684 Tage

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

684 Tage

684 Tage saßen Ramona und Thorsten R. unschuldig hinter Gittern. Ihre eigene Tochter behauptete, sie hätten sie über Jahre wie eine Sexsklavin gehalten, an Dutzende Männer verkauft, sie selbst mehrfach sexuell missbraucht und misshandelt. Ihre Lebensgefährtin und Komplizin, Franzi A.*, gestand Vergewaltigungen an Josephine, die es wahrscheinlich nie gab, ging für sie ins Gefängnis und stärkte damit Josephines Glaubwürdigkeit.

Justizirrtum Josephine R.

Das Ehepaar R. hat durch seine Tochter alles verloren. Auch wenn sie offen ihre Geschichte erzählen, wollen sie unerkannt leben.

Josephine R. soll in dem Artikel nicht im Vordergrund stehen. Oder die Menschen, die ihr geglaubt haben. Über sie alle wurde schon in Dutzenden Artikeln und Podcast-Folgen von unterschiedlichen Medien berichtet, etwa „Der Spiegel“ und die „Braunschweiger Zeitung“. Hier soll es um die Menschen gehen, die Opfer geworden sind und alles verloren haben: Ramona und Thorsten R.

Der Ort, an dem alles begann

Der Herbst ist angebrochen, die Blätter färben sich allmählich bunt, und die Spaziergänger genießen die letzten milden Tage. Goslar ist eine Stadt, die vom Krieg verschont blieb. Überall stehen alte Gebäude, die an eine längst vergangene Zeit erinnern. Die Polizeistation gehört nicht dazu. Sie ist ein modernes, wenn auch erblasstes Gebäude. Ramona und Thorsten R. stehen auf dem Parkplatz davor. Früher lebten sie in Goslar, heute an einem unbekannten Ort.

Für ein Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin sind sie nach Goslar zurückgekehrt, dorthin, wo alles begann. Hier wurden sie verhört und mussten sich gegen Vergewaltigungsvorwürfe wehren. Statt in den Verhörraum im Keller geht es dieses Mal ein paar Etagen weiter nach oben, in einen Besprechungsraum. Der Treffpunkt wurde gewählt, um in Ruhe und abseits der Öffentlichkeit sprechen zu können.

Mehr als zwei Stunden lang werden sie von ihren Erfahrungen mit der Justiz erzählen. „Von den ersten falschen Anschuldigungen habe ich im Frühjahr 2021 erfahren. Als ich am Muttertag verhaftet wurde“, sagt Ramona R. fassungslos. Vergewaltigung, Misshandlung und der Verkauf ihrer Tochter werden ihr vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaften in Braunschweig und Stendal ermitteln, da die Tatvorwürfe zwei Orte betreffen.

Nach drei Wochen Untersuchungshaft wird sie entlassen, weil die Ermittlungsbehörde Zweifel an Josephines Aussagen hat und die Ermittlungen einstellt. „Ich lief zu Fuß zum Bahnhof, stieg in den Zug und fuhr nach Hause.“ Sie hat einen Wohnungsschlüssel, aber Thorsten R. ist auf der anderen Seite der Tür. „Es klingelte und plötzlich stand meine Frau vor mir“, blickt er zurück. Sie fallen sich in die Arme, doch viel Zeit haben sie nicht füreinander, Thorsten R. muss zur Nachtschicht.

2022 werden auch in Stendal die Ermittlungen eingestellt, nachdem die Gutachterin Bettina Reinhold zu dem Ergebnis gekommen ist, dass erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Josephine R. bestehen. Josephine R. nimmt Kontakt zu ihrer Mutter auf, entschuldigt sich und behauptet, ihre Lebensgefährtin Franzi A. habe sie zu falschen Anschuldigungen gezwungen. Das Ehepaar verzeiht seiner Tochter. Doch kurz darauf erhebt die Staatsanwaltschaft neue schwere Vorwürfe gegen Ramona und nun auch Thorsten R., gestützt auf Aussagen der mittlerweile verurteilten Franzi A. Sie selbst hat sich bisher zu keinem der Vorwürfe gegenüber den Medien geäußert.

Das Ehepaar weiß nicht, was hinter seinem Rücken passiert. Josephine zieht bei ihren Eltern ein, sie verbringen viel Zeit miteinander. Eines fällt Ramona R. an ihrer Tochter auf: „Sie hatte immer ein Stofftier bei sich, das Franzi gehörte. Einen kleinen Tausendfüßler. Dabei saß diese Frau im Gefängnis, weil sie sie vergewaltigt haben soll“, sagt Ramona R. Manchmal begründet Josephine ihr Verhalten damit, dass nicht alles so sei, wie es aussehe.

Ein Mann mit Glatze schaut gerade aus. Das Bild ist stark belichtet so dass der Mann nicht komplett zu erkennen ist. Auf dem Foto ist Andreas S.. ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit.

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde er mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht, als Erwachsener kämpft er für Aufklärung.

Die zweite Verhaftung

Es ist der 27. Juli 2022, spät am Abend. Josephine ist in ihrem Zimmer und das Ehepaar hat schon geschlafen. „Wir hörten einen lauten Knall und schwere Schritte die Treppen hochkommen. Dann wurde unsere Tür aufgerammt und das SEK stürzte hinein“, schildert Thorsten R. den Einsatz. „Auf den Boden, auf den Boden!“, hallt es plötzlich durch die Wohnung. „Ich musste mich aufs Bett legen und mir wurden Handschellen angelegt“, sagt er.

„Ich wusste sofort, dass das irgendetwas mit Josephine zu tun hatte. Es konnte nur sie gewesen sein“, erinnert sich Ramona R., die auf dem Boden liegt, nachdem das SEK die Wohnung gestürmt hat. Im Urteil zum Freispruch schreibt später das Gericht, dass Josephine R. Tabletten zu sich nahm, um einen Mordversuch durch ihre Eltern vorzutäuschen. Die Eltern kommen für 684 Tage in Untersuchungshaft.

„Im ersten Moment habe ich keine Wut verspürt, sondern eine Ohnmacht. Die Wut kam später, nach dem ersten Verhandlungstag.“

Ramona R.

Der Prozess

Die Vorwürfe sind dieselben wie bei der ersten Verhaftung. „Im ersten Moment habe ich keine Wut verspürt, sondern eine Ohnmacht. Die Wut kam später, nach dem ersten Verhandlungstag“, weiß Ramona R. noch genau. Das Ehepaar hatte bereits beim Verlesen der Anklage den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig, insbesondere Oberstaatsanwältin Beyse, ihr Urteil schon gefällt hatte. „Unsere Taktik bei diesem Prozess war, zu schweigen und auf die Revision zu hoffen. Bei diesen Staatsanwälten hatten wir keine Chance“, sagt Ramona R.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins wollte Beyse keine Stellungnahme zu den Vorwürfen abgeben. Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Christian Wolters, wies alle Vorwürfe zurück: „Die Staatsanwaltschaft Braunschweig und auch keine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Braunschweig haben irgendjemanden vorverurteilt.“

Während des Prozesses stellten viele Medien das Verhalten des Ehepaares als kühl und emotionslos dar. „Ich habe geweint, viel geweint, aber nicht im Gerichtssaal – diesen Gefallen wollte ich niemandem tun“, sagt Ramona R. Besonders gelitten hätten sie unter der Trennung voneinander. „Wir konnten uns nur Briefe schreiben, die Wochen brauchten, um bei dem anderen anzukommen“, sagt Thorsten R. „Weihnachten war besonders schlimm. Es war das schönste Geschenk, als ich eine Karte von ihr bekam, auf der sie einen Weihnachtsmann für mich gemalt hatte“, sagt er und nimmt die Hand seiner Frau. Im Besprechungsraum wirken beide weder emotionslos noch kühl, im Gegenteil.

Damals verlieren sie ihre Wohnung, ihre Katze muss ins Tierheim und fast ihr ganzer Besitz wird entsorgt. „Unsere Familien lagerten so viel, wie sie konnten, aber niemand wusste, wann wir wieder aus dem Gefängnis kommen werden. Wir haben viele Andenken verloren, Sachen mit emotionalem Wert, wie die Milchzähne der Kinder oder die erste Haarlocke“, sagt Ramona R.

Justizirrtum Josephine R.

Ramona und Thorsten R. gingen gemeinsam durch die schwere Zeit und haben sich durch Briefe gegenseitig Halt gegeben.

Die Zeit im Gefängnis ist hart. Ein Mithäftling schlägt Thorsten R. ins Gesicht. „Mehr ist aber nicht passiert“, sagt er. Ramona R. lernt eine Frau kennen, der sie sich anvertraut. „In Untersuchungshaft ist viel Bewegung, Frauen kommen und gehen. Ich gehörte irgendwann zu denen, die lange da waren“, sagt sie. Die Abende beschreiben beide als besonders schwer: Alleine in einer Zelle komme man in der Dunkelheit ins Grübeln.

Besonders schlimm wird es für Ramona R., als ihre Mutter stirbt. Sie hat Demenz und weiß offenbar nichts vom Gefängnisaufenthalt ihrer Tochter. „Wenn ein naher Angehöriger verstirbt, kann man für die Beerdigung einen Antrag auf Ausgang stellen“, sagt sie. Eine Antwort habe sie aber nie erhalten. Was mit dem Antrag passierte, konnte die Staatsanwaltschaft Braunschweig auf Anfrage nicht beantworten. Für Ramona R. gilt zu dem Zeitpunkt die Unschuldsvermutung, trotzdem kann sie sich nicht von ihrer Mutter verabschieden. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, beschreibt sie den Moment. „Wir haben nach unserer Freilassung den Baum besucht, unter dem die Urne vergraben ist, und konnten Abschied nehmen.“

„Lieber sitze ich vier bis sieben Jahre mit einem reinen Gewissen, als dass ich etwas zugebe, das ich nie gemacht habe.“

Thorsten R.

Während des Prozesses bekommen beide ein Angebot von der Staatsanwaltschaft: Wenn sie gestehen, können sie eine kürzere Haftstrafe erhalten, heißt es. „Da wusste ich, es geht hier um viele Jahre Gefängnis. Aber ich lehnte ab. Ich gestehe nichts, was ich nicht getan habe“, sagt Ramona R. Ihr Mann sieht es genauso und handelt entsprechend: „Lieber sitze ich vier bis sieben Jahre mit einem reinen Gewissen, als dass ich etwas zugebe, das ich nie gemacht habe.“ Auf Anfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Braunschweig das Angebot nicht: „Sollte ein derartiges Angebot in der Hauptverhandlung erfolgt sein, wäre es in der Hauptverhandlung erwähnt worden.“

Dann das Urteil: Ramona R. erhält 13 Jahre und sechs Monate Haft plus Sicherungsverwahrung, Thorsten R. neun Jahre und sechs Monate. „Wir waren auf die hohe Strafe vorbereitet durch unsere Anwälte. Trotzdem war es hart, als der Schuldspruch kam, aber auch da brach ich nicht vor den Augen der Staatsanwaltschaft zusammen. Ich blieb stark und weinte erst, als ich wieder alleine war“, sagt Ramona R. „‚Aufgeben ist keine Option‘, haben wir uns in Briefen geschrieben. Und: ‚Am Ende wird alles gut und ist es noch nicht gut, dann ist es noch nicht das Ende‘“, erzählt Thorsten R.

Die anderen Opfer

Ihre Anwälte sowie Psychologen und auch das Gericht glauben Josephine R. Aber es gibt auch Menschen, die sagen, dass da etwas nicht stimme und deshalb ignoriert werden. Dazu gehört die Psychologin und Gutachterin Bettina Reinhold, die 2022 für die Staatsanwaltschaft Stendal ein Gutachten über Josephine R. anfertigt und erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers äußert, woraufhin die Ermittlungen eingestellt werden.

Im Braunschweiger Prozess wird dieses Gutachten von Oberstaatsanwältin Beyse scharf kritisiert: „Erhebliche handwerkliche Mängel“, attestiert sie. Dabei sei es nicht geblieben, wie Reinhold im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt: „Frau Beyse rief mich an und wir sprachen 45 Minuten“, erinnert sie sich. Beyse habe da die fachliche Einschätzung von Reinhold ausgeblendet und sich keines Besseren belehren lassen. So etwas sei ihr in all den Jahren noch nicht passiert. Sie habe die Oberstaatsanwältin gewarnt und ihr gesagt: „Ich glaube, Sie setzen auf ein falsches Pferd.“ Auch sei Reinhold nicht vorgeladen worden, was sie als ungewöhnlich empfunden habe.

Das WEISSER RING Magazin hat die Braunschweiger Staatsanwaltschaft und Vanessa Beyse mit den Vorwürfen konfrontiert und gefragt, welche Mängel das Gutachten von Reinhold gehabt haben soll. Daraufhin verwies die Behörde an die Staatsanwaltschaft Göttingen, da diese im Rahmen von Ermittlungen gegen Beyse aktuell die Akte zum Fall habe. Das Ehepaar R. hat sich nämlich nach dem Freispruch juristische Hilfe geholt, um gegen das erste Verfahren und Beyse vorzugehen. Göttingen antwortete: „Es gibt im Verfahren einen Vermerk, in dem Oberstaatsanwältin Beyse dargelegt hat, warum sie das Gutachten von Frau Dr. Reinhold nicht für relevant hält. Zu den näheren Gründen wenden Sie sich bitte an die Staatsanwaltschaft Braunschweig.“ Informationen zu dem Telefonat zwischen Beyse und Reinhold hat Göttingen nicht.

Neben der Gutachterin hat damals noch jemand Zweifel: der leitende Ermittler Lutz Lucht von der Polizei Goslar. „Bereits bei den ersten Ermittlungen stellten wir unplausible und widersprüchliche Angaben von Josephine fest sowie unwahre Aussagen zu behaupteten Taten. Ferner haben wir Manipulationen von Beweismitteln festgestellt“, sagt er im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin. Die Staatsanwaltschaft wie auch das Oberlandesgericht folgen den Ermittlungsergebnissen und Schlussfolgerungen jedoch nicht. Lucht kann auch nicht nachvollziehen, wieso das „aussagekräftige“ Gutachten von Reinhold nicht in das Verfahren eingebracht wird.

„Als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer vorlas, was alles im ersten Verfahren schieflief, kamen mir die Tränen.“

Ramona R.

„Uns wurden schwere Vorwürfe gemacht. Wir hätten voreingenommen, einseitig und schlampig ermittelt. Die Anklagevertreterin erklärte in ihrem Plädoyer, dass sie sich für mich schämen würde und die Vertreterin der Nebenklage sprach gegenüber der Presse von einem Polizeiskandal“, sagt der mittlerweile pensionierte Polizist. Über den angeblichen „Polizeiskandal“ berichtete damals die „Braunschweiger Zeitung“. Auf die Frage, wie mit dem Ermittler während des Verfahrens umgegangen wurde, verwies die Staatsanwaltschaft das WEISSER RING Magazin erneut nach Göttingen. Die dortige Staatsanwaltschaft gab an, hierzu keine Informationen zu haben.

Reinhold spricht von einem Justizskandal. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sieht das anders und erklärt auf Anfrage: „Fakt ist, dass ein Gericht die Schuld von Ramona und Thorsten R. festgestellt hat. Diese Entscheidung wurde durch die Revisionsinstanz aufgehoben und in einem neuen Prozess wurden die Angeklagten freigesprochen. Das ist ein ganz normaler Verfahrensgang in einem Rechtsstaat. Insoweit ist der Fall Josephine R. ein Beispiel für einen funktionierenden Rechtsstaat.“

Die frühere Anwältin von Josephine R., Gabriele Rieke, zeigt sich selbstkritischer. Sie schreibt in einer Stellungnahme: „Mitteilen kann ich Ihnen, dass ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte, dass es jemand schafft, mich derart zu manipulieren.“ Andererseits „bin ich Parteivertreterin und habe daher eine andere Rolle als die Staatsanwaltschaft. Leider ist vieles in diesem Verfahren bis heute unklar.“ Sie habe Josephine R. angezeigt, da diese nun auch sie der Vergewaltigung bezichtige. Wie der Ermittlungsstand ist, hat sie nicht mitgeteilt.

Die Revision

Die Taktik des Ehepaares geht auf: Im Juni 2024 kommt die Freilassung, der Freispruch am 26. September, seit dem 5. Oktober 2024 ist dieser auch rechtskräftig. „Als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer vorlas, was alles im ersten Verfahren schieflief, kamen mir die Tränen“, erinnert sich Ramona R. „Ich habe gezittert vor Erleichterung“, so Thorsten R.

Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, da sich das Verfahren fast nur auf Josephines Aussagen gestützt und ein objektives psychologisches Gutachten gefehlt habe. Im neuen Verfahren werden Ramona und Thorsten R. freigesprochen: „Die Kammer ist nach der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Anklagevorwürfe, soweit sie über die getroffenen Feststellungen hinausgehen, nicht nur nicht haben nachweisen lassen, sondern dass sie falsch sind und zu Unrecht erhoben wurden.“ Weiter heißt es im Urteil, dass nicht festgestellt werden konnte, ob es überhaupt jemals zu Straftaten gegenüber Josephine R. kam.

Eine Entschuldigung von den Beteiligten am ersten Prozess erhalten die beiden nicht. Fast ein Jahr dauert es, bis sie die Haftentschädigung ausgezahlt bekommen. Die Haftentschädigung setzt sich aus 75 Euro pro Tag im Gefängnis zusammen. „Für 24 Stunden Freiheitsentzug sind 75 Euro zu wenig“, kritisiert Thorsten R. In der Zeit im Gefängnis haben sich Schulden angehäuft. Rechnungen und Kredite liefen schließlich trotz der Haft weiter, aber es gab in der Zeit kein Einkommen. Sie hätten mit der Entschädigung ihre Schulden und Kredite abbezahlt, mehr als ein Jahr nach der Entlassung fehle jedoch noch das Geld für den Verdienstausfall von Thorsten R.

Das Ehepaar R. hat mithilfe des bekannten Anwalts Johann Schwenn rechtliche Schritte gegen Oberstaatsanwältin Beyse eingeleitet, die Ermittlungen laufen noch. Gegen Josephine R. laufen mehrere Anzeigen, von unterschiedlichen Personen. Sie hat auf Anfrage bislang nicht reagiert. Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch macht.

Josephine R. hat vielen Menschen offenbar geschadet, die Beziehung von Ramona und Thorsten R. aber nicht zerstört. Das Ehepaar sitzt seit mehr als zwei Stunden
auf dem Polizeirevier in Goslar. Bei der Frage, ob Josephine je zwischen ihnen gestanden habe, lacht Thorsten R. nur leise. Er nimmt die Hand seiner Frau, blickt ihr in die Augen und sagt: „Nein, niemals. Wir sind stärker als vorher“. Ramona lächelt.

Die Chronologie eines Justizirrtums

2020: Josephine R. behauptet erstmals, von mehreren Männern sexuell missbraucht worden zu sein, zeigt angebliche Verletzungen und beschuldigt Familienangehörige. Heute deutet vieles darauf hin, dass sie sich selbst verletzte. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen Josephines Ex-Mann, die Staatsanwaltschaft Stendal gegen den leiblichen Vater sowie die Mutter Ramona R. In der Psychiatrie lernt Josephine ihre spätere Partnerin und Komplizin Franzi A. (Name geändert) kennen.

2021: Josephine wird gefesselt und verletzt aufgefunden. Sie wurde angeblich überfallen, zudem sollen ihr die Haare abrasiert worden sein. Ramona R. kommt kurzzeitig in Untersuchungshaft, das Verfahren wird wegen Zweifeln an Josephines Aussage eingestellt. Nach angeblichen Gewaltdelikten durch Franzi A. wird diese festgenommen und kommt in Haft. Auch diese Vorfälle hat Josephine R. wahrscheinlich fingiert. Die Akte kommt zu Oberstaatsanwältin Vanessa Beyse in Braunschweig.

2022: Die Staatsanwaltschaft Stendal stellt die Ermittlungen gegen Ramona R. und ihren Ex-Mann ein: Die Gutachterin Bettina Reinhold kam zu dem Ergebnis, dass Josephine nicht glaubwürdig sei. Franzi A. gesteht mehrere Vergewaltigungen an Josephine R., die es wohl nie gegeben hat, und wird zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach dem Urteil beschuldigt sie auch Ramona und Josephines Stiefvater Thorsten R. Das Ehepaar wird im Juli verhaftet, und Oberstaatsanwältin Vanessa Beyse erhebt Anklage.

2023: Der Prozess in Braunschweig endet mit harten Urteilen: Ramona R. erhält 13 Jahre und sechs Monate Haft plus Sicherungsverwahrung, Thorsten R. neun Jahre und sechs Monate. Sie beantragen Revision.

2024: Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. Im neuen Verfahren vor dem Landgericht Braunschweig werden beide im September freigesprochen.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING wurde von Josephine R. getäuscht und leistete ihr einmalig Soforthilfe, als sie noch als Opfer sexualisierter Gewalt galt. Der WEISSE RING verfolgt das Ziel, allen Opfern von Straftaten unbürokratisch und zeitnah Unterstützung zu leisten. Seitdem die Taten an Ramona und Thorsten R. bekannt wurden, setzt sich der WEISSE RING intensiv für das Ehepaar ein und sammelte mehrere Tausend Euro an Spenden.

Aus dem Schatten ins Licht

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Aus dem Schatten ins Licht

Drei Jahre soll Stephane als Kind von einem Mann aus dem Umfeld seiner Familie missbraucht worden sein, im Sommer, auf demselben Campingplatz. Er zog viele Jahre später vor Gericht und gewann. Warum Stephane öffentlich darüber sprechen möchte und welche Rolle die Französin Gisèle Pelicot dabei spielt, erzählt er im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin.

Kindesmissbrauch vor Gericht
Kindesmissbrauch vor Gericht

Ein gewöhnlicher Sommertag. Stephane war zwölf Jahre alt und verbrachte seine Zeit auf dem Campingplatz, bei dem seine Eltern und auch ein Freund von ihnen, Michael Michels (Name geändert), Parzellen gemietet hatten. Michels ging mit dem Jungen zu einem nahe gelegenen Badesee, sie legten sich auf Handtücher an einem abgelegenen Strandabschnitt, und der Zwölfjährige las einen Kinderkrimi. So erinnert Stephane sich. Kurz darauf sei es zum ersten sexuellen Missbrauch gekommen.

Michels soll den Jungen mit Sätzen wie „Das ist vollkommen normal!“ manipuliert und zu sexuellen Handlungen gebracht haben. Was genau geschehen sein soll, ist der Redaktion aus Gerichtsunterlagen bekannt, aufgrund der Privatsphäre des Betroffenen werden keine Details genannt.

„Meine Geschichte zeigt, wie Täter arbeiten – als würden sie einem IKEA-Bauplan folgen“, sagt der heute 25-Jährige. Deshalb sei es ihm wichtig, sich öffentlich zu äußern. Er brauche sich nicht zu verstecken, möchte mit seinem Gesicht dafür stehen, dass man als Betroffener über den Missbrauch sprechen muss. „Egal ob während eines Missbrauchs oder Jahre danach. Man muss reden, sich jemandem anvertrauen“, sagt Stephane.

Für das Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin hat er ein Waldstück ausgewählt. In der Natur fühle er sich wohler als in einem Raum. Er zündet sich eine Zigarette an und beginnt, seine Geschichte zu schildern: Er sei ein aufgebrachtes Kind mit ADHS gewesen, habe Ärger in der Schule und daheim gehabt, sei nicht gut sozialisiert gewesen. Michels habe sich um ihn gekümmert.

Drei Sommer, unzählige Übergriffe

Es sei nicht bei einem sexuellen Übergriff geblieben, sondern insgesamt drei Jahre gelaufen, immer wenn Stephane auf dem Campingplatz gewesen sei. Die Eltern hätten ihren Sohn Michels anvertraut, sagt Stephane. Vorwürfe mache er ihnen nicht, sie hätten es nicht besser gewusst.

In der Zeit sei Michels seine Bezugsperson gewesen. „Ich fing an, mich unwohl zu fühlen, ohne zu wissen warum“, blickt Stephane zurück. Als er älter wurde, habe er angefangen nachzudenken: „Mir wurde ab einem Zeitpunkt klar: Wenn das jemand mitbekommt, dann wirft das ein schlechtes Bild auf den Täter. Außerdem ging es nicht nur um mich und ihn, sondern auch um die Beziehung, die er zu meiner Familie hatte – da hing so viel mit hintendran“, sagt Stephane.

Heute sei für ihn klar, dass es an Aufklärung gefehlt habe: „Wir haben in der vierten Klasse ein Kondom über einen Holzpenis gezogen, aber wussten nicht, was mit unserem eigenen Körper ist.“ Eine frühe Sensibilisierung für Körper und Sexualität hätte sicher dazu beitragen können, ihn damals seinen eigenen Wert erkennen zu lassen.

„Egal ob während eines Missbrauchs oder Jahre danach. Man muss reden, sich jemandem anvertrauen.“

Täter nutzen ihre Macht aus

Jährlich kommt es zu Tausenden Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch. Im vergangenen Jahr registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) 16.354 Fälle bei Kindern sowie 1.191 Fälle bei Jugendlichen. Nach Angaben der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, wird in etwa 90 Prozent der Fälle der sexuelle Missbrauch durch Männer oder männliche Jugendliche ausgeübt. Es sei aber davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt werde, weil ihnen solche Taten weniger zugetraut würden.

Den Angaben zufolge nutzen Täter ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten Minderjähriger zu befriedigen, die sexuellen Handlungen nicht zustimmen könnten. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geschieht meistens im familiären oder sozialen Umfeld.

Es sei keine Vergewaltigung gewesen

Stephane legt Wert darauf, dass nicht von einer Vergewaltigung die Rede ist. „Ich wünschte, ich wäre vergewaltigt worden, dann wären die Schuldgefühle vielleicht nicht gewesen“, sagt er. Der 25-Jährige ist homosexuell, was ihm als Kind noch nicht bewusst gewesen sei, aber dazu geführt habe, dass ihm der sexuelle Kontakt nicht gänzlich missfallen habe. Er habe lange gebraucht, den sexuellen Missbrauch auch als einen solchen anzuerkennen.

 

Kindesmissbrauch vor Gericht
Kindesmissbrauch vor Gericht

Stephane muss sich nicht verstecken, er spricht offen über seine Geschichte.,

Stephane ist überzeugt: Ein weiterer Grund, warum er erst spät realisiert habe, was damals geschehen sei und welche psychischen Auswirkungen das auf ihn gehabt habe, sei seine ADHS-Erkrankung gewesen. Sein Verhalten habe sich in der Zeit des Missbrauchs geändert, er sei aggressiver, gereizt gewesen. Sein Umfeld und auch er hätten das auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung geschoben. Aber, so Stephane: „Es ist auch ein strukturelles Problem. Bei mir war es ADHS, was ist aber bei Menschen mit Behinderung? Durch Vorerkrankungen wird schnell etwas übersehen.“ Am Ende habe ihm eine Therapie geholfen, seine „Schuld“ abzulegen und zu verstehen, welche Symptome auf welche Ursachen zurückgingen.

Die beschriebenen Verhaltensänderungen kommen nach Einschätzung der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und  Jugendlichen häufig vor: Aggressivität, Leistungsabfall, Rückzugstendenzen, Konzentrationsschwäche oder sexualisiertes Verhalten.

Die Scham muss die Seite wechseln

Die psychologische Hilfe trug dazu bei, dass Stephane sich entschloss, Michels anzuzeigen. Unterstützt wurde er dabei auch vom WEISSEN RING. Thomas Franz, der stellvertretende Landesvorsitzende in Baden-Württemberg, war sowohl sein betreuender ehrenamtlicher Mitarbeiter als auch sein Rechtsanwalt und half ihm, den Prozess durchzustehen.

Zuvor sei es zu einem Konflikt zwischen Stephane und Michels gekommen. „Ich war der Meinung, er soll für meinen Aufenthalt in der Psychiatrie zahlen, schließlich war es seine Schuld, also warf ich die Rechnung mit meiner Diagnose vom Arzt in seinen Briefkasten“, so Stephane. Michels reagierte darauf mit einem achtseitigen Brief. Er bestritt darin den sexuellen Kontakt nicht komplett, gab aber Stephane, der damals der Initiator gewesen sein soll, die Schuld. Der Brief liegt der Redaktion des WEISSER RING Magazins vor.

Während der Verhandlung hielt der Angeklagte an dieser Version fest und wies die Tatvorwürfe zurück: Stephane habe sich ihm genähert, was er abgewehrt habe. Außerdem soll Stephane ihm gedroht haben zu behaupten, er werde von ihm missbraucht.

Kindesmissbrauch Tatort: Ein Campingplatz in Deutschland
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Strandabschnitt an einem See
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Wohnwagen auf einem Campingplatz
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Waldweg
Kindesmissbrauch Tatort: Ein Wohnwagen
Kindesmissbrauch Tatort: ein abgelegener Badesee
Missbrauch: Drei Jahre, drei Sommer, immer auf einem Campingplatz und an einem See.

Das Gericht kam zu einem klaren Schluss: Ein Kind besitze nicht die Fähigkeit der sexuellen Selbstbestimmung. Die Aussage von Michels wird im Urteil als Schutzbehauptung gewertet: „Sie wird widerlegt durch die glaubhaften Angaben des Nebenklägers, die nicht nur in sich stimmig sind, sondern auch durch die anderen Zeugenaussagen gestützt werden.“ Auch das aussagepsychologische Gutachten über Stephane stützt seine Glaubwürdigkeit. Darin heißt es: „Alles in allem finden sich also eine Vielzahl an Qualitätsmerkmalen, die eher für einen Erlebnisbezug sprechen, vor allem im Hinblick auf Schemaabweichungen und dem Fehlen strategischer Selbstpräsentation.“

Das Gericht verurteilte Michels zu sechs Jahren Haft. Stephane freut sich darüber, dass das Gericht verstanden habe, was ihm passiert sei. Befriedigt habe ihn das Urteil dennoch nicht: „Ich möchte eine Entschuldigung und Einsicht von ihm – das kann mir kein Gericht geben“, sagt er.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, Michels hat Revision beantragt. Der Generalbundesanwalt hat im November beantragt, die Revision zu verwerfen, da sie unbegründet sei. Noch steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den Vorwürfen antwortete der Verteidiger: „Wir werden uns zu dem nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht weiter äußern.“

Das Gerichtsverfahren war öffentlich, so wie auch der berühmte Vergewaltigungsprozess von Avignon. Gisèle Pelicot, das Vergewaltigungsopfer, hatte damals den Satz gesagt: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Dieser Satz prägte Stephane: „Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an diesen Spruch denke“, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Pelicot habe ihm damals die notwendige Kraft gegeben. „Wofür soll ich mich schämen? Für gar nichts!“

Nach zwei Stunden sind die Zigaretten aufgeraucht, die Sonne geht allmählich unter, Kälte steigt auf. Zeit für den Weg zurück. Er sieht sich nicht als Opfer, betont Stephane. Er sei ein Überlebender.

Die Mission von Gisèle Pelicot

„Die Scham muss die Seite wechseln“ sagt Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot. Aber geht das überhaupt?

Wie viel ist ein Mensch wert?

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Wie viel ist ein Mensch wert?

Jeden Tag werden in Deutschland Menschen auf dem Bau, in der Gastronomie und in Reinigungsfirmen ausgebeutet oder zur Prostitution gezwungen. Menschenhandel geschieht mitten unter uns. Im Kampf dagegen gab es in den vergangenen Jahren Fortschritte, die Zahl der abgeschlossenen Verfahren ist gestiegen. Doch viele Fälle bleiben nach wie vor ungestraft oder werden gar nicht erst erkannt. Fachleute fordern einen besseren Schutz für Opfer.

Menschenhandel in Deutschland: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Szenen aus dem Landgericht Bielefeld

Im schwarzen Ringelpullover und in Handschellen wird die Angeklagte in den großen Saal 1 des Landgerichts Bielefeld geführt. Die 57-Jährige setzt sich auf den Platz ganz links an einem der Tische, die in zwei Reihen vor dem Richtertisch stehen. Mit ihr nehmen neun weitere Beschuldigte im Alter von 29 bis 64 Jahren und rund 20 Verteidigerinnen und Verteidiger Platz. In einem Regal sind Dutzende Aktenordner aufgereiht. Es geht um Menschenhandel, Zwangsprostitution, Geldwäsche. Die Frau im Pullover soll eine zentrale Rolle in einem bundesweiten Schleusernetzwerk gespielt haben, das Frauen und trans Menschen nach Deutschland geschleust und zur Prostitution gezwungen habe.

Mehr als zwei Stunden trägt der Staatsanwalt die Anklage vor. Drei Dolmetscher übersetzen auf Thailändisch und Englisch. Die Beschuldigten, die ihnen per Kopfhörer folgen, sollen bandenmäßig Frauen und trans Menschen aus Thailand mit Touristenvisa nach Deutschland geschleust haben. Hier nahmen sie ihnen demnach die Pässe ab und zwangen sie, die Kosten dafür – zwischen 18.000 und 36.000 Euro – als Prostituierte abzuarbeiten. Es gab Fahrer, die sie vom Flughafen abholten und bundesweit von Bordell zu Bordell fuhren. Sie sollen dafür 15 Cent pro Kilometer bekommen haben. Es gab Kuriere, die das durch Zwangsprostitution erwirtschaftete Geld via Flugzeug nach Bangkok brachten, um es umzutauschen und auf die Konten der Drahtzieher zu überweisen, so der Vorwurf. In einem Fall versteckte ein Kurier 110.000 Euro in einer Süßigkeitenpackung. Die Prostituierten durften demnach keine Freier ablehnen. Egal, wie es ihnen ging.

Evaluation des Prostituiertenschutzgesetz

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat das Prostituiertenschutzgesetz evaluiert und festgestellt, dass es teils Erfolge, aber auch Schwächen aufweist. Es habe die Arbeitsbedingungen verbessert und die staatliche Überwachung gestärkt. Eine Schwäche sei fehlende Akzeptanz des Anmeldeverfahrens. Prostituierte hätten Sorge um die Sicherheit ihrer Daten. Es wurden über 2.300 Prostituierte, 800 Mitarbeitende von Behörden, über 3.000 Kunden und fast 300 Gewerbetreibende befragt. Es gab auch Kritik von außen: Die Evaluation sei methodisch unzureichend und vernachlässige vulnerable Gruppen wie Migrantinnen ohne Papiere.

Kapitel 1: Sexuell ausgebeutet

Was in einem Mehrfamilienhaus an der B 49 in Koblenz geschah, zeigt, was für ein Ende sexuelle Ausbeutung nehmen kann: Vor zwei Jahren wurde hier eine junge Frau tot aufgefunden. „Aufgrund der erheblichen Verletzungen, die der Leichnam aufwies, verständigten die Rettungskräfte die Polizei, die unverzüglich die Ermittlungen aufnahm“, erinnert sich der Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler. „Es war schnell klar, dass das Opfer über einen längeren Zeitraum massiv gequält, misshandelt und regelrecht zu Tode gefoltert worden sein musste.“ Auf Details verzichtet Mannweiler im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin, zu schrecklich seien sie.

Was er erzählen kann: Die Täter, ein Ehepaar, lockten Frauen aus Bulgarien durch Mittelsmänner mit falschen Versprechungen hierher, nahmen ihnen die Ausweise ab, sperrten sie ein, machten sie durch Gewalt und Bedrohungen gefügig: Menschenhandel mit dem Ziel Zwangsprostitution, ein besonders grausamer Fall von vielen.

Das Opfer wurde in Internetportalen angeboten. Trotz massiver Verletzungen durch die täglichen Misshandlungen musste die Frau zahlreiche Freier bedienen, über Jahre. „Da muss man sich schon die Frage stellen, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, dass ein solches Martyrium über Monate unbemerkt bleibt. Der Schluss liegt nahe, dass einfach viele weggeschaut haben“, sagt Mannweiler.

Sexuelle Ausbeutung ist ein wesentlicher Bereich des Menschenhandels, Hilfsorganisationen sprechen auch von „Frauenhandel“, da nicht nur, aber vor allem Frauen betroffen sind. Auch der WEISSE RING kümmert sich um die Opfer und verzeichnet mehr als 50 Fälle von Zwangsprostitution allein zwischen Januar und Oktober 2025, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 70 Fälle von Menschenhandel, Tendenz steigend. Drei Jahre zuvor gingen 47 Fälle in die Statistik ein.

Die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ kämpft seit vielen Jahren gegen Zwangsprostitution. Deutschland ist für Menschenhändler ein lukrativer Ort, da Prostitution legal ist: „Hier werden Betroffene rekrutiert und/oder zum Zweck der Ausbeutung hergebracht“, sagt Sophia Dykmann, Referentin Frauenhandel und Prostitution bei Terre des Femmes.

"Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden."

Wolfgang Fink

Ein Großteil seien migrantische Menschen, die unter falschen Angaben aus Westafrika, Rumänien, Bulgarien und Polen nach Deutschland gebracht werden oder vor Armut, Krieg und Klimakatastrophen flüchten. Aber auch deutsche Frauen werden Opfer, etwa durch „Partner“, die sie zur Prostitution zwingen. Wie schwer die Ermittlungen sind, weiß Wolfgang Fink, pensionierter Polizist und ehrenamtlicher Mitarbeiter des WEISSEN RINGS. Er leitete die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Schleuser und Menschenhandel, eine Kooperation zwischen Bundes- und Landespolizei in Baden-Württemberg. „Die Polizei ist auf die Zusammenarbeit mit NGOs angewiesen, um aussagebereite Betroffene zu finden. Ohne Opfer kann nicht gegen Zwangsprostitution vorgegangen werden“, sagt Fink. Da die Betroffenen von den Tätern bedroht würden, sei es schwer, Aussagen zu bekommen. Fink spricht von einer Art Parallelgesellschaft, die ihre eigenen Gesetze habe.

„Viele haben auch schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht“, kritisiert Sophia Dykmann. Sie sei früher in dem Bereich als Sozialarbeiterin tätig gewesen und habe unter anderem sexistische Strukturen erlebt. Fink gibt zu bedenken: „Die Polizei ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und auch da gibt es schwarze Schafe“, auch wenn er in seiner Zeit als Polizist zum Beispiel nie erlebt habe, dass Polizisten privat in ein Bordell gingen.

Recht und Gesetz

In Deutschland stellt vor allem Paragraf 232 des Strafgesetzbuches (StGB) Menschenhandel unter Strafe. Wer Menschen zum Zweck der Ausbeutung anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt, kann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren, zum Beispiel wenn die Ausgebeuteten psychische oder physische Gewalt erfahren, getäuscht oder entführt werden.

Vor gut neun Jahren erweiterte der Gesetzgeber die Straftatbestände. Seit Oktober 2016 werden die einzelnen Formen der Ausbeutung in den Paragrafen 232a bis 233a StGB explizit genannt: etwa Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung durch Bettelei, Begehung von mit Strafe bedrohten Handlungen, rechtswidrige Organentnahme. Zuvor hatte die Europäische Union vorgegeben, Menschenhandel umfassend zu bekämpfen und dadurch sowohl Kinder als auch Erwachsene besser zu schützen.

Bei der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 233 StGB ist nicht entscheidend, ob der Täter Einfluss darauf genommen hat, dass das Opfer die Tätigkeit ausübt. Es reicht, wenn er die wirtschaftliche Not der betroffenen Person kannte, dies ausnutzte und sie ausbeutete – zum Beispiel schlecht bezahlte, Vermittlungshonorare und Mieten verlangte, zu lange oder unter gefährlichen Bedingungen arbeiten ließ, Lohn vorenthielt. Arbeitsausbeutung verfolgen sowohl die Polizei als auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Die FKS soll dadurch Opfer von Menschenhandel besser identifizieren und andere Strafverfolgungsbehörden unterstützen können. Neben den genannten gibt es weitere Delikte und Paragrafen, die in Zusammenhang mit Menschenhandel stehen können: Dazu gehören Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB) und Zuhälterei (§ 181a StGB) oder auch Menschenraub (§ 234).

Am 1. Juli 2017 trat das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Kraft. Es sollte die Strafvorschriften ergänzen und durch eine Regulierung der Prostitution dazu beitragen, Ausbeutung entgegenzuwirken. Kritiker bemängeln, dies sei nicht gelungen.

Ein weiteres Problem sei, dass Behörden Opfer nicht zu 100 Prozent schützen könnten: „Die Täterseite ist gut vernetzt. Wir können im Ausland einen neuen Wohnsitz organisieren und erklären, wie sie sich im Internet zu verhalten haben, um nicht entdeckt zu werden, aber richtig schützen können wir die Frauen nicht“, räumt Fink ein.

Experten schätzen, dass täglich etwa 200.000 Frauen in Deutschland der Prostitution nachgehen. Das Statistische Bundesamt verzeichnete Ende 2024 rund 32.300 gemeldete Prostituierte. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums kaufen täglich etwa 1,2 Millionen Freier Sex. Im Bundeslagebild Menschenhandel sind für das vergangene Jahr 465 Opfer von sexueller Ausbeutung erfasst – ein Plus von 8,6 Prozent gegenüber 2023. Den Angaben zufolge liefen 364 Ermittlungsverfahren, was einen Anstieg um 14,1 Prozent und einen neuen Höchststand bedeutet. Dennoch ist diese Zahl vermutlich viel zu niedrig. „Meine Wahrnehmung war, dass sich nur ganz wenige Frauen freiwillig prostituieren“, sagt Fink.

Seine Arbeit hat ihn desillusioniert. „Männer machen die Gesetze, haben Einfluss, und sie wollen mit Geld Frauen kaufen“, sagt er. „Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden“, meint er ernüchtert. Es brauche auch in Deutschland das „Nordische Modell“: Der Kauf von sexuellen Dienstleistungen soll strafbar sein. „Dadurch entsteht auch ein Umdenken in der Gesellschaft: Eine Frau ist nicht kaufbar“, argumentiert Fink.

März 2024

Berlin/Brandenburg. Ermittler durchsuchten am 20. März 2024 in Berlin und Brandenburg 22 Wohn- und Geschäftsobjekte bei neun Beschuldigten. Diese sollen mehr als 20 indische Köche ausgebeutet haben, die bis zu 13 Stunden täglich hätten arbeiten müssen. Einige lebten in den Kellern der Restaurants.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundesinnenministerium zu der Forderung mit: „Angesichts der Rolle Deutschlands als Drehscheibe des Menschenhandels wollen die Koalitionspartner Anpassungs- und Umsetzungsbedarfe unter Einbeziehung aktueller Evaluationen, des Prostituiertenschutzgesetzes und des Nordischen Modells prüfen.“

Eine weitere Form von Menschenhandel, die hauptsächlich Frauen trifft, ist die Zwangsverheiratung. „Verlässliche aktuelle Zahlen gibt es kaum, weil dieses Gewaltphänomen meist im Dunkelfeld bleibt – auch deswegen, weil die Betroffenen sich nicht trauen, Hilfe zu holen, oder gar nicht wissen, dass es Beratungsstellen dazu gibt“, erklärt Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes. Aus einer Umfrage der Berliner Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Petra Koch-Knöbel aus dem Jahr 2022 gehen 496 Fälle von vollzogener oder drohender Zwangsverheiratung hervor. 91 Prozent der Betroffenen waren weiblich. „In der Umfrage war die jüngste Betroffenengruppe bei den zehn- bis zwölfjährigen Mädchen zu finden“, sagt Gernhardt. 88 Prozent der Zwangsverheiratungen fanden im Ausland statt.

Gernhardt weist darauf hin, dass viele Minderjährige potenzielle Opfer sind. Es sei wichtig, in der Schule früh auf das Problem aufmerksam zu machen – bevor es zu spät ist. Viele Opfer wüssten nicht, dass es Schulsozialarbeiter mit Schweigepflicht gibt, an die sie sich wenden könnten. „Das bedeutet: Nur weil in der Schule keine Fälle bekannt sind, heißt das nicht, dass es keine Zwangsverheiratungen gibt.“ Wenn Lehrkräften etwas auffalle, sollten sie nicht mit den Eltern sprechen, weil dies die Situation verschärfen und das Kind gefährden könnte. Eine häufige Masche sei, Mädchen in den Sommerferien unter falschem Vorwand in ihr Herkunftsland zu „verschleppen“ und zu verheiraten. Einige kehren nach Deutschland zurück, andere bleiben. Auch Jungen und Männer sind betroffen, daher sollten sie beim notwendigen Ausbau der Hilfssysteme nicht vergessen und Schulen stärker bei der Prävention unterstützt werden, fordert die Frauenorganisation.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

2011 erschien die bisher einzige bundesweite Studie zu Zwangsverheiratungen in Deutschland. Im Jahr 2008 wurden 3.443 Betroffene erfasst. 93 Prozent waren Mädchen und Frauen.

„Wenn ich nicht wollte, schlug er mich.“

Eine Frau erzählt, wie sie in die Zwangsprostitution kam und es wieder herausgeschafft hat.

„Ich komme aus Paraguay und habe dort 1995 ein deutsches Ehepaar kennengelernt. Sie boten mir eine Arbeit in Deutschland an. Ich war damals 35 Jahre alt. Es hieß, in Deutschland kann man Geld verdienen und ein besseres Leben führen. Angekommen, hat mir der Mann meine Papiere abgenommen – ich besitze auch einen deutschen Pass, da meine Großeltern Deutsche waren. Erst sollte ich mich um eine ältere Frau kümmern. Nachdem sie verstorben war, fing ich als Zimmermädchen im Hotel des Mannes an. Er hatte damals ein Stundenhotel direkt am Bahnhof eröffnet.

Erst sollte ich nur die Zimmer putzen, später war ich für die Sauna zuständig. Ich musste auf einer Matratze auf dem Dachboden des Hotels schlafen und leben. Irgendwann fing er an, in meinem Namen im Internet mit Männern zu schreiben, und zwang mich schließlich, mit ihnen in der Sauna Sex zu haben. Wenn ich nicht wollte, schlug er mich. Meine Nase war gebrochen, auch meine Rippen. Die Freier sahen die Wunden nicht richtig, es war zu dunkel in der Sauna. Ich hatte nichts, kein Geld, keine Papiere, wusste nicht, wohin. Mein damaliger Chef drohte mir: Er meinte, ich brauche nicht zur Polizei zu gehen, da sie mir nicht glauben würde. Auch weil er genug Geld hätte und alles machen könne, was er wolle.

Elf Jahre ging das so. Im Jahr 2006 vertraute ich mich einem Ehepaar an, das unter dem Hotel eine Bar hatte. Sie haben es einem gemeinsamen Freund erzählt. Er war wütend, als er erfuhr, was ich in dem Hotel erleide, und ging zu meinem Chef. Sie prügelten sich. Dabei verlor mein Freund sein Handy. Der Mann, der mich zur Prostitution zwang, rief die Polizei und meldete den Vorfall als Überfall. Die Polizei fand das Handy meines Freundes und machte ihn dadurch ausfindig. Er erzählte ihnen alles. Unter dem Vorwand, sie bräuchten meine Zeugenaussage, lud mich die Polizei ein. Damit ich mich ausweisen konnte, gab mir mein Chef meinen Ausweis zurück. Ich glaube, nach all den Jahren hat er einfach nicht daran geglaubt, dass ich ihn noch verraten würde. Aber ich nutzte die Chance, die sich für mich ergeben hatte, und sagte aus.

Anders als es der Ausbeuter dargestellt hatte, behandelte mich die Polizei gut, bestärkte mich darin, auszusagen, und brachte mich in ein Frauenhaus. Er hatte auch erzählt, das sei nur ein Ort für Suchtkranke, damit ich keines aufsuche. Er setzte sich bald nach Paraguay ab, da das Land keine Deutschen auslieferte.

Im Frauenhaus blieb ich 14 Monate und bekam viel Unterstützung, vor allem von der Hilfsorganisation ALDONA. Ich kann heute immer noch hingehen, wenn ich Probleme habe. Ich bekam psychologische Hilfe, ging in Therapie und kann jetzt offen über das Erlebte sprechen. Und genau dazu möchte ich andere Betroffene ermutigen: Verdrängt nicht, was euch passiert ist. Sprecht offen darüber und sucht euch Hilfe bei Organisationen.“

Kapitel 2: Menschenhandel 2.0

Menschenhandel passt sich aktuellen Entwicklungen an. Das zeigt eine Studie zur Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland im Auftrag des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK) aus dem Jahr 2022. Autorin der Studie ist die Wissenschaftlerin Dorothea Czarnecki. Im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin bestätigt sie, wie aktuell die Ergebnisse drei Jahre später noch sind. Sie sprach mit zuständigen Behörden, Organisationen, sammelte Fallbeispiele, wertete Statistiken aus. Das Ergebnis: Technologische Hilfsmittel sind in allen Stadien der sexuellen Ausbeutung gegenwärtig.

Die Täter finden ihre Opfer vor allem im Internet über Plattformen wie Instagram, TikTok, Snapchat sowie Videospiele mit Chatfunktion. Das Prinzip ist oft das gleiche: Ein Mann schreibt eine junge Frau an, und sie beginnen miteinander zu chatten. Er baut ein Vertrauensverhältnis auf. Eine Liebesbeziehung entsteht. Die sogenannte Loverboy-Methode führt dazu, dass die angeblichen Partner ihre Opfer in die Zwangsprostitution hineinmanipulieren. Dorothea Czarnecki beschreibt Social Media als „Fluch“ für den Menschenhandel.

März 2024

Osnabrück/Niedersachsen. Polizei und Staatsanwaltschaft durchsuchten am 5. März 2024 Wohnungen in Dissen
und Borgholzhausen. Laut den Ermittlern sollen drei Beschuldigte moldauische Staatsangehörige zur Arbeit und zum Betteln gezwungen haben, darunter Minderjährige. Ein 45-Jähriger kam in U-Haft.

Auch den Transport zu Freiern organisieren Menschenhändler meist digital. Frauen werden in Apartments mit digitalen Türcodes
untergebracht, so dass keine Übergabe an Mittelsmänner nötig ist. Bei anderen Betroffenen kommt es zur digitalen Zwangsprostitution, sie sollen auf Plattformen wie Onlyfans sexuelle Inhalte veröffentlichen, für die Nutzer zahlen. Die Täter müssen dadurch weder den Transport noch die Treffpunkte aufwändig organisieren, fast alles geht online von einem Ort aus.

Opfer von Zwangsprostitution können sich aufgrund der Digitalisierung kaum der Kontrolle der Zuhälter entziehen. Häufig werden sie durch ihr Handy überwacht und sind mithilfe von Tracking-Apps oder Stalkerware, die Freier installiert haben, aber auch durch ihre Social-Media-Accounts schnell auffindbar. Und wenn eine Frau aus der Zwangslage entkommen kann, üben Menschenhändler digitale Gewalt aus. Über Social Media kontaktieren sie die Opfer, bedrohen sie und ihre Familien, damit sie nicht zur Polizei gehen.

Könnte Digitalisierung nicht auch eine wichtige Hilfe bei den Ermittlungen sein? In der Theorie schon, sagt Expertin Dorothea Czarnecki: „Das Problem ist aber, dass in Deutschland Abteilungen der Strafverfolgungsbehörden getrennt sind: Cybercrime, Menschenhandel, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Jetzt ist die Abteilung Cybercrime technologisch gut ausgerüstet, aber die Abteilung Menschenhandel nicht – eine enge Zusammenarbeit ist daher nötig.“ IT-Analystin Czarnecki leitet beim Sachverständigenbüro FORENSIK.IT die Abteilung für Menschenhandelsbekämpfung und Kinderschutz. Ihre Auftraggeber sind Strafverfolgungsbehörden, wo es oft an Digitalisierung mangelt.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundeskriminalamt mit, die Onlinedimension von Menschenhandel und Ausbeutung nehme in allen Phasen zu, weshalb das BKA mit nationalen und internationalen Partnern innovative Lösungsansätze entwickle. Livestreams spielten bei Zwangsprostitution eine Rolle, konkrete Zahlen lägen jedoch nicht vor. Zu organisatorischen Strukturen und technischen Ressourcen äußere sich die Behörde aus „kriminaltaktischen Gründen“ nicht.

Dezember 2024

Tübingen/Baden-Württemberg. Das Landgericht Tübingen verurteilte am 12. Dezember 2024 einen 41-Jährigen zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis. Der Mann hatte die 15-jährige Tochter seiner Ex-Lebensgefährtin zur Prostitution gezwungen, sie mit Drogen gefügig gemacht und selbst vergewaltigt.

Auch an Hilfsorganisationen geht der technologische Wandel nicht spurlos vorbei. Betty Kneisler von „Projekt Schattentöchter“ betreut Opfer von Zwangsprostitution. „Vor allem die Online-Plattformen, auf denen die Frauen angeboten werden, haben einen hohen Zulauf erhalten“, beobachtet sie. In Freier-Foren werden Frauen bewertet, selbst bei Google-Bewertungen, meist schreiben die Verfasser abwertend über sie. Die Frauen werden dadurch „viel breitflächiger verkauft, und auf den Plattformen ist nicht ersichtlich, ob Zwang dahintersteckt oder nicht.“ Die enorme Kontrolle durch die Menschenhändler ist in der Beratung ebenfalls ein Thema: „Wir fanden in den Klamotten Tracking-Tools.“

Ein neues Leben zu beginnen, ist schwer. Fotos und Videos, die einmal im Internet sind, bleiben in der Regel für immer dort: „Die Betroffenen werden das nie wieder los, deshalb ist das Rauskommen so schwer.“

„Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon.“

Stefanie Hubig

Kneisler empfiehlt Ermittlern, in Foren von Freiern unterwegs zu sein. Viele davon würden mit Klarnamen kommentieren, offen Gewaltfantasien beschreiben oder von Zwangsprostitution berichten.

Um digitaler zu werden, schlägt Dorothea Czarnecki Behörden vor, auch frei verfügbare Open-Source-Intelligence-Tools zu nutzen: „Dafür muss man keine tiefe IT-Expertise mitbringen. Die Tools können vor allem Verknüpfungen erstellen zwischen Personen und Telefonnummern oder zwischen bestimmten Nicknames im Internet. Auch die Geolocation kann dadurch ermittelt werden – statt alles händisch suchen zu müssen.“

Kapitel 3: Bei der Arbeit ausgepresst

Außer den Bewohnern, der Polizei und den Sozialarbeitenden darf niemand die Adresse erfahren. Auch keine Details zur Wohnung, Umgebung oder den Männern, die hier leben. Sie sind Opfer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung geworden und haben in der schlicht eingerichteten Schutzwohnung, die der Internationale Bund (IB) in Berlin seit einem halben Jahr betreibt, Zuflucht gefunden. Es ist die einzige Einrichtung dieser Art in Deutschland. Hier wohnt ein Mann, der pro Woche etwa 80 Stunden arbeiten und an seinem Arbeitsplatz schlafen musste, aber kaum Geld bekam. Ein anderer wurde von seinem Chef nicht nur ausgebeutet, sondern auch schwer misshandelt. Wieder ein anderer ist sowohl Opfer von Arbeitsausbeutung als auch von Identitätsklau.

Der konspirative Umgang mit der Wohnung hat Gründe: Oft versuchen die Täter, die Opfer zu finden, unter Druck zu setzen und so von einer Aussage bei der Polizei oder vor Gericht abzubringen.

Januar 2025

Flensburg/Schleswig-Holstein. Das Landgericht Flensburg verurteilte am 28. Januar 2025 einen Mann unter anderem wegen besonders schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Der Mann hatte eine 16-Jährige zur Prostitution gebracht. Als sie aufhören wollte, bedrohte er sie.

Viele Fälle ähneln sich, sagt Stefan Ehrhardt vom Internationalen Bund, der das Hilfsangebot als Bereichsleiter mit aufgebaut hat: „Die Opfer werden in ihrer Heimat online oder durch Bekannte mit falschen Versprechungen vom großen Geld nach Deutschland gelockt. Hier müssen sie etwas anderes machen als vereinbart, bekommen gar kein oder wenig Geld, müssen Vermittlungshonorare, Ausbildungs- oder Unterkunftskosten abarbeiten.“

Die Betroffenen gerieten in einem fremden Land in eine Abhängigkeit, aus der sie sich schwer befreien könnten. In der Einrichtung des vom Berliner Senat beauftragten IB, die zehn Plätze bietet, sollen die Opfer zur Ruhe finden und mit Hilfe von Beratung eine Zukunftsperspektive entwickeln. Es besteht die Möglichkeit, dass sie Deutsch lernen und eine neue, nicht-prekäre Arbeitsstelle finden. Sie haben Anspruch auf eine dreimonatige Bedenk- und Stabilisierungsfrist sowie Sozialleistungen. Unter bestimmten Voraussetzungen, etwa bei einer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden, kann die Frist verlängert werden.

Mitunter sei es schwierig, die Betroffenenrechte durchzusetzen, wegen der bürokratischen Hürden und der Unerfahrenheit von Sachbearbeitenden beim Thema Menschenhandel. Es gebe aber auch positive Beispiele, betont Ehrhardt, wie „das für uns zuständige Bezirksamt, es ist dafür sensibilisiert und kooperativ, ebenso wie die Ermittlungsbehörden.“ Zu den Strategien der Täter gehört es, die Betroffenen mit Falschinformationen zu füttern. Etwa zu sagen, die Polizei sei korrupt und arbeite mit ihnen zusammen. Die Sozialarbeiter des IB versuchten, dem mit Aufklärung entgegenzuwirken. Die Entscheidung, ob sie aussagen oder nicht, liege jedoch bei den Opfern, so Ehrhardt.

März 2025

Hannover/Niedersachsen. Ein 37-Jähriger wurde im März 2025 vom Amtsgericht Hannover wegen Menschenhandels zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er hatte 2021 mindestens vier Arbeitskräfte mit falschen Versprechungen angeworben und bei Flut-Aufräumarbeiten im Ahrtal ausgebeutet.

„Wenn sie von der Polizei oder vom Zoll entdeckt werden, sind sie emotional am Anschlag“, sagt der Bereichsleiter. Sie haben Angst vor einer Abschiebung. Vor möglichen Racheaktionen der Täter. Und vor Geldnot. Die meisten wollen so schnell wie möglich wieder eine Arbeit finden, weil sie ihren Familien Geld schicken wollen.

Zunächst gehe es darum, psychologisch Erste Hilfe zu leisten, ihnen Sicherheit zu vermitteln und sie zurück ins „normale Leben“ zu begleiten, etwa mit Spaziergängen oder Gruppenangeboten. Unter den Bewohnern erlebe er eine „große Solidarität“, lobt Ehrhardt. Sie würden gemeinsam kochen, sich unterstützen und Halt geben. Der Bewohner, der die massivste Gewalt erfahren habe, sei fest entschlossen auszusagen, damit die Täter bestraft werden.

Wie aus dem Bundeslagebild Menschenhandel hervorgeht, ist die Zahl der abgeschlossenen Verfahren im Bereich Arbeitsausbeutung 2024 im Vergleich zu 2023 um 10,8 Prozent gestiegen, auf 41 – so viele wie noch nie. Dass das Hellfeld größer geworden ist, hängt auch mit Fortschritten auf staatlicher Seite zusammen: Seit 2019 kontrolliert der Zoll, ob Arbeitskraft ausgebeutet wird, und hat Opferbeauftragte in seinen Reihen. Polizei, Staatsanwaltschaften und BKA widmen dem Thema mehr Aufmerksamkeit als früher, decken bei vielen Durchsuchungen Missstände auf. Doch der Weg ist noch weit: Unter den Fällen sind Großverfahren, dennoch ist die Zahl weiterhin relativ klein.

Laut BKA sind fast 85 Prozent der Opfer männlich, haben ein Durchschnittsalter von 34 Jahren und kommen hauptsächlich aus Osteuropa und Südostasien. Sie seien oft bei Zeitarbeitsfirmen mit wechselnder Tätigkeit beschäftigt oder in der Logistik, auf dem Bau, in der Gastronomie und in Nagelstudios. Die Täter gehörten zum Teil der Organisierten Kriminalität an.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Im Bundeslagebild 2024 registrierte das BKA 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern, davon 195 wegen sexueller Ausbeutung.

Eliane Friess, Projektreferentin bei der Servicestelle gegen Zwangsarbeit, die unter anderem Behörden schult, sagt: „Die Missstände hängen auch mit dem Fachkräftemangel und der großen Ungleichheit zusammen: Viele Betroffene kommen aus Ländern, in denen die wirtschaftlichen Bedingungen viel schlechter sind. Deshalb nehmen sie viel in Kauf, um in Deutschland zu arbeiten.“ Dass eine solche Ausbeutung hier möglich  ist, hätten sie sich vorher nicht vorstellen können.

Manche sehen sich nicht als Opfer, weil sie noch schlimmere Bedingungen kennen, und sagen dementsprechend nicht aus. „Um Ausbeutung vorzubeugen, sollten die Menschen schon in ihrem Heimatland so viele Informationen wie möglich etwa über faire Arbeitsbedingungen und Anlaufstellen in Deutschland bekommen“, schlägt Friess vor. Hier seien „alle Akteure, die vor Ort sind und kontrollieren, wie zum Beispiel der Arbeitsschutz, gefragt, Hinweise auf Menschenhandel zu erkennen.“

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele gehört zu den wenigen in Deutschland, die auf Ermittlungen wegen Menschenhandels spezialisiert sind. Berlin ist hierbei eine zentrale Drehscheibe. Auch deshalb gibt es in der Hauptstadt eine Gemeinsame Ermittlungsgruppe Arbeitsausbeutung, an der Polizei und Zoll beteiligt sind. Höfele und ihre Kolleginnen und Kollegen waren in einer ganzen Reihe Verfahren erfolgreich. Die Juristin weiß um den Aufwand, der damit einhergeht: „Es handelt sich oftmals um Großverfahren mit zahlreichen Opfern und Beschuldigten, die Ermittlungsgruppen über Jahre beschäftigen können. Hinter den Taten, die oft einen Bezug zu mehreren Bundesländern und zum Ausland haben, stehen dabei oft organisierte Firmengeflechte mit zehn Unternehmen und mehr.“ Wobei auch die Täter sich fortbilden würden, indem sie zum Beispiel Gerichtsurteile studieren, um daraus zu lernen. Ermittlungen auf der Grundlage der Paragrafen zum Menschenhandel im Strafgesetzbuch seien sehr schwer und aufwendig.

März 2025

Kiel/Neumünster Schleswig-Holstein. Ermittler durchsuchten am 20. März 2025 Wohn und Geschäftsräume in Neumünster. Laut Staatsanwaltschaft wurde eine Person aus menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen befreit, ein 52-Jähriger festgenommen. Der Mann soll mehrere Opfer zur Arbeit gezwungen haben. Das Landgericht Kiel verurteilte ihn im Oktober zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und elf Monaten.

Anna Schmitt berät im Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit Betroffene von Zwangsarbeit, Arbeitsausbeutung und Menschenhandel. Die Ratsuchenden kommen entweder über die Sicherheitsbehörden zu ihr, mit denen sie kooperieren, oder über andere Anlaufstellen. Was sie am meisten beschäftige? „Ungewissheit und Angst. Etwa vor einer Abschiebung, weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Vor möglichen Racheaktionen der Täter nach einer Aussage. Und vor Geldnot, weil sie ihre Arbeit und damit die finanzielle Grundlage für sich und ihre Familie verloren haben, häufig auch ihre Unterkunft“, entgegnet die Sozialarbeiterin, die den Betroffenen hilft, ihre Rechte durchzusetzen. „Auch Gewalt spielt bei der Arbeitsausbeutung eine Rolle. Damit werden die Betroffenen eingeschüchtert.“

Im Hinblick auf die Opfersensibilität der Behörden fällt Schmitts Fazit geteilt aus. Es sei zum Beispiel gut, dass der Zoll Ansprechpersonen für Opfer habe. Andererseits würden die Betroffenen teilweise als Beschuldigte geführt, weil sie etwa keine Arbeitserlaubnis haben. Grundsätzlich gebe es Beamtinnen und Beamte mit einem guten Willen – die aber auf zu viele rechtliche Hürden stießen. So könnten beispielsweise Ausländerbehörden lediglich eine Grenzübertrittsbescheinigung ausstellen.

Schmitt spricht sich dafür aus, den Ausgebeuteten über längere Zeit einen sicheren Aufenthalt zu gewähren – auch wenn sie zumindest vorerst keine Aussage machen wollen – und sie besser zu schützen, etwa durch Anonymisierung in Verfahren. Das sei aus menschenrechtlichen Gründen geboten – und würde die Verfolgung von Menschenhandel erleichtern.

Kapitel 4: Politische Pläne

Menschenhandel ist in ganz Europa ein großes Problem, weshalb die EU ihre Richtlinie dagegen 2024 erweitert hat, unter anderem um Ausbeutung durch Leihmutterschaft und illegale Adoption. Alle Mitgliedsstaaten müssen bis Juli 2026 ihre Gesetze zur Bekämpfung von Menschenhandel überarbeiten.

Neben den relevanten Paragraphen im Strafgesetzbuch gibt es in Deutschland einen im Herbst 2024 veröffentlichten „Nationalen Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz der Betroffenen“ (NAP), der aus 126 Maßnahmen besteht, eine Laufzeit von vier Jahren hat und vor allem mehr Hilfen für Opfer, konsequentere Strafverfolgung und internationale Kooperation ankündigt. Zu den weiteren Plänen gehören eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Digitalisierung und eine verbesserte Datensammlung zu Menschenhandel.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins zum aktuellen Stand antwortete das Bundesministerium des Inneren allgemein: „Etliche Maßnahmen sind bereits in der Umsetzung oder befinden sich in der konkreten Vorbereitung. Weitere Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“

„Eine Schweinerei“

Ein Bauarbeiter aus Rumänien berichtet, wie ein Vermittler seinen Pass und einen Teil seines Lohnes einbehielt.

„Ich bin Anfang 20 und trage schon viel Verantwortung. Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Ich habe eine Freundin und ein Kind, muss für meine Familie sorgen. In Rumänien kann ich nicht genug Geld verdienen, deswegen komme ich nach Westeuropa, um auf dem Bau zu arbeiten. Das letzte Mal in Deutschland war schlimm – was ich nicht ahnen konnte. Ein Kumpel aus meinem Dorf in Transsylvanien hatte mir den Job empfohlen und den Kontakt zu einem Vermittler hergestellt, mit dem ich mich am Telefon auf zwölf Euro netto pro Stunde einigte. Ich sollte zunächst vier Monate in Bayern arbeiten, unter der Woche etwa zehn Stunden, am Samstag um die fünf. Nachdem wir angekommen waren, behielt der Vermittler, der auch die Unterkunft organisierte, unsere Ausweise ein. Er sagte, wir würden sie zurückbekommen, wenn wir die Summe, die wir ihm unter anderem für die Anreise schuldeten, abgearbeitet hätten. Er sprach von zwei Wochen. Tatsächlich erhielten wir unsere Dokumente erst nach einem Monat.

Außerdem zahlte er nur zehn Euro pro Stunde statt zwölf. Und die Hälfte des Lohns behielt er nach dem ersten Monat ebenfalls ein, als eine Art Garantie. Er wollte uns in der Hand haben, vielleicht sicherstellen, dass wir ordentlich arbeiten und nicht abreisen. Später habe ich gehört, dass er das Geld für eine Hochzeit brauchte. Eskaliert ist es, als wir an Ostern nach Hause fahren wollten, zu unseren Familien. Er wollte uns zum Bleiben zwingen und weigerte sich, uns – acht Leute waren betroffen – unser Geld zu geben. Ich bin wütend geworden. Angst hatte ich nicht, wollte unbedingt mein Geld.

Wir haben uns Hilfe geholt und schließlich mit Hilfe der Beratungsstelle Faire Mobilität und des Peco Instituts erfolgreich unsere Löhne eingefordert. Gezahlt hat nicht der Vermittler, sondern der Arbeitgeber.

Das war eine Schweinerei, wie mit uns umgegangen wurde. Erniedrigend. So etwas muss aufhören. Als Opfer von Ausbeutung sehe ich mich aber eigentlich nicht. Für mich ist es normal, bis zu zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten. Ich bin jung und stark. Wer schwach ist, wird aussortiert. So ging es einem älteren Mann, der einmal vermutlich einen epileptischen Anfall auf der Baustelle hatte. Er zuckte; der Rettungsdienst musste kommen. Als der Arbeiter nach etwa zwei Wochen zurückkam und wieder anfangen wollte, wurde er weggeschickt. Das war schlimm für ihn.

Ich arbeite inzwischen in Frankreich, regulär mit Arbeitsvertrag, und bin bislang zufrieden. Das Geld kommt pünktlich und die Arbeitsbedingungen sind in Ordnung.“

Seit 2022 berichtet das Deutsche Institut für Menschenrechte im Auftrag der Bundesregierung unabhängig darüber, ob und wie Deutschland die EU-Menschenhandelsrichtlinie umsetzt, und spricht Empfehlungen aus. Die Leiterin der Berichterstattungsstelle, Naile Tanış, rät, die Richtlinie vollständig umzusetzen und den Fokus noch stärker auf den Schutz der Betroffenen zu richten. Im Zuge einer Reform des § 232 StGB soll Menschenhandel etwa um nicht wirtschaftlich motivierte Ausbeutungsformen wie Zwangsheirat ergänzt werden. Außerdem gilt derzeit das schwer nachweisbare Merkmal der „Zwangslage“, das der Gesetzgeber laut EU-Richtlinie in „Missbrauch von Macht“ umwandeln soll.

Darüber hinaus fordert die Berichterstattungsstelle, dass Ermittlungsbehörden bei Bedarf Telekommunikationsüberwachung einsetzen dürfen, um Betroffene zu entlasten. Im Hinblick auf den Nationalen Aktionsplan mahnt sie weiteren Handlungsbedarf an: Viele Maßnahmen seien finanziell nicht gesichert, etwa die Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure. Planungssicherheit und Kontinuität seien bei Prävention aber entscheidend. Hinzu komme: „Der NAP enthält keine Maßnahmen zum Aufenthaltsrecht, obwohl Deutschland durch europäische und internationale Normen dazu verpflichtet ist, Betroffenen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit umfassende Hilfe zukommen zu lassen.“ Das BMI erklärte hierzu: „Nach Ablauf der vier Jahre soll der NAP Menschenhandel überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. So wird Kontinuität auch über die Laufzeit des derzeitigen NAP Menschenhandel hinaus sichergestellt.“

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD spielt das Thema keine große Rolle, das Wort Menschenhandel kommt lediglich ein Mal vor: „Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, steht in dem Papier. Die Opfer seien fast ausnahmslos Frauen. „Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern.“

April 2025

Chemnitz/Sachsen. Hunderte Polizisten nahmen am 9. April 2025 bei Durchsuchungen in Deutschland und Tschechien mehrere Verdächtige fest. Sie sollen vietnamesische Frauen mit falschen Visa nach Deutschland eingeschleust, sie hier zur Prostitution gebracht und ausgebeutet haben.

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat Ende Oktober Stellung bezogen. Als „moderne Sklaverei“ bezeichnete sie Menschenhandel und Deutschland als Tatort. „Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon“, sagte Hubig.

Ein Gesetzentwurf aus ihrem Ministerium, der die europäische Richtlinie gegen Menschenhandel umsetzen soll, sieht eine Änderung der Menschenhandelsdelikte (§§ 232 bis 233a StGB) und der Gesetze zur sexuellen Ausbeutung (insbesondere §§ 180a, 181a StGB) vor. So will Hubig die Strafen bei den erstgenannten Delikten erhöhen – grundsätzlich auf bis zu zehn Jahre Haft, nicht nur bei besonders schweren Fällen – und die Möglichkeit eröffnen, mehr Kunden von Ausgebeuteten zur Verantwortung zu ziehen.

Bisher griff die „Nachfragestrafbarkeit“ nur bei Freiern, die wussten, dass sie Dienstleistungen von Zwangsprostituierten in Anspruch nahmen. Künftig soll dies für alle Formen der Ausbeutung gelten, etwa wenn jemand bei einem Bauprojekt Arbeiter beschäftigt, obwohl er weiß, dass sie ausgebeutet werden.

Mai 2025

Frankfurt/Hessen und weitere Bundesländer. Ermittler durchsuchten am 8. Mai 2025 in acht Bundesländern 40 Wohn und Geschäftsräume sowie Bordellbetriebe, unter anderem in Frankfurt. Laut Staatsanwaltschaft ging es um den Vorwurf des bandenmäßigen Einschleusens von Frauen aus China zur Prostitution. Drei Tatverdächtige wurden festgenommen.

Auch plant das Justizministerium, wie von der EU gefordert, beim Menschenhandel durch Leihmutterschaft, bei Adoption und
Zwangsheirat gesetzlich nachzubessern. Kinder und Jugendliche sollen ebenfalls besser geschützt werden, durch neue Tatbestände und einen höheren Strafrahmen bei der sexuellen Ausbeutung gegen Entgelt.

Babette Rohner von Ban Ying, der in Berlin angesiedelten Koordinations- und Beratungsstelle gegen Menschenhandel, mahnt: „Solange der Opferschutz, für den es mehr Geld braucht, zu kurz kommt, wird sich nicht viel ändern.“ Die wenigen Schutzwohnungen seien meistens voll, die Beratungsstellen ausgelastet. „Bei vielen Betroffenen ist die Aussagebereitschaft gering, weil sie weder einen vernünftigen Aufenthaltstitel noch ausreichend Schutz bekommen“, sagt Rohner.

„Menschenhandel ist eine schwere Verletzung von Kinderrechten."

Martina Döcker

Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK), sagt, es fehle an Bewusstsein dafür, dass der „riesige Niedriglohnsektor in Deutschland Menschenhandel begünstigt“.

Darüber hinaus mangele es am politischen Willen sowie an Kapazitäten bei den Kontrollbehörden, die „Wirtschaft stärker zu durchleuchten“. Die Missstände würden eher stiefmütterlich behandelt und Betroffene von Ausbeutung noch oft als illegale Arbeiterinnen oder illegale Ausländerinnen betrachtet, die abgeschoben werden müssten. Fälle von Menschenhandel würden somit nicht erkannt.

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele erklärt, es brauche nicht unbedingt schärfere Gesetze. Auch sie sieht ein Kernproblem darin, dass es „keinen vernünftigen Schutz von Opferzeugen in Deutschland gibt“. Weder „können wir sie zum Beispiel anonymisieren“, damit sie nicht in Gefahr geraten, noch würden die Betroffenen, etwa bei Zwangsarbeit, pauschal entschädigt. Hinzu kämen Probleme beim Non Punishment-Prinzip für Opfer, die sich strafbar gemacht haben: „Wenn wir auf eine Bestrafung verzichten, etwa bei Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, können wir nicht sicher sein, dass die Ausländerbehörde dies auch so hält.“

Höfele spricht sich für eine bundesweit bessere Vernetzung und Zusammenarbeit der für Menschenhandel zuständigen Behörden, mehr Ressourcen und eine höhere Sensibilität aus: „In vielen Staatsanwaltschaften ist noch nicht angekommen, dass Menschenhandel in Deutschland ein Thema von großer Brisanz ist. Es benötigt viel mehr Aufmerksamkeit und vor allem eine Spezialisierung auf diesem Gebiet.“

Häufig würden Fälle heruntergebrochen auf Delikte wie Schleppen und Schleusen nach § 96 Aufenthaltsgesetz, weil dies viel einfacher nachzuweisen sei als Ausbeutung und Menschenhandel. Was sie bei ihrem Kampf dagegen antreibe? „Als eine Verfechterin der Menschenrechte finde ich: Ein Staat wie Deutschland sollte es sich nicht leisten, dass die Menschenrechte von bestimmten Gruppen mit Füßen getreten
werden. Menschenhandel ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das oberste Gebot des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Menschenhandel

2024 wurden laut BKA 83 Opfer durch die „Loverboy- Methode“ zur Prostitution gebracht, meist junge Frauen, die Täter zunächst emotional abhängig machten, um sie später finanziell auszubeuten.

Kapitel 5: Die dunkelsten Felder

Immer wieder werden Kinder einer Familie in Berlin und anderen Bundesländern straffällig, sie begehen zahlreiche Einbrüche und Diebstähle, vor allem in Mobiltelefongeschäften. Die Minderjährigen sind ohne ihre Eltern unterwegs und werden in den jeweiligen Städten und Landkreisen in Obhut genommen – verlassen die Jugendhilfeeinrichtungen aber kurz darauf wieder.

Nach und nach erreichen das zuständige Berliner Jugendamt wiederholt Meldungen von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ämtern und Polizeidienststellen.

IN VIA Berlin, die Fachberatungs- und Koordinierungsstelle bei Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen, ist die einzige dieser Art in Deutschland und kümmerte sich um den Fall. Dieser führt in eines der dunkelsten Felder: IN VIA hat die Minderjährigen als Opfer von Menschenhandel identifiziert, die offenbar durch den Zwang, Straftaten zu begehen, ausgebeutet werden. Die Beratungsstelle brachte Hilfen für den Kinderschutz auf den Weg. Das Landeskriminalamt ermittelt.

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Betroffene von Menschenhandel haben Ermittlungsbehörden im Zeitraum 2020 bis 2022 identifiziert, wie die Berichterstattungsstelle Menschenhandel angibt.

3.704

Personen, bei denen der Verdacht auf Menschenhandel oder Ausbeutung vorlag, haben Fachberatungsstellen oder arbeitsrechtliche
Beratungsstellen im gleichen Zeitraum verzeichnet. Die Beratungsstelle vermutet, dass die Dunkelziffer viel höher liegt, bisher gebe es keine einheitliche Statistik in Deutschland.

15.000

Menschen wurden laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits vor 20 Jahren in Deutschland zur Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen gezwungen.

Die Zahl der Betroffenen nimmt zu. Das Bundeskriminalamt hat in seinem Lagebild Menschenhandel und Ausbeutung für das vergangene Jahr 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern (plus 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr) erfasst, 195 davon wegen sexueller Ausbeutung (plus 7 Prozent), jeweils zwei Verfahren wegen Arbeitsausbeutung und Ausbeutung durch den Zwang, Straftaten zu begehen, sowie zehn Verfahren wegen Entziehung Minderjähriger, Kinderhandel und Zwangsverheiratung. Insbesondere bei den ausgebeuteten Kindern und Jugendlichen, die sich strafbar machen mussten, gehen Fachleute – ebenso wie bei erwachsenen Betroffenen, wo 2024 lediglich zwei Verfahren abgeschlossen wurden – von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch der Menschenhandel in Zusammenhang mit Bettelei – insgesamt ein Verfahren im Jahr 2024, fünf im Jahr zuvor – trifft Minderjährige.

Martina Döcker, Leiterin der auf minderjährige Opfer spezialisierten Fachberatungsstelle von IN VIA, sagt: „Wir stellen immer wieder fest, dass die Ausbeutung hinter den vordergründigen Straftaten nicht erkannt wird, weil die betroffenen Kinder und Jugendlichen keine Aussage hierzu machen. Das Erkennen und Ermitteln der Hintergründe ist in solchen Fällen wesentlich.“ Döcker verweist darauf, dass in solchen Fällen gemäß der Europaratskonvention und der EU-Menschenhandelsrichtlinie von einer strafrechtlichen Sanktion abgesehen werden kann, es gilt das „Non-Punishment-Prinzip“, das in Deutschland in Paragraf 154 c Abs. 2 der Strafprozessordnung verankert ist, aber kaum angewendet wird.

Martina Döcker und ihr Team kümmern sich besonders häufig um sexuell ausgebeutete Minderjährige, etwa um einen verwaisten Jugendlichen: Als er 16 war, machte ein ausländischer Geschäftsmann ihm in seinem Heimatland in Subsahara- Afrika das Angebot, für eine angeblich gut bezahlte Arbeitsstelle nach Deutschland zu kommen. Mit gefälschten Ausweisdokumenten, die ihn als volljährig auswiesen, kam er in der Wohnung des Mannes unter. Dieser sperrte ihn ein und nötigte ihn, mit weiteren Männern Sex zu haben. Wochen später gelang dem Jungen die Flucht. Mit Hilfe von IN VIA, WEISSEM RING und Jugendamt bekam er eine Therapie und einen Platz in einer Wohngruppe. Er entschloss sich, Anzeige zu erstatten. Und will bald eine Ausbildung beginnen.

Aus dem Gericht: Bis zu 50 Freier an einem Tag

Zwei Verfahren, ein Muster der Ausbeutung: Vor dem Landgericht Münster haben im Oktober zwei große Prozesse wegen schwerer Zwangsprostitution begonnen. Sie zeigen exemplarisch, wie systematisch Täter junge Frauen in Abhängigkeit bringen, isolieren und zur Prostitution zwingen. Teils unter massiver Gewalt.

Im ersten Verfahren stehen fünf Angeklagte vor Gericht: drei Männer und zwei Frauen, darunter ein Elternpaar. Ihnen wird vorgeworfen, zwei junge Frauen – eine davon minderjährig – über Jahre unter Drohungen und Gewalt zur Prostitution gedrängt zu haben. Die Eltern stellten demnach ihre Wohnung bereit, und die Familie bestritt mit den Einnahmen ihren Lebensunterhalt. Der 33-jährige Sohn habe mehrfach versucht, eine der Betroffenen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, was an deren Gegenwehr scheiterte. Der ältere Bruder soll zudem versucht haben, eine weitere, damals 17-Jährige zur Prostitution zu drängen. Die Angeklagten hatten sich bis Redaktionsschluss vor Gericht nicht zu den Tatvorwürfen eingelassen. Die Geschädigten sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Ein Urteil sollte am 10. Dezember gesprochen werden.

In der zweiten Verhandlung geht es laut Anklage um 80 Taten zwischen Ende 2022 und Anfang 2025. Eine 26-Jährige und zwei Männer (36 und 32) sollen Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren zur Prostitution angeworben und ausgebeutet haben. Während die Angeklagte, die sich zu den Vorwürfen äußerte, die Abläufe plante, Hotels buchte, Anzeigen schaltete und sich auch selbst prostituierte, fuhren die Männer die Frauen laut Anklage zu ihren Einsätzen und sammelten das Geld ein. Die Angeklagte räumte ein, gewusst zu haben, dass mehrere der Mädchen minderjährig waren. Als die Polizei schon gegen sie ermittelte, sollen sie ihre Opfer weiter zur Prostitution gezwungen haben. Dies belegen Aufnahmen der Telefonüberwachung. In einem Fall zeichneten Ermittler auf, wie die Angeklagte ihre Opfer zwang, Fotos von ihren Handys zu löschen. Um den Geschädigten zu drohen, kam eine Schreckschusspistole zum Einsatz. Die Beschuldigte berichtete von einer der Frauen, die bis zu 50 Freier am Tag geschafft habe, ihr „bestes Pferd im Stall“. Besonders erschütternd: In einem Fall zwang die Angeklagte eine Schwangere in der 14. Woche zur Abtreibung in den Niederlanden, um ihren Körper weiter verkaufen zu können. Die Betroffenen sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Bis Redaktionsschluss hatten sich die männlichen Angeklagten nicht geäußert, kündigten jedoch umfassende Geständnisse an. Ein Urteil wird für Februar 2026 erwartet.

Auch viele in Deutschland aufgewachsene Kinder und Jugendliche sind von sexueller Ausbeutung betroffen, vor allem Mädchen. Die Anwerbung finde oft im digitalen Raum statt, so Döcker. Und stehe manchmal in Verbindung mit Drogenkonsum. Phänomene wie Cyber-Grooming oder Sextortion hätten die Gefahr erhöht, auch weil schnell Bilder produziert und sie damit unter Druck gesetzt werden können. Die Auswirkungen wiegen schwer: „Menschenhandel ist eine schwere Kinderrechtsverletzung, mit lebenslangen psychischen und physischen Folgen.“

Insgesamt hat IN VIA nach eigenen Angaben allein von Januar bis September dieses Jahres 57 minderjährige Opfer von Menschenhandel, 53 davon weiblich, beraten. Und damit deutlich mehr als in den vergangenen Jahren in den Statistiken erfasst waren. Ein Hinweis darauf, dass das Dunkelfeld tatsächlich groß ist. Bei einem größeren Teil handelt es sich um Minderjährige aus Drittstaaten und unbegleitete Geflüchtete. Manche werden sexuell ausgebeutet, andere zu Straftaten gezwungen, etwa bei Betrugsdelikten oder als Drogenkuriere. Die meisten Opfer sind zwischen 14 und 17 Jahre alt, das jüngste war acht.

Die Fachberatungsstelle will das Bewusstsein für das Thema schärfen, dafür sorgen, dass das Hellfeld größer wird und mehr Betroffene Hilfe bekommen. „Sensibilisierung und Schulung“ etwa von Jugendämtern, freien Trägern, Streetworkern oder Familiengerichten sind laut Döcker mit die wichtigsten Aufgaben. „In der fachlichen Diskussion fehlt oft der kindspezifische Blick“, so Döcker. Die Kinder selbst wiederum seien sich in vielen Fällen nicht der Tatsache bewusst, dass sie ausgebeutet werden, etwa aufgrund einer emotionalen Abhängigkeit. Oder sie gäben sich aus Angst vor den Tätern, die Teil der Familie sein können, nicht als Opfer zu erkennen. Manchmal werden sie als solche erkannt, verlassen Jugendhilfeeinrichtungen nach kurzer Zeit aber wieder. Es komme darauf an, sie für die eigene Situation zu sensibilisieren, ihnen auf sie zugeschnittene Hilfen und Schutz zu bieten.

Was bei Minderjährigen auf Menschenhandel hinweisen könne? Jeder Fall sei vielschichtig und einzeln zu betrachten, betont Döcker, nennt aber einige mögliche Anzeichen: Wenn im Umfeld von Kindern oder Jugendlichen zum Beispiel häufig eine unbekannte Person auftaucht, die sie zu kontrollieren scheint. Wenn sie plötzlich immer wieder straffällig werden, über viel Geld und Wertsachen verfügen oder wenn oft unklar ist, wo sie sind.

August 2025

Heilbronn/Baden-Württemberg. Der Zoll durchsuchte am 5. August 2025 einen landwirtschaftlichen Betrieb im Raum Heilbronn. Nach Angaben des Hauptzollamts bestand unter anderem der Verdacht auf Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte. Elf Erntehelfer untermauerten die Vorwürfe mit ihren Aussagen.

Am Landgericht Bielefeld legt ein Justizbeamter der 57-Jährigen, die eine führende Rolle im Schleusernetzwerk gespielt haben soll, auch während einer Prozesspause Handschellen an. 13 Justizbeamte sichern den Saal. Zum Prozessauftakt sind drei Vertreter der Nebenklage anwesend, die betroffenen Frauen sind bis zu ihrer Aussage als Opferzeuginnen in Schutzwohnungen untergebracht.

Laut BKA wird jedes zehnte Opfer nach seiner Anzeigenerstattung unter Druck gesetzt, um bei einer späteren Gerichtsverhandlung seine Aussage zurückzuziehen oder zu relativieren. Rechtsanwältin Petra-Maria Borgschulte kennt das: „Die Frauen haben Angst. Solche Verfahren scheitern häufig daran, dass die Frauen sich nicht mehr trauen, auszusagen.“ Sie vertritt eine der betroffenen Frauen vor Gericht. Vom Prozess erhofft sich Borgschulte, „dass es ein angemessenes Urteil gibt – und das man Hintergründe darüber erfährt, wie das Netzwerk zum Beispiel an so viele Touristenvisa kommen kann. Es muss Menschen in den EU-Botschaften in Thailand geben, die die Visa erteilen. Da profitiert auch wieder jemand. Das sind keine Menschenfreunde.“ Ein Urteil wird am 30. April 2026 erwartet.

Fonds Sexueller Missbrauch: Entscheidung des Haushaltsausschusses „macht fassungslos“

Erstellt am: Dienstag, 18. November 2025 von Sabine
Bianca Biwer

„Die Entscheidung aus dem Haushaltsausschuss macht mich fassungslos“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. Foto: Dirk Beichert

Datum: 18.11.2025

Fonds Sexueller Missbrauch: Entscheidung des Haushaltsausschusses „macht fassungslos“

Es bleibt beim rückwirkenden Antragsstopp für den Fonds Sexueller Missbrauch. Viele Betroffene bleiben dadurch ohne niedrigschwellige Hilfe. Zahlreiche Organisationen, darunter der WEISSE RING, fordern eine schnelle Rettung des Fonds.

Die Entscheidung im Haushaltsausschuss des Bundestags, keine weiteren Mittel für eine Übergangslösung für den Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) bereitzustellen, hat massive Kritik ausgelöst. Rund 30 Organisationen – darunter der WEISSE RING – haben zudem in einem Offenen Brief gefordert, den Fonds zu retten. „Der FSM stellt häufig die einzige Möglichkeit für von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend Betroffene dar, eine Form der staatlichen Anerkennung und Unterstützung zu erhalten“, heißt es in dem Schreiben, das an die Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD im Bundestag, Jens Spahn und Matthias Miersch, sowie an die Unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus gerichtet ist. Gefordert wird eine Lösung, „mit der die Aussagen des Koalitionsvertrages eingehalten und die Weiterführung des Fonds 2026 gewährleistet werden kann“.

Zu den weiteren Unterzeichnern gehören unter anderem der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt, der Kinderschutzbund, der Caritasverband, die Diakonie, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend und die Deutsche Sportjugend.

 

„Jeder Tag ohne Unterstützung verschlimmert ihr Leiden.“

Bianca Biwer

„Die Entscheidung aus dem Haushaltsausschuss macht mich fassungslos“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. Offenbar fehle bislang der politische Wille, genug Geld für alle Betroffenen in die Hand zu nehmen, ihnen endlich Sicherheit zu geben und damit Verantwortung zu übernehmen. „Opfer von sexualisierter Gewalt sind besonders vulnerabel. Sie kämpfen oft ihr Leben lang mit den Folgen des Missbrauchs. Erschwerend kommt nun die massive Enttäuschung hinzu, wieder im Stich gelassen worden zu sein. Sie brauchen dringend niedrigschwellige Hilfen. Jeder Tag ohne Unterstützung verschlimmert ihr Leiden“, so Biwer. „Seit vielen Monaten ist die Zukunft des Fonds Sexueller Missbrauch ungewiss. Es wäre genug Zeit gewesen, zumindest eine gute Übergangslösung zu schaffen.“ Der Bundestag dürfe die Betroffenen jetzt nicht länger vertrösten, sondern müsse schnell für adäquaten Ersatz sorgen.

Kerstin Claus, Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (UBSKM), erklärte: „Dass es nicht gelungen ist, den Fonds für das Haushaltsjahr 2026 finanziell abzusichern, ist für Betroffene ein Desaster. Der Staat verweigert damit Hilfe und Unterstützung genau dort, wo er am meisten versagt hat: beim Schutz der Kinder und Jugendlichen.“

Der Fonds ist Teil des Ergänzenden Hilfesystems (EHS), kann Folgen des Missbrauchs lindern und einspringen, wenn notwendige Leistungen nicht durch Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht abgedeckt werden – was oft der Fall ist. Bislang haben etwa 36.000 Betroffene einen Antrag gestellt, ausgezahlt wurden 165,2 Millionen Euro. Im Sommer war der Fonds rückwirkend zum 19. März eingestellt worden, weil die Mittel im Bundeshaushalt nicht reichten. Dass der FSM aufgrund haushaltsrechtlicher Bedenken des Bundesrechnungshofs neu aufgestellt werden müsse, ist schon länger klar. Den Fonds vorübergehend weiterzuführen, wäre aufgrund der seit 2025 geltenden „Billigkeitsrichtlinie“ aber offenbar möglich gewesen.

Die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs schloss sich der Kritik am Haushaltsausschuss an: „Den Abgeordneten des Bundestages ist es nicht gelungen, Mittel zur Verfügung zu stellen, um den Fonds Sexueller Missbrauch weiterzuführen, obwohl die Bundesregierung dies in ihrem Koalitionsvertrag als Ziel genannt hatte.“ Viele Betroffene stünden nun ohne die Hilfe da, auf die sie gezählt hätten. Ähnlich äußerte sich der Betroffenenrat bei der UBSKM: „Tausende Betroffene werden mit fatalen Folgen im Stich gelassen, trotz anders lautender politischer Bekenntnisse auch in Gesprächen mit dem Betroffenenrat.“

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins wies eine Sprecherin des zuständigen Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Kritik zurück. Sie verwies auf den Ende Juni beschlossenen Regierungsentwurf für den Haushalt 2025. Darin seien 53,2 Millionen Euro für die Abwicklung des Ergänzenden Hilfesystems vorgesehen; für die Jahre 2026 bis 2028 stünden weitere 115,9 Millionen Euro bereit. Der Haushaltsausschuss habe das Ministerium aufgefordert, ein Konzept für die rechtssichere Fortsetzung des Hilfesystems vorzulegen. „Derzeit erarbeiten wir – auch auf der Grundlage des durch die Unabhängige Bundesbeauftragte Kerstin Claus in Auftrag gegebene Gutachten, das im Oktober veröffentlicht wurde – ein entsprechendes Konzept.“  Ziel sei ein „tragfähiges, haushaltsrechtskonformes und betroffenengerechtes Nachfolgemodell“.

Niedrigschwellige Hilfe ist notwendig

Am heutigen Dienstag bezog Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) in der Bundespressekonferenz Stellung. Während eines gemeinsamen Termins mit Kerstin Claus anlässlich des Europäischen Tages gegen sexuellen Missbrauch von Kindern sagte sie, die Suche nach einem rechtssicheren neuen Modell laufe. Es brauche eine gesetzliche Lösung, die sie im Januar vorlegen wolle. Gesetzgebungsverfahren dauern in der Regel lange. Wichtig werde sein, Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) und die Abgeordneten zu überzeugen. „Die Schlacht ist noch nicht geschlagen“, sagte Prien und deutete an, dass es Probleme geben dürfte. Es gebe Widerstände gegen ein Modell außerhalb der sonstigen sozialen Entschädigung, die im neuen SGB XIV verankert ist.

Kerstin Claus betonte: Ja, im Haushalt sei für den Fonds zwar Geld für dieses und die nächsten beiden Jahre eingeplant – allerdings nur für bereits gestellte und bewilligte Anträge. Am Antragsstopp habe sich nichts geändert. Dabei erlaube die Billigkeitsrichtlinie eine Übergangslösung und somit Neuanträge. Es wäre möglich gewesen, etwa 35 Millionen Euro in die Hand zu nehmen und, so Claus, „ein klares Signal an Betroffene zu senden, dass sie auf die Zusage im Koalitionsvertrag vertrauen können“.

Die Missbrauchsbeauftragte mahnte, der niedrigschwellige Fonds sei notwendig, auch weil die Hürden beim SGB XIV nicht gesenkt worden seien. Sexualisierte Gewalt werde oft hinter verschlossenen Türen begangen, der Nachweis sei schwierig, und viele Betroffene könnten erst viele Jahre später darüber sprechen. Der Fonds habe ihnen „individuelle, maßgeschneiderte Hilfe“ und Selbstwirksamkeit ermöglicht, zum Beispiel Umzüge weg vom Tatort, Therapien oder Aus- und Fortbildungen, manchen sogar einen „kompletten Neuanfang“.

Claus forderte, dass sich neben dem Bund künftig nicht nur drei, sondern alle Bundesländer am Fonds beteiligen sollten, ebenso wie die Bereiche, in denen Missbrauch stattfinde: „Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Schulterschluss.“

Anlaufstelle für Opfer von Gewalt und Missbrauch im Sport

Erstellt am: Mittwoch, 22. Oktober 2025 von Selina
Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Datum: 22.10.2025

Anlaufstelle für Opfer von Gewalt und Missbrauch im Sport

Gewalt und Missbrauch im Sport bleiben ein großes Problem. Athletenvertreter Johannes Herber fordert die schnelle Umsetzung des Zentrums für „Safe Sport“, das Übergriffe unabhängig untersuchen soll. Auch Kerstin Claus, Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, fordert neue Lösungen.

Im Bundestagsausschuss für Sport und Ehrenamt hat Johannes Herber, Geschäftsführer der Athletenvertretung Athleten Deutschland e. V., auf das Ausmaß von Gewalt, Missbrauch und Machtmissbrauch im deutschen Sport aufmerksam gemacht. Herber erinnerte an mehrere Fälle, darunter die Berichte der Turnerin Tabea Alt über Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel und Demütigungen, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Ebenso sprach er über die 17 Ruderinnen und Ruderer, die schwere Vorwürfe gegen einen Trainer erhoben hatten. Diese Beispiele machten deutlich, wie groß das Problem sexualisierter, verbaler und struktureller Gewalt im Sport weiterhin sei. Viele Verfahren würden noch immer versanden, meint Herber.

Zentrales Thema der Sitzung war das geplante Zentrum für „Safe Sport“, das künftig Fälle von Gewalt und Übergriffen im Leistungssport unabhängig erfassen, untersuchen und sanktionieren soll. Die Umsetzung des Projekts zieht sich jedoch auch wegen juristischer Fragen seit Jahren hin. Herber forderte laut SZ, die staatliche Sportförderung künftig daran zu koppeln, dass Verbände dem Zentrum beitreten und dessen Verfahren akzeptieren. Nur so könne sichergestellt werden, dass alle Fälle konsequent verfolgt werden. Ein weiterer Punkt war die geplante Finanzierung von derzeit 2,8 Millionen Euro im Bundeshaushalt für das Jahr 2026 und fünf Millionen für 2027, die schrittweise ausgebaut werden soll.

Datenbank gegen übergriffige Trainer

„Correctiv“ sowie das Magazin „11 Freunde“ haben kürzlich über Manipulation, Mobbing und Missbrauch im Jugendfußball berichtet. Ein Problem hierbei: Übergriffige Trainer können einfach den Verein oder das Bundesland wechseln und dort weitermachen. Kerstin Claus, die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch, schlägt eine Trainerdatei vor, um das zu unterbinden. So können sich Vereine über Trainer im Vorfeld informieren. Bisher scheiterte es aber am Datenschutz und daran, dass es keine Stelle gebe, die ein solches Register führt. Eine mögliche Aufgabe für das Zentrum für Safe Sport, wenn der gesetzliche Rahmen geschaffen wird.

Auch Vertreterinnen des Deutschen Fußball-Bundes betonten den Handlungsbedarf. Viele Kinder und Jugendliche verstünden nicht, was ihnen widerfahre, erklärte Stefanie Schulte, Abteilungsleiterin Nachhaltigkeit des DFB. Die Politik müsse dem Sport helfen und Verbände sollten mehr Aufklärung leisten. Ein Grund: Das Zentrum für Safe Sport soll zunächst für den Leistungssport gegründet werden. Erst im zweiten Schritt komme der Nachwuchs-Leistungssport hinzu – nicht jedoch der Breitensport mit 86.000 Vereinen in Deutschland, wie „Sport 1“ berichtet.

Trotz eines bereits verabschiedeten Safe Sport Code des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) bleibt die Umsetzung somit schleppend. Erst Ende 2028 soll der Kodex in allen Verbänden verbindlich gelten. Dadurch soll es Verbänden ermöglicht werden, in nicht strafrechtlich relevanten Fällen zu sanktionieren, beispielsweise wenn ein übergriffiges Verhalten vorliegt, etwa unangemessener Körperkontakt oder verbale Demütigung. Laut Bundesregierung soll das Zentrum für Safe Sport im Frühjahr 2026 gegründet werden und 2027 seine Arbeit aufnehmen. Bis dahin, so Herber, fehle es weiter an Verbindlichkeit – und an Schutz für viele Betroffene.

Berufungsprozess: Gisèle Pelicot erneut im Gerichtssaal

Erstellt am: Donnerstag, 9. Oktober 2025 von Selina
Gisèle Pelicot beim Berufungsprozess in Nîmes im Gericht.

Auf eigenem Wunsch ist Gisèle Pelicot zum Prozess in Nîmes gekommen. Foto: Picture alliance / MAXPPPPicturesWire

Datum: 09.10.2025

Berufungsprozess: Gisèle Pelicot erneut im Gerichtssaal

Vor fast einem Jahr endete der berühmte Vergewaltigungsprozesses von Avignon. Nun saß Gisèle Pelicot erneut in einem französischen Gerichtssaal. Der Grund: Einer der 51 Verurteilten sieht sich als unschuldig an und legte Berufung ein – das Gericht sah dies jedoch anders und er bekam eine noch höhere Strafe.

Von den 51 verurteilten Vergewaltigern im öffentlichen Prozess um Gisèle Pelicot will einer seine Strafe nicht akzeptieren. Der 44-Jährige sehe sich nach eigenen Angaben nicht als Vergewaltiger, er sei in eine Falle gelaufen, wie die Frankreich-Korrespondentin des „SPIEGEL“ berichtet.

Die Falle soll der damalige Ehemann Dominique Pelicot gestellt haben. Fast zehn Jahre hatte Dominique im Internet nach Männern gesucht, die seine Frau vergewaltigten, wie der Prozess von Avignon damals zum Vorschein brachte. Auch wenn online von „einvernehmlichem Sex“ die Rede war, fanden alle später verurteilten Täter eine bewusstlose Gisèle Pelicot vor, woraufhin der Akt weder verweigert, noch die Polizei gerufen wurde. Einer von ihnen war der 44-jährige Angeklagte. Das beweisen Videoaufnahmen.

Der Berufungsprozess dauerte vom 6. bis zum 9. Oktober. Anwesend im Berufungsgericht von Nîmes war Gisèle Pelicot selbst, auf eigenen Wunsch. Ebenfalls war es ihr Wunsch, dass der Prozess wieder öffentlich stattfindet. Die einzige Bedingung war: Bei Sichtung der Videos im Gerichtssaal, die die Vergewaltigung zeigen, soll ihr Sohn Florian den Saal verlassen, heißt es im „SPIEGEL“-Bericht.

Neben der Videoaufnahmen als Beweismittel, war auch ihr Peiniger Dominique Pelicot, im Gericht anwesend. Er trat am zweiten Tag als Zeuge auf.

Im Prozess entschied ein Schöffengericht, bestehend aus fünf Männern und vier Frauen, die zuvor per Los ausgewählt wurden. Der 44-Jährige wollte den erneuten Prozess, obwohl seine aktuelle Strafe von neun Jahren dabei sogar zur Höchststrafe von 20 Jahren wegen „schwerer Vergewaltigung“ geändert werden kann. Der Generalstaatsanwalt hatte am letzten Prozesstag zwölf Jahre Haft beantragt. Nach über zwei Stunden Beratung, verurteilte das Schöffengericht den 44-Jährigen zu zehn Jahren Freiheitsstrafe wegen „schwerer Vergewaltigung“, wie die französische Zeitung „Midi Libre“ aus dem Gericht berichtet.

Gisèle Pelicot wird mit Frankreichs Verdienstorden der Ehrenlegion ausgezeichnet.

Höchste Auszeichnung Frankreichs für Gisèle Pelicot

Die Französin hat die jahrelangen Vergewaltigungen durch ihren damaligen Ehemann und Dutzende anderer Männer öffentlich gemacht. Jetzt wird sie geehrt.

„Hören Sie auf, sich hinter Ihrer Feigheit zu verstecken“

Gisèle Pelicot ertrug die dreieinhalb Prozesstage mit gewohnter Stärke. Die Frankreich-Korrespondentin des „SPIEGEL“ beschrieb sie als stoisch und aufrecht, während der Aussage des verurteilten Vergewaltigers. Sie habe sich seine Worte regungslos angehört.

Die „FAZ“-Korrespondentin wie auch die „SPIEGEL“-Korrespondentin berichteten, dass Gutachter den Angeklagten als urteilsfähig eingestuft haben. Er soll während der Tat kein beeinträchtigtes Urteilsvermögen gehabt haben. Auch stellten die Gutachten eine hohe sexuelle Aktivität fest: Trotz Ehefrau ging er zu Prostituierten und verabredete sich im Internet mit Paaren zum Sex zu dritt. Alle Gutachter seien zu dem Schluss gekommen, den Angeklagten habe kein intellektuelles Defizit oder Pathologie daran gehindert, die Vergewaltigung der bewusstlosen Pelicot zu erkennen. Die Verteidigung argumentierte: Dominique Pelicot habe den 44-Jährigen manipuliert.

Gegenüber den Gutachtern beschrieb der Angeklagte sie sei wie eine Tote auf dem Bett gelegen. Eine Aussage, die Gisèle Pelicot während des Prozesses aufgriff. „Sie haben erklärt, Sie hätten den Eindruck gehabt, es mit einer Toten zu tun zu haben. Ich persönlich verlasse den Raum, wenn ich eine Tote sehe. Oder ich rufe die Feuerwehr. Sie aber sind zwei Stunden lang geblieben. Stehen Sie endlich zu dem, was Sie getan haben. Hören Sie auf, sich hinter Ihrer Feigheit zu verstecken“, zitiert der „SPIEGEL“ die Französin.

Gesetzänderung und Auszeichnung

Gisèle Pelicot folgte mit ihrem wiederholten öffentlichen Auftreten im Gerichtssaal ihrem berühmten Satz „Die Scham muss die Seite wechseln“. Seit dem Ende des Vergewaltigungsprozesses von Avignon vor zehn Monaten hat sich in Frankreich wie auch im Leben von Pelicot manches geändert. Im Juni kam es in Frankreich unter anderem wegen ihres Falls zu einem Gesetzesentwurf: „Nur Ja heißt Ja“. Damit soll Vergewaltigung neu definiert werden, indem Schweigen oder fehlende Reaktion nicht als Zustimmung zu einem sexuellen Akt gelten sollen. Noch befindet sich das Gesetz im Vermittlungsausschuss zwischen Abgeordnetenhaus und Senat, wie der „Stern“ im Juni berichtete. Im Juli erhielt Gisèle Pelicot für ihren Mut eine der höchsten französischen Auszeichnungen, den Verdienstorden der Ehrenlegion.

Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Erstellt am: Dienstag, 30. September 2025 von Gregor
Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Datum: 30.09.2025

Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, fordert in einem Gastkommentar im WEISSER RING Magazin die Politik auf, das endgültige Aus des Fonds Sexueller Missbrauch zu verhindern.

Nach dem Ende des Fonds Sexueller Missbrauch hat die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, den Bundestag in die Pflicht genommen, zeitnah für Ersatz zu sorgen. In einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin schreibt Claus: „Selten gelingt es der Politik, so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu schaffen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war eine solche Erfolgsgeschichte. Jetzt ist es an den Abgeordneten, das endgültige Aus dieses niedrigschwelligen Hilfesystems zu verhindern. Er hat Belastungen im Alltag verringert und Perspektiven möglich gemacht, wo vergangene Gewalt oft das Leben prägt.“

Rückwirkender Stopp

Darüber hinaus kritisiert Kerstin Claus, es sei ein „verheerendes Signal“ für Betroffene gewesen, als die Ampelregierung im vergangenen Jahr „stillschweigend“ das Aus des Fonds zum 31. August 2025 beschlossen und die aktuelle Bundesregierung später sogar einen rückwirkenden Antragsstopp ab dem 19. März zugelassen habe. „Das ist ein Akt der Entsolidarisierung. Eine Regierung, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlichen verschreibt, darf so nicht handeln“, so Claus. „All dies jetzt preiszugeben – nur weil eine Bundesregierung nach der anderen daran scheitert, dieses Hilfesystem verlässlich finanziell und strukturell abzusichern –, ist ein Armutszeugnis.“

Die Bemühungen der früheren Familienministerin Lisa Paus (Grüne), den Fonds über das neue „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ abzusichern, seien kraftlos gewesen. Das Veto der FDP habe Paus stillschweigend akzeptiert und öffentliche Debatten vermieden. Ihre Nachfolgerin Karin Prien (CDU) habe zwar eine gesetzliche Verankerung des Hilfesystems gefordert, jedoch keinen konkreten Vorschlag eingebracht.

Jetzt liege die Verantwortung beim Bundestag und damit bei den Abgeordneten. Claus fordert: „Ab 2026 müssen die nötigen Mittel dauerhaft gesichert und perspektivisch der Fonds endlich gesetzlich verankert werden. Denn: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen.“

Ministerium prüft Ersatz

Ob und welchen Ersatz es für den Fonds gibt, ist weiter ungewiss. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte das Bundesfamilienministerium mit, es setze sich dafür ein, dass Betroffene auch künftig wirksame Hilfen erhalten. Dies hatten Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die „Möglichkeiten der Umsetzung“ würden weiterhin geprüft, sagte eine Sprecherin des Ministeriums von Karin Prien (CDU), die sich unter anderem mit dem Betroffenenrat austausche. Der Prozess werde noch „einige Zeit in Anspruch nehmen“, damit die Lösung den Vorgaben des Bundesrechnungshofs entspreche.

Der Fonds, der zum Ergänzenden Hilfesystem gehörte, war im Sommer – rückwirkend zum 19. März – eingestellt worden. Der WEISSE RING und weitere Fachorganisationen kritisierten das Ende des Fonds. Dieser konnte einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach jüngsten Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums wurden bislang etwa 165,2 Millionen Euro ausgezahlt.

 

Der Kommentar

Erstellt am: Mittwoch, 24. September 2025 von Selina

Der Kommentar

„Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen.“

Kerstin Claus

Kerstin Claus ist Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Journalistin und Systemische Organisationsberaterin engagiert sich seit vielen Jahren hauptund ehrenamtlich gegen sexualisierte Gewalt.

Selten gelingt es der Politik, so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu schaffen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war eine solche Erfolgsgeschichte. Jetzt ist es an den Abgeordneten, das endgültige Aus dieses niedrigschwelligen Hilfesystems zu verhindern.

Seit 2013 ermöglicht der Fonds Betroffenen, die in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt haben, unkompliziert Sachleistungen. Er hat Belastungen im Alltag verringert und Perspektiven möglich gemacht, wo vergangene Gewalt oft das Leben prägt. Damit war er ein starkes Zeichen staatlicher Verantwortungsübernahme und letztlich auch Anerkennung, auch das elementar für Betroffene.

Deswegen war es ein verheerendes Signal für Betroffene, als die Ampelregierung letztes Jahr stillschweigend das Aus des Fonds Sexueller Missbrauch zum 31. August 2025 beschloss. Doch selbst dieses knappe Zeitfenster kippte die aktuelle Bundesregierung mit einem rückwirkenden Antragsstopp ab dem 19. März. Selbst bereits eingereichte Anträge bleiben unbearbeitet. Das ist ein Akt der Entsolidarisierung. Eine Regierung, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlichen verschreibt, darf so nicht handeln.

Sexualisierte Gewalt zerstört Biografien. Viele Betroffene ringen ein Leben lang mit den Folgen: Schulabbrüche, psychische Erkrankungen, zerbrechende Beziehungen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war für viele die einzige Option auf niedrigschwellige Hilfe. Hilfe, wo das staatliche Entschädigungsrecht versagt. Denn trotz Reform 2019 bleiben die Hürden dort unerreichbar hoch: Weil Zeugen fehlen, Taten nicht belegt oder gesundheitliche Schäden nicht nachgewiesen werden können.

Der Fonds Sexueller Missbrauch war 2013 eine gute Antwort auf diese Leerstelle. Und er hat funktioniert für die Betroffenen. Hilfe und Unterstützung wurden möglich. All dies jetzt preiszugeben – nur weil eine Bundesregierung nach der anderen daran scheitert, dieses Hilfesystem verlässlich finanziell und strukturell abzusichern –, ist ein Armutszeugnis.

Hilfesystem muss gesetzlich verankert werden

Kraftlos waren die Bemühungen der früheren Familienministerin Lisa Paus (Grüne), den Fonds über das neue „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ abzusichern. Das Veto der FDP akzeptierte sie stillschweigend, vermied jede öffentliche Debatte. Ihre Nachfolgerin Karin Prien (CDU) forderte zwar unlängst eine gesetzliche Verankerung des Hilfesystems, ohne aber einen konkreten Vorschlag einzubringen. Und auch im Haushalt 2026 sind die nötigen Mittel bisher nicht hinterlegt.

Jetzt liegt die Verantwortung beim Bundestag und damit bei den Abgeordneten: Ab 2026 müssen die nötigen Mittel dauerhaft gesichert und perspektivisch der Fonds endlich gesetzlich verankert werden. Denn: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen. Nachholende Gerechtigkeit bedeutet: zuhören, unterstützen, handeln. Nur so erfahren Betroffene nachträglich ein Stück Gerechtigkeit – spät, aber eben nicht zu spät.

Karla

Erstellt am: Donnerstag, 31. Juli 2025 von Sabine
Karla ist ein Film über Kindesmissbrauch: Auf dem Bild blickt sie an der Kamera vorbei. Sie ist erst elf Jahre alt, hat kurzes Haar.

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Karla

Ab 2. Oktober 2025 im Kino

Karla schlägt die Stimmgabel auf den braunen kleinen Holztisch. Ein klarer und reiner Ton flutet das Büro des Richters. Er versteht das Zeichen, das sie ganz am Anfang vereinbart haben. Ein Schlag, ein Ton, bedeutet einen weiteren sexuellen Missbrauch durch ihren Vater.

Es ist 1962, eigentlich war die Familie auf dem Weg in den Sommerurlaub mit dem Auto. Während einer kurzen Toiletten-Pause in einem Feld rennt die Tochter Karla los – zum nächsten Polizeirevier. Sie verlangt, den Richter zu sprechen. Noch in der Nacht kommt er zum Revier. Sie ist erst zwölf Jahre alt und will ihren Vater anzeigen. Sie sagt, es geht um Paragraf 176 des Strafgesetzbuchs: sexueller Missbrauch von Kindern. „Es gibt den Artikel ‚Recht auf Leben‘ – Artikel zwei im Grundgesetz, gleich nach dem mit der ‚Würde des Menschen‘. Gilt das alles auch für Kinder?“, fragt Karla den Richter.

Karla kommt in ein Mädchenheim eines Klosters. Täglich trifft sie den Richter in seinem Büro, erzählt ihm von Situationen mit ihrem Vater, aber nicht über die einzelnen Taten; stattdessen schlägt sie die Stimmgabel auf den Tisch.

Karla ist ein sanfter und zugleich lauter Film nach einer wahren Begebenheit. Die Regisseurin Christina Tournatzés schafft es, allein durch Anspielungen und Symbolik, den Kindesmissbrauch darzustellen, ohne das Leid in Szene zu setzen. Zum Beispiel zeigt sie nur die Unterseite des Bettes, wenn es um Missbrauch geht, mehr bekommt das Publikum nicht zu sehen. Die Würde und die Stärke des Opfers stehen im Vordergrund. Gespielt wird die Protagonistin von Elise Krieps. Es ist die erste Filmrolle der noch jungen Schauspielerin.

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung ist groß, nachdem bekannt geworden ist, dass der Fonds Sexueller Missbrauch auslaufen soll. Ein Papier aus den Koalitionsverhandlungen, das dem WEISSER RING Magazin vorliegt, lässt jetzt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds bleibt, ist ungewiss.

Der Film thematisiert die Qual von Opfern, über das Erlebte sprechen zu müssen. Ob bei der Polizei für die Anzeige oder später vor Gericht: Betroffene werden immer aufgefordert, die Tat zu schildern, teilweise mit intimen Details. Und das möchte Karla nicht. Für den Richter eine große Herausforderung – wie verurteilt man jemanden, wenn das Opfer keine Angaben zur Tat machen möchte? Mit viel Feingefühl und Geschick schafft er es schließlich, an ausreichend Informationen zu gelangen, um ein Verfahren eröffnen zu können. Die Mutter als Zeugin, der Vater als Täter – und erst hier bekommt er ein Gesicht. Um Karla herum Männer, die darüber streiten, ob ein 12-jähriges Mädchen eventuell die Verführerin gespielt hat. Später stellt sich heraus: Es war nicht ihr erster Versuch, den Vater anzuzeigen.

Neben berührenden Dialogen bekommt der Zuschauer auch die Welt gezeigt, in die Karla flieht, wenn sie für kurze Zeit nicht das Mädchen sein möchte, dem all das Grausame angetan wurde. In ihrer Fantasiewelt rennt sie über Wiesen voller Mohnblumen. Ein bewusstes Stilmittel von Christina Tournatzés, da die Blume Frieden symbolisiert. Denn genau den möchte Karla endlich in ihrem Leben: Frieden.

Auch wenn der Film im Jahr 1962 spielt, ist er noch heute aktuell. Erst kürzlich erschien die nationale Dunkelfeldstudie, die bundesweit die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht sowie auch die Kontexte der Taten und deren Folgen beleuchtet. Das Ergebnis: Sexualisierte Gewalt im Kindes- und Jugendalter bleibt oft unentdeckt, weil Betroffene schweigen. Mehr als ein Drittel hat bisher nie über das Erlebte gesprochen.

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Erstellt am: Freitag, 11. Juli 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 11.07.2025

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Der rückwirkende Antragsstopp beim Fonds Sexueller Missbrauch hat bei Opfern und Beratenden Empörung ausgelöst.

Sabrina Lange* wurde mehrfach missbraucht und ist dadurch schwer traumatisiert. So schwer, dass sie unter anderem an Krampfanfällen leidet. Um ihren Alltag zu erleichtern und ihrer Belastungsstörung besser entgegenwirken zu können, wollte sie ihren dafür gut geeigneten Hund zum Assistenzhund ausbilden lassen. Sie hoffte dabei auf eine Finanzierung durch den Fonds Sexueller Missbrauch (FSM). Zusammen mit Ingeborg Altvater, die ehrenamtlich für den WEISSEN RING arbeitet, hatte sie in den vergangenen Wochen einen Antrag vorbereitet, gewissenhaft Informationen gesammelt und Formulare ausgefüllt.

Vor wenigen Tagen, kurz vor dem Fertigstellen des Antrags, rief Altvater Sabrina Lange an, um ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen: Der Fonds wird zumindest vorerst kein Geld mehr auszahlen. Als Lange das hörte, schwieg sie. Nach einer langen Pause fragte sie: „Was mache ich jetzt?“ Altvater konnte ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Denn einen Assistenzhund etwa über das Soziale Entschädigungsrecht zu finanzieren, ist nur schwer möglich, und wenn, dann dauert es jahrelang.

Nach dem Stopp beim Fonds – rückwirkend zum 19. März – hat Altvater wiederholt Reaktionen wie die von Sabrina Lange erlebt, wie sie im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt. Sie berät zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS), dessen Teil der Fonds ist, und begleitete Opfer hierbei in mehr als 100 Fällen. Altvater bezeichnet die aktuelle Entwicklung als „Katastrophe“. Dass sie die Betroffenen nach und nach anrufen und informieren musste, habe ihr „in der Seele wehgetan“. Am anderen Ende der Leitung habe „Stille und Entsetzen“ geherrscht. Alleine in Hessen, wo die ehrenamtliche Mitarbeiterin im Einsatz ist, hätten in acht bis zehn Fällen Beratungstermine kurzfristig abgesagt werden müssen. Und dass, obwohl bei denen der Antrag fast fertig gewesen sei. Andere Verfahren – bei denen die Betroffenen teils weite Wege und die erneute Konfrontation mit dem Missbrauch auf sich genommen hätten – liefen schon und nach jetzigem Stand vergeblich.

Fonds ist wichtige niedrigschwellige Hilfe

Die Sprachlosigkeit sei für einen Teil der Missbrauchsopfer typisch, sie gehörten zu den Schwerstbetroffenen, fühlten sich wehrlos und könnten nur schwer ihre Stimme erheben, um sich für ihre Belange einzusetzen. Umso schlimmer sei der Umgang mit ihnen – zumal es nicht um Milliardensummen gehe, kritisiert Altvater.

Vor zwei Wochen hatte die Geschäftsstelle des FSM auf ihrer Webseite mitgeteilt, dass sie Erstanträge, die ab dem 19. März dieses Jahres eingegangen sind, voraussichtlich nicht mehr annehmen könne. Die Mittel im Bundeshaushalt reichten nicht, hieß es.

Der Fonds ist für viele Betroffene eine niedrigschwellige Unterstützung, auf die sie nicht verzichten können. Er kann einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums haben bislang 36.000 Betroffene einen Antrag gestellt, ausgezahlt wurden 165,2 Millionen Euro.

Ministerin Prien kündigt an, sich für mehr Geld einzusetzen

Ministerin Karin Prien (CDU) kündigte an, sie werde sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch engagieren und das System neu aufstellen. Doch ob und wann die Reform kommt, und wie viel Geld dafür zur Verfügung steht, ist ungewiss.

Bereits im Frühjahr war bekanntgeworden, dass der Fonds auslaufen soll. Das damals von Lisa Paus (Grüne) geführte Familienministerium führte haushaltsrechtliche Bedenken des Bundesrechnungshofes als Grund an und sah die künftige Regierung in der Pflicht, für Ersatz zu sorgen. In seinem Koalitionsvertrag versicherten Union und SPD zwar: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort.“ Aber es kam anders.

Nach dem angekündigten Auslaufen des Fonds im März rief Ingeborg Altvater Betroffene, die bereits erste Kontakte wegen einer Antragstellung zu ihr aufgenommen hatten, an und klärte sie darüber auf. Daraufhin wurden einige von ihnen aktiv und stellten noch einen Antrag. Manche machten sich nun den Vorwurf, sie hätten zu lange gewartet. Zu Unrecht, sagt Altvater. Sie könnten nichts für den Stopp, der auch noch rückwirkend erfolgt sei. Manche Opfer kämpften jahrzehntelang mit den Folgen des Missbrauchs, sie bräuchten viel Kraft und Zeit, um sich zu einem Antrag auf Unterstützung durchzuringen.

Schlag ins Gesicht für traumatisierte Menschen

Susanne Seßler, die sich für den WEISSEN RING vor allem in Südbayern als EHS-Beraterin engagiert, macht derzeit ähnliche Erfahrungen wie Altvater und spricht von einem Schlag ins Gesicht. „Erschüttert“ seien die Betroffenen. Sie hätten sich überwunden und würden nun wieder „hinten herunterfallen“, was bei traumatisierten Menschen besonders schlimm sei. „Manche sagen bitter enttäuscht: ,Sehen Sie, ich wusste, dass ich nichts bekomme‘“, berichtet Seßler. In den vergangenen Monaten habe sie zusammen mit Betroffenen knapp 20 Anträge fertiggestellt, etwa fünf weitere seien geprüft und noch mehr vorbereitet worden.

Dass das Geld nicht reiche, kann Seßler nicht nachvollziehen: Zum einen hätten die Verantwortlichen nach ihrer Mitteilung im März damit rechnen müssen, dass aufgrund der Befristung mehr Anträge kommen. Zum anderen lägen diese geschätzt im vierstelligen Bereich, so dass sich die Ausgaben bei einer Unterstützung von in der Regel 10.000 Euro in Grenzen hielten.

Zwei Frauen, die Seßler beriet, wurde eine Reittherapie genehmigt, die allerdings von der Therapeutin verschoben werden musste. „Was jetzt? Wird das Geld noch ausgezahlt?“, fragen sich die Betroffenen.

Neuer Missbrauchsfonds gefordert

Seßler fordert, kurzfristig die entstandenen Lücken mit zusätzlichem Geld zu schließen und mittelfristig einen neuen Fonds aufzusetzen. Das neue Soziale Entschädigungsrecht, das seit 2024 gilt, sei nicht umfassend genug, um die „wichtigen Komplementärtherapien“ abzudecken.

Der WEISSE RING und vier weitere Fachorganisationen – die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen – haben den Stopp kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung scharf kritisiert. Sie forderten, die Hilfen zu erhalten und das dafür nötige Geld im Etat des Bundes bereitzustellen.

Auch Ingeborg Altvater hofft noch. Sie hat die Opfer gebeten, ihre Unterlagen aufzuheben.

*Name geändert