Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Erstellt am: Freitag, 5. September 2025 von Selina

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren. Mit seinem Projekt „Rechtes Land“ möchte er den Opfern ein Denkmal setzen.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch Aufhören kommt für ihn nicht infrage.

Wieso machen Sie Fotos von Tatorten rechter Gewalt?

Nach den rechten Attentaten auf Walter Lübcke, in Halle 2019 und in Hanau 2020 machte sich ein Störgefühl bei mir breit. In Politik und Medien war meist von „Einzeltätern“ die Rede, von rechtem Terror jedoch kaum. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schnell bei Taten aus einem anderen politischen Spektrum von „linkem Terror“ gesprochen wird. Daraus entstand die Frage: Hat Deutschland wirklich ein größeres Problem mit linker als mit rechter Gewalt?

Meine Recherchen führten mich zur Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und der vom „Tagesspiegel“ und zu den offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Das Ergebnis: Seit der Wiedervereinigung forderte rechte Gewalt deutlich mehr Todesopfer als linke.

Besonders betroffen machte mich, dass zwei dieser Tatorte Orte waren, die ich persönlich kannte – einer lag an meinem täglichen Schulweg in einer Provinz in Niederbayern, ein anderer befindet sich in meiner heutigen Heimat Hannover. Ohne es zu wissen, habe ich an dem Ort in Hannover Zeit verbracht und Bier mit Freunden getrunken, wo ein Mensch durch rechte Gewalt ermordet wurde. Das brachte mich zu dem Entschluss, alle Tatorte zu fotografieren – als Mahnmal für uns und Denkmal für die Betroffenen. Es gibt laut der Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer, dazu kommen 17 Verdachtsfälle.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.

Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass rechte Gewalt nicht alleinig das Problem sei, sondern auch linke oder religiöse. Was denken Sie darüber?

Ich finde, wir müssen die Gesellschaft als Ganzes betrachten, und da darf politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeter Extremismus nicht ausgeklammert werden. Wenn man aber die Zahlen und die vom Verfassungsschutz erhobenen Statistiken betrachtet, dann wird relativ schnell klar, wo das Hauptproblem liegt. Ich persönlich habe ein Problem damit, wie die Politik und Medien über Themen wie politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeten Extremismus im Gegensatz zu politisch rechtsmotivierter Kriminalität berichten.

Schwarz-weiß Foto von dem Fotografen Julius Schien. Er thematisiert rechte Gewalt in seiner Arbeit.

Der Fotograf Julius Schien arbeitet an eigenen Projekten und als Fotojournalist für verschiedene Medien. Foto: Privat

Seit Sie angefangen haben, an Ihrem Projekt „Rechtes Land“ zu arbeiten, sind vier Jahre vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert. Die AfD hat eine wachsende Wählerschaft, der Verfassungsschutz sieht die Partei als gesichert rechtsextrem an, und auch die politisch rechtsmotivierten Delikte sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Wie geht es Ihnen mit alldem?

Ich beobachte es mit Sorge. Ich finde es krass, wie sich der Diskurs verschoben hat. Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben. Es werden rechte Aussagen getätigt, die fast schon normal erscheinen. Das muss ernst genommen werden, aber wir dürfen uns dadurch nicht unterkriegen lassen. Ich würde mir mehr Haltung wünschen, dass rechte Aussagen nicht in den Medien reproduziert werden, dass nicht jede rechte Parole abgedruckt wird. Ich mache daher auch das Projekt weiter und hoffe, in zwei Jahren alle Tatorte einmal fotografiert zu haben.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Die vergessenen Opfer

Seit dem Anschlag in Magdeburg werden migrantische Menschen oft Opfer von Rassismus, aufgrund der Herkunft des Täters.

Welche Geschichte steht hinter Ihrem nächsten geplanten Tatort?

Ich bin gerade in Brandenburg und habe einen Ort in Neuruppin fotografiert. Am 1. Juli 1992 haben sich drei rechtsextreme Skinheads zum „Penner klatschen“ verabredet. Im Rosengarten trafen die Täter auf Emil Wendland, der dort auf einer Parkbank schlief. Wendland wurde von den Rechtsextremen getreten, geschlagen und letzten Endes erstochen. Und so stehe ich jetzt in Brandenburg und werde gleich auf meine Karte schauen, wo ich als Nächstes hinfahre.

Fall Emil Wendland

Emil Wendland wurde am 1. Juli 1992 in Neuruppin erstochen. Drei Skinheads verabredeten sich zum „Penner klatschen“ und stießen im Neuruppiner Rosengarten auf den 50-Jährigen, der dort alkoholisiert auf einer Parkbank schlief. Dort malträtieren sie ihr Opfer mit Schlägen und Tritten. Als sich die Täter von Wendland entfernen, kehrt einer von ihnen zu dem schwer verletzten Opfer zurück und sticht sieben Mal mit einem Messer in den Oberkörper des wehrlosen Mannes. Das Gericht stellt fest, der Haupttäter habe sein Opfer für „einen Menschen zweiter Klasse gehalten“. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Auch hier wird der „sozialdarwinistische Hintergrund“ der Tat vom Gericht erwähnt: „…faßte man spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluß, in der Nacht ‚Assis aufzuklatschen‘; gemeint war damit das Zusammenschlagen von Obdachlosen oder anderen Personen“, die man als missliebig oder verachtenswert betrachtet habe.

Geflüchtet & traumatisiert

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Selina

Geflüchtet & traumatisiert

Nach der tödlichen Messerattacke eines psychisch kranken Geflüchteten in Aschaffenburg flammt erneut die Debatte über psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden auf. Sind traumatisierte Geflüchtete tatsächlich gefährlich? Und wie gut ist ihre Versorgung? Das WEISSER RING Magazin geht diesen Fragen auf den Grund.

Ein migrantischer Junge schaut in ein zerbrochenes Glas.

Seit ein psychisch kranker Asylbewerber am 22. Januar 2025 in Aschaffenburg zwei Menschen mit einem Messer tötete, gibt es in Deutschland wieder eine öffentliche Diskussion über mögliche Gefahren durch traumatisierte Geflüchtete – so wie auch schon nach der Gewalttat von Würzburg im Jahr 2021.

Sind Menschen mit Fluchterfahrung tatsächlich häufiger psychisch schwer belastet als andere? Macht sie das gefährlicher? Wie steht es um die medizinische Versorgung von Geflüchteten? Das WEISSER RING Magazin hat sich in Studien, Statistiken und bei Experten auf Antwortsuche begeben.

Jung, geflüchtet und psychisch krank

87 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Das ergab 2019 eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, des Forschungszentrums des BAMF und des Sozioökonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Eine Auswertung der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health aus dem Jahr 2020 zeigt: Rund 30 Prozent der Geflüchteten weltweit haben eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Untersuchung beruht auf Studien aus 15 Ländern, darunter auch Deutschland.

"Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind, aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“

Thomas Hillecke

Zum Vergleich: In der deutschen Bevölkerung liegt der Wert bei 1,5 bis zwei Prozent laut dem Robert Koch-Institut. Geflüchtete in Deutschland haben damit ein 15- bis 20-fach höheres Risiko, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, als Menschen aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung.

Soweit die Zahlen. Aber macht ein höheres Risiko einer Belastungsstörung einen Menschen auch gewaltbereiter?

Thomas Hillecke ist wissenschaftlicher Leiter bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. und Professor für klinische Psychologie. Er verweist im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS auf eine falsche Wahrnehmung: „Es gibt mehr Menschen mit einer psychischen Auffälligkeit unter den Menschen, die kriminell sind – aber unter den psychisch Erkrankten sind nur ganz wenige kriminell.“ Und so sei es auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte.

„Gewalttätigkeit hängt nicht von Flucht ab“, stellt Hillecke klar. Er hat im Rahmen seiner Arbeit viel mit Geflüchteten zu tun, die eine psychische Erkrankung aufgrund von traumatisierenden Erlebnissen entwickelt hätten. „Faktoren wie jung und männlich spielen bei der Gewaltbereitschaft eine Rolle“, sagt der Psychologe.

Viele Geflüchtete seien minderjährig und männlich. Dazu kämen Rassismus-Erfahrungen, die viele Geflüchtete erleiden. „Es
besteht dadurch die Gefahr der Ausgrenzung sowie der Verbitterung. Das Realempfinden ist, nirgendwo anzukommen, man ist einsam und sieht keinen Weg des Weiterkommens im Leben“, sagt er. Dies begünstige in seltenen Fällen eine Radikalisierung oder eine psychische Erkrankung. Das mache Geflüchtete aber nicht zu „Gefährdern“. Der Psychologe erklärt, dass sie selbst häufiger Opfer von Gewalt würden als zu Tätern. Ein Umstand, den die Psychologin Anikó Zeisler im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS ebenso erwähnt. „Studien zeigen anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass 99,4 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer*innen nicht wegen Gewaltstraftaten registriert sind“, sagt Zeisler. Sie arbeitet bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (Baff).

Eine Frage der Prävention

Wenn aber Geflüchtete überdurchschnittlich häufig psychische Belastungen aufweisen – wie steht es dann um ihre medizinische Versorgung? Wäre das nicht Opferschutz, ja Prävention, wenn sie ausreichende Hilfsangebote und Behandlungen bekämen? Ein wichtiger Faktor, der in der Debatte oft übersehen werde, sagt Zeisler.

Studien zeigen, dass eine gut abgestimmte psychiatrische Versorgung Eskalationen bei Fremdgefährdung vorbeugen kann – insbesondere, wenn individuelle Risikofaktoren frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Geflüchtete sind oft Belastungen ausgesetzt, die ihre seelische Gesundheit langfristig verschlechtern können.

Allein die Lebensumstände in vielen Unterkünften sind prekär. Sieben Doppelstockbetten, dicht an dicht, ein Leben auf wenigen Quadratmetern, kaum Lärmschutz, Privatsphäre und soziale Betreuung, in einer Art Zeltdorf mit insgesamt etwa 7000 Plätzen und Konflikten, Übergriffen gegen Frauen und Nervenzusammenbrüchen: Über das Berliner „Ankunftszentrum Tegel“ gab es schon viele negative Berichte, wobei das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Kritik zurückwies. Ähnlich wie die verantwortlichen Behörden in anderen Orten. Doch die Missstände und Folgen sind offensichtlich. Forscher der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nannten etwa die beengten Wohnverhältnisse, über Monate, teils Jahre hinweg, sowie die schwierige Lebenssituation, etwa aufgrund des unsicheren Aufenthalts, als Gründe für eine schlechte psychische Gesundheit und Häufung von Gewaltdelikten in manchen Gemeinschaftsunterkünften.

Ein migrantischer Junge schaut in einen zerbrochenen Spiegel.

Vor allem junge Männer flüchten aus ihrem Heimatland vor Krieg und Gewalt nach Deutschland. Hier möchten sie ein neues Leben aufbauen und ihre Familie nachholen. Viele von ihnen werden Opfer von Rassismus. Diese und weitere Faktoren können psychische Erkrankungen fördern.

Durch den jetzigen Versorgungsstand würden Betroffene ständig durch das Raster fallen. Zeisler hat in der Vergangenheit als Psychologin in den zuständigen psychosozialen Zentren (PSZ) gearbeitet. Sie selbst habe häufig Folgendes erlebt: „Wir haben den Notarzt gerufen und die Klienten ins Krankenhaus gebracht – sie wurden gleich wieder entlassen.“

Für die Behandlung mit Medikamenten sind die Zentren auf psychiatrische Krankenhäuser und Fachärzte angewiesen. Da die Kosten aber nur begrenzt über das Asylbewerberleistungsgesetz abgerechnet werden können, haben Geflüchtete oft keinen Zugang zu dieser notwendigen Versorgung.

Ein Fakten-Check zur Versorgung

Um die Versorgung genauer zu verstehen, müssen Gesetze und Zahlen betrachtet werden: Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt nach Paragraf 4 und 6, wer Anspruch auf eine psychologische Versorgung hat. „Laut dem Gesetz dürfen in den ersten 36 Monaten nur Notfälle behandelt werden“, sagt Zeisler. Dazu komme noch, dass die Kostenübernahme von Sprachmittlern nicht geregelt sei.

Die psychosozialen Zentren würden versuchen, den Bedarf an Begleitung und Versorgung durch psychotherapeutische Angebote, psychosoziale Beratungen sowie Gruppenangebote zu decken. Die Versorgung bleibe trotz allem unzureichend. Gründe seien das überlastete Gesundheitssystem, die Hürden beim Zugang zur Regelversorgung und das Asylbewerberleistungsgesetz.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern.“

Anikó Zeisler

Zeisler gibt an, dass die Baff in den psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner 2022 nur 3,1 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs decken konnten. Die Studie „Psychische Erkrankungen bei Asylsuchenden in Deutschland – Versorgungslücke und Versorgungsbarrieren“ von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat 2020 ergeben, dass 59 Prozent der insgesamt 214 untersuchten Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften Symptome einer psychischen Erkrankung hatten. Doch in den Abrechnungsdaten der Sozialbehörden fand sich nur ein Anteil von 4,9 Prozent, der tatsächlich mit einer entsprechenden Diagnose das Gesundheitssystem kontaktierte.

Die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Baff
errechnete Versorgungsquote bei Geflüchteten von
3,1 Prozent ergibt sich aus den folgenden Daten:

3.087.650

geflüchtete Menschen leben in Deutschland.

923.595

geflüchtete Menschen haben eine Traumafolgestörung.

25.861

geflüchtete Menschen waren in psychosozialen Zentren.

2.803

Vermittlungen gab es an weitere Akteure.

Was sich ändern muss

Eine gute psychiatrische sowie psychotherapeutische Anbindung könne einen Beitrag dazu leisten, eine mögliche Fremdgefährdung zu reduzieren, erklären die beiden Experten im Gespräch immer wieder. Um dies zu gewährleisten, brauche es neben einem Zugang zum Gesundheitssystem eine dauerhafte, sichere Förderung der psychosozialen Zentren. Aktuell erhalte die Baff nur für jeweils ein Jahr befristet Fördermittel und müsse jährlich planen, welche psychologischen Angebote sie noch anbieten könnten. Auch BIOS bekomme keine dauerhafte Finanzierung.

Die zuständigen Ministerien der Bundesländer verweisen auf Anfrage des WEISSER RING Magazins auf psychosoziale Zentren als zentrale Anlaufstellen für die Versorgung Geflüchteter. Teilweise gibt es psychologisch geschultes Personal in den Unterkünften. Nordrhein-Westfalen plant darüber hinaus ein Präventionspaket von jährlich 18 Millionen Euro. Meist beziehen sich die Angebote auf Menschen mit laufendem Asylverfahren – für Neuangekommene fehlt oft psychologische Unterstützung. In Berlin hingegen erfolgt ein psychiatrisches Screening bereits bei der Erstuntersuchung; auch Dolmetscher-Leistungen sollen dort flächendeckend finanziert werden.

„Ich denke, wir verschwenden gerade sehr viel Energie und finanzielle Ressourcen damit, Menschen aufwendig an den Grenzen abzuschieben und die Grenzen abzusichern“, sagt Zeisler. Die Migrationsforschung zeige, dass dies auf lange Sicht nicht effektiv sei und Fluchtbewegungen immer stattfinden werden. Nachhaltiger sei es, die vorhandenen Ressourcen in die Integration und Versorgung von Geflüchteten zu stecken. „Die Integration wird zu stockend vorangetrieben. Die Menschen müssen schneller ins Arbeiten kommen, Stabilität und Struktur bekommen“, sagt Thomas Hillecke von BIOS.

Und er hat einen Wunsch: Die Gesellschaft müsse den zwischenmenschlichen Umgang ändern. Weniger Ausgrenzung, mehr Miteinander.

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Gregor

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

Ein Rassist mit einer paranoiden Schizophrenie ermordete Serpil Temiz Unvars Sohn Ferhat. Sie ist vom ebenfalls psychisch auffälligen Vater des Täters immer wieder gestalkt worden.

Serpil Unvar: Ihr Sohn wurde am 19. Februar von einem Rassisten in Hanau ermordet.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau den Sohn von Serpil Unvar aus rassistischen Motiven.

Mehr als fünf Jahre sind vergangen, seit mein 22-jähriger Sohn von einem Rassisten erschossen wurde. Einen größeren Schmerz gibt es nicht, er wird nie weggehen. Aber ich fühle, dass Ferhat noch da ist. Es ist, als würde ich weiter mit ihm in unserem Haus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt leben. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Spuren hinterlassen. Weil ich Ferhat sonst verlassen würde, werde ich auf keinen Fall wegziehen. Obwohl der Vater des Attentäters, der wie sein Sohn rassistisch und psychisch auffällig ist, in der Nähe wohnt. Lange hat er mir nachgestellt und Briefe geschickt, in denen er eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb.

Er stand vor meinem Fenster, verstieß gegen ein Kontakt- und Näherungsverbot. Sein Psychoterror hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine alleinerziehende, starke Frau bin, die in die Öffentlichkeit geht. In letzter Zeit ist es recht ruhig, doch ich gehe davon aus, dass er uns weiter Angst machen will.

In einem Sammelverfahren wurde er 2024 wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, Beleidigung und anderen Delikten zu einer Geldstrafe von gut 20.000 Euro verurteilt. Mein Anwalt forderte eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Das Urteil ist nicht hart genug.

Der Anschlag

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger in Hanau an zwei Tatorten neun Menschen aus rassistischen Motiven. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Laut dem forensischen Gutachten von Professor Henning Saß war der Attentäter paranoid-schizophren und rechtsextrem. Der Vater des Täters hat Anfragen bisher nicht beantwortet. In früheren Stellungnahmen wies er alle Vorwürfe zurück und stellte sich und seine Familie als unschuldige Opfer dar. Er tue niemandem etwas Böses. Und für die Morde – auch an seiner Frau und an seinem Sohn – sei eine weltweite Geheimorganisation verantwortlich.

Was muss noch alles passieren? Diese Frage stelle ich nicht nur für mich selbst. Vor allem Frauen werden oft massiv bedroht, etwa vom Ex-Partner, aber die notwendigen Konsequenzen bleiben aus. Trotz Warnsignalen. Diese gab es auch beim Attentäter von Hanau. Er schrieb zum Beispiel Briefe mit Verschwörungstheorien an Behörden, war mal in die Psychiatrie eingewiesen worden – und durfte legal Waffen besitzen. Wir müssen die Prävention verbessern, um solche Taten zu verhindern. Besonders wichtig ist das Waffenrecht. Waffen dürfen nicht in die Hände von Extremisten oder psychisch Kranken gelangen. Alle für Sicherheit zuständigen Stellen sollten Warnzeichen besser erkennen.

Wenige Monate nach dem Mord an meinem Sohn habe ich die nach ihm benannte Bildungsinitiative gegründet. Wir haben 45 Teamerinnen und Teamer ausgebildet, die an Schulen Workshops gegen Diskriminierung geben, deutschlandweit. Bald werden wir auch in Grundschulen unterwegs sein. Den Wunsch hatte mein jüngster Sohn, der auch Vorschläge für das Konzept macht.

„Sein Psychoterror gegen mich hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin.“

Serpil Temiz Unvar

Ende 2024 haben wir in Hanau eine internationale Konferenz mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Für das Leben“ veranstaltet, inspiriert von Ferhats Worten: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Wir haben mit Betroffenen über Hassverbrechen – antisemitische, islamistische, rechtsextremistische – und Strategien dagegen diskutiert. Alle haben die gleichen Schmerzen; im Endeffekt sind alle Opfer von Menschenfeindlichkeit. Wir müssen gemeinsam dagegen kämpfen. Überlebende und Hinterbliebene aus Utøya waren auch da. Sie haben bei der Prävention den Fokus früh auf Bildung gelegt und neben einem Museum durchgesetzt, dass der Anschlag in Norwegen Teil des Lehrplans ist.

Manchmal bin ich müde und traurig – auch wegen der aktuellen Krisen und rechten Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Aber aufzuhören oder aufzugeben ist keine Option, wir müssen zusammen und dagegenhalten. Ich glaube an das Gute im Menschen und die Möglichkeit zur positiven Veränderung. Was mir – neben Ferhat – Mut macht und mich antreibt, sind die jungen Menschen, die sich bei uns engagieren.

Transparenzhinweis:
Serpil Unvar wurde zeitweise vom WEISSEN RING unterstützt, unter anderem mit einer finanziellen Soforthilfe.

Die vergessenen Opfer

Erstellt am: Mittwoch, 18. Juni 2025 von Sabine

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer … die Liste ist lang. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters Rassismus erleiden.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed in Magdeburg: Er erfährt verstärkt Rassismus seit des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt.

Es wird gelacht, gemeinsam gegessen und gesprochen. Saeed Majed verbringt einen ganz normalen Freitagabend mit seinen Freunden. Bald wird die Stimmung aber kippen. Denn in ihrer Heimatstadt Magdeburg wird ein Mann mit seinem Auto auf den Weihnachtsmarkt rasen. Menschen sterben, werden schwerst verletzt und traumatisiert. Und auf Majed und seine Freunde wird eine Zeit voller rassistischem Hass und körperlicher Angriffe zukommen.

Der Anschlag hat nicht nur Magdeburg, sondern das ganze Land erschüttert. Sechs Menschen sind tot, 86 schwer verletzt. Dazu kommen 1200 weitere Betroffene wie Zeugen und Angehörige von Opfern. Es gibt aber noch eine Gruppe von Betroffenen, die in der öffentlichen Diskussion zumeist übersehen wird: Menschen, die wie der Täter einen Migrationshintergrund haben und deshalb angefeindet werden.

„Als wir die Nachricht hörten, wollten wir sofort die Nationalität des Täters wissen“, sagt Informatikstudent Saeed Majed (25). Aus Angst vor den möglichen Reaktionen, falls es kein Deutscher war. „Magdeburg ist unsere zweite Heimat – doch neben der Trauer mussten wir uns auf rassistische Anfeindungen vorbereiten, als bekannt wurde, dass der Täter aus Saudi-Arabien kam“, erklärt der gebürtige Syrer.

Schon am Tatabend wurde in der Stadt ein 18-jähriger Student mit Migrationsgeschichte verfolgt und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde in einem Fahrstuhl rassistisch beleidigt und gewürgt. Im Februar traf es erneut ein Kind: Ein 12-jähriges syrisches Mädchen wurde attackiert. Monate nach dem Anschlag bleibt die Stimmung angespannt – Ende April wurde ein Mann mit Migrationshintergrund vor seiner Haustür verprügelt.

Auch Saeed Majed wurde Opfer von rassistischer Gewalt. „Ich war in der Straßenbahn, als ein älterer deutscher Mann anfing, migrantisch aussehende Menschen zu beleidigen und zu bedrohen“, sagt er. Majed ging dazwischen. „Daraufhin beleidigte er mich rassistisch und wollte mich körperlich angreifen.“ Andere Fahrgäste,darunter auch Deutsche, wie Majed betont, gingen aber dazwischen. Der Student zeigte den Täter an. „Das Verfahren ist eingestellt worden, weil es nicht möglich war, einen Täter zu ermitteln“, stand in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft an Majed, das dem WEISSEN RING Magazin vorliegt. „Dabei begrüßte die gerufene Polizei damals den Mann mit seinem Nachnamen“, sagt
Majed. Eine Erklärung von der Magdeburger Staatsanwaltschaft blieb auf Anfrage unserer Redaktion aus.

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters nun Rassismus erleben.

Rassistische Gewalt

Seit dem Anschlag stieg die Zahl rassistischer Übergriffe in Magdeburg stark an. Vor dem Attentat wurden dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e. V. ein bis zwei Übergriffe pro Woche gemeldet; seitdem registrierte man bis zum 10. Januar bereits 20 rassistische Vorfälle, darunter Körperverletzungen, Beleidigungen und Drohbriefe. Saeed Majed, Mitglied des Syrisch-Deutschen Kulturvereins, berichtet im April von über 40 Fällen – von Diskriminierung bis Körperverletzung. Ein Verein, der eigentlich zwei Kulturen miteinander vereinen soll, war plötzlich für Opfer von rechter Gewalt zuständig. Der Verein arbeitet nun mit Beratungsstellen
wie „Entknoten“ und der Mobilen Opferhilfe zusammen. „Fast täglich gibt es Angriffe“, sagt Majed. Er schätzt die Dunkelziffer hoch ein, da viele Betroffene mit unsicherem Aufenthaltsstatus die Taten aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht melden.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Für Majed steht fest: „Die Medien sind mit dafür verantwortlich, dass es zu immer mehr rassistischen Übergriffen im Alltag kommt.“ In den Wochen nach dem Anschlag gab es Dutzende Schlagzeilen und Artikel, die die Herkunft des mutmaßlichen Täters betonten. Wovon kaum geschrieben wurde: Der Tatverdächtige hasst den Islam, ist ein Fan der nach Ansicht des Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistischen Partei AfD und hat rechtsradikale Inhalte im Internet veröffentlicht. Der Thüringer Verfassungsschutz sprach von „Extremismusbezügen nach rechts“, die Medien sprachen weiter von dem „saudiarabischen Mann“.

Eine Analyse zeigt, dass Medien verstärkt über Anschläge berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte hat:

1035

Beiträge über den Anschlag in Magdeburg.

951

Beiträge über den Anschlag in München.

486

Beiträge über den Anschlag in Mannheim.

Der Wahlkampf im Februar löste laut Saeed Majed eine neue Welle an Hass aus: „Es war extrem belastend.“ In Talkshows dominierte das Thema Migration, rechte Gewalt hingegen blieb weitgehend unbeachtet. Von Januar bis April hatte die ZDF-Politik-Talkshow „Markus Lanz“ 16 Sendungen zu Migration, aber nur zwei Sendungen thematisierten Rechtspopulismus. Auch in anderen politischen Talkshows wie „Hart aber fair“, „Caren Miosga“ und „Maybrit Illner“ liefen Sendungen zum Thema Migration, aber keine zur rechten Gewalt in Deutschland. Majed
warnt: „Die Menschen sitzen daheim, sehen das und denken: Die Ausländer sind schuld.“ Parallel nimmt rechte Gewalt stark zu. 2024 wurden laut Innenministerium 42.788 rechte Straftaten registriert, ein neuer Höchststand. In Brandenburg meldet die Polizei täglich zehn solcher Taten.

Dass Medien verstärkt berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte aufweist, verdeutlicht eine kürzlich durchgeführte Analyse des Kommunikations-Unternehmens Ippen Media. Demnach wurde über die Anschläge in Magdeburg und München mehr als doppelt so oft berichtet wie über die Tat in Mannheim, bei der der Tatverdächtige ein Deutscher ist. Leitmedien veröffentlichten über Magdeburg 1.035 Beiträge, über München 951 und über Mannheim nur 486. Online waren es laut Newswhip jeweils über 4.300 Artikel zu Magdeburg und München, aber nur 2.479 zu Mannheim.

Die Rolle der Medien

Elena Kountidou ist die Geschäftsführerin der Organisation „Neue deutsche Medienmacher*innen“, die sich kritisch mit der Berichterstattung auseinandersetzt. „Dass Medien überproportional häufig über Verbrechen von nicht deutschen Tatverdächtigen berichten, ist gefährlich für unsere Gesellschaft“, warnt sie. Der Grund: Dadurch entstehe ein verzerrtes Bild. Der Mensch erfahre Kriminalität kaum aus der eigenen Erfahrung, sondern durch die Berichterstattung. „Und dann wird es natürlich auch gefährlich für migrantisch wahrgenommene Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Kountidou. Es werde eine Polarisierung aufgebaut und ein Bild gezeichnet von den „guten Deutschen“ gegen die „bösen, nicht integrierten Ausländer“. Ein Narrativ, das sich in der Geschichte immer wieder finden lasse. „Die Folgen medialer Zerrbilder bekommen die betroffenen Menschen im realen Leben zu spüren, und das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Kountidou.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Die mediale Stigmatisierung führe zu mehr Rassismus in der Bevölkerung. Nach aktuellen Angaben des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors macht Rassismus krank. „Betroffene erleben mehr Stress, haben ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden und sind generell anfälliger für (psychische) Erkrankungen“, heißt es in dem Bericht.

So sollten Medien über Anschläge berichten

Die Medienexpertin beobachtet auch immer eine anlassbezogene Berichterstattung; so, als sei Migration ein Krisenthema. Dazu verwendeten Medien immer die gleichen stereotypischen Bilder: eine Frau mit einem Hijab und Plastiktüten in der Hand oder migrantisch aussehende Männer in einer großen Gruppe. „Es ist genauso möglich, die Menschen in einer positiven Lebenssituation darzustellen wie während der Arbeit oder mit der Familie auf einem Spielplatz“, sagt Kountidou.

Auch der Magdeburger Saeed Majed kritisiert die Darstellung und sagt: „Es fehlt an positiver Berichterstattung.“ In der Klinik
der Anschlagsopfer arbeiten Menschen aus über 20 Nationen; viele mit Migrationsgeschichte betrieben Stände auf dem Weihnachtsmarkt. „40.000 Menschen sind Teil dieser Gesellschaft – sie waren Zeugen, leisteten Erste Hilfe. Doch darüber spricht kaum jemand“, so Majed enttäuscht.

Viel mehr rechtsextreme Straftaten

Die Zahl politisch motivierter Straftaten in Deutschland ist 2024 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent gestiegen, auf 84.000. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist der größte Teil davon – fast die Hälfte – dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen. Dort gab es auch den stärksten Anstieg, um 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Bei 31 Prozent der Delikte waren „ausländische Ideologien“ der Hintergrund, bei zwölf Prozent Linksextremismus. Als Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Statistik Ende Mai vorstellte, sagte er: „Die größte Gefährdung für die Demokratie geht vom Rechtsextremismus aus.“ Die Gewaltdelikte in dem Bereich haben ebenfalls deutlich zugenommen, um gut 17 Prozent auf 1.488. Rechtsextreme begehen außerdem die mit Abstand meisten Gewaltstraftaten, bei denen Kinder und Jugendliche gesundheitlich geschädigt werden.

Medienschaffende sollten Verantwortung übernehmen und die Art der Berichterstattung beispielsweise über Anschläge ändern, findet auch Elena Kountidou. „Der Pressekodex verlangt einen verantwortungsvollen Umgang bei der Herkunftsnennung, damit es nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt“, sagt sie. Daher sollte ihrer Meinung nach die Herkunft nur genannt werden, wenn sie direkt in Verbindung zur Tat steht. In Magdeburg war dies nicht der Fall – der Tatverdächtige hatte ein rechtes Motiv und ist kein Islamist. Sie fordert, dass Journalisten bei Anschlägen gründlich recherchieren, faktenbasiert berichten, einordnen und ihre Aussagen mit Zahlen untermauern sollten – besonders in polarisierten Debatten.

Saaed Majed in Magdeburg am Dom. Nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed mag Magdeburg, doch denkt jetzt ans Wegziehen. „Mehrere Freunde sind schon gegangen. Nach zehn Jahren Studium, Arbeit und Ehrenamt“, sagt er. Sie fühlten sich nicht mehr willkommen, wurden beleidigt und angespuckt. Der Hass zerstöre die Vielfalt der Stadt. Noch hofft Majed auf eine Verbesserung. „Im April hatten wir unser Zuckerfest und haben alle dazu eingeladen. Es kamen 500 Menschen: Deutsche, Syrer, Ukrainer, alle waren zusammen. Dadurch haben wir noch Hoffnung.“

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Juliane

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Alle Jahre wieder: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt und umgehend emotional diskutiert. Das eine Medium schreibt in großen Lettern, wie gefährlich doch alles geworden sei, und das andere versucht, mithilfe von Kriminologen zu erklären, dass das gar nicht stimme mit der Gefährlichkeit. Wer hat recht? Und welche Aussagen trifft überhaupt die PKS? Eine kleine Analyse.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Arbeitsbericht. Das ist ein Begriff, den Kriminologen gerne nutzen, wenn es um die PKS geht. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist keine verlässliche Grundlage für irgendeine Aussage“, warnt Thomas Feltes. Der Kriminologe hatte bis 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Denn die PKS erfasst keine gerichtlich bestätigten Straftaten, sondern sogenannte Verdachtsfälle – also Anzeigen, unabhängig davon, ob es zur Anklage oder Verurteilung kommt. Laut Statistischem Bundesamt wird weniger als ein Drittel aller Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt. Die PKS spiegelt also nicht die Kriminalitätswirklichkeit wider – anhand ihrer Daten können keine Aussagen über aktuell lauernde Gefahren im deutschen Alltag getroffen werden.

Registrierte Gewaltdelikte steigen weiter

In diesem Jahr hat besonders die hohe Zahl der angezeigten Gewaltdelikte 2024 Wellen geschlagen. Während die Gesamtzahl aller Verdachtsfälle seit 2009 stetig sinkt, ist die Zahl der angezeigten Gewaltdelikte zuletzt tatsächlich gestiegen – auf 217.277 Fälle. Das liegt nur knapp unter dem Höchststand im Jahr 2007 mit 217.923 Fällen. Die Zahl ist also sehr hoch. Aber wird das Leben auf unseren Straßen tatsächlich immer gefährlicher, wie die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite schrieb? Sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt weiter? Das sind Fragen, die die PKS nicht beantworten kann.

Wird das Leben auf den Straßen tatsächlich immer gefährlicher?

Denn es gibt bei den gestiegenen Zahlen einiges zu beachten: Wo mehr angezeigt wird, steigen auch die Zahlen. Im ersten Moment bedeutet es lediglich, dass 2024 mehr Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht wurden – und das ist sogar etwas Gutes. Sensibilisierung, Aufklärung und der Ausbau von Opferschutzstellen haben beispielsweise dafür gesorgt, dass mehr Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt werden. Der aktuellste Periodische Sicherheitsbericht des BKA (2021) zeigt, dass die Anzeigerate bei Körperverletzungen zwischen 2012 und 2017 von 32,9 auf 36,6 Prozent gestiegen ist. Das veränderte Anzeigeverhalten kann direkten Einfluss auf die Statistik haben – ohne dass sich das reale Geschehen im gleichen Maß verändert haben muss. Darauf verweist die PKS 2024 selbst immer wieder. Zahlen zum aktuellen Anzeigeverhalten gibt es allerdings nicht. Natürlich ist es trotzdem wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo benötigt es jetzt besonders Prävention? Und da kann die PKS durchaus eine Unterstützung sein.

Migration und Kriminalität: Die Faktenlage

Besonders brisant wird die PKS im Zusammenhang mit Migration interpretiert – oft fälschlicherweise. Die „Bild“-Zeitung etwa suggeriert regelmäßig, die Statistik zeige eine klare Verbindung zwischen Migration und Kriminalität. Dabei betonte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der PKS 2024 ausdrücklich: „Es liegt nicht an der Herkunft.“ Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München kommt in seiner aktuellen Studie „Steigert Migration die Kriminalität?“ zu einem eindeutigen Ergebnis: „(Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität.“ Dies entspricht dem internationalen Forschungsstand.

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 36 %.

Zuwanderer machen weniger als 20 % aller Tatverdächtigen aus.

Amnesty International hat Anfang April einen offenen Brief mit dem Titel „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet“ gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen und Initiativen veröffentlicht, um gegen das verbreitete Narrativ von den „kriminellen Migrant*innen“ vorzugehen.

Auch ist die Kategorie „Nichtdeutsche“ wenig aussagekräftig. Sie umfasst nämlich sehr unterschiedliche Gruppen – von Touristen und reisenden Straftätern über Geflüchtete bis hin zu dauerhaft hier lebenden Personen ohne deutschen Pass.

Die Fakten: Trotz eines Anstiegs der ausländischen Bevölkerung um 72 Prozent zwischen 2005 und 2023 lag die Zahl der allgemeinen registrierten Straftaten 2024 laut PKS rund 11,7 Prozent unter dem Niveau von 2005, wie der Mediendienst Integration veröffentlichte. Die gestiegene Zuwanderung hat also – anders als häufig behauptet – nicht zu einem gleichzeitigen Anstieg von erfassten Straftaten geführt.

Erheblich verzerrt wird die PKS durch sogenanntes Racial Profiling

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 3,6 Prozent. Das Bundeskriminalamt weist zudem darauf hin, dass die nichtdeutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Entsprechend sei es statistisch zu erwarten, dass auch die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger absolut steigt. Zuwanderer machen weniger als 20 Prozent aller Tatverdächtigen
aus. In Deutschland leben 83,6 Millionen Menschen, von denen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,3 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte haben und 12,3 Millionen Ausländer sind.

Bei den Gewaltdelikten allerdings stieg die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen um 7,5 Prozent auf 85.012. Aber auch
diese Zahl muss eingeordnet und sollte nicht absolut betrachtet werden. Erheblich verzerrt wird die PKS nämlich durch sogenanntes Racial Profiling: Laut einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration werden Personen, die als „ausländisch“ wahrgenommen werden, etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie als „deutsch“ wahrgenommene Menschen. Auch BKA-Präsident Holger Münch spricht von einem Verzerrungseffekt und sagt: „Wenn uns jemand sehr fremd erscheint, neigen wir eher dazu, Anzeige zu erstatten.“

„Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden“

 

Schlagzeilen über die Polizeiliche Kriminalstatistik

Auch die Lebenssituation spiele eine Rolle: In Massenunterkünften für Geflüchtete leben meist junge Männer teilweise Jahre auf engstem Raum zusammen. Kriminologin Gina Wollinger verweist darauf, dass es in Unterkünften häufiger zu Kontrollen komme oder bei Konflikten die Polizei gerufen werde als in privaten Kontexten. Sie sagt: „Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden.“

Pandemie-Effekte und ihre Spätfolgen

Ein weiteres großes Thema in den Medien war nach der Vorstellung der PKS 2024 die gestiegene Zahl der Verdachtsfälle im Bereich Gewaltkriminalität, bei denen der mutmaßliche Täter ein Kind oder Jugendlicher war. Oft wurde der Begriff „junge Täter“ verwendet. Auch diese Aussage ist auf Grundlage der PKS nicht korrekt. Schließlich fehlt die juristische Schuldfeststellung, und solange gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung der Zahlen: Die Folgen der Corona-Pandemie wirken bis heute nach, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastung gerade bei Kindern und Jugendlichen über diese Zeit der Beschränkung hinauswirkt, also aktuell noch andauert“, so BKA-Chef Münch. Solche Ausnahmesituationen beeinflussen die Kriminalitätszahlen. Dank der PKS wird deutlich, dass die betroffene Altersgruppe weiterhin Unterstützung benötigt, um die psychische Belastung durch die Pandemie zu verarbeiten. Panikmache durch stigmatisierende Aussagen wie „Kinder und Jugendliche werden immer gefährlicher“ helfen nicht.

Mehr Prävention statt Schuldzuweisung

Fazit: Die Diskussion über Kriminalität braucht mehr Sachlichkeit. Weitere Stigmatisierung von Menschen mit einer Migrationsgeschichte führt nicht zu einem gewaltfreien Miteinander. Kaum eine Rolle spielt in der aufgeheizten Diskussion, dass Migranten zunehmend Zielscheibe von Gewalt und Hass werden. Die erfassten rechten Delikte sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und erlangten 2024 einen neuen Rekord mit 42.788 Verdachtsfällen. Beratungsstellen für Opfer von rassistischer Gewalt verzeichnen immer mehr Betroffene. Dazu benötigt es weiter Präventionsarbeit: Psychologische Betreuung, Integrationsarbeit und Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind wirksamer als pauschale Schuldzuweisungen. Die PKS kann Hinweise geben, wo es Handlungsbedarf gibt, etwa bei Gewaltdelikten oder Jugendkriminalität – aber sie ist kein Spiegel objektiver Realität. Kriminalität ist komplexer, als sie in Zeitungsschlagzeilen oft dargestellt wird.

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

„ Ohne Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS eine Arbeitsstatistik.“

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins. Jörg Ziercke

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

Sie haben als BKA-Präsident lange die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verantwortet und vorgestellt. Was ist die PKS für Sie?

Die Kriminalstatistik ist eine valide Annäherung an die reale Wirklichkeit – allerdings ohne zu wissen, wie nah man herankommt. Um zu verstehen, was die tatsächliche Situation ist, müssen das Hellfeld – also polizeilich registrierte Fälle – und das Dunkelfeld betrachtet werden. Bei der Internetkriminalität etwa gibt es ein großes Dunkelfeld. Ohne mehr Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS lediglich eine Arbeitsstatistik der Polizei. Die Ergebnisse hängen zudem stark von der Bevölkerung ab, da nur fünf bis acht Prozent der Anzeigen durch die Polizei erstattet werden. Die PKS ist eng mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Kriminalität und dem Vertrauen in die Polizei verknüpft.

Lassen sich mit der PKS Schlagzeilen wie „Das Leben auf unseren Straßen wird immer gefährlicher“ begründen?

Nicht wirklich. Man kann sagen, dass die Zahlen gestiegen oder örtliche Brennpunkte erkannt worden sind. Aber ich bin gegen dramatisierende Schlagzeilen wie die von Ihnen genannte, da sie das Sicherheitsgefühl der Menschen stark beeinflussen können. Die Person, die nachts auf der Straße
bei einem Überfall um Hilfe ruft, bekommt eventuell keine Hilfe, weil die Angst die Straßen leergefegt hat. Zivilcourage braucht Unterstützung auch durch andere Personen. Bei der Vorstellung der Statistik werden die Trends und Schwerpunkte der Arbeit der Polizei durch den Bundesinnenminister und das Bundeskriminalamt der Öffentlichkeit ausführlich erläutert. Erfahrene Journalistinnen und Journalisten bewerten die Zahlen und Aussagen zusätzlich. Das Hauptproblem ist die reißerische Überschrift.

Welche Zahlensammlung bräuchten wir, um ein genaueres Bild von der Sicherheit zu bekommen?

Eine Gewichtung der Straftaten wäre sinnvoll. Ein Mord wird statistisch genauso gezählt wie ein Diebstahl. Die enorme Anzahl der Ladendiebstähle oder Sachbeschädigungen relativiert das Gesamtbild der Kriminalität. Die Zahl der Straftaten ist zwar insgesamt höher, aber die Schwere der verschiedenen Straftaten wie zum Beispiel durch einen Mordfall geht in den Gesamtzahlen unter. Ferner müsste die Polizei- mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz im Zusammenhang betrachtet werden. Das Problem ist, dass alles zeitversetzt stattfindet: Eine Tat, die jetzt passiert, wird nicht sofort abgeurteilt. Zu bedenken ist auch,
dass die Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften bei polizeilich durchermittelten Fällen aus unterschiedlichen Gründen hoch sind, circa 60 Prozent. Neben den deliktischen Verurteilungsquoten der Gerichte sollte man sich die Rückfallquoten der verurteilten Täter anschauen. Mit dieser Bewertung kämen wir der Realsituation ein ganzes Stück näher. Sinnvoll wäre auch eine Verlaufsstatistik für Beschuldigte – von der Anzeige bis zur Verurteilung –, aus der sich die Wirksamkeit der Maßnahmen von Polizei und Justiz ablesen ließe.

Wie sicher leben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland?

Wir leben immer noch in einem der zehn sichersten Länder der Welt. Diese Bewertung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Staaten. Eines sollten wir aber nicht übersehen: Die täglichen Nachrichten liefern uns die besonders schwere Kriminalität aus aller Welt ins Wohnzimmer. Auch das beeinflusst unsere Angst vor Kriminalität!

Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 7. Mai 2025 von Selina
Anschlag in Magdeburg. Cover von Podcast "NSU Watch": Es geht um Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg.

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Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

NSU Watch und VBRG e.V.

Angst, Einschränkungen und soziale Isolation. So geht es Menschen mit Migrationsgeschichte nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden und über 1.200 Betroffene. Der Täter: ein 50-jähriger Psychiater, saudi-arabischer Herkunft. In Magdeburg stieg die Zahl der rassistischen Angriffe nach dem Anschlag erheblich. In der 55. Folge der Podcast-Serie von der bundesweiten Initiative „NSU Watch“ und dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), berichten Betroffene und Opferberater von der Zeit nach dem Anschlag. Sie berichten über Menschen, die migrantisch wahrgenommen werden und deshalb Angst haben und überlegen, die Stadt zu verlassen.

Bereits am Abend des Anschlages wurde ein 18-jähriger Student von einer Männergruppe bedroht und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde im Fahrstuhl seines Wohnhauses von Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt. Der Podcast zeigt eindrücklich: Rassistische Gewalt eskaliert weiter und Kinder werden nun auch häufiger zu Opfern, weil migrantische Menschen in Sippenhaft genommen werden.

verband-brg.de/folge-55-eskalation-rassistischer-gewalt-in-magdeburg/

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Brutale Fouls im Netz

Erstellt am: Montag, 7. Oktober 2024 von Juliane

Brutale Fouls im Netz

Sie werden bewundert und gefeiert, aber auch mit Hassbotschaften überhäuft und mit dem Tode bedroht: Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sind in den sogenannten sozialen Netzwerken in hohem Maße digitaler Gewalt ausgesetzt. Eine Spurensuche in der Welt des Leistungssports.

Ein Foto zeigt Bundestrainer Julian Nagelsmann

Bundestrainer Julian Nagelsmann. Foto: Tom Weller/dpa

I. Der Hass

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat in seiner Zeit als Coach des Fußballvereins Bayern München 450 Morddrohungen erhalten, nachdem die Bayern im April 2022 gegen Villareal aus der Champions League ausgeschieden waren. Sogar seine Mutter wurde bedroht, sagte Nagelsmann bei einem Pressegespräch am 15. April 2022.

Fußballerin Svenja Huth freute sich nach der Weltmeisterschaft in Australien im November 2023 über Nachwuchs. Der offizielle Kanal der DFB-Frauen veröffentlichte auf X (ehemals Twitter) ein Bild der Spielerin mit ihrer Ehefrau und einem Kinderwagen. Unter dem Beitrag vom 27. November 2023 sammelten sich Hasskommentare.

Wir haben auf Hass und Hetze lange jeweils im Einzelfall reagiert. Jetzt halten wir auch juristisch und politisch dagegen.

Michael Schirp, Sprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Eishockey-Nationalspieler Moritz Müller wurde bei einem Spiel seines Klubs Kölner Haie gegen Ingolstadt wegen eines Fouls vom Platz gestellt. Auf Instagram schrieb ein Unbekannter am 7. Januar 2024 unter ein Bild Müllers mit seinen drei Kindern, dass er für diese Leistung die Kinder des Sportlers töten würde.

Leichtathlet Owen Ansah ist der erste Deutsche, der die 100 Meter in unter zehn Sekunden lief. Nach seinem Rekordlauf bei den deutschen Meisterschaften in Braunschweig am 29. Juni 2024 hagelte es rassistische Kommentare in den sozialen Medien.

Brutale Fouls im Netz

Digitale Gewalt im Spitzensport

Fußballerin Sharon Beck vom SV Werder Bremen erhielt im August 2024 bei X (ehemals Twitter) eine antisemitische Hass-Nachricht, in der der israelischen Nationalstürmerin und ihrer Familie der Tod gewünscht wird.

Es sind fünf Beispiele aus drei Sportarten, die zeigen: Es sind keine Einzelfälle. Ob Sieg oder Niederlage, freudiges Ereignis oder Rekord. Hassbotschaften sind für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler trauriger Alltag. Die Kommentare sind antisemitisch, rassistisch, homophob, bösartig und bedrohlich.

„Cybermobbing ist bereits seit vielen Jahren ein sehr ernst zu nehmendes Problem“, sagt Ulf Baranowsky, Geschäftsführer der Fußballer-Spielergewerkschaft VDV. Michael Schirp, Sprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), resümiert: „Wir haben auf Hass und Hetze lange jeweils im Einzelfall reagiert. Wir sind aber inzwischen an einen Punkt gekommen, wo das, ebenso wie bloße Bekenntnisse oder Solidaritätsbekundungen mit Betroffenen, nicht mehr ausreicht. Wir halten jetzt auch juristisch und politisch dagegen.“

II. Ein Wendepunkt

Die Weltmeisterschaft der deutschen U17-Fußballer im Winter 2023 in Indonesien markiert einen Wendepunkt im Umgang der großen Sportverbände und Vereine mit dem Thema Hass und Hetze. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte zum Einzug der Nachwuchs-Kicker ins Viertelfinale ein Bild der vier deutschen Nationalspieler Paris Brunner, Charles Herrmann, Almugera Kabar und Fayssal Harchaoui auf seinem Facebook-Account gepostet. Unter dem Bild liefen dermaßen viele rassistische Kommentare ein, dass der DFB sich gezwungen sah, die Kommentarfunktion abzuschalten. Kurz zuvor waren bei der U21-EM in Georgien und Rumänien bereits die deutschen Nationalspieler Youssoufa Moukoko und Jessic Ngankam rassistisch beleidigt worden. Sie hatten jeweils einen Elfmeter im Spiel gegen Israel verschossen. „Wenn wir gewinnen, sind wir alle Deutsche. Wenn wir verlieren, kommen diese Affen-Kommentare“, sagte der damals 18-jährige Moukoko. Die Vorfälle wirkten wie ein Weckruf für die Verbände.

Mit Blick auf sportliche Großereignisse wie die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und die Olympischen Spiele in Paris intensivierten Sportverbände wie der DFB, der DOSB oder die Deutsche Fußball Liga (DFL) gemeinsam ihren Kampf gegen Hassrede. Denn solche Großereignisse bieten nicht nur den Aktiven eine große Bühne, sondern auch den Verfassern von Hassbotschaften im Netz. „Wer meint, im Stadion oder beim Sport überhaupt sei es okay, da dürfe man auch mal rassistische, homophobe, antisemitische oder muslimfeindliche Sprüche raushauen, der irrt gewaltig“, teilte DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann mit, als die großen Sportverbände im Mai 2024 eine neue Allianz aus Verbänden und Strafermittlern vorstellten. „Fair Play endet nicht an der Seitenlinie.“

 

Eine Illustration, die ein wütendes Smiley zeigt

Böse Fouls in den sozialen Medien gegen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sollen seitdem verstärkt auf den Schreibtischen der Staatsanwaltschaften landen: Seit Mai 2024 kooperieren die Sportverbände offiziell mit der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main. Die Verbände arbeiten eng mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen und erstatten Strafanzeigen, wenn gewalttätige, rassistische oder diskriminierende Sprache verwendet wird.

Dass die Sorge der großen Verbände begründet war, zeigte sich dann während der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und den Olympischen Spielen in Paris. Nach Angaben des hessischen Justizministeriums hat die ZIT allein bis Juli 2024 mehr als 1.000 Hasskommentare gemeldet bekommen und davon mehr als 800 strafrechtlich relevante Hasskommentare identifiziert, die sich allein auf das DFB-Team bezogen. Eine abschließende Auswertung sei derzeit in Arbeit, teilte die ZIT auf Anfrage des WEISSEN RINGS mit. Bei den Olympischen Spielen in Paris registrierte die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mehr als 8.500 gezielte Beschimpfungen gegen Athletinnen und Athleten sowie ihr Umfeld.

III. Online-Hass in der Bundesliga

In der Fußball-Bundesliga entstanden zeitgleich mehrere Allianzen aus Justiz, Polizei und Fußballvereinen. In Bayern gibt es eine Kooperation des bayerischen Fußball-Verbandes mit der Münchner Generalstaatsanwaltschaft. Einem Aufruf des Fußball-Bundesligisten VfL Bochum unter dem Motto „Wer hetzt, verliert“ haben sich sämtliche NRW-Klubs der Bundesliga und 2. Bundesliga angeschlossen, sie kooperieren seit April 2024 mit der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) bei der Staatsanwaltschaft Köln. Der VfL Bochum hatte die Kooperation bereits im Dezember 2023 ins Leben gerufen.

Ex-Bundesliga-Profi Andreas Luthe, der seine aktive Profilaufbahn in diesem Jahr beim VfL Bochum beendete, saß bei der Auftaktveranstaltung auf dem Podium. Der Fußballer erlebte im Januar 2023 selbst, wie es sich anfühlt, das Ziel von Hass und Hetze zu sein. Der Torwart hatte mit dem 1. FC Kaiserslautern, bei dem er damals noch unter Vertrag stand, ein Spiel in Hannover gewonnen. Er selbst hatte mit guten Paraden in der Schlussphase maßgeblichen Anteil an dem Sieg. Eigentlich ein schöner Tag für Luthe, doch es folgte kübelweise Hass. „Bekomme ganz widerliche Nachrichten von @Hannover96-#Fans. Wusste gar nicht, dass Familien den Tod zu wünschen so in Mode geraten ist. Der Trend ist an mir vorbeigegangen…“, schrieb Luthe damals auf seinem Twitter-Account.

Der Verein mit der größten Social-Media-Reichweite unter den an „Wer hetzt, verliert“ beteiligten Klubs ist Borussia Dortmund. Der BVB hat bei Instagram 21 Millionen Follower, bei Facebook 15 Millionen und bei „X“ (ehemals Twitter) fast 4,5 Millionen.

Ein Foto zeigt Julian Bente. Er arbeitet beim Fußballverein Borussia Dortmund.

Schwer beschäftigt: Julian Bente aus dem Social-Media-Team von Borussia Dortmund. Foto: Hendrick Decker/BVB

Dortmund, im August 2024. Im Raum „Berlin“ im fünften Stock der Geschäftsstelle des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund hängen großformatige Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Jahre 1989. Eines zeigt den jubelnden Kapitän Michael Zorc. Auf einem anderen reckt Andreas Möller im BVB-Trikot den DFB-Pokal in die Höhe, daneben steht lachend Norbert Dickel, der heutige Stadionsprecher des BVB. Mit Anfeindungen auf Social Media mussten sich diese drei ehemaligen Fußballprofis damals nicht beschäftigen. Heute steht das Thema sehr weit oben auf der Agenda des Vereins.

„Ein entschlossenes Vorgehen gegen Hate Speech im Netz ist uns bei Borussia Dortmund enorm wichtig“, sagt Sascha Fligge, Direktor Kommunikation beim BVB, der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Dank verschiedener Maßnahmen haben wir die Möglichkeit, die Verfasser von Hasskommentaren strafrechtlich zu verfolgen und unsere Spieler somit noch besser zu schützen. Auch mit Blick auf die Größe unserer Kanäle arbeiten wir weiter daran, unsere Kommentarspalten in den sozialen Medien so sauber wie möglich zu halten.“

Julian Bente aus dem Social-Media-Team und Syndikus-Anwältin Kristina Rothenberger betreuen bei Borussia Dortmund das Projekt „Wer hetzt, verliert“. „Wenn Kommentare oder Nachrichten im Netz nicht mehr bloß freie Meinungsäußerungen sind, können wir jetzt über dieses digitale System Anzeige erstatten“, erklärt Rothenberger. „Wir wollen deutlich machen, dass es bei aller Emotion und Leidenschaft im Sport auch Grenzen gibt – das Internet ist kein rechtsfreier Raum“, ergänzt die Syndikus-Anwältin, beim BVB zuständig für alle rechtlichen Belange auf und neben dem Platz.

„Wer hetzt, verliert“ funktioniert so:

Die Vereine dokumentieren die Fälle, machen Screenshots und sammeln alle verfügbaren Informationen zum Absender der Hassbotschaften. Diese Dokumente werden dann auf dem Computer einfach in einen Ordner geschoben und landen über eine Schnittstelle bei der ZAC. Dort überprüfen die Expertinnen und Experten die angezeigten Posts auf strafrechtliche Relevanz und leiten im Verdachtsfall Ermittlungsverfahren ein. „Insgesamt besteht ein sehr enger Austausch mit den beteiligten Vereinen. Konkrete Sachverhalte werden daher teils im Vorfeld einer Anzeigenerstattung auch telefonisch erörtert“, schildert Staatsanwalt Dr. Christoph Hebbecker, Pressesprecher der ZAC NRW. Doch häufig gestaltet sich die Identifizierung der hinter den Kommentaren stehenden Personen schwierig – nicht zuletzt, weil die Polizei hierbei auf die Kooperation großer Plattform-Betreiber wie Meta oder Google angewiesen ist.

"Ich werde attackiert, weil ich schwarz bin, meine Frau Ellen, weil sie mit einem Schwarzen zusammen ist."

Dennis Schröder, Basketball-Nationalspieler (Quelle: Der Spiegel)

Nach Spielen des BVB werden die Vereinskanäle mit Hunderten Kommentaren geflutet, besonders bei Niederlagen. „Kritik an den Spielern ist völlig in Ordnung, aber sobald es ausfallend wird, reagieren wir“, sagt Julian Bente. „So traurig das ist, es wird gefühlt immer mehr.“ Mehr Kanäle, mehr Follower, mehr Hass. Besonders bedrückend: An Aktionsspieltagen der Deutschen Fußball Liga gegen Rassismus oder Antisemitismus ist der Anteil von Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken besonders hoch. Als Borussia Dortmund in der Saison 2022/2023 in Gladbach im Regenbogen-Trikot als Zeichen für mehr Vielfalt und gegen jede Form von Diskriminierung auflief und das Spiel verlor, folgten mehrere Tausend negative bis beleidigende Kommentare auf der Facebook-Seite des BVB. Auf dem Bild, an dem sich die Leute damals abgearbeitet haben, war lediglich das Trikot zu sehen, auf dem die Logos der Sponsoren in Regenbogenfarben leuchteten. „Das war wirklich krass“, erinnert sich Bente, der an diesem Tag stundenlang am Laptop saß und die übelsten Kommentare händisch ausblenden musste.

Heute setzt der BVB zusätzlich zum menschlichen Community-Management des Social-Media-Teams auf die Hilfe einer KI, um die Masse der Kommentare auf den klubeigenen Kanälen zu sichten. Das Filterprogramm „GoBubble“ durchsucht Instagram, Facebook und Twitter nach vorgegebenen Wörtern und Emojis und blendet anstößige Beiträge automatisch aus. Der Clou: Während der Kommentar für alle anderen ausgeblendet ist, wird dieser dem Verfasser weiter angezeigt. „So fühlt er sich nicht dazu animiert, weitere Hasskommentare nachzulegen, wie es sonst nach dem Löschen erfahrungsgemäß passiert“, erklärt Bente.

„Oft findet man Hass und Hetze auf unseren offiziellen und öffentlichen BVB-Kanälen, die wir im Social-Media-Team betreuen – aber uns war es besonders wichtig, die Spieler beim Projekt ‚Wer hetzt, verliert‘ mit ins Boot zu nehmen. Denn wir wissen, dass sie in ihren Privatnachrichten noch sehr viel heftiger angefeindet werden als unter unseren öffentlichen Beiträgen“, sagt Bente. Kristina Rothenberger informierte die Spieler von den Profis bis zur U17 über die neue Kooperation. Das seien sehr gute Gespräche gewesen, in denen die Spieler offen erzählt hätten, welche Erfahrungen sie mit Hass und Hetze machen und wie sie damit umgehen. Und das sei sehr unterschiedlich.

"Wir wollen schon bei unseren Jugendspielern die Weichen stellen. und sie dafür sensibilisieren, dass es keine Schwäche ist, darüber zu sprechen, und dass Beleidigungen und Bedrohungen durch keine Rote Karte, keinen verschossenen Elfmeter oder sonst wie zu rechtfertigen sind."

Kristina Rothenberger

„Eine Fußballmannschaft ist sehr divers“, sagt Rothenberger. Das Team vereint Spieler vom 17- bis zum 35-Jährigen, vom Introvertierten bis zum Extrovertierten. Manche glauben, Hass auszuhalten gehöre dazu im Profisport, andere nehmen sich das sehr zu Herzen, wieder andere bleiben den sozialen Netzwerken gleich ganz fern. „Wir wollen schon bei unseren Jugendspielern die Weichen stellen und sie dafür sensibilisieren, dass es keine Schwäche ist, darüber zu sprechen, und dass Beleidigungen und Bedrohungen durch keine Rote Karte, keinen verschossenen Elfmeter oder sonst wie zu rechtfertigen sind“, sagt Rothenberger.

Manchmal staunen Rothenberger und Bente über die Urheber der Hassnachrichten. „Nicht wenige setzen sich sogar hin und schreiben eine E-Mail – teilweise mit Klarnamen“, sagt Rothenberger. „Wir beobachten, dass gerade nach Niederlagen unserer Mannschaft viel Hass und Hetze kommen“, so Bente. „Und es kommt auch nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Ausland.“

Seit dem Projektstart von „Wer hetzt, verliert“ im Frühjahr 2024 haben die beteiligten Vereine aus der 1. und 2. Liga nach Angaben der ZAC NRW insgesamt 16 Anzeigen erstattet. In zehn Fällen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Von diesen zehn Ermittlungsverfahren wurden fünf eingestellt, da ein Beschuldigter nicht ermittelt werden konnte. In einem Verfahren konnte ein Beschuldigter ausfindig gemacht werden. Das Verfahren wurde an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Bielefeld abgegeben. In den übrigen Verfahren dauern die Ermittlungen noch an. „Tatvorwurf war zumeist Beleidigung, teils aber auch Bedrohung oder Volksverhetzung“, sagt ZAC-Sprecher Hebbecker.

„Facebook ist besonders toxisch“

Dr. Daniel Nölleke erforscht das Thema Online-Hass im Leistungssport an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er spricht im Interview über Hass bei den Olympischen Spielen in Paris, über Gruppendynamik in Fankurven und erklärt, warum er den Einsatz von künstlicher Intelligenz gegen Hassrede im Internet problematisch findet.

Acht der 16 bei der ZAC NRW eingegangenen Anzeigen hat Borussia Dortmund gestellt. „Wir konzentrieren uns dabei auf Fälle, bei denen es uns realistisch erscheint, dass diese auch strafrechtlich verfolgt werden können“, erläutert die BVB-Anwältin. Manche Dinge seien zwar schwer erträglich zu lesen, hätten aber noch nicht die Hürde zur Strafbarkeit genommen. Während Bedrohungen oft klar einzuordnen seien, sei das bei Beleidigungen schon schwieriger. Zumal die beleidigte Person laut Paragraf 194 im Strafgesetzbuch selbst einen Strafantrag stellen muss. „Es würde sehr viel vereinfachen, wenn wir das allein als Verein machen könnten, um die Spieler zu schützen“, sagt Rothenberger. Eine rechtliche Hürde, die DFB und DOSB bereits an die Politik adressiert haben.

Im Juni 2024 beschäftigten sich die Justizministerinnen und Justizminister der Länder mit dem Phänomen Hate Speech im Zusammenhang mit sportlichen Wettkämpfen. Die Justizministerkonferenz erkannte dabei eine Zunahme von Hass und Hetze nicht nur im Bereich des Sports, sondern nahm „mit Sorge eine gesamtgesellschaftliche Zunahme von rassistischen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Beleidigungen zur Kenntnis“, wie es in einem ihrer Beschlüsse heißt. Die Justizministerkonferenz bat deshalb Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), bis zu ihrer Herbstkonferenz im November 2024 zu prüfen, „ob Beleidigungen, die einen rassistischen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Inhalt haben oder von derartigen Beweggründen getragen sind (sog. Hate Speech) und damit die Grundwerte eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens berühren, unabhängig vom Vorliegen eines Strafantrags verfolgbar sein sollten“. Der Ball liegt jetzt also bei Bundesjustizminister Buschmann.

IV. Die Spitze des Eisbergs

Die Sportpsychologin Marion Sulprizio von der Deutschen Sporthochschule Köln geht davon aus, dass die Dunkelziffer bei von Hass und Hetze betroffenen Sportlerinnen und Sportlern sehr hoch ist. Als Geschäftsführerin von „MentalGestärkt“, einer Initiative zur psychischen Gesundheit im Leistungssport, hat sie am Psychologischen Institut der Sporthochschule direkt mit Betroffenen zu tun. „Wir sehen in der Praxis nur die Spitze des Eisbergs. Der Leistungsdruck im Spitzensport ist ohnehin sehr hoch. Gerade in der Sportwelt wird es leider immer noch viel zu häufig mit Schwäche assoziiert, sich zu outen und zu sagen: Das hat mich sehr verletzt, das setzt mir zu, mir geht’s nicht gut“, sagt Sulprizio. Trainer oder Betreuerinnen sollen von der Verletztheit möglichst nichts erfahren, weil Betroffene fürchten, dann nicht mehr aufgestellt zu werden. Sponsoren sollen es nicht wissen, weil sie abspringen könnten. Kurzum: Es soll nicht öffentlich werden.

Das Foto zeigt Marion Sulprizio. Sie blickt in die Kamera. Hinter ihr an der Wand sieht man das Logo der Deutschen Sporthilfe.

Geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus: Sportpsychologin Marion Sulprizio. Foto: DSHS

Dabei sei die Wucht von Hass und Hetze im Leistungssport nicht zu unterschätzen, sagt Sulprizio: „Früher haben einen die Fans von der Tribüne beschimpft oder mal einen bösen Brief geschrieben. Das waren punktuelle Ereignisse. In Zeiten von Social Media sind Hass und Hetze aber allgegenwärtig.“ Millionen Menschen können bösartige Kommentare zu Leistung, Aussehen oder Gewicht der Sportlerinnen und Sportler lesen. Das könne bei Betroffenen ein massives Gefühl der Ungerechtigkeit und Selbstzweifel auslösen. Bedrohungen seien eine weitere Form digitaler Gewalt. Die Sportpsychologin zählt auf: „Depressionen, Essstörungen oder Angst – die potenziellen Auswirkungen bilden eine breite Palette psychischer Erkrankungen ab.“ „Die Krux ist, dass sie die Social-Media-Kanäle heute für ihre Karriere brauchen. Die können sie nicht einfach ausschalten – da geht es schlicht auch um Reichweiten und Verdienstmöglichkeiten.“ Viele Sportlerinnen und Sportler halten über Social-Media-Accounts Kontakt zu ihren Fans und bauen sich selbst als Marke auf.

V. Auf der Suche nach Auswegen

Wenn der Sport ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann wird hier deutlich, dass sich gesellschaftlich etwas massiv verschoben hat. „Es ist sehr offensichtlich, dass da Grenzen verschoben worden sind in Bezug auf Hass und Hetze – auch weil es so vorgelebt wird von populistischen Politikerinnen und Politikern“, sagt Dr. Daniel Nölleke, Juniorprofessor an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Weil immer seltener zwischen Fakten und Meinungen getrennt wird. Weil es schnell heißt, das ist ‚Cancel Culture‘ oder ‚Hier wird meine Redefreiheit eingeschränkt‘, sobald etwas gegen Hassrede gesagt wird.“ Dabei spiele die vermeintliche Anonymität im Internet gar nicht die entscheidende Rolle. „Die Leute machen das sehr oft unter ihren Klarnamen“, sagt Nölleke.

„Ich glaube schon, dass man eine Grundhaltung haben muss, dass das in unserer Gesellschaft niemals normal sein darf“, sagte Fußballer Andreas Luthe in einem Interview mit dem SWR. „Ich bin schon der Meinung, dass man Kritik an mir üben darf und ich als Person des öffentlichen Lebens das zu akzeptieren habe“, sagte Luthe zum Auftakt der Allianz „Wer hetzt, verliert“ in Bochum. „Aber sobald es konkrete Drohungen gegen das Leben von mir oder meiner Familie betrifft, dann ist eine Grenze überschritten.“ Er selbst habe die Kommentarfunktion unter seinen Social-Media-Beiträgen abgeschaltet, wenn es wieder mal zu heftig wurde. Peter Schmitt vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) sagt: „Die einen gehen aktiv gegen Diffamierung vor wie Malaika Mihambo. Andere holen sich eine Beratung über den DLV, und wieder andere ignorieren die Posts.“ Die Spielergewerkschaft VDV hat, so erzählt es Geschäftsführer Ulf Baranowsky, aufgrund zahlreicher Hinweise von Spielern unterschiedliche Hilfsangebote entwickelt, von der Rechtsberatung über psychologische Unterstützung bis zu Präventionsschulungen.

Die Moderatorin Lola Weippert steht vor einem roten Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Jetzt reicht es uns!

Der Hass im Netz trifft immer öfter Prominente – und viele von ihnen wollen die digitale Gewalt nicht mehr hinnehmen.

Ein ernüchterndes Fazit zog Ex-Bayern-Trainer Julian Nagelsmann damals im April 2022 bei der Pressekonferenz angesichts der 450 Morddrohungen gegen ihn und seine Mutter: Natürlich könne man das alles anzeigen, aber da werde er nicht mehr fertig. Er lösche diese Kommentare einfach blockweise.

Fußballerin Svenja Huth hat sich mittlerweile für viele völlig überraschend aus der Frauen-Nationalmannschaft zurückgezogen. Die Zeit, so wird sie in einer Mitteilung des DFB zitiert, war „sowohl körperlich als auch mental herausfordernd sowie kräftezehrend, so dass ich für mich zu dem Entschluss gekommen bin, meine Karriere in der Nationalmannschaft zu beenden“. Sie spielt weiter in der Bundesliga für den VfL Wolfsburg.

Eishockey-Profi Moritz Müller hat den Verfasser der bedrohlichen Nachricht angezeigt. „Man ist ja doch einiges gewohnt und hat schon einiges gelesen über sich selber, aber das war für mich auf jeden Fall noch mal eine Grenze, die dort überschritten wurde“, sagte er der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Das hat mich schon erschüttert.“

Werder Bremen hat den antisemitischen Hassbeitrag gegen die Spielerin Sharon Beck selbst öffentlich gemacht. „Wir haben das Vorgehen intern und gemeinsam mit der Spielerin diskutiert und den Entschluss gefasst, den Post unzensiert abzubilden, um zu zeigen, was Jüdinnen und Juden in Deutschland aktuell an antisemitischem Hass erleben müssen“, teilte der Verein auf Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS mit. „Die Veröffentlichung des Absenders sollte eine abschreckende Wirkung erzielen.“ Sharon Beck selbst sagte: „Leider ist es nicht das erste Mal, dass ich für meine Herkunft angefeindet worden bin. Ich bin dem Verein, allen Verantwortlichen und Fans unglaublich dankbar für diese herzergreifende Unterstützung. Das bedeutet mir und meiner Familie sehr viel.“

Ein Foto des Leichtathleten Owen Ansah. Er schaut nach einem Lauf nach oben.

Wünscht sich eine Bestrafung der Täter: Owen Ansah. Foto: Sven Hoppe/dpa

Nach den rassistischen Angriffen auf den Leichtathleten Owen Ansah hat sich auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) der Kooperation von DFB und DOSB mit der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main angeschlossen. Der Schutz der Athletinnen und Athleten vor Diffamierung, Rassismus und persönlichen Beleidigungen sei dem Verband besonders wichtig, sagt DLV-Mediendirektor Peter Schmitt. Und Owen Ansah? Dem ARD-Mittagsmagazin sagte der deutsche Rekordsprinter, ihn beschäftigten die rassistischen Beleidigungen wenig: „Ich lese mir das gar nicht erst durch. Ich konzentriere mich in meinem Leben sowieso nicht auf die negativen Sachen.“ Und doch fügte er hinzu: „Ich würde mir wünschen, dass die Leute, die das schreiben, einfach damit aufhören. Und dass sie ihre gerechte Strafe dafür bekommen.“

Dass es sich lohnt, Hassbotschaften anzuzeigen und Verfasser ausfindig zu machen, vielleicht auch nur zur Abschreckung anderer, zeigen Beispiele der beiden Fußball-Nationalspieler Antonio Rüdiger und Benjamin Henrichs.

Antonio Rüdiger wurde rassistisch beleidigt und wehrte sich mithilfe seines Vereins Real Madrid juristisch gegen den Verfasser der Hassbotschaften. Der Mann hatte unter verschiedenen Pseudonymen in der Online-Ausgabe der spanischen Fußball-Zeitung „Marca“ rassistisch gegen den Spieler gehetzt. Spanische Behörden ermittelten den Verfasser. Ein Gericht verurteilte ihn zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe. Real Madrid bedankte sich in einer Mitteilung über den Fall bei Fans, die die Kommentare entdeckt und den Behörden sowie dem Verein gemeldet hatten.

Der Autor dieses Beitrags ist freier Journalist in Münster und schreibt regelmäßig für die Redaktion des WEISSEN RINGS. Für seine journalistische Arbeit wurde er unter anderem ausgezeichnet mit dem Ernst-Schneider-Preis und dem Journalistenpreis Münsterland. Von 2020 bis 2022 hat Klemp für Borussia Dortmund auf freier Basis Newsletter verfasst.

Benjamin Henrichs von RB Leipzig hat rassistische Angriffe und Nachrichten der Kategorie „Ich werde dich und deine Familie finden …“ erhalten, wie er selbst bei TikTok öffentlich machte. Besonders die Sprachnachrichten hätten ihn hart getroffen, erzählte Henrichs dem YouTuber Bilal Kamarieh, weil er da realisiert habe,

In einem weiteren Fall wählte Henrichs einen anderen, eher ungewöhnlichen Weg: Er recherchierte, so erzählt er es auf YouTube, mit Team-Kollegen die Telefonnummer der Familie des erst 16-jährigen Hass-Kommentators und rief kurzerhand den Vater an. „Weißt du, was dein Junge im Internet macht? Weißt du, was der mir schreibt?“ Henrichs las ihm die Nachricht vor. Der Vater sei geschockt gewesen und habe sich für seinen Jungen geschämt. Der Mann habe seinen Sohn von der Schule abgeholt. Am Telefon entschuldigte sich der Junge kleinlaut bei Henrichs. „Ich habe ihm gesagt: Schämst du dich nicht? Dein Vater schämt sich für dein Verhalten.“ Der Junge, der im Internet so deutliche Worte voller Hass gegen Henrichs gefunden hatte, habe im persönlichen Gespräch am Telefon kein Wort mehr rausgebracht.