer jünger. Nach dem Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke im vergangenen Jahr in Dresden wurden vier Minderjährige aus dem Umfeld der rechtsextremen „Elblandrevolte“ als Verdächtige ermittelt.

In einem anderen Fall verurteilte das Amtsgericht Tiergarten in Berlin kürzlich vier mutmaßliche Neonazis aus Sachsen-Anhalt, die im Ortsteil Lichterfelde zwei SPD-Wahlkämpfer brutal attackiert hatten. Die Täter, die auf dem Weg zu einer rechten Demo waren, hatten einen 50-Jährigen mit Springerstiefeln gegen den Kopf getreten. Der Vorsitzende Richter hatte keinen Zweifel an dem politischen Tatmotiv und verurteilte die jungen Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen bis zu zwei Jahren und acht Monaten. Ein Sprecher des BKA warnt angesichts solcher Taten vor der Gewaltbereitschaft der neuen Gruppierungen: Aufgrund permanenter neonazistischer Propaganda bestehe „die Gefahr, dass diese Gruppen weitere Anhänger rekrutieren und sich das Phänomen ausweitet“.

In der Nacht auf den 23. Oktober 2024 brennt in Altdöbern (Brandenburg) das ehemalige Schützenhaus nieder. Durch einen glücklichen Zufall bleibt die Betreiber- Familie des zugehörigen Kulturhauses, die im Gebäude nebenan schläft, unverletzt. Die Polizei teilt wenige Tage später mit, sie gehe nicht von Brandstiftung aus, sondern von einem technischen Defekt. Dies hält sich fortan hartnäckig in der Region und wird Anfang des Jahres korrigiert. Allerdings nicht auf Initiative der Behörden, sondern im Landtag. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der SPD taucht der Brand in Altdöbern überraschend als politisch motivierte Kriminalität von rechts auf, die sich gegen ein angeblich linkes Kulturobjekt richtete. „Links“ war der „Kultberg“ in Altdöbern nicht: Auf der offenen Bühne der Bar konnten alle, die wollten, spontan zur Gitarre greifen. Im Festsaal wurde auch Karneval gefeiert. Im Mai 2025 nimmt der Generalbundesanwalt (GBA) schließlich vier mutmaßliche Mitglieder der selbsternannten „Letzten Verteidigungswelle“ fest.

Der Vorwurf: Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung. Der jüngste der minderjährigen Beschuldigten soll erst 14 Jahre alt sein. Deren Ziel laut Ermittlern: durch Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Migranten und politische Gegner den Zusammenbruch des politischen Systems der Bundesrepublik herbeizuführen.

10.732

Straftaten wurden vom BKA im Bereich Hasspostings registriert. Laut BKA spielt der digitale Raum eine immer größere Rolle in der Politisch Motivierten Kriminalität.

34%

mehr als im Vorjahr. Die meisten Taten sind rechtsmotiviert.

4.760

Fälle wurden insgesamt registriert.

Die Bundesanwaltschaft wirft den Tatverdächtigen vor, einen Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Schmölln (Thüringen) verübt zu haben. Obwohl aus einer Feuerwerksbatterie Pyrotechnik entzündet wurde, kam es dort glücklicherweise nicht zur Katastrophe. Die Beschuldigten sollen während der Tat einschlägige Parolen an die Unterkunft gesprüht haben: „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“ und „NS-Gebiet“, dazu Hakenkreuze und Sieg-Runen. Der Generalbundesanwalt ist zudem davon überzeugt, dass zwei der Verdächtigen den Brand in Altdöbern gelegt haben. Einer von ihnen soll laut GBA ein führendes Mitglied der mutmaßlichen rechtsterroristischen Vereinigung gewesen sein.

Der Jugendliche habe die Tat in einem Video angekündigt, um andere Mitglieder zu ähnlichen Aktionen zu animieren. Bemerkenswert: Ein Terrorverdächtiger lebt mit seiner Familie selbst in Altdöbern. Der Fall schreckte das Land kurz auf, doch viele Medien stürzen sich allein auf das Alter der mutmaßlichen „Teenie-Terroristen“. Hintergrund, Folgen und Konsequenzen? Fehlanzeige.

Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen, schickte die Gemeinde der Familie eine Kündigung

In Altdöbern haben die Täter die Existenz der Betreiber-Familie zerstört. Zwar blieb die Kneipe bei dem Brandanschlag verschont, während das frühere Schützenhaus, das seit 100 Jahren als Mittelpunkt des Dorflebens genutzt wurde, bis auf die Grundmauern niederbrannte. Dennoch stehen die Brandopfer nach der Tat vor dem Ruin. Im Ort ist die Familie isoliert. Anstatt zu versuchen, den Geschädigten einen Neustart zu ermöglichen und die Kultureinrichtung zu erhalten, schickte die Amtsverwaltung der Gemeinde der Familie eine Kündigung. Obwohl das Feuer nur Teile des Areals zerstört hat, gibt es offenbar Pläne, alles abzureißen. Im Ort kursieren böse Gerüchte über die Gastronomen. Sie hätten ja schon in Berlin eine Kneipe in den Sand gesetzt und seien längst auf dem Absprung in eine andere Stadt. Es hat den Anschein, als wolle man die Opfer des mutmaßlichen Rechtsterrors loswerden.

Das WEISSER RING Magazin hat die Amtsverwaltung von Altdöbern nach den Gründen für die Kündigung und etwaige Abrisspläne gefragt. Die Anfrage blieb unbeantwortet.

Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Muster der Eskalation

Rechte Gewalt ist kein Zufall. Sie braucht einen Rahmen und einen Nährboden, der sie legitimiert. In den vergangenen Jahren haben sich Vorurteile wie ein Gift auch in gesellschaftlichen Milieus verbreitet, die zuvor aufgrund ihrer Bildung und ihres Einkommens als kaum anfällig galten. Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit oder die Entmenschlichung geflüchteter Menschen sind mittlerweile auch bei jenen anschlussfähig, die sich selbst in der gesellschaftlichen Mitte verorten. Dafür sprechen etwa die Ergebnisse der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der Autoritarismus-Studien der Universität Leipzig, die seit Jahren Anstiege der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit messen.

2025

Chemnitz. Am 28. Mai wird eine 56-Jährige in Chemnitz von einem Unbekannten bedrängt, rassistisch beleidigt und attackiert. Die Frau erleidet leichte Verletzungen. Nach Eingreifen einer Zeugin kann der Täter unerkannt flüchten.

In der Vergangenheit folgten die Wellen rechter Gewalt einem auffälligen Muster: In den 1990er-Jahren wurden Geflüchtete von Politik und Medien als „Schein-Asylanten“ dämonisiert, die das Land angeblich wie eine Naturkatastrophe fluteten. In der Folge brannten Asylbewerberheime. Die rassistische Eskalation führte von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bis Mölln und Solingen, von Pogromen bis zu mörderischen Terroranschlägen. In der sogenannten Flüchtlingskrise der Jahre 2015 wiederholten sich unheilvolle Muster einer politisch motivierten Gewaltspirale. Infolge der massiven Mobilisierung der extremen Rechten gegen Geflüchtete, die erneut von rassistischen Diskursen begleitet wurde, stieg die Zahl der Angriffe auf Asylsuchende und deren Unterkünfte drastisch an.

Laut Bundeskriminalamt verfünffachte sie sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr. Öffentliche Entmenschlichung sowie rechtsextreme und rassistische Mobilisierung führen zu rechter Gewalt. Militante Überzeugungstäter lassen radikalen Worten lebensgefährliche Taten folgen. Nach dem Motto: Alle reden nur. Wir handeln.

„Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben entsprechende Gruppierungen im Blick und begegnen der Szene mit hohem Kontrolldruck“, sagt ein BKA-Sprecher. Ein gemeinsamer Maßnahmenplan mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz soll potenzielle Täter schneller erkennen, Netzwerke besser aufklären und Hasskriminalität im Internet effektiver bekämpfen. Dazu sei beim Polizeilichen Staatsschutz die Fachgruppe Internet eingerichtet worden, so der Sprecher.

3.061

rechts motivierte Fälle erfasste die Polizei, bei antisemitischen Straftaten.

1.940

Fälle waren ausländisch motiviert.

Gleichwohl kritisieren die Beratungsgruppen des VBRG seit Jahren: Politische Tatmotive würden bei Ermittlungen weiterhin häufig ignoriert, Betroffene allzu oft nicht ernst genommen oder gar wie Täter behandelt. Strafverfahren wie die gegen jene Neonazis, die bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 gezielt migrantische Menschen und politische Gegner angriffen und verletzt
haben, würden von der Justiz jahrelang verschleppt, bis Angeklagte untertauchen oder aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mit milden Strafen davonkommen. So begann in Chemnitz erst sechs Jahre nach der Tat der erste große Prozess wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Nur drei von ursprünglich neun Angeklagten erhielten überhaupt eine Geldbuße, woraufhin das Verfahren gegen sie eingestellt wurde. Ein weiterer Prozess begann erst im Mai 2025, sieben Jahre nach den Angriffen. Drei Männer wurden vom Vorwurf des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Das Verfahren gegen einen vierten Angeklagten wurde eingestellt.

Schluss mit Sonntagsreden

Seit Jahren wiederholen Innenminister wie Nancy Faeser (SPD) und nun auch Alexander Dobrindt (CSU), Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie. Doch in der Praxis werden Opfer alleingelassen und Täter verschont. Die Gefahr von rechts wird immer noch unterschätzt. Hinzu kommt, dass die Prävention durch zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine von Politik und Medien infrage gestellt und sogar delegitimiert wird. Anstatt diese Vereine und Bündnisse dauerhaft durch ein Demokratiefördergesetz abzusichern, wird die AfD Erzählung von einem angeblich schädlichen, linken Komplex von Nichtregierungsorganisationen (NGO) befeuert. „Die gefährliche Macht der angeblichen NGOs“, kommentierte etwa die Tageszeitung „Die Welt“. CDU/CSU haben im Bundestag mit 551 teils absurden Fragen zu NGOs Misstrauen gesät. 1.700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Kleine Anfrage der Union in einem offenen Brief scharf kritisiert und die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie betont.

 

Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht

Regelmäßig stehen Beratungsstellen für Opfer rechter oder antisemitischer Gewalt sowie mobile Beratungsteams wegen ungeklärter Finanzierung vor dem Aus. Die rechte Gefahr wächst, die Mittel dagegen nicht. Im Gegenteil sollen Fördermittel für zivilgesellschaftliche Projekte in Hotspots wie Sachsen sogar massiv gekürzt werden, so die Pläne der CDU/SPD-Minderheitsregierung.

 

Nach dem mörderischen NSU-Terror haben Untersuchungsausschüsse wichtige Reformen angemahnt, von denen einige dann auch umgesetzt wurden. So wurde zum Beispiel die Strafzumessung in der Strafprozessordnung so geändert, dass etwa rassistische Tatmotive strafverschärfend berücksichtigt werden können. Doch mehr als ein Jahrzehnt nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios gibt es keinen Grund zur Entwarnung. „Wir sehen einen föderalen Flickenteppich. Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, sagt Heike Kleffner vom VBRG. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. „Da werden Ermittlungsverfahren zügig zu Ende geführt, angeklagt und dann
auch vor Gericht terminiert.“ Auch die Berliner Justiz handelt bei den aktuellen Angriffen junger Neonazi-Gruppen entschlossen und stellt, wie in dem Fall des Angriffs auf die SPD-Wahlhelfer in Lichtenberg, vor Gericht ausdrücklich rechtsextreme Tatmotive fest.

„Andererseits ist in Sachsen seit dem NSU-Komplex gar nichts passiert“, kritisiert Kleffner. So würden Strafverfahren wie jene in Chemnitz weiterhin verschleppt. Auch in NRW seien „jahrelang keine Konsequenzen aus den Versäumnissen und Fehlern im NSU-Komplex gezogen worden“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor Jahren bei einer Gedenkveranstaltung mit den Angehörigen des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau von einer „Bringschuld des Staates“ gegenüber den Angehörigen der Opfer rechter Gewalt gesprochen. Dieses Versprechen ist nicht eingelöst. Der VBRG fordert angesichts der dramatischen Lage einen nationalen Aktionsplan
zur effektiveren Bekämpfung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Wie notwendig das ist, zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen.

Im März 2024 stirbt bei einem verheerenden Brandanschlag in einem Solinger Mehrfamilienhaus eine vierköpfige Familie: die 28-jährige Mutter, der 29-jährige Vater, die fast dreijährige Tochter und ein fünf Monate alter Säugling. Die Opfer, die einer türkischen Minderheit in Bulgarien angehören, waren erst seit einigen Monaten in Deutschland. Insgesamt werden bei dem Anschlag 21 Menschen teils schwer verletzt, darunter ein junges Paar, das mit seinem Baby in Panik aus dem dritten Stock springt, um sich zu retten. Die Familie überlebt mit schweren Brand- und Bruchverletzungen. Vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Wuppertal hat der zur Tatzeit 39-jährige Angeklagte Daniel S. von seinen Anwälten ein Geständnis verlesen lassen. Die Täterschaft scheint also geklärt. Aber was war das Motiv? Schnell teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit, es gebe keine Hinweise auf ein rechtsextremes Tatmotiv. Die Behörden gehen von persönlichen Beweggründen aus.

2025

Chemnitz. Ebenfalls in Chemnitz skandieren Jugendliche und junge Erwachsene am 29. Mai rechte Parolen und zeigen den „Hitlergruß“. Ein junger Mann feuert einen Schuss aus einer Schreckschusspistole ab.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die in dem Mordprozess als Nebenklagevertreterin auftritt, erhebt schwere Vorwürfe. Ihr zufolge wurden eindeutige Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv von den Ermittlern weder gesichtet noch gesichert. So sei erst ein Jahr nach dem Brand bekannt geworden, dass bei der Durchsuchung des Wohnhauses des Angeklagten eindeutiges politisches Material gefunden wurde, darunter Adolf Hitlers Schrift „Mein Kampf“ und Tonaufnahmen von Hitler-Reden. Die umfangreiche Nazi-Propaganda landete nicht in der Ermittlungsakte. Bei der Hausdurchsuchung hatte die Lebensgefährtin des Beschuldigten behauptet, das Material gehöre dessen Vater. Damit gaben sich die Ermittler offenbar zufrieden. Im Prozess erklärte der Richter, dass plötzlich ein Aktenvermerk der Polizei aufgetaucht sei, wonach der Brandanschlag kurz nach der Tat sehr wohl als rechts motivierte Straftat eingestuft worden war. Die Einstufung sei jedoch nachträglich von einem Beamten gestrichen worden.

Die Nebenklage erwirkte vor Gericht umfangreiche Nachermittlungen, auf ihr Drängen wurden zahlreiche Datenträger ausgewertet. Auf einer Festplatte waren 166 Dateien, „die eindeutig antisemitisch, rassistisch und menschenverachtend sind“, so die Anwältin. Den Ermittlern zufolge gehört die Festplatte der Lebensgefährtin. Başay-Yıldız kritisiert: „Es gab keine Ermittlungen zum Umfeld des Täters.“ Auch belastendes Material aus der Garage des Angeklagten wurde nicht ausgewertet. „An der Wand befand sich ein Gedicht über einen Asylsuchenden, welches den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt“, sagt Başay-Yıldız. Das sei jedoch erst im Prozess durch Vergrößerung eines Fotos entdeckt worden.

Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt

Vor über 30 Jahren, im Mai 1993, wurden bei einem rechten Brandanschlag in Solingen fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen ermordet. Der Anschlag erschütterte das Land. Die Ermittlungen in dem aktuellen Fall erwecken den Anschein, als solle Solingen nicht erneut zum Synonym für einen mörderischen rechtsradikalen Anschlag werden. Im August wurde der Angeklagte wegen vierfachen Mordes und vielfachen Mordversuchs zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Darüber hinaus stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest, jedoch kein rassistisches Motiv, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft. Diese begründete ihre Sicht unter anderem damit, dass der Täter keinen Kontakt zu rechten Gruppen gehabt habe.

Der Fall ist alarmierend. Rechte Gewalt ist auf dem Vormarsch – und wird als Gefahr von Medien, Sicherheitsbehörden und Politik nach wie vor unterschätzt – trotz NSU-Komplex, immer neuen Fällen von Rechtsterrorismus und Rekordzahlen rechter Straf- und Gewalttaten. Alles steht und fällt mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme.

Transparenzhinweis:
Auch der WEISSE RING ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO). Der Verein erhält keine staatlichen Mittel. Der WEISSE RING finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen.

„Wachsende Polarisierung und Radikalisierung“

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

„Wachsende Polarisierung und Radikalisierung“

Politisch motivierte Straftaten nehmen zu. Die größte Bedrohung kommt von rechts.

Politisch Motivierte Kriminalität

„Solingen trauert …“, Gedenken der Opfer des Attentats von Solingen in der Nähe des Tatortes Fronhof am 01.09.2024. Beim „Fest der Vielfalt“ zum 650. Geburtstag der Stadt Solingen hatte ein Attentäter am Freitag vergangener Woche mehrere Personen mit einem Messer attackiert. Ihm wird unter anderem dreifacher Mord und die Mitgliedschaft in der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) vorgeworfen. Foto: picture alliance / epd-bild | Guido Schiefer

Im Jahr 2024 haben die Delikte bei der politisch motivierten Kriminalität (PMK) laut Bundeskriminalamt (BKA) mit 84.172 – plus 40,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr – den höchsten Stand seit der Erfassung erreicht. Innerhalb von zehn Jahren haben sich die Zahlen mehr als verdoppelt. Gut die Hälfte aller politischen Straftaten sind rechtsradikal motiviert: 42.788. Hier gab es mit 47,8 Prozent den größten Zuwachs. Linksextreme Straftaten legten um 28,2 Prozent auf 9.971 zu. Um 42 Prozent stiegen die Taten mit ausländischer Ideologie an, auf 7.343, religiös motivierte Straftaten wuchsen um 28,7 Prozent auf 1.877.

Rechtsextremismus bleibt damit die größte Gefahr für die innere Sicherheit. Auch die meisten politisch motivierten Gewaltstraftaten wurden von rechten Tätern begangen: 1.488 – plus 17,2 Prozent. Linke Gewaltstraftaten gingen um 16,8 Prozent auf 762 zurück. Den stärksten Zuwachs verzeichneten Gewaltdelikte mit ausländischer Ideologie, die um 98,6 Prozent auf 975 Fälle anstiegen. Das BKA erkennt in den Zuwachsraten eine „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren.

Bei den Hassstraftaten sind mehr als zwei Drittel rechtsmotiviert. Verantwortlich ist dafür vor allem der erneute Anstieg fremdenfeindlicher Straftaten in dem Bereich, auf 19.481 (plus 29,1 Prozent). Mehr als zwei Drittel davon, nämlich 14.579 Taten (plus 25,7 Prozent), waren rechtsmotiviert, gefolgt von 2.451 Fällen mit ausländischer Ideologie (plus 53,5 Prozent). Zudem gab es 175 linke Hassdelikte (plus 127,3 Prozent).

Bei Hasskriminalität werden Opfer aufgrund von Vorurteilen etwa gegen Nationalität, Religion, Beeinträchtigung oder geschlechtliche Identität angegriffen. Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der PMK geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben).

Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal. Bei den Zahlen zu den Betroffenen zeigt sich ebenfalls eine steigende Tendenz. Alarmierend ist auch die Entwicklung bei den jungen politisch motivierten Tatverdächtigen: Zählte das Bundeskriminalamt 2023 noch 7.693 mutmaßliche Täter unter 21 Jahren, waren es im vergangenen Jahr 11.282.

Im vergangenen Jahr registrierte das BKA elf versuchte und drei vollendete politisch motivierte Tötungsdelikte. Bei Letzteren wurden zwei im Bereich religiöse Ideologie, einer im Bereich „sonstige Zuordnung“ gemeldet. Dieser erfasst Delikte, die nicht eindeutig in eine der vier Hauptkategorien fallen. Von den versuchten Tötungen waren sechs rechtsmotiviert, zwei wurden einer ausländischen Ideologie und drei einer religiösen zugerechnet.

Für die Sicherheitsbehörden zählen Straftaten der letztgenannten Kategorie zu den fortwährenden großen Herausforderungen. Die Zahl der Delikte mit Terrorismusqualität ist hier von 94 im Jahr 2023 auf 105 im Jahr 2024 gestiegen. Die Steigerung bei der Zahl aller Taten aufgrund von religiöser Ideologie hänge in erster Linie mit dem Nahostkonflikt zusammen. Das BKA spricht von einer „hohen Gefährdungslage“, die vom islamistischen Terrorismus und insbesondere von allein handelnden Personen und autonomen Gruppen ausgehe. Ein Grund sei die „zunehmende Online-Radikalisierung“.

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Rechtsextreme Straftaten sind am stärksten gestiegen, doch auch in anderen Bereichen der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die Zahl der Delikte größer geworden. Im Interview mit dem WEISSER RING Magazin spricht BKA-Referatsleiterin Heike Pooth über Ursachen, Folgen und Gegenmittel.

Politisch Motivierte Gewalt

Polizeibeamte der Spurensicherung stehen an einem Gleisabschnitt in Düsseldorf, dort wurde neben der Bahnstrecke Feuer in einem Kabeltunnel gelegt, 6 Kabel in Mitleidenschaft gezogen, diese müssen auf einer Länge von 60 Metern ausgetauscht werden. Die Tat soll laut FAZ einen linksextremistischen Hintergrund haben. Foto: picture alliance/dpa | Christoph Reichwein

Politisch motivierte Straftaten haben im Jahr 2024 deutlich zugenommen – auch im Phänomenbereich „ausländische Ideologie“: um 42 Prozent auf 7.343 Fälle. Wie bewerten Sie die Entwicklung und worin sehen Sie die Ursachen?

Dieser Trend setzt sich seit Jahren fort. Bereits 2023 hatten wir einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr registriert, um 33 Prozent auf 5.170 Fälle. Konflikte und Ereignisse im Ausland wirken sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen
in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren sind der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der fortwährend intensivierte Nahostkonflikt. In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts haben sie stark zugenommen.

Mit Sorge betrachten wir, dass sich die Gewaltdelikte im Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) „ausländische Ideologie“ von 2023 auf 2024 nahezu verdoppelt haben, von 491 auf 975. Darunter waren 467 Körperverletzungen, 361 Widerstandsdelikte und 109 Landfriedensbrüche. Auch hier geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung im Nahen Osten. Schwerpunkt der Straftaten ist Berlin, wo zahlreiche pro-palästinensische Demonstrationen stattfinden, die teilweise gewalttätig verlaufen. Besonders betroffen sind jüdische und israelische Einrichtungen, überwiegend von Sachbeschädigung, aber auch Beleidigungen und Bedrohungen von jüdischen Personen sind zu konstatieren.

Weshalb spielen Demonstrationen eine so zentrale Rolle?

Bei ihnen zeigt sich ein hoher Grad an Emotionalisierung, wobei zum Teil antisemitische Inhalte einfließen. Das kann dazu führen, dass Veranstaltungen eskalieren. Wichtig ist die konsequente Verfolgung der Straftaten im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen.

Wie versucht das BKA, der Gefahr zu begegnen, und wie fällt Ihre Prognose aus?

Entspannung ist nicht in Sicht, gerade in Bezug auf den Nahostkonflikt, weil sich dort keine Lösung abzeichnet. Wir müssen mit einer weiteren Polarisierung und weiteren Straftaten rechnen, was zu Unsicherheit in der Bevölkerung führen kann. Die Konflikte im Themenbereich PKK/Kurden/Türkei und die damit verbundenen Delikte werden uns ebenfalls weiterhin beschäftigen. Das BKA ergreift deshalb verschiedene Maßnahmen: So führen wir einen intensiven Informationsaustausch mit den nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden durch, bewerten permanent die Gefährdungslage, insbesondere auch für jüdische und israelische Einrichtungen und betreiben ein umfangreiches Internetmonitoring. Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen. Hierzu kooperieren wir mit den Nachrichtendiensten.

Ein häufiger Kritikpunkt ist der mangelnde Informationsaustausch zwischen Behörden, der auch mit den Ländergrenzen zusammenhängt.

Das kann ein Problem sein. National haben wir einen etablierten Informationsaustausch im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum, in dem rund 40 Bundes- und Länderbehörden vertreten sind. Auch im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für Politisch Motivierte Kriminalität melden die Bundesländer entsprechende Straftaten an das BKA. Auch der internationale Informationsaustausch ist eine wichtige Säule bei der Bekämpfung Politisch Motivierter Kriminalität, wobei dieser mit einigen Ländern schwierig ist. Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung würden die Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität erleichtern.

„Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen.“

BKA-Referatsleiterin Heike Pooth
Die Straftaten im Phänomenbereich der Politisch Motivierten Kriminalität „links“ sind insgesamt ebenfalls deutlich gestiegen, um gut 28 Prozent auf 9.971 Delikte im Jahr 2024, der Anteil der Gewaltdelikte ging gleichzeitig auf 762 Delikte zurück. Was sind die Gründe dafür?

Hauptgrund für den Anstieg der Straftaten im Phänomenbereich PMK „links“ war das Thema Wahlen. 2024 war ein Superwahljahr mit der Europawahl, drei Landtags- und mehreren Kommunalwahlen. Auch die erwarteten und dann tatsächlichen Wahlerfolge der AfD haben die linke Szene zusätzlich mobilisiert. Insgesamt waren Sachbeschädigungen, insbesondere an Wahlplakaten, und Beleidigungen die herausragenden Straftaten. Erfreulich ist allerdings, dass die Zahl der Gewaltdelikte der PMK „links“ gesunken sind um 16,81 Prozent auf 762 Delikte im Jahr 2024.

Der Rückgang der Gewaltdelikte ist vorrangig auf den Rückgang der gefährlichen Eingriffe in den Straßen-, Bahn- und Luftverkehr zurückzuführen. Der Phänomenbereich PMK „links“ ist stark geprägt von Ereignissen und Kampagnen, die viele Personen mobilisieren können, auch kurzfristig. Im Jahr 2023 wurde zum Beispiel Lützerath in Nordrhein-Westfalen aus Protest gegen die Erweiterung des Tagebaus besetzt und schließlich geräumt. Darüber hinaus gab es im Jahr 2023 eine Vielzahl von Blockadeaktionen der Letzten Generation sowie das Luftablassen der Tyre Extinguisher.

Diese Kampagnen haben sich in 2024 nicht fortgesetzt, sodass auch entsprechende Gewaltdelikte rückläufig waren. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass erfolgreiche Ermittlungsverfahren, Festnahmen und Verurteilungen von zentralen Protagonisten der linken Szene Wirkung gezeigt haben, zum Beispiel die Antifa-Ost-Verfahren.

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Opferberatungsstellen schlagen Alarm.

Wie schätzen Sie die Gefahr durch Linksextreme grundsätzlich ein? Der Großteil der Gewaltdelikte bei der Politisch Motivierten Kriminalität kommt von rechts.

Wir betrachten die linksmotivierte politische Kriminalität mit Sorge, insbesondere auch weil dort einzelne schwere Gewaltdelikte und Straftaten mit hohen Schadenssummen verübt werden. Besorgniserregend sind vor allem klandestin agierende Kleingruppen, die mitunter höchst professionell, organisiert und „persönlich“ agieren, also gezielt Opfer aussuchen und teils schwer verletzen und nach den Taten untertauchen. Wir setzen bei der Verfolgung auf eine enge Zusammenarbeit mit den Ländern. Linksextremismus wird auch künftig eine Gefahr sein. Darauf deuten etwa Angriffe der Gruppe „Angry Birds“ auf das Bahnnetz hin. Auch das Thema „Antifaschismus“ und die aktive Bekämpfung von Personen des rechten Spektrums wird weiterhin ein zentrales Thema bleiben – gleiches gilt für die Themen „Antikapitalismus“, wie die Angriffe auf Wirtschaftsunternehmen, wie zum Beispiel Tesla, zeigen. Eine hohe Bedeutung haben weiterhin auch die Angriffe auf Kritische Infrastruktur wie etwa Bahnanlagen oder Bauprojekte mit zum Teil enormen Sachschäden.

Zur Person und Hintergrund

Heike Pooth ist Referatsleiterin im Polizeilichen Staatsschutz des Bundeskriminalamtes (BKA) in Meckenheim. Aufgabe der Abteilung ist die Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), sie befasst sich mit der PMK „rechts“, „links“ und „ausländische Ideologie“. Dem letzten Bereich werden laut einer BKA-Definition Straftaten zugerechnet, wenn es bei den Umständen und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine aus dem Ausland stammende, nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tat war, vor allem, wenn sie darauf abzielt, „Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland zu beeinflussen“. Bei der Kategorie religiöse Ideologie hingegen müssen Hinweise darauf vorliegen, dass diese Ideologie wesentlich für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung instrumentalisiert wurde, etwa bei Verbrechen von Terrororganisationen wie Al-Quaida oder dem sogenannten Islamischen Staat. Die Abgrenzung zur ausländischen Ideologie ist teils schwierig. Linksextremistische Taten liegen laut BKA zum Beispiel dann vor, wenn „Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus“ ganz oder teilweise Ursache waren, wobei das Delikt nicht das Ziel haben muss, die Freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik oder Teile davon abzuschaffen.

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Erstellt am: Freitag, 5. September 2025 von Selina

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren. Mit seinem Projekt „Rechtes Land“ möchte er den Opfern ein Denkmal setzen.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch Aufhören kommt für ihn nicht infrage.

Wieso machen Sie Fotos von Tatorten rechter Gewalt?

Nach den rechten Attentaten auf Walter Lübcke, in Halle 2019 und in Hanau 2020 machte sich ein Störgefühl bei mir breit. In Politik und Medien war meist von „Einzeltätern“ die Rede, von rechtem Terror jedoch kaum. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schnell bei Taten aus einem anderen politischen Spektrum von „linkem Terror“ gesprochen wird. Daraus entstand die Frage: Hat Deutschland wirklich ein größeres Problem mit linker als mit rechter Gewalt?

Meine Recherchen führten mich zur Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und der vom „Tagesspiegel“ und zu den offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Das Ergebnis: Seit der Wiedervereinigung forderte rechte Gewalt deutlich mehr Todesopfer als linke.

Besonders betroffen machte mich, dass zwei dieser Tatorte Orte waren, die ich persönlich kannte – einer lag an meinem täglichen Schulweg in einer Provinz in Niederbayern, ein anderer befindet sich in meiner heutigen Heimat Hannover. Ohne es zu wissen, habe ich an dem Ort in Hannover Zeit verbracht und Bier mit Freunden getrunken, wo ein Mensch durch rechte Gewalt ermordet wurde. Das brachte mich zu dem Entschluss, alle Tatorte zu fotografieren – als Mahnmal für uns und Denkmal für die Betroffenen. Es gibt laut der Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer, dazu kommen 17 Verdachtsfälle.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.

Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass rechte Gewalt nicht alleinig das Problem sei, sondern auch linke oder religiöse. Was denken Sie darüber?

Ich finde, wir müssen die Gesellschaft als Ganzes betrachten, und da darf politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeter Extremismus nicht ausgeklammert werden. Wenn man aber die Zahlen und die vom Verfassungsschutz erhobenen Statistiken betrachtet, dann wird relativ schnell klar, wo das Hauptproblem liegt. Ich persönlich habe ein Problem damit, wie die Politik und Medien über Themen wie politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeten Extremismus im Gegensatz zu politisch rechtsmotivierter Kriminalität berichten.

Schwarz-weiß Foto von dem Fotografen Julius Schien. Er thematisiert rechte Gewalt in seiner Arbeit.

Der Fotograf Julius Schien arbeitet an eigenen Projekten und als Fotojournalist für verschiedene Medien. Foto: Privat

Seit Sie angefangen haben, an Ihrem Projekt „Rechtes Land“ zu arbeiten, sind vier Jahre vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert. Die AfD hat eine wachsende Wählerschaft, der Verfassungsschutz sieht die Partei als gesichert rechtsextrem an, und auch die politisch rechtsmotivierten Delikte sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Wie geht es Ihnen mit alldem?

Ich beobachte es mit Sorge. Ich finde es krass, wie sich der Diskurs verschoben hat. Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben. Es werden rechte Aussagen getätigt, die fast schon normal erscheinen. Das muss ernst genommen werden, aber wir dürfen uns dadurch nicht unterkriegen lassen. Ich würde mir mehr Haltung wünschen, dass rechte Aussagen nicht in den Medien reproduziert werden, dass nicht jede rechte Parole abgedruckt wird. Ich mache daher auch das Projekt weiter und hoffe, in zwei Jahren alle Tatorte einmal fotografiert zu haben.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Die vergessenen Opfer

Seit dem Anschlag in Magdeburg werden migrantische Menschen oft Opfer von Rassismus, aufgrund der Herkunft des Täters.

Welche Geschichte steht hinter Ihrem nächsten geplanten Tatort?

Ich bin gerade in Brandenburg und habe einen Ort in Neuruppin fotografiert. Am 1. Juli 1992 haben sich drei rechtsextreme Skinheads zum „Penner klatschen“ verabredet. Im Rosengarten trafen die Täter auf Emil Wendland, der dort auf einer Parkbank schlief. Wendland wurde von den Rechtsextremen getreten, geschlagen und letzten Endes erstochen. Und so stehe ich jetzt in Brandenburg und werde gleich auf meine Karte schauen, wo ich als Nächstes hinfahre.

Fall Emil Wendland

Emil Wendland wurde am 1. Juli 1992 in Neuruppin erstochen. Drei Skinheads verabredeten sich zum „Penner klatschen“ und stießen im Neuruppiner Rosengarten auf den 50-Jährigen, der dort alkoholisiert auf einer Parkbank schlief. Dort malträtieren sie ihr Opfer mit Schlägen und Tritten. Als sich die Täter von Wendland entfernen, kehrt einer von ihnen zu dem schwer verletzten Opfer zurück und sticht sieben Mal mit einem Messer in den Oberkörper des wehrlosen Mannes. Das Gericht stellt fest, der Haupttäter habe sein Opfer für „einen Menschen zweiter Klasse gehalten“. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Auch hier wird der „sozialdarwinistische Hintergrund“ der Tat vom Gericht erwähnt: „…faßte man spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluß, in der Nacht ‚Assis aufzuklatschen‘; gemeint war damit das Zusammenschlagen von Obdachlosen oder anderen Personen“, die man als missliebig oder verachtenswert betrachtet habe.

Geflüchtet & traumatisiert

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Selina

Geflüchtet & traumatisiert

Nach der tödlichen Messerattacke eines psychisch kranken Geflüchteten in Aschaffenburg flammt erneut die Debatte über psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden auf. Sind traumatisierte Geflüchtete tatsächlich gefährlich? Und wie gut ist ihre Versorgung? Das WEISSER RING Magazin geht diesen Fragen auf den Grund.

Ein migrantischer Junge schaut in ein zerbrochenes Glas.

Seit ein psychisch kranker Asylbewerber am 22. Januar 2025 in Aschaffenburg zwei Menschen mit einem Messer tötete, gibt es in Deutschland wieder eine öffentliche Diskussion über mögliche Gefahren durch traumatisierte Geflüchtete – so wie auch schon nach der Gewalttat von Würzburg im Jahr 2021.

Sind Menschen mit Fluchterfahrung tatsächlich häufiger psychisch schwer belastet als andere? Macht sie das gefährlicher? Wie steht es um die medizinische Versorgung von Geflüchteten? Das WEISSER RING Magazin hat sich in Studien, Statistiken und bei Experten auf Antwortsuche begeben.

Jung, geflüchtet und psychisch krank

87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Das ergab 2019 eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Forschungszentrums des BAMF und des Sozioökonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Eine Auswertung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health aus dem Jahr 2020 zeigt: Rund 30 Prozent der Geflüchteten weltweit haben eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Untersuchung beruht auf Studien aus 15 Ländern, darunter auch Deutschland.

"Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind, aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“

Thomas Hillecke

Zum Vergleich: In der deutschen Bevölkerung liegt der Wert bei 1,5 bis zwei Prozent laut dem Robert Koch-Institut. Geflüchtete in Deutschland haben damit ein 15- bis 20-fach höheres Risiko, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, als Menschen aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung.

Soweit die Zahlen. Aber macht ein höheres Risiko einer Belastungsstörung einen Menschen auch gewaltbereiter?

Thomas Hillecke ist wissenschaftlicher Leiter bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. und Professor für klinische Psychologie. Er verweist im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS auf eine falsche Wahrnehmung: „Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind – aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“ Und so sei es auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte.

„Gewalttätigkeit hängt nicht von Flucht ab“, stellt Hillecke klar. Er hat im Rahmen seiner Arbeit viel mit Geflüchteten zu tun, die eine psychische Erkrankung aufgrund von traumatisierenden Erlebnissen entwickelt hätten. „Faktoren wie jung und männlich spielen bei der Gewaltbereitschaft eine Rolle“, sagt der Psychologe.

Viele Geflüchtete seien minderjährig und männlich. Dazu kämen Rassismus-Erfahrungen, die viele Geflüchtete erleiden. „Es
besteht dadurch die Gefahr der Ausgrenzung sowie der Verbitterung. Das Realempfinden ist, nirgendwo anzukommen, man ist einsam und sieht keinen Weg des Weiterkommens im Leben“, sagt er. Dies begünstige in seltenen Fällen eine Radikalisierung oder eine psychische Erkrankung. Das mache Geflüchtete aber nicht zu „Gefährdern“. Der Psychologe erklärt, dass sie selbst häufiger Opfer von Gewalt würden als zu Tätern. Ein Umstand, den die Psychologin Anikó Zeisler im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS ebenso erwähnt. „Studien zeigen anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass 99,4 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer*innen nicht wegen Gewaltstraftaten registriert sind“, sagt Zeisler. Sie arbeitet bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (Baff).

Eine Frage der Prävention

Wenn aber Geflüchtete überdurchschnittlich häufig psychische Belastungen aufweisen – wie steht es dann um ihre medizinische Versorgung? Wäre das nicht Opferschutz, ja Prävention, wenn sie ausreichende Hilfsangebote und Behandlungen bekämen? Ein wichtiger Faktor, der in der Debatte oft übersehen werde, sagt Zeisler.

Studien zeigen, dass eine gut abgestimmte psychiatrische Versorgung Eskalationen bei Fremdgefährdung vorbeugen kann – insbesondere, wenn individuelle Risikofaktoren frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Geflüchtete sind oft Belastungen ausgesetzt, die ihre seelische Gesundheit langfristig verschlechtern können.

Allein die Lebensumstände in vielen Unterkünften sind prekär. Sieben Doppelstockbetten, dicht an dicht, ein Leben auf wenigen Quadratmetern, kaum Lärmschutz, Privatsphäre und soziale Betreuung, in einer Art Zeltdorf mit insgesamt etwa 7000 Plätzen und Konflikten, Übergriffen gegen Frauen und Nervenzusammenbrüchen: Über das Berliner „Ankunftszentrum Tegel“ gab es schon viele negative Berichte, wobei das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Kritik zurückwies. Ähnlich wie die verantwortlichen Behörden in anderen Orten. Doch die Missstände und Folgen sind offensichtlich. Forscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nannten etwa die beengten Wohnverhältnisse, über Monate, teils Jahre hinweg, sowie die schwierige Lebenssituation, etwa aufgrund des unsicheren Aufenthalts, als Gründe für eine schlechte psychische Gesundheit und Häufung von Gewaltdelikten in manchen Gemeinschaftsunterkünften.

Ein migrantischer Junge schaut in einen zerbrochenen Spiegel.

Vor allem junge Männer flüchten aus ihrem Heimatland vor Krieg und Gewalt nach Deutschland. Hier möchten sie ein neues Leben aufbauen und ihre Familie nachholen. Viele von ihnen werden Opfer von Rassismus. Diese und weitere Faktoren können psychische Erkrankungen fördern.

Durch den jetzigen Versorgungsstand würden Betroffene ständig durch das Raster fallen. Zeisler hat in der Vergangenheit als Psychologin in den zuständigen psychosozialen Zentren (PSZ) gearbeitet. Sie selbst habe häufig Folgendes erlebt: „Wir haben den Notarzt gerufen und die Klienten ins Krankenhaus gebracht – sie wurden gleich wieder entlassen.“

Für die Behandlung mit Medikamenten sind die Zentren auf psychiatrische Krankenhäuser und Fachärzte angewiesen. Da die Kosten aber nur begrenzt über das Asylbewerberleistungsgesetz abgerechnet werden können, haben Geflüchtete oft keinen Zugang zu dieser notwendigen Versorgung.

Ein Fakten-Check zur Versorgung

Um die Versorgung genauer zu verstehen, müssen Gesetze und Zahlen betrachtet werden: Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt nach Paragraf 4 und 6, wer Anspruch auf eine psychologische Versorgung hat. „Laut dem Gesetz dürfen in den ersten 36 Monaten nur Notfälle behandelt werden“, sagt Zeisler. Dazu komme noch, dass die Kostenübernahme von Sprachmittlern nicht geregelt sei.

Die psychosozialen Zentren würden versuchen, den Bedarf an Begleitung und Versorgung durch psychotherapeutische Angebote, psychosoziale Beratungen sowie Gruppenangebote zu decken. Die Versorgung bleibe trotz allem unzureichend. Gründe seien das überlastete Gesundheitssystem, die Hürden beim Zugang zur Regelversorgung und das Asylbewerberleistungsgesetz.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern.“

Anikó Zeisler

Zeisler gibt an, dass die Baff in den psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner 2022 nur 3,1 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs decken konnten. Die Studie „Psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden in Deutschland – Versorgungslücke und Versorgungsbarrieren“ von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat 2020 ergeben, dass 59 Prozent der insgesamt 214 untersuchten Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften Symptome einer psychischen Erkrankung hatten. Doch in den Abrechnungsdaten der Sozialbehörden fand sich nur ein Anteil von 4,9 Prozent, der tatsächlich mit einer entsprechenden Diagnose das Gesundheitssystem kontaktierte.

Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Baff
errechnete Versorgungsquote bei Geflüchteten von
3,1 Prozent ergibt sich aus den folgenden Daten:

3.087.650

geflüchtete Menschen leben in Deutschland.

923.595

geflüchtete Menschen haben eine Traumafolgestörung.

25.861

geflüchtete Menschen waren in psychosozialen Zentren.

2.803

Vermittlungen gab es an weitere Akteure.

Was sich ändern muss

Eine gute psychiatrische sowie psychotherapeutische Anbindung könne einen Beitrag dazu leisten, eine mögliche Fremdgefährdung zu reduzieren, erklären die beiden Experten im Gespräch immer wieder. Um dies zu gewährleisten, brauche es neben einem Zugang zum Gesundheitssystem eine dauerhafte, sichere Förderung der psychosozialen Zentren. Aktuell erhalte die Baff nur für jeweils ein Jahr befristet Fördermittel und müsse jährlich planen, welche psychologischen Angebote sie noch anbieten könnten. Auch BIOS bekomme keine dauerhafte Finanzierung.

Die zuständigen Ministerien der Bundesländer verweisen auf Anfrage des WEISSER RING Magazins auf psychosoziale Zentren als zentrale Anlaufstellen für die Versorgung Geflüchteter. Teilweise gibt es psychologisch geschultes Personal in den Unterkünften. Nordrhein-Westfalen plant darüber hinaus ein Präventionspaket von jährlich 18 Millionen Euro. Meist beziehen sich die Angebote auf Menschen mit laufendem Asylverfahren – für Neuangekommene fehlt oft psychologische Unterstützung. In Berlin hingegen erfolgt ein psychiatrisches Screening bereits bei der Erstuntersuchung; auch Dolmetscher-Leistungen sollen dort flächendeckend finanziert werden.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern“, sagt Zeisler. Die Migrationsforschung zeige, dass dies auf lange Sicht nicht effektiv sei und Fluchtbewegungen immer stattfinden werden. Nachhaltiger sei es, die vorhandenen Ressourcen in die Integration und Versorgung von Geflüchteten zu stecken. „Die Integration wird zu stockend vorangetrieben. Die Menschen müssen schneller ins Arbeiten kommen, Stabilität und Struktur bekommen“, sagt Thomas Hillecke von BIOS.

Und er hat einen Wunsch: Die Gesellschaft müsse den zwischenmenschlichen Umgang ändern. Weniger Ausgrenzung, mehr Miteinander.

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Gregor

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Ein Rassist mit einer paranoiden Schizophrenie ermordete Serpil Temiz Unvars Sohn Ferhat. Sie ist vom ebenfalls psychisch auffälligen Vater des Täters immer wieder gestalkt worden.

Serpil Unvar: Ihr Sohn wurde am 19. Februar von einem Rassisten in Hanau ermordet.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau den Sohn von Serpil Unvar aus rassistischen Motiven.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit mein 22-jähriger Sohn von einem Rassisten erschossen wurde. Einen größeren Schmerz gibt es nicht, er wird nie weggehen. Aber ich fühle, dass Ferhat noch da ist. Es ist, als würde ich weiter mit ihm in unserem Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt leben. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Spuren hinterlassen. Weil ich Ferhat sonst verlassen würde, werde ich auf keinen Fall wegziehen. Obwohl der Vater des Attentäters, der wie sein Sohn rassistisch und psychisch auffällig ist, in der Nähe wohnt. Lange hat er mir nachgestellt und Briefe geschickt, in denen er eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb.

Er stand vor meinem Fenster, verstieß gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot. Sein Psychoterror hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine alleinerziehende, starke Frau bin, die in die Öffentlichkeit geht. In letzter Zeit ist es recht ruhig, doch ich gehe davon aus, dass er uns weiter Angst machen will.

In einem Sammelverfahren wurde er 2024 wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung und anderen Delikten zu einer Geldstrafe von gut 20.000 Euro verurteilt. Mein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Urteil ist nicht hart genug.

Der Anschlag

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau an zwei Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Laut dem forensischen Gutachten von Professor Henning Saß war der Attentäter paranoid-schizophren und rechtsextrem. Der Vater des Täters hat Anfragen bisher nicht beantwortet. In früheren Stellungnahmen wies er alle Vorwürfe zurück und stellte sich und seine Familie als unschuldige Opfer dar. Er tue niemandem etwas Böses. Und für die Morde – auch an seiner Frau und an seinem Sohn – sei eine weltweite Geheimorganisation verantwortlich.

Was muss noch alles passieren? Diese Frage stelle ich nicht nur für mich selbst. Vor allem Frauen werden oft massiv bedroht, etwa vom Ex-Partner, aber die notwendigen Konsequenzen bleiben aus. Trotz Warnsignalen. Diese gab es auch beim Attentäter von Hanau. Er schrieb zum Beispiel Briefe mit Verschwörungstheorien an Behörden, war mal in die Psychiatrie eingewiesen worden – und durfte legal Waffen besitzen. Wir müssen die Prävention verbessern, um solche Taten zu verhindern. Besonders wichtig ist das Waffenrecht. Waffen dürfen nicht in die Hände von Extremisten oder psychisch Kranken gelangen. Alle für Sicherheit zuständigen Stellen sollten Warnzeichen besser erkennen.

Wenige Monate nach dem Mord an meinem Sohn habe ich die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet. Wir haben 45 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die an Schulen Workshops gegen Diskriminierung geben, deutschlandweit. Bald werden wir auch in Grundschulen unterwegs sein. Den Wunsch hatte mein jüngster Sohn, der auch Vorschläge für das Konzept macht.

„Sein Psychoterror gegen mich hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Serpil Temiz Unvar

Ende 2024 haben wir in Hanau eine internationale Konferenz mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Für das Leben“ veranstaltet, inspiriert von Ferhats Worten: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Wir haben mit Betroffenen über Hassverbrechen – antisemitische, islamistische, rechtsextremistische – und Strategien dagegen diskutiert. Alle haben die gleichen Schmerzen; im Endeffekt sind alle Opfer von Menschenfeindlichkeit. Wir müssen gemeinsam dagegen kämpfen. Überlebende und Hinterbliebene aus Utøya waren auch da. Sie haben bei der Prävention den Fokus früh auf Bildung gelegt und neben einem Museum durchgesetzt, dass der Anschlag in Norwegen Teil des Lehrplans ist.

Manchmal bin ich müde und traurig – auch wegen der aktuellen Krisen und rechten Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Aber aufzuhören oder aufzugeben ist keine Option, wir müssen zusammen und dagegenhalten. Ich glaube an das Gute im Menschen und die Möglichkeit zur positiven Veränderung. Was mir – neben Ferhat – Mut macht und mich antreibt, sind die jungen Menschen, die sich bei uns engagieren.

Transparenzhinweis:
Serpil Unvar wurde zeitweise vom WEISSEN RING unterstützt, unter anderem mit einer finanziellen Soforthilfe.

Die vergessenen Opfer

Erstellt am: Mittwoch, 18. Juni 2025 von Sabine

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer … die Liste ist lang. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters Rassismus erleiden.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed in Magdeburg: Er erfährt verstärkt Rassismus seit des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt.

Es wird gelacht, gemeinsam gegessen und gesprochen. Saeed Majed verbringt einen ganz normalen Freitagabend mit seinen Freunden. Bald wird die Stimmung aber kippen. Denn in ihrer Heimatstadt Magdeburg wird ein Mann mit seinem Auto auf den Weihnachtsmarkt rasen. Menschen sterben, werden schwerst verletzt und traumatisiert. Und auf Majed und seine Freunde wird eine Zeit voller rassistischem Hass und körperlicher Angriffe zukommen.

Der Anschlag hat nicht nur Magdeburg, sondern das ganze Land erschüttert. Sechs Menschen sind tot, 86 schwer verletzt. Dazu kommen 1200 weitere Betroffene wie Zeugen und Angehörige von Opfern. Es gibt aber noch eine Gruppe von Betroffenen, die in der öffentlichen Diskussion zumeist übersehen wird: Menschen, die wie der Täter einen Migrationshintergrund haben und deshalb angefeindet werden.

„Als wir die Nachricht hörten, wollten wir sofort die Nationalität des Täters wissen“, sagt Informatikstudent Saeed Majed (25). Aus Angst vor den möglichen Reaktionen, falls es kein Deutscher war. „Magdeburg ist unsere zweite Heimat – doch neben der Trauer mussten wir uns auf rassistische Anfeindungen vorbereiten, als bekannt wurde, dass der Täter aus Saudi-Arabien kam“, erklärt der gebürtige Syrer.

Schon am Tatabend wurde in der Stadt ein 18-jähriger Student mit Migrationsgeschichte verfolgt und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde in einem Fahrstuhl rassistisch beleidigt und gewürgt. Im Februar traf es erneut ein Kind: Ein 12-jähriges syrisches Mädchen wurde attackiert. Monate nach dem Anschlag bleibt die Stimmung angespannt – Ende April wurde ein Mann mit Migrationshintergrund vor seiner Haustür verprügelt.

Auch Saeed Majed wurde Opfer von rassistischer Gewalt. „Ich war in der Straßenbahn, als ein älterer deutscher Mann anfing, migrantisch aussehende Menschen zu beleidigen und zu bedrohen“, sagt er. Majed ging dazwischen. „Daraufhin beleidigte er mich rassistisch und wollte mich körperlich angreifen.“ Andere Fahrgäste,darunter auch Deutsche, wie Majed betont, gingen aber dazwischen. Der Student zeigte den Täter an. „Das Verfahren ist eingestellt worden, weil es nicht möglich war, einen Täter zu ermitteln“, stand in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft an Majed, das dem WEISSEN RING Magazin vorliegt. „Dabei begrüßte die gerufene Polizei damals den Mann mit seinem Nachnamen“, sagt
Majed. Eine Erklärung von der Magdeburger Staatsanwaltschaft blieb auf Anfrage unserer Redaktion aus.

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters nun Rassismus erleben.

Rassistische Gewalt

Seit dem Anschlag stieg die Zahl rassistischer Übergriffe in Magdeburg stark an. Vor dem Attentat wurden dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e. V. ein bis zwei Übergriffe pro Woche gemeldet; seitdem registrierte man bis zum 10. Januar bereits 20 rassistische Vorfälle, darunter Körperverletzungen, Beleidigungen und Drohbriefe. Saeed Majed, Mitglied des Syrisch-Deutschen Kulturvereins, berichtet im April von über 40 Fällen – von Diskriminierung bis Körperverletzung. Ein Verein, der eigentlich zwei Kulturen miteinander vereinen soll, war plötzlich für Opfer von rechter Gewalt zuständig. Der Verein arbeitet nun mit Beratungsstellen
wie „Entknoten“ und der Mobilen Opferhilfe zusammen. „Fast täglich gibt es Angriffe“, sagt Majed. Er schätzt die Dunkelziffer hoch ein, da viele Betroffene mit unsicherem Aufenthaltsstatus die Taten aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht melden.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Für Majed steht fest: „Die Medien sind mit dafür verantwortlich, dass es zu immer mehr rassistischen Übergriffen im Alltag kommt.“ In den Wochen nach dem Anschlag gab es Dutzende Schlagzeilen und Artikel, die die Herkunft des mutmaßlichen Täters betonten. Wovon kaum geschrieben wurde: Der Tatverdächtige hasst den Islam, ist ein Fan der nach Ansicht des Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistischen Partei AfD und hat rechtsradikale Inhalte im Internet veröffentlicht. Der Thüringer Verfassungsschutz sprach von „Extremismusbezügen nach rechts“, die Medien sprachen weiter von dem „saudiarabischen Mann“.

Eine Analyse zeigt, dass Medien verstärkt über Anschläge berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte hat:

1035

Beiträge über den Anschlag in Magdeburg.

951

Beiträge über den Anschlag in München.

486

Beiträge über den Anschlag in Mannheim.

Der Wahlkampf im Februar löste laut Saeed Majed eine neue Welle an Hass aus: „Es war extrem belastend.“ In Talkshows dominierte das Thema Migration, rechte Gewalt hingegen blieb weitgehend unbeachtet. Von Januar bis April hatte die ZDF-Politik-Talkshow „Markus Lanz“ 16 Sendungen zu Migration, aber nur zwei Sendungen thematisierten Rechtspopulismus. Auch in anderen politischen Talkshows wie „Hart aber fair“, „Caren Miosga“ und „Maybrit Illner“ liefen Sendungen zum Thema Migration, aber keine zur rechten Gewalt in Deutschland. Majed
warnt: „Die Menschen sitzen daheim, sehen das und denken: Die Ausländer sind schuld.“ Parallel nimmt rechte Gewalt stark zu. 2024 wurden laut Innenministerium 42.788 rechte Straftaten registriert, ein neuer Höchststand. In Brandenburg meldet die Polizei täglich zehn solcher Taten.

Dass Medien verstärkt berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte aufweist, verdeutlicht eine kürzlich durchgeführte Analyse des Kommunikations-Unternehmens Ippen Media. Demnach wurde über die Anschläge in Magdeburg und München mehr als doppelt so oft berichtet wie über die Tat in Mannheim, bei der der Tatverdächtige ein Deutscher ist. Leitmedien veröffentlichten über Magdeburg 1.035 Beiträge, über München 951 und über Mannheim nur 486. Online waren es laut Newswhip jeweils über 4.300 Artikel zu Magdeburg und München, aber nur 2.479 zu Mannheim.

Die Rolle der Medien

Elena Kountidou ist die Geschäftsführerin der Organisation „Neue deutsche Medienmacher*innen“, die sich kritisch mit der Berichterstattung auseinandersetzt. „Dass Medien überproportional häufig über Verbrechen von nicht deutschen Tatverdächtigen berichten, ist gefährlich für unsere Gesellschaft“, warnt sie. Der Grund: Dadurch entstehe ein verzerrtes Bild. Der Mensch erfahre Kriminalität kaum aus der eigenen Erfahrung, sondern durch die Berichterstattung. „Und dann wird es natürlich auch gefährlich für migrantisch wahrgenommene Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Kountidou. Es werde eine Polarisierung aufgebaut und ein Bild gezeichnet von den „guten Deutschen“ gegen die „bösen, nicht integrierten Ausländer“. Ein Narrativ, das sich in der Geschichte immer wieder finden lasse. „Die Folgen medialer Zerrbilder bekommen die betroffenen Menschen im realen Leben zu spüren, und das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Kountidou.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Die mediale Stigmatisierung führe zu mehr Rassismus in der Bevölkerung. Nach aktuellen Angaben des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors macht Rassismus krank. „Betroffene erleben mehr Stress, haben ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden und sind generell anfälliger für (psychische) Erkrankungen“, heißt es in dem Bericht.

So sollten Medien über Anschläge berichten

Die Medienexpertin beobachtet auch immer eine anlassbezogene Berichterstattung; so, als sei Migration ein Krisenthema. Dazu verwendeten Medien immer die gleichen stereotypischen Bilder: eine Frau mit einem Hijab und Plastiktüten in der Hand oder migrantisch aussehende Männer in einer großen Gruppe. „Es ist genauso möglich, die Menschen in einer positiven Lebenssituation darzustellen wie während der Arbeit oder mit der Familie auf einem Spielplatz“, sagt Kountidou.

Auch der Magdeburger Saeed Majed kritisiert die Darstellung und sagt: „Es fehlt an positiver Berichterstattung.“ In der Klinik
der Anschlagsopfer arbeiten Menschen aus über 20 Nationen; viele mit Migrationsgeschichte betrieben Stände auf dem Weihnachtsmarkt. „40.000 Menschen sind Teil dieser Gesellschaft – sie waren Zeugen, leisteten Erste Hilfe. Doch darüber spricht kaum jemand“, so Majed enttäuscht.

Viel mehr rechtsextreme Straftaten

Die Zahl politisch motivierter Straftaten in Deutschland ist 2024 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent gestiegen, auf 84.000. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist der größte Teil davon – fast die Hälfte – dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen. Dort gab es auch den stärksten Anstieg, um 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Bei 31 Prozent der Delikte waren „ausländische Ideologien“ der Hintergrund, bei zwölf Prozent Linksextremismus. Als Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Statistik Ende Mai vorstellte, sagte er: „Die größte Gefährdung für die Demokratie geht vom Rechtsextremismus aus.“ Die Gewaltdelikte in dem Bereich haben ebenfalls deutlich zugenommen, um gut 17 Prozent auf 1.488. Rechtsextreme begehen außerdem die mit Abstand meisten Gewaltstraftaten, bei denen Kinder und Jugendliche gesundheitlich geschädigt werden.

Medienschaffende sollten Verantwortung übernehmen und die Art der Berichterstattung beispielsweise über Anschläge ändern, findet auch Elena Kountidou. „Der Pressekodex verlangt einen verantwortungsvollen Umgang bei der Herkunftsnennung, damit es nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt“, sagt sie. Daher sollte ihrer Meinung nach die Herkunft nur genannt werden, wenn sie direkt in Verbindung zur Tat steht. In Magdeburg war dies nicht der Fall – der Tatverdächtige hatte ein rechtes Motiv und ist kein Islamist. Sie fordert, dass Journalisten bei Anschlägen gründlich recherchieren, faktenbasiert berichten, einordnen und ihre Aussagen mit Zahlen untermauern sollten – besonders in polarisierten Debatten.

Saaed Majed in Magdeburg am Dom. Nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed mag Magdeburg, doch denkt jetzt ans Wegziehen. „Mehrere Freunde sind schon gegangen. Nach zehn Jahren Studium, Arbeit und Ehrenamt“, sagt er. Sie fühlten sich nicht mehr willkommen, wurden beleidigt und angespuckt. Der Hass zerstöre die Vielfalt der Stadt. Noch hofft Majed auf eine Verbesserung. „Im April hatten wir unser Zuckerfest und haben alle dazu eingeladen. Es kamen 500 Menschen: Deutsche, Syrer, Ukrainer, alle waren zusammen. Dadurch haben wir noch Hoffnung.“

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Juliane

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Alle Jahre wieder: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt und umgehend emotional diskutiert. Das eine Medium schreibt in großen Lettern, wie gefährlich doch alles geworden sei, und das andere versucht, mithilfe von Kriminologen zu erklären, dass das gar nicht stimme mit der Gefährlichkeit. Wer hat recht? Und welche Aussagen trifft überhaupt die PKS? Eine kleine Analyse.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Arbeitsbericht. Das ist ein Begriff, den Kriminologen gerne nutzen, wenn es um die PKS geht. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist keine verlässliche Grundlage für irgendeine Aussage“, warnt Thomas Feltes. Der Kriminologe hatte bis 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Denn die PKS erfasst keine gerichtlich bestätigten Straftaten, sondern sogenannte Verdachtsfälle – also Anzeigen, unabhängig davon, ob es zur Anklage oder Verurteilung kommt. Laut Statistischem Bundesamt wird weniger als ein Drittel aller Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt. Die PKS spiegelt also nicht die Kriminalitätswirklichkeit wider – anhand ihrer Daten können keine Aussagen über aktuell lauernde Gefahren im deutschen Alltag getroffen werden.

Registrierte Gewaltdelikte steigen weiter

In diesem Jahr hat besonders die hohe Zahl der angezeigten Gewaltdelikte 2024 Wellen geschlagen. Während die Gesamtzahl aller Verdachtsfälle seit 2009 stetig sinkt, ist die Zahl der angezeigten Gewaltdelikte zuletzt tatsächlich gestiegen – auf 217.277 Fälle. Das liegt nur knapp unter dem Höchststand im Jahr 2007 mit 217.923 Fällen. Die Zahl ist also sehr hoch. Aber wird das Leben auf unseren Straßen tatsächlich immer gefährlicher, wie die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite schrieb? Sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt weiter? Das sind Fragen, die die PKS nicht beantworten kann.

Wird das Leben auf den Straßen tatsächlich immer gefährlicher?

Denn es gibt bei den gestiegenen Zahlen einiges zu beachten: Wo mehr angezeigt wird, steigen auch die Zahlen. Im ersten Moment bedeutet es lediglich, dass 2024 mehr Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht wurden – und das ist sogar etwas Gutes. Sensibilisierung, Aufklärung und der Ausbau von Opferschutzstellen haben beispielsweise dafür gesorgt, dass mehr Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt werden. Der aktuellste Periodische Sicherheitsbericht des BKA (2021) zeigt, dass die Anzeigerate bei Körperverletzungen zwischen 2012 und 2017 von 32,9 auf 36,6 Prozent gestiegen ist. Das veränderte Anzeigeverhalten kann direkten Einfluss auf die Statistik haben – ohne dass sich das reale Geschehen im gleichen Maß verändert haben muss. Darauf verweist die PKS 2024 selbst immer wieder. Zahlen zum aktuellen Anzeigeverhalten gibt es allerdings nicht. Natürlich ist es trotzdem wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo benötigt es jetzt besonders Prävention? Und da kann die PKS durchaus eine Unterstützung sein.

Migration und Kriminalität: Die Faktenlage

Besonders brisant wird die PKS im Zusammenhang mit Migration interpretiert – oft fälschlicherweise. Die „Bild“-Zeitung etwa suggeriert regelmäßig, die Statistik zeige eine klare Verbindung zwischen Migration und Kriminalität. Dabei betonte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der PKS 2024 ausdrücklich: „Es liegt nicht an der Herkunft.“ Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München kommt in seiner aktuellen Studie „Steigert Migration die Kriminalität?“ zu einem eindeutigen Ergebnis: „(Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität.“ Dies entspricht dem internationalen Forschungsstand.

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 36 %.

Zuwanderer machen weniger als 20 % aller Tatverdächtigen aus.

Amnesty International hat Anfang April einen offenen Brief mit dem Titel „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet“ gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen und Initiativen veröffentlicht, um gegen das verbreitete Narrativ von den „kriminellen Migrant*innen“ vorzugehen.

Auch ist die Kategorie „Nichtdeutsche“ wenig aussagekräftig. Sie umfasst nämlich sehr unterschiedliche Gruppen – von Touristen und reisenden Straftätern über Geflüchtete bis hin zu dauerhaft hier lebenden Personen ohne deutschen Pass.

Die Fakten: Trotz eines Anstiegs der ausländischen Bevölkerung um 72 Prozent zwischen 2005 und 2023 lag die Zahl der allgemeinen registrierten Straftaten 2024 laut PKS rund 11,7 Prozent unter dem Niveau von 2005, wie der Mediendienst Integration veröffentlichte. Die gestiegene Zuwanderung hat also – anders als häufig behauptet – nicht zu einem gleichzeitigen Anstieg von erfassten Straftaten geführt.

Erheblich verzerrt wird die PKS durch sogenanntes Racial Profiling

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 3,6 Prozent. Das Bundeskriminalamt weist zudem darauf hin, dass die nichtdeutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Entsprechend sei es statistisch zu erwarten, dass auch die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger absolut steigt. Zuwanderer machen weniger als 20 Prozent aller Tatverdächtigen
aus. In Deutschland leben 83,6 Millionen Menschen, von denen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,3 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte haben und 12,3 Millionen Ausländer sind.

Bei den Gewaltdelikten allerdings stieg die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen um 7,5 Prozent auf 85.012. Aber auch
diese Zahl muss eingeordnet und sollte nicht absolut betrachtet werden. Erheblich verzerrt wird die PKS nämlich durch sogenanntes Racial Profiling: Laut einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration werden Personen, die als „ausländisch“ wahrgenommen werden, etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie als „deutsch“ wahrgenommene Menschen. Auch BKA-Präsident Holger Münch spricht von einem Verzerrungseffekt und sagt: „Wenn uns jemand sehr fremd erscheint, neigen wir eher dazu, Anzeige zu erstatten.“

„Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden“

 

Schlagzeilen über die Polizeiliche Kriminalstatistik

Auch die Lebenssituation spiele eine Rolle: In Massenunterkünften für Geflüchtete leben meist junge Männer teilweise Jahre auf engstem Raum zusammen. Kriminologin Gina Wollinger verweist darauf, dass es in Unterkünften häufiger zu Kontrollen komme oder bei Konflikten die Polizei gerufen werde als in privaten Kontexten. Sie sagt: „Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden.“

Pandemie-Effekte und ihre Spätfolgen

Ein weiteres großes Thema in den Medien war nach der Vorstellung der PKS 2024 die gestiegene Zahl der Verdachtsfälle im Bereich Gewaltkriminalität, bei denen der mutmaßliche Täter ein Kind oder Jugendlicher war. Oft wurde der Begriff „junge Täter“ verwendet. Auch diese Aussage ist auf Grundlage der PKS nicht korrekt. Schließlich fehlt die juristische Schuldfeststellung, und solange gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung der Zahlen: Die Folgen der Corona-Pandemie wirken bis heute nach, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastung gerade bei Kindern und Jugendlichen über diese Zeit der Beschränkung hinauswirkt, also aktuell noch andauert“, so BKA-Chef Münch. Solche Ausnahmesituationen beeinflussen die Kriminalitätszahlen. Dank der PKS wird deutlich, dass die betroffene Altersgruppe weiterhin Unterstützung benötigt, um die psychische Belastung durch die Pandemie zu verarbeiten. Panikmache durch stigmatisierende Aussagen wie „Kinder und Jugendliche werden immer gefährlicher“ helfen nicht.

Mehr Prävention statt Schuldzuweisung

Fazit: Die Diskussion über Kriminalität braucht mehr Sachlichkeit. Weitere Stigmatisierung von Menschen mit einer Migrationsgeschichte führt nicht zu einem gewaltfreien Miteinander. Kaum eine Rolle spielt in der aufgeheizten Diskussion, dass Migranten zunehmend Zielscheibe von Gewalt und Hass werden. Die erfassten rechten Delikte sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und erlangten 2024 einen neuen Rekord mit 42.788 Verdachtsfällen. Beratungsstellen für Opfer von rassistischer Gewalt verzeichnen immer mehr Betroffene. Dazu benötigt es weiter Präventionsarbeit: Psychologische Betreuung, Integrationsarbeit und Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind wirksamer als pauschale Schuldzuweisungen. Die PKS kann Hinweise geben, wo es Handlungsbedarf gibt, etwa bei Gewaltdelikten oder Jugendkriminalität – aber sie ist kein Spiegel objektiver Realität. Kriminalität ist komplexer, als sie in Zeitungsschlagzeilen oft dargestellt wird.

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

„ Ohne Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS eine Arbeitsstatistik.“

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins. Jörg Ziercke

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

Sie haben als BKA-Präsident lange die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verantwortet und vorgestellt. Was ist die PKS für Sie?

Die Kriminalstatistik ist eine valide Annäherung an die reale Wirklichkeit – allerdings ohne zu wissen, wie nah man herankommt. Um zu verstehen, was die tatsächliche Situation ist, müssen das Hellfeld – also polizeilich registrierte Fälle – und das Dunkelfeld betrachtet werden. Bei der Internetkriminalität etwa gibt es ein großes Dunkelfeld. Ohne mehr Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS lediglich eine Arbeitsstatistik der Polizei. Die Ergebnisse hängen zudem stark von der Bevölkerung ab, da nur fünf bis acht Prozent der Anzeigen durch die Polizei erstattet werden. Die PKS ist eng mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Kriminalität und dem Vertrauen in die Polizei verknüpft.

Lassen sich mit der PKS Schlagzeilen wie „Das Leben auf unseren Straßen wird immer gefährlicher“ begründen?

Nicht wirklich. Man kann sagen, dass die Zahlen gestiegen oder örtliche Brennpunkte erkannt worden sind. Aber ich bin gegen dramatisierende Schlagzeilen wie die von Ihnen genannte, da sie das Sicherheitsgefühl der Menschen stark beeinflussen können. Die Person, die nachts auf der Straße
bei einem Überfall um Hilfe ruft, bekommt eventuell keine Hilfe, weil die Angst die Straßen leergefegt hat. Zivilcourage braucht Unterstützung auch durch andere Personen. Bei der Vorstellung der Statistik werden die Trends und Schwerpunkte der Arbeit der Polizei durch den Bundesinnenminister und das Bundeskriminalamt der Öffentlichkeit ausführlich erläutert. Erfahrene Journalistinnen und Journalisten bewerten die Zahlen und Aussagen zusätzlich. Das Hauptproblem ist die reißerische Überschrift.

Welche Zahlensammlung bräuchten wir, um ein genaueres Bild von der Sicherheit zu bekommen?

Eine Gewichtung der Straftaten wäre sinnvoll. Ein Mord wird statistisch genauso gezählt wie ein Diebstahl. Die enorme Anzahl der Ladendiebstähle oder Sachbeschädigungen relativiert das Gesamtbild der Kriminalität. Die Zahl der Straftaten ist zwar insgesamt höher, aber die Schwere der verschiedenen Straftaten wie zum Beispiel durch einen Mordfall geht in den Gesamtzahlen unter. Ferner müsste die Polizei- mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz im Zusammenhang betrachtet werden. Das Problem ist, dass alles zeitversetzt stattfindet: Eine Tat, die jetzt passiert, wird nicht sofort abgeurteilt. Zu bedenken ist auch,
dass die Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften bei polizeilich durchermittelten Fällen aus unterschiedlichen Gründen hoch sind, circa 60 Prozent. Neben den deliktischen Verurteilungsquoten der Gerichte sollte man sich die Rückfallquoten der verurteilten Täter anschauen. Mit dieser Bewertung kämen wir der Realsituation ein ganzes Stück näher. Sinnvoll wäre auch eine Verlaufsstatistik für Beschuldigte – von der Anzeige bis zur Verurteilung –, aus der sich die Wirksamkeit der Maßnahmen von Polizei und Justiz ablesen ließe.

Wie sicher leben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland?

Wir leben immer noch in einem der zehn sichersten Länder der Welt. Diese Bewertung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Staaten. Eines sollten wir aber nicht übersehen: Die täglichen Nachrichten liefern uns die besonders schwere Kriminalität aus aller Welt ins Wohnzimmer. Auch das beeinflusst unsere Angst vor Kriminalität!