Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Erstellt am: Freitag, 23. Mai 2025 von Christiane
Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“.

Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“. Foto: Matthias Balk/dpa

Datum: 23.05.2025

Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Für die Live-Show „Tödliche Liebe“ des Podcast-Duos Jacqueline Belle und Alexander Stevens gab es deutliche Kritik. Jetzt reagiert der Bayerische Rundfunk.

Nach der öffentlichen Kritik an der Live-Show des „Bayern 3 True Crime“-Podcasts hat der Bayerische Rundfunk (BR) nun entschieden, sein Logo dafür nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Der Lizenzvertrag soll „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ auslaufen, das geht aus der Berichterstattung des Onlinemagazins „Übermedien“ hervor.

BR-Moderatorin Jacqueline Belle und Strafverteidiger Alexander Stevens haben für ihre Live-Show „Tödliche Liebe“ einen Mordfall derart ausgeschlachtet, dass sich die Schwester des Opfers öffentlich zu Wort meldete, sowohl der WEISSE RING als auch „Übermedien“ berichteten.

„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt sie dem WEISSER RING Magazin. Wenige Wochen vor dem Tour-Start habe Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt die Schwester. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Das Duo hat den aus zahlreichen Schlagzeilen bekannten Fall in der Show zwar anonymisiert, aber nicht darauf verzichtet.

Die Schwester schaltete eine Anwältin ein, die ein Schreiben an den Bayerischen Rundfunk schickte, in dem sie forderte, dass keine Bilder aus der Originalakte in der Show gezeigt werden. Die Antwort des Senders: Der BR könne als Lizenzgeber der Show nicht in das Bühnenprogramm eingreifen, sehe aber auch keinen Anlass dafür. Opferrechte würden nicht verletzt, das Leid der Angehörigen nicht relativiert. Immerhin sagten Belle und Stevens daraufhin zu, keine Originalbilder aus der Akte mehr zu nutzen.

Das Duo nutzte in seiner Show den Kriminalfall, um einem Event-Publikum einen unterhaltsamen Abend zu bieten. In der Show wurden laut Bericht des WEISSER RING Magazins Elemente verwendet, die das rechtskräftige Urteil in Frage stellen: beispielsweise das Abstimmen über die Schuld des Täters per Smartphone oder das aufgezeichnete Täter-Interview, in dem dieser seine Version darstellt. Solche Elemente schüren unnötig Zweifel am Rechtssystem und sind eine Zumutung für Angehörige. Die Berichterstattung über die Show hat auch die Politik auf den Plan gerufen, der Bayerische Landtag fordert einen „verbesserten Opferschutz“.

Laut „Übermedien“ wollen Stevens und Belle auf den Fall künftig im Programm verzichten, bis April 2025 wurde diese Änderung noch nicht umgesetzt. Die Begründung war allerdings nicht die Einsicht, den Opferschutz missachtet zu haben. Der Anwalt des Moderatoren-Duos teilte „Übermedien“ mit: Der Fall wird ersetzt, weil die Medienpräsenz der Schwester die Frage aufgeworfen habe, „ob die bislang umgesetzte Anonymisierung unter diesen Umständen weiterhin aufrechterhalten werden kann“.

True Crime: CSU fordert „verbesserten Opferschutz“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Karsten
Der Bayerische Landtag in München ist abgebildet. Davor stehen drei große Flaggen: Europa, Deutschland und Bayern. Der Landtag beschäftigt sich jetzt mir dem True-Crime-Boom.

Der True-Crime-Boom und seine Folgen für Verbrechensopfer sind jetzt auch Thema im Bayerischen Landtag in München. Foto: Matthias Balk/dpa

Datum: 27.03.2025

True Crime: CSU fordert „verbesserten Opferschutz“

Wenn Medien wahre Verbrechen zu Unterhaltungszwecken aufbereiten, begeistert das ein Publikum – aber es belastet oft die Opfer schwer. In Bayern schaltet sich nun die Politik ins Thema True Crime ein.

München/Mainz – True Crime boomt, Geschichten über „wahre Verbrechen“ begeistern ein stetig wachsendes Publikum. Zu wahren Verbrechen gehören aber auch wahre Verbrechensopfer, und für die bedeutet der True-Crime-Boom: Sie müssen immer häufiger hilflos mit anschauen, wie ihre oftmals traumatisierenden Erlebnisse zu Unterhaltungszwecken für Film, Podcast, Zeitung oder Live-Show aufbereitet werden.

Die CSU stellt sich nun demonstrativ an die Seite der Betroffenen: In einem Antrag an den Bayerischen Landtag fordern 23 namentlich genannte Abgeordnete die Staatsregierung auf, sich im Bund für einen „verbesserten Opferschutz“ bei True-Crime-Formaten einzusetzen. Vor allem bei Show-Veranstaltungen solle künftig dem postmortalen Persönlichkeitsrecht und den Interessen von Angehörigen mehr Rechnung getragen werden. „Dies gilt insbesondere, wenn nahe Verwandte unter der Darstellung stark leiden“, heißt es in der Beschlussvorlage.

Anlass des Antrags ist die Live-Show zum „Bayern 3 True Crime“-Podcast des Bayerischen Rundfunks (BR), die zurzeit durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourt und bereits Zehntausende zahlende Zuschauer erreichte. Wie das WEISSER RING Magazin berichtete, haben die Moderatoren Jacqueline Belle und Dr. Alexander Stevens unter dem Titel „Tödliche Liebe“ rund um einen realen Mordfall aus dem Jahr 2012 ein auf Unterhaltung getrimmtes Abendprogramm präsentiert, in dem das Saalpublikum nicht nur viel zu lachen hat, sondern auch interaktiv per Smartphone über Schuld oder Unschuld des rechtskräftig verurteilten Mörders abstimmen darf. Die Familie des Mordopfers leide stark unter dem Geschehen, schreiben die Abgeordneten in ihrem Antrag. Die derzeitige rechtliche Regelung des Opferschutzes greife zu kurz in solchen Fällen.

Tatsächlich erlischt das Persönlichkeitsrecht mit dem Tod des Opfers. Lediglich das Recht am eigenen Bild bleibt noch für eine Frist von zehn Jahren bestehen, bevor es ebenfalls verfällt – anders als die Rechte des lebendigen Täters. „Da der Opferschutz nicht hinter dem Täterschutz zurückbleiben darf, ist eine Änderung der Rechtsgrundlagen angezeigt“, begründen die Abgeordneten ihren Antrag. Ihr Vorschlag: „Eine Möglichkeit könnte sein, die Beweislast für einen sorgfältigen Umgang mit Persönlichkeitsrechten den Medien und nicht den Betroffenen aufzuerlegen.“

Initiator des Antrags ist der Straubinger Landtagsabgeordnete Josef Zellmeier (60). Er kennt die im Jahr 2012 von dem Mord betroffene Familie seit vielen Jahren persönlich und sagte auf Nachfrage des WEISSEN RINGS: „Ich habe die schlimme Belastung sehr nah erlebt. Dass der Fall so jetzt wieder aufgegriffen wird, finde ich fürchterlich.“ Es sei ihm wichtig, dass die betroffene Familie, aber auch der Bayerische Rundfunk sehe, dass die Politik hier im Sinne der Opfer tätig werde.

Der Antrag habe die zuständigen Ausschüsse bereits passiert und gehe nun zeitnah ins Plenum zur Abstimmung, was laut Zellmeier eher eine Formsache sein sollte. Mit der Zustimmung würde sich zwar die Rechtslage für die Betroffenen noch nicht ändern, aber die Bayerische Staatsregierung erhielte den Arbeitsauftrag, das Thema in den Bund zu tragen. Sie könnte dort zum Beispiel eine Bundesratsinitiative starten oder Kontakt zum Bundesjustizministerium suchen.

Zuletzt hatte der bekannte Medienanwalt Prof. Dr. Christian Schertz den Gesetzgeber im Interview mit dem WEISSER RING Magazin aufgefordert, mit Blick auf den Boom von True-Crime-Formaten ein postmortales Persönlichkeitsrecht zu schaffen, „was derlei Ausschlachtungen von menschlichen Tragödien untersagt“. Schertz nannte es eine „geradezu perverse und schier unerträgliche Situation, dass die Mörder aufgrund ihrer Persönlichkeitsrechte und nach Haftverbüßung aufgrund des dann bestehenden Rechts auf Resozialisierung oftmals nicht mehr identifizierend dargestellt werden dürfen mit Namen und Bild – die Persönlichkeitsrechte der Opfer aber erlöschen, weil sie verstorben sind, weil sie ermordet wurden“.

Nach der öffentlichen Kritik an ihrer Show haben die Veranstalter von „Tödliche Liebe“ angekündigt, den aktuell behandelten Mordfall herausnehmen und durch einen anderen Kriminalfall zu ersetzen. Das bestätigte der Bayerische Rundfunk auf Anfrage des WEISSER RING Magazins. Auf die Frage, wann dies geschehen soll und ob bis zu diesem Zeitpunkt weiter der Fall von 2012 den Show-Mittelpunkt bilde, teilte eine BR-Sprecherin lediglich mit: „Der Veranstalter hat uns versichert, den Fall zum nächstmöglichen Termin auszutauschen.“ Die Sprecherin teilte zudem mit, dass künftig bei den im „Bayern 3 True Crime“-Podcast behandelten Fällen „die Interessen der Betroffenen insbesondere in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und Opferschutz geprüft werden“.

Nachtrag:
Der Landtag hat den Antrag in seiner Sitzung am 1. April 2025 beschlossen.

Der Kommentar

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Der Kommentar

„Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?“

Foto von Tanjev Schultz.

Die Inflation von True-Crime-Formaten ist ökonomisch begründet, nicht journalistisch. Beiträge über Mord und Totschlag wecken Aufmerksamkeit, versprechen Profit, erzielen Reichweite. Über Kriminalfälle zu berichten ist eine sinnvolle Aufgabe, solange dies in einem angemessenen Rahmen geschieht. Eine Gesellschaft, in der Kriminalität verschwiegen wird, wäre sehr verdächtig. Sie wäre alles andere als frei. Aber daraus folgt kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse. Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?

True-Crime-Beiträge sollten strengen Kriterien genügen: Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben. Das trifft zu, wenn der Fall ungelöste Fragen oder Widersprüche birgt, die mit Hilfe fortlaufender Recherchen und Veröffentlichungen womöglich geklärt werden können. Erst recht trifft es zu, wenn ernst zu nehmende Anzeichen auf einen Justizirrtum hindeuten. Ebenfalls von öffentlichem Interesse können die Langzeitfolgen eines Verbrechens sein, beispielsweise für das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen – sofern diese mit erneuten Veröffentlichungen einverstanden sind.

Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte und werden zum Lehrstoff, der für ein Verständnis historischer Zusammenhänge wichtig ist. Das gilt vor allem für politisch motivierte Anschläge, wie den linken Terror der RAF oder den rechten Terror des NSU. Über solche Fälle auch Jahre später noch zu berichten, kann einer Erinnerungskultur dienen, die versucht, den Betroffenen gerecht zu werden und die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen, beispielsweise für die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden.

Wie aber sieht es mit Morden aus Eifersucht oder Habgier aus? Es muss gewichtige Gründe geben, solche Fälle wieder aufzugreifen und damit sowohl die psychische Gesundheit der Betroffenen als auch die Resozialisierung der Täter zu gefährden. Es genügt nicht, dass ein Fall in Teilen des Publikums noch immer ein Thema ist. Nicht alles, worüber Menschen reden, verdient es, ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Sonst würden auch der Ehebruch einer Bürgermeisterin oder der Rausch eines Pfarrers, über den sich die Gemeinde ewig das Maul zerreißt, zu billigem Medienmaterial. Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.

Ungefragt ausgenutzt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Ungefragt ausgenutzt

True Crime boomt. Journalisten erzählen „wahre Verbrechen“ nach, in Podcasts von Lokalzeitungen oder in großen Live-Shows. Fast immer geht es um Mord. Das Publikum ist begeistert, für die Hinterbliebenen aber ist es oft der blanke Horror, der sie buchstäblich zum zweiten Mal verletzt.

Eine Collage mit dem Anwalt Alexander Stevens und der Moderatorin Jacqueline Belle, die ein gemeinsamen True-Crime-Format haben. Zur Collage gehört noch ein Richterhammer, ein Mikrofon und große Menschenmengen in einem Stadion.

Die Show „Tödliche Liebe“ mit den Moderatoren Jacqueline Belle und Alexander Stevens verspricht dem Publikum „ein einzigartiges und fesselndes Erlebnis“ mit Tatortfotos und Akteneinsicht.

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Sie will am Samstag nur schnell zum Friseur, da sieht sie das Plakat im Schaufenster des örtlichen Zeitungshauses: Werbung für den True-Crime-Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“. Auf dem Plakat stehen ein QR-Code und drei kurze Sätze zum Mord an ihrer Schwester, „so eklig, dass ich sie nicht wiederholen will“, sagt Sophia* (27) später.

Im Internet findet sie einen Zeitungsartikel zum Podcast. Das Foto zum Artikel zeigt den Sarg ihrer Schwester. Sophia sieht ihn zum ersten Mal: 2008, als der Mord geschah, durfte sie nicht mit zur Beerdigung, sie war erst zehn Jahre alt. Sie bekommt eine Panikattacke, ihr Herz rast, sie schwitzt. Sie steigt ins Auto und fährt zur nächsten Polizeistation, „machen Sie doch etwas!“, schreit sie den Polizisten an, sie weint. Am Montag kann Sophia nicht zur Arbeit gehen, ihre Psychotherapeutin muss sie auffangen.

Sarah* (39), ihre Schwester, hat den Podcast bereits ein paar Tage vor Sophia entdeckt. Freunde haben ihr die Facebook-Werbung weitergeleitet, „mach das nicht an“, warnten sie. Natürlich macht sie es trotzdem an, es ist doch ihr Fall: der brutale Mord an ihrer Schwester, der Kummer der Familie, die Mutter, die an dem Tag ein Stück mitgestorben sei. Sie hört nur kurz zu, sofort sieht sie sich 16 Jahre zurückversetzt.

„Es fühlte sich an wie an dem Tag, als das alles passiert ist“, sagt sie später: die Angst, die Panik, der Schmerz. Und der Druck: Sie muss ihre Familie schützen. Die Schwester, die Mutter, der Vater – sie dürfen nicht von dem Podcast erfahren! Sarah erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Leer ist eine kleine Stadt, Sarah kann ihre Familie nicht schützen. Sophia fährt zum Friseur, Nachbarn erzählen den Eltern von dem Podcast.

Die Angehörige
(Oberbayern)

Ein neuer Start an einer neuen Schule, eine neue Chance, niemand hier kennt ihre Geschichte. Barbara (38) hat ihren Mädchennamen abgelegt, sie hat eine Auskunftssperre für ihre Adresse beantragt. Auch sonst geht es ihr gut: Zum ersten Mal seit dem Mord an ihrer Zwillingsschwester hat sie der bevorstehende Jahrestag nicht aus der Bahn geworfen. Ausgerechnet jetzt erfährt Barbara von dieser True-Crime-Show: eine große Tournee, Zehntausende Zuschauer, im Mittelpunkt der Fall ihrer Schwester. Seit Tagen kann sie nachts nicht schlafen, jetzt sitzt sie mit Herzrasen und Flashbacks im Lehrerzimmer in der Konferenz.

In ihrer früheren Schule hatte die Polizei ihr die Todesnachricht überbracht. In der neuen Schule versucht sie, ihr Zittern zu verbergen. Nicht in Tränen auszubrechen. Nicht rauslaufen zu müssen. Es geht nicht. Barbara muss ihren neuen Kollegen erklären, wer sie ist und was damals geschah. „Ich hatte gedacht, ich könnte hier endlich neu anfangen“, sagt sie.

Am Nachmittag geht sie zur Gitarrenstunde, um sich abzulenken. Sie kann die Gitarre nicht festhalten, so sehr zittert sie.

Die Live-Show
(Hannover)

„Viel Spaß!“ wünscht der Mann an der Kartenkontrolle, „viel Spaß!“ wünscht die Frau am Getränketresen. Rund tausend Menschen drängen sich gut gelaunt ins „Theater am Aegi“ in Hannover, sie prosten sich zu mit Sekt und Bier.

„Tödliche Liebe“ heißt die Live-Show zum True-Crime-Podcast des Radiosenders Bayern 3, die Veranstalter versprechen ein „einzigartiges und fesselndes Erlebnis“, „mit Tatortfotos, Akteneinsicht und der Möglichkeit, live Fragen zu stellen“. Eintrittskarten kosten zwischen 39,90 und 49,90 Euro, VIP-Pakete gibt es ab 99,90 Euro. Gut 100 Termine sind geplant in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kommentare im Internet sind positiv: „Super lustiger Abend für Fans und solche, die es noch werden wollen!“, lobt ein Fan aus Wien.

Auf der Bühne stehen zwei breite Sessel und ein Spaten, aus den Lautsprechern sickert dräuende Musik, und schon brandet Jubel auf: Jacqueline Belle (35) und Dr. Alexander Stevens (43) treten ins Scheinwerferlicht, Gastgeber des Bayern-3-Podcasts und Stars des Abends. Die nächsten eineinhalb Stunden wird es um einen Mord in Bayern gehen, um den Mord an Barbaras Zwillingsschwester. Belle und Stevens haben die Namen von Opfer und Täter geändert, „zum Schutz der Angehörigen“, sagt Belle, der Rest der Handlung folgt eng dem Original. True Crime bedeutet ja „wahre Verbrechen“.

KI-Bilder zeigen ein junges Paar, Laura und Stefan heißen die beiden hier, sie wollen bald heiraten. Dann verschwindet Laura spurlos. Der KI-Film stoppt, Cliffhanger.

„Habt ihr eine Idee, was mit Laura passiert ist?“, fragt Jacqueline Belle.

„Tot!“, ruft ein Witzbold in den Saal. Großes Gelächter.

Die wahre Laura verschwand 2012, 2013 wurde ihr Leichnam gefunden. Der wahre Stefan geriet in Verdacht, Ermittlungen wurden aufgenommen, eingestellt, wieder aufgenommen, wieder eingestellt. Die Familie der wahren Laura kämpfte dafür, dass der Fall weiterverfolgt wird. 2020 wurde dem wahren Stefan der Prozess gemacht. Das Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“

In der True-Crime-Show bleibt der Fall offen. Jacqueline Belle spielt die Rolle der Anklägerin, Alexander Stevens die des Strafverteidigers. Immer wieder bringt er Entlastendes für Stefan vor. Zum Beispiel zum Spaten, der am Fundort lag und für den sich ein Kaufbeleg bei Stefan fand: „Ich verrate dir einen uralten Strafverteidiger-Trick: nichts glauben, was dir die Polizei erzählt!“ Gelächter.

Das Show-Publikum darf mitraten und mit dem Smartphone Richter spielen.

„Hat Stefan mit dem Verschwinden von Laura zu tun?“„Ja“, sagen 58 Prozent, „Nein“ 42 Prozent.

Es wird Zeit für den Höhepunkt der Show. Belle und Stevens haben mit dem wahren Stefan im Gefängnis ein Interview geführt. Kein Laut ist zu hören im Saal, als der Mörder seine vom Gericht widerlegte Lüge wiederholt, es sei doch nur ein Unfall gewesen.

„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“

Knapp ein Viertel der Zuschauer hält Stefan, in Wahrheit ein rechtskräftig verurteilter Mörder, für unschuldig.

Die Angehörige
(Oberbayern)

„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt Barbara, die Zwillingsschwester der wahren Laura. Das Video mit dem Mörder, die Verteidigerrolle von Stevens, die Abstimmung im Saal, „das stellt alles infrage, was meine Familie erreicht hat“.

Wenige Wochen vor dem Start der Show habe Jacqueline Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt Barbara. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Sie besucht die Show nicht selbst, sie will sich schützen, aber sie lässt sich den Inhalt von Bekannten schildern. „Jetzt weiß ich, dass sie auf unseren Fall gar nicht verzichten konnten: Dann hätten sie ja keine Show mehr gehabt.“

Eine Collage mit dem Logo des Podcasts "Aktenzeichen Ostfriesland", ein Foto von einem Publikum und einer Justitia-Statue.

„True Crime funktioniert“, sagt der Chefredakteur: „Aktenzeichen Ostfriesland“ ist der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe Ostfriesland – „mit riesigem Abstand“. Mit True Crime erreicht der Verlag junge Leser und bindet sie an die Zeitung.

Barbara schaltet eine Anwältin ein, die ein langes Schreiben an den Bayerischen Rundfunk (BR) aufsetzt. Unter anderem fordert sie, dass keine Bilder aus der Originalakte in der Show gezeigt werden. Es geht unter anderem um ein Bild von der Unterwäsche ihrer Schwester.

Lang ist auch die Antwort aus der Rechtsabteilung des BR, eher knapp der Inhalt: Der BR könne als Lizenzgeber der Show nicht in das Bühnenprogramm eingreifen, sehe aber auch keinen Anlass dafür. Opferrechte würden nicht verletzt, das Leid der Angehörigen nicht relativiert.

Aber: Die Moderatoren der Show hätten zugesagt, künftig keine Originalbilder aus der Akte mehr zu verwenden.

Der Podcast
(Ostfriesland)

Stimme 1: „Hier passieren durchaus auch Morde, Totschläge, allerlei Gewaltdelikte … das sticht natürlich trotzdem komplett heraus.“

Stimme 2: „Ich war ehrlich gesagt ziemlich geflasht … dass ich gedacht habe: krass … das hier in Leer?!“

Stimme 1: „So viel können wir, glaube ich, schon mal sagen, es sind wirklich Abgründe, die sich da auftun, und auch verstörende Details.“

Stimme 2: „Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die beiden Lokaljournalisten der Zeitungsgruppe Ostfriesland sind fasziniert. Der 16 Jahre zurückliegende Mordfall, den sie im Zeitungsarchiv entdeckt haben, der Mord an Sophias und Sarahs Schwester, ist besonders: besonders verstörend, besonders grausam, besonders spektakulär. Fünf Folgen nehmen sie sich Zeit, die Geschehnisse im Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“ nachzuerzählen.

Im Lokaljournalismus funktionieren True-Crime-Podcasts zumeist so: Zwei Zeitungsjournalisten sprechen über das, was sie im Zeitungsarchiv recherchiert haben. So ist es auch hier, die Journalisten spekulieren über eine mögliche Beziehung von Opfer und Täter, über das mögliche Motiv des Täters, über seinen möglichen Suizid. Antworten können sie nicht geben, der Täter starb am Tag der Tat bei einem Autounfall, juristisch aufgearbeitet wurde der Mord deshalb nie.

„Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die Folgen heißen „Der Crash“ oder „Die Beerdigung“, jeder Folge steht eine Triggerwarnung voran: „Die Inhalte, die wir schildern, können belastend und retraumatisierend sein. Wenn du befürchtest, dass dir das nicht guttun könnte, hör bitte nicht weiter.“ Vor Facebook-Werbung, vor Schaufenster-Plakaten, vor gesprächigen Nachbarn wird nicht gewarnt.

In der letzten Folge sprechen die Journalisten über „Die Berichterstattung“.

Stimme 1: „Klar, natürlich konnte man nicht mehr mit (dem Mordopfer) in Rücksprache treten, das liegt in der Natur der Sache dieses schrecklichen Ereignisses. Aber es geht ja auch viel um die Angehörigen, die Hinterbliebenen und so.“

Stimme 2: „Die Angehörigen müssen beklagen, dass ihr Kind gestorben ist, und auch noch auf eine brutale Art und Weise getötet worden ist … und dann müssen sie diese Öffentlichkeit noch ertragen. Ich weiß von vielen dieser Familien, dass die das nicht geschafft haben. … Und da muss man auch wirklich jedes Mal abwägen: Was kann man noch machen und was auch nicht?“

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Für Sophia und Sarah steht fest: Was man nicht machen kann, das ist so ein Podcast.

Beide Schwestern haben eine diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung, beide haben unabhängig voneinander die Zeitung kontaktiert. „Ich habe den Reporter nur angeschrieben“, sagt Sophia. Auch andere meldeten sich bei der Zeitung und berichteten von der Belastung der Angehörigen durch den Podcast: ein damaliger Ermittler, ein Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in Ostfriesland.

Der Zeitungsverlag reagierte auf die Kritik: Er stoppte die Werbung für den Podcast, er nahm die Plakate ab, er beendete die Social-Media-Kampagne. Er nahm Abstand von der Idee, jede Folge einzeln zu bewerben und zu veröffentlichen.

Nur eines tat der Verlag nicht: Er nahm den Podcast nicht aus dem Netz.

 

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Die Öffentlichkeit
(Mainz und Berlin)

Im Pressekodex des Deutschen Presserats heißt es: „Bei der Berichterstattung über Gewalttaten (…) wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab.“ Vor der Abwägung steht aber die Frage: Gibt es überhaupt ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einem 16 Jahre zurückliegenden Mord in Ostfriesland oder an einem zwölf Jahre zurückliegenden Mord in Bayern?

Der Mainzer Journalismus-Professor Dr. Tanjev Schultz fordert „strenge Kriterien“ für True-Crime-Beiträge. „Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben“, schreibt er in einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin. „Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.“

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Wie Schultz sieht der Berliner Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz ein „überwiegendes Informationsinteresse“ nur bei Straftaten der Zeitgeschichte, „die zur DNA der Bundesrepublik gehören“: etwa die RAF-Verbrechen oder die NSU-Morde. Hinter der „großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind“, erkennt er keine journalistischen Motive, sondern ökonomische: „Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren“, sagt er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin.

Der Chefredakteur
(Ostfriesland)

Lars Reckermann, 54 Jahre alt, hat wenig Zeit. Gestern war er in Berlin, Chefredakteurstagung; heute trifft er sich mit alten Kollegen in Oldenburg; morgen ist große Mitarbeiterversammlung in Leer. Unser Gespräch quetscht er zwischen Berlin und Oldenburg.

Wie alle Tageszeitungschefredakteure treibt Reckermann der Medienwandel um; die Titel der Zeitungsgruppe Ostfriesland haben seit Ende der 90er-Jahre mehr als 40 Prozent ihrer Druckauflage verloren. Deshalb experimentiert er wie so viele andere Chefredakteure mit digitalen Formen. Eine davon heißt Podcast – und der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe heißt „Aktenzeichen Ostfriesland“, sagt er begeistert, „mit riesigem Abstand“. Der Verlag verdiene kein Geld damit, er bekomme aber anderes von Wert: junge Menschen unter 40! Eine hohe Durchhör-Quote! Fans, eine Community! „Hier erleben Leute, für die Zeitung nur noch totes Papier ist, dass es uns auf anderen Kanälen gibt. True Crime funktioniert.“

Es gibt also ein Verlagsinteresse an dem 16 Jahre alten Mordfall. Gedeckt wird das laut Reckermann aber von einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit: „Ein so außergewöhnlicher Fall gehört zum historischen Gedächtnis der Stadt Leer und zur DNA einer Lokalzeitung.“

Der Chefredakteur sagt aber auch: „Die Kritik der Angehörigen hat uns sensibilisiert, da bleibt etwas hängen. Ich glaube, es wird in Zukunft ein bisschen anders laufen bei uns.“ Wie anders, das weiß er noch nicht.

Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“.

Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Für die Live-Show „Tödliche Liebe“ des Podcast-Duos Jacqueline Belle und Alexander Stevens gab es deutliche Kritik. Jetzt reagiert der Bayerische Rundfunk.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
(München)

Die Abstimmung mit dem Smartphone. Die Kritik am rechtskräftigen Urteil. Das Mörderinterview aus dem Gefängnis. Der missachtete Wunsch der Zwillingsschwester, den Mord bitte nicht zum Gegenstand der Show zu machen. Verstößt das nicht gegen den Pressekodex? Gegen ein sensibles und ethisches Vorgehen, für das Bayern 3 sich nach eigenen Angaben einsetzt? Schürt das nicht Zweifel am Rechtsstaat?

Wir schicken einen Fragenkatalog an den Bayerischen Rundfunk.

„Im Gegenteil“, antwortet Bayern 3 aus München: „Durch das Programm werden ja gerade Einblicke in unsere Gerichtsbarkeit gewährt, die üblicherweise in dieser Tiefe Nicht-Juristen nicht bekannt sind.“ Die Show zeige, wie das Rechtssystem funktioniere. Die Urteilskritik sei „durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit“ ebenfalls „Teil des Rechtsstaats“. So wie letztlich auch das Mörderinterview: Bei den dort wiederholten Aussagen handele es sich „um die Wiedergabe eines Teils des Prozesses“.

Die Show biete „juristische Einordnung und Erklärung“, mehr noch: „Durch die einerseits juristisch-journalistische, andererseits sehr empathische Aufbereitung erfährt das schwierige, aber wichtige Thema ,Femizid‘ anhand dieses exemplarischen Falles Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.“

Es sei „mit einem besonderen Maß an Sensibilität und Fingerspitzengefühl“ gearbeitet worden. Für die Show habe man die Namen von Täter und Opfer geändert, und man zeige inzwischen keine Originalfotos mehr, „um den Wünschen der Familie noch mehr zu entsprechen“. True Crime im Dienste der Allgemeinheit?

Die Angehörigen
(Oberbayern und Ostfriesland)

Es gehe wieder los, sagt Barbara. Seit die Show laufe, versuchten Journalisten, sie zu kontaktieren: über Kollegen, Bekannte, ihre Anwältin. Neue Berichte über den alten Fall erscheinen. „Und dann sitzt man da abends und bricht zusammen. Und der Partner muss einen auffangen.“

Was wünscht sie sich?

„Eine bessere Rechtsgrundlage“, sagt Barbara. „Wenn das Schlimmste passiert, wenn jemand stirbt, dann steht das Opfer nach zehn Jahren ohne Schutz da.“

„Ich wünsche mir, dass der Podcast gelöscht wird“, sagt Sophia.

„Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn man es anders machen würde“, überlegt Sarah, ihre Schwester. „Wenn man wenigstens versuchen würde, die Angehörigen zu kontaktieren, bevor man so eine Welle lostritt.“

Es sei doch so, sagt Barbara: „Die haben eine erfolgreiche Show, die schlafen gut. Ich liege nachts wach und muss es aushalten.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
In der Show „Tödliche Liebe“ wurde bislang auf die Hilfsangebote des WEISSEN RINGS hingewiesen, die Veranstalter sammelten zudem Spenden für den Verein. Der WEISSE RING hatte auf Anfrage von Bayern 3 Informationsmaterial und eine Spendensammelbox zur Verfügung gestellt. Inhalt und Ablauf der Show waren dem Verein zum Zeitpunkt der Anfrage nicht bekannt. Autor Karsten Krogmann und Lars Reckermann, Chefredakteur der Zeitungsgruppe Ostfriesland, haben zwischen 2016 und 2019 bei der „Nordwest-Zeitung“ zusammengearbeitet.

Ein Anruf bei Christian Schertz

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Ein Anruf bei Christian Schertz

In einem Gastbeitrag für das Magazin des WEISSEN RINGS setzte sich Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz 2023 mit dem True-Crime-Boom auseinander. Unter dem Titel „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“ nannte er die Rechtslage für Betroffene „kaum zu ertragen“ und forderte gesetzliche Nachbesserungen. Was hat sich getan seither?

Medienanwalt Christian Schertz steht vor einer braunen Holztür.

Foto: Julia Steinigeweg

Herr Professor Schertz, lesen Sie, hören Sie, schauen Sie True Crime?

Ich schaue mir immer wieder True-Crime-Formate an – aber vorrangig, weil ich mich sowohl wissenschaftlich als auch in öffentlichen Äußerungen gegen einige dieser kommerziellen True-Crime-Formate ausspreche. Meines Erachtens werden hier nämlich die Opferrechte schlicht missachtet. Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren. Um aber mitzureden zu können, muss ich mir angucken, was die Medien da machen. Und ich kann nur sagen, dass viele der Formate meines Erachtens eklatante Opferrechtsverletzungen enthalten – oder aber, wenn es keine Rechtsverletzungen sind, dass die Opfer rechtlos sind, weil sie als Verstorbene leider postmortal keine Persönlichkeitsrechte mehr besitzen.

Christian Schertz (59) gilt als einer der bekanntesten Medienanwälte Deutschlands. 2005 gründete er gemeinsam mit Simon Bergmann seine eigene Kanzlei „Schertz Bergmann“. Er lehrt zudem als Honorarprofessor für Presse-, Persönlichkeits- und Medienrecht, etwa an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam und der TU Dresden, und ist Herausgeber und Autor zahlreicher Fachbücher.

Gibt es True-Crime-Formate, denen Sie Positives abgewinnen können?

Nachvollziehbar finde ich etwa Fernsehformate, die der Fahndung dienen, wie „Aktenzeichen XY… Ungelöst“, also Fälle, wo der Täter noch nicht ermittelt ist. In diesen Fällen erlaubt auch der Gesetzgeber die Nutzung von Bildern von Opfern und Tätern zu Fahndungszwecken, das ist sogar ausdrücklich erwünscht. Aber das ist ja ein völlig anderer Ansatz als in schätzungsweise 90 Prozent der aktuell laufenden True-Crime-Formate, die Verbrechen spektakulär und effekthascherisch inszenieren mit teilweise unerträglichen Details der Morde, um Auflage und Quote zu machen.

In den allermeisten True-Crime-Formaten geht es um zurückliegende und juristisch abgeschlossene Mordfälle. Darf sich Journalismus hier auf ein öffentliches Interesse berufen?

Dass man im Wege von Chronistenpflichten historische Straftaten darstellt, die zur DNA der Bundesrepublik gehören, das verstehe ich. Weil das Zeitgeschichte ist. Ich denke dabei zum Beispiel an die RAF-Taten, das Gladbecker Geiseldrama oder Entführungstaten wie den Fall Oetker. Aber bei der großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind, sehe ich kein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Weil dieses Interesse immer abzuwägen ist mit der Menschenwürde und den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen.

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Vor wenigen Wochen habe ich die Live-Show des „Bayern 3 True Crime“-Podcasts besucht. Die Show verbindet einen echten Mordfall mit Unterhaltungselementen, das Publikum darf interaktiv per Smartphone abstimmen: Ist der Täter, ein rechtskräftig verurteilter Mörder, schuldig oder nicht schuldig? Wie bewerten Sie so etwas rechtlich und moralisch?

Ich finde das verwerflich. Wir haben ja ganz bewusst im deutschsprachigen Rechtsraum uns gegen ein Geschworenen- oder Jury-System entschieden, sondern es entscheiden glücklicherweise Berufsrichter und nicht die Volksseele in Gestalt von Laien. Es ist höchst unseriös, im Rahmen einer Show gewissermaßen im Nachgang ein Jury-System zu Unterhaltungszwecken einzuführen. Noch unseriöser finde ich es, wenn sich hierbei öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten beteiligen, weil die im Rahmen ihrer Programmgrundsätze eindeutig die Menschenwürde beachten müssen – und ich finde es würdelos für die Opfer, was hier geschieht.

Für den True-Crime-Report, den wir 2023 in unserem Magazin veröffentlicht haben, haben Sie in einem Gastbeitrag den Gesetzgeber aufgefordert, „dringend“ bei den Opferrechten nachzuschärfen. Wie ist der Stand jetzt, knapp zwei Jahre später?

Da ist nichts passiert. Jeder, dem ich das erzähle, auch aus der Politik, sagt: Sie haben völlig recht, Herr Schertz, das geht so nicht. Aber passiert ist nichts. Es ist eine geradezu perverse und schier unerträgliche Situation, dass die Mörder aufgrund ihrer Persönlichkeitsrechte und nach Haftverbüßung aufgrund des dann bestehenden Rechts auf Resozialisierung oftmals nicht mehr identifizierend dargestellt werden dürfen mit Namen und Bild – die Persönlichkeitsrechte der Opfer aber erlöschen, weil sie verstorben sind, weil sie ermordet wurden.

Was muss geschehen, damit verstorbene Verbrechensopfer künftig auch in True-Crime-Formaten zu ihrem Recht kommen?

Ich sehe Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, dass er ein postmortales Persönlichkeitsrecht schafft, was derlei Ausschlachtungen von menschlichen Tragödien untersagt.

„Kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse“

Erstellt am: Dienstag, 4. März 2025 von Torben

„Kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse“

Der Journalismus-Professor Tanjev Schultz sagt über True-Crime-Formate: „Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte“. Das gelte aber nicht für alle Fälle.

Foto: JS Mainz

Die Inflation von True-Crime-Formaten ist ökonomisch begründet, nicht journalistisch. Beiträge über Mord und Totschlag wecken Aufmerksamkeit, versprechen Profit, erzielen Reichweite. Über Kriminalfälle zu berichten ist eine sinnvolle Aufgabe, solange dies in einem angemessenen Rahmen geschieht. Eine Gesellschaft, in der Kriminalität verschwiegen wird, wäre sehr verdächtig. Sie wäre alles andere als frei. Aber daraus folgt kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse. Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?

#TrueCrimeReport: Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

True-Crime-Beiträge sollten strengen Kriterien genügen: Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben. Das trifft zu, wenn der Fall ungelöste Fragen oder Widersprüche birgt, die mit Hilfe fortlaufender Recherchen und Veröffentlichungen womöglich geklärt werden können. Erst recht trifft es zu, wenn ernst zu nehmende Anzeichen auf einen Justizirrtum hindeuten. Ebenfalls von öffentlichem Interesse können die Langzeitfolgen eines Verbrechens sein, beispielsweise für das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen – sofern diese mit erneuten Veröffentlichungen einverstanden sind.

Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte und werden zum Lehrstoff, der für ein Verständnis historischer Zusammenhänge wichtig ist. Das gilt vor allem für politisch motivierte Anschläge, wie den linken Terror der RAF oder den rechten Terror des NSU. Über solche Fälle auch Jahre später noch zu berichten, kann einer Erinnerungskultur dienen, die versucht, den Betroffenen gerecht zu werden und die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen, beispielsweise für die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden.

True Crime und die Opfer: Ungefragt ausgenutzt

Wie aber sieht es mit Morden aus Eifersucht oder Habgier aus? Es muss gewichtige Gründe geben, solche Fälle wieder aufzugreifen und damit sowohl die psychische Gesundheit der Betroffenen als auch die Resozialisierung der Täter zu gefährden. Es genügt nicht, dass ein Fall in Teilen des Publikums noch immer ein Thema ist. Nicht alles, worüber Menschen reden, verdient es, ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Sonst würden auch der Ehebruch einer Bürgermeisterin oder der Rausch eines Pfarrers, über den sich die Gemeinde ewig das Maul zerreißt, zu billigem Medienmaterial. Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.

„Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen“

Erstellt am: Mittwoch, 5. Februar 2025 von Sabine

„Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen“

Der ungelöste Mord an ihrer Tochter Frauke beschäftigt Ingrid Liebs seit dem Jahr 2006. All die Jahre über war sie in verschiedenen Medien und True-Crime-Formaten präsent, vertraute fremden Menschen immer wieder ihre Geschichte an und betrieb eine eigene Internetseite zu dem Fall, „ihrem“ Fall. Sie war überzeugt: „Ich brauche die Öffentlichkeit.“ Das hat sich geändert. Hier erzählt die 72-Jährige, warum sie sich heute völlig zurückgezogen hat.

Foto: Christian Ahlers

„Letztes Jahr im Herbst, am 4. Oktober 2023, habe ich die Webseite für Hinweise zum Mord offline genommen. Es war genau der Tag, an dem Frauke im Jahr 2006 gefunden worden war. Das heißt, es war eine Art Jahrestag. Den Schritt hatte ich entsprechend groß in der regionalen Presse angekündigt und bin gefragt worden, ob ich mir das gut überlegt hätte, weil ich dann ja keine Hinweise mehr bekommen würde. Daraufhin habe ich noch ein Interview gegeben, in dem ich erklärt habe, dass sich jetzt nur noch Betreffende, die etwas wissen, oder derjenige, der es getan hat, melden können, so dass dann Polizei und Staatsanwaltschaft reagieren müssen. Ich hatte das Gefühl, alles getan zu haben, was ich tun kann, und dass meine Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Nach der Abschaltung habe ich gemerkt, dass es mir sehr guttut, Abstand zu gewinnen. Ich habe Luft holen und mich wieder ein bisschen sortieren können.

Ich hatte tatsächlich sehr lange überlegt, bevor ich mich zurückgezogen habe. Die Öffentlichkeit, das hat was mit mir gemacht, habe ich gemerkt. Es sind zum Teil furchtbar abgedrehte Leute, die sich melden. Eine Frau schickte mir bestimmt 80 Nachrichten über die Webseite und behauptete, sie wäre dabei gewesen, als Frauke getötet wurde, und schilderte schreckliche Details. Aber im Laufe der Zeit merkte ich, dass diese Frau sich das nur ausgedacht hatte und die Schilderung nicht mit nachweisbaren Fakten übereinstimmte. Da sie keine E-Mail angab, unter der ich sie kontaktieren konnte, war ein Stopp erst mit der Abschaltung der Webseite gegeben. So etwas geht an die Substanz. Aber das betrifft auch gut gemeinte Hinweise. Zum Beispiel kam, kurz bevor ich die Webseite abgeschaltet habe, ein Video von einem sogenannten Lost Place rein, einem verlassenen Haus, wo in einem Zimmer Folterinstrumente aufgebaut waren. Es schien zunächst, als könnte der Standort des Hauses zum Fall passen, deshalb habe ich mir das Video genauer angesehen. Also – das war ziemlich grauslich. An so was kaue ich dann ein paar Tage.

Was die Polizei mit dem Video gemacht hat, weiß ich nicht. Dort ist Fraukes Fall im Herbst vergangenen Jahres in die Cold-Case-Abteilung gewechselt, wo Tötungsdelikte landen, die ja nicht verjähren, wenn sie nach längerer Zeit nicht gelöst wurden. Das finde ich in Ordnung, der aktuelle Leiter der Abteilung gilt als kompetent, verlässlich und menschlich in Ordnung. Und vom Staatsanwalt habe ich zwischenzeitlich ein Schreiben erhalten, dass weiterhin Hinweise entgegengenommen werden.

Auch wenn ich mich zurückgezogen habe – im Internet wird weiterhin diskutiert. Für manche Leute scheint es ein Hobby zu sein, in Foren über True-Crime-Fälle zu spekulieren oder sich etwas dazu auszudenken. Ich gehe zwar immer noch davon aus, dass es Mitwisser des Mordes gibt, die sich auch in solchen Foren bewegen. Aber ich selbst gehe da nicht rein, es steht so viel erfundener Unsinn darin, dass mich das nur aufregt, deshalb sind Foren für mich tabu. Es gibt ja Leute, die sich daran erfreuen, wenn sie andere beunruhigen. Es tut mir gut, dass ich den ganzen Mist nicht mehr lese. Wenn etwas Wichtiges oder Auffälliges geschrieben wird, kommt das immer noch bei mir an, weil es Menschen gibt, die mich darauf aufmerksam machen. Das ist dann in Ordnung für mich.

Ich habe zwar aufgehört, aktiv zu suchen. Aber das heißt nicht, dass ich überhaupt nichts mehr mit Frauke zu tun habe. Ich bin offensichtlich an vielen Stellen bekannt wie ein bunter Hund und bekomme immer noch mal direkt Informationen von Fremden. Etliche haben herausgefunden, dass ich hier in Minden-Lübbecke die Außenstelle des WEISSEN RINGS leite, und daher erreichen mich auch über mein Vereins-Engagement Hinweise. Gelegentlich eine Mail oder einen Anruf zu bekommen, das ist für mich auch in Ordnung. Wenn ich allerdings merke, dass jemand Unsinn redet, breche ich das Gespräch sofort ab und sage ganz deutlich, dass mit ausgedachten Behauptungen und Vermutungen niemandem geholfen ist und man Betroffene damit nicht behelligen sollte. So eine Reaktion hätte ich mir früher nicht zugetraut, das musste ich im Laufe der Zeit erst lernen. Durch den Abstand, den ich seit der Abschaltung der Webseite gewonnen habe, kann ich solche Kontaktaufnahmen mittlerweile ein bisschen gelassener hinnehmen.

Derartige „Hinweise“ von Privatpersonen sind ganz sicher eine der negativen Auswirkungen meines früheren Mitwirkens an True-Crime-Formaten. Das muss man wohl in Kauf nehmen, wenn man in die Öffentlichkeit geht und Hinweise erhalten möchte. Damals war das für mich richtig, weil ich das Gefühl hatte, ich tue alles, um dabei zu helfen, den Fall aufzuklären, und auch, um unter Umständen Druck bei Ermittlungsbehörden zu machen.

,,Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall."

Ingrid Liebs

Aus heutiger Sicht wäre mein Appell, sich nur dann bei Opfern zu melden, wenn man Informationen hat, die wahr und nachprüfbar sind. Und man muss bereit sein, sich nicht hinter einer Anonymität zu verstecken. Nach diesen Kriterien darf mich jeder kontaktieren, und dann setze ich mich mit Hinweisen auseinander. Wenn diese Kriterien jedoch nicht erfüllt sind, ist es unverantwortlich, Opfer zu kontaktieren, man sollte es dann einfach sein lassen. Das erspart den Betroffenen Zeit und Unruhe, denn jeder Hinweis führt dazu, dass  man sich damit beschäftigt, und bis man schließlich herausgefunden hat, dass gar nichts dahintersteckt, geht es einem vielleicht gar nicht gut.

Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall. Die sind nach wie vor da. Zum Beispiel im rechtsmedizinischen Bereich, weil ich nicht sicher bin, ob da alles gut gelaufen ist, denn ich musste entdecken, dass die Untersuchung mancher Dinge ursprünglich vergessen wurde. Demnächst habe ich daher zum Beispiel ein Treffen mit einem bekannten Forensiker. Mal schauen, ob sich dabei ein paar meiner Fragen klären lassen.

Es stand mal im Raum, dass er eine große Pressekampagne mit mir machen wollte. Aber ich habe Nein gesagt, das will ich nicht, solange es nichts wirklich Neues gibt, etwas, bei dem es Erfolgsaussichten darauf gibt, in Fraukes Fall weiterzukommen. Ich habe nach wie vor einen Anwalt, den ich auch behalte. Wenn der Fall aufgeklärt würde, würde ich bei einem Gerichtsprozess mit ihm in die Nebenklage gehen.

Im Frühjahr 2023 hatte ich gefordert, dass Medienleute empathischer und sensibler sein sollten, wenn sie an Opfer herantreten. Die Anfragen, die ich seitdem erhalten habe, waren in der Art der Ansprache in Ordnung, wobei es natürlich schwer zu sagen ist, ob es einen direkten Zusammenhang gibt. In der Regel kamen die Anfragen per Mail, das ist mir auch am liebsten, weil ich dann Zeit habe, sie in Ruhe zu lesen, zu reflektieren und auch meine Worte in Ruhe zu wählen, mit denen ich darauf gut überlegt und differenziert reagiere, wie ich die Absage vernünftig verpacke. Ich will ja die Menschen, die mich anfragen, nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich will schon klar vermitteln, dass es für mich im Moment keinen Anlass gibt, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Es sei denn, es ergibt sich ein ganz neuer, erfolgversprechender Ermittlungsansatz, irgendetwas Handfestes, bei dem ich eine substanzielle Chance sehe, dass ich zur Aufklärung beitragen kann. Dann wäre ich bereit, noch mal in der Öffentlichkeit aufzutreten und diese zu nutzen.

Ich schaue heute ab und zu mal einen Krimi im Fernsehen, aber das ist in der Regel ja Fiktion. True-Crime-Podcasts höre ich grundsätzlich nicht und gucke auch keine Filme aus diesem Genre. Daran habe ich einfach kein Interesse mehr. Ich habe genug eigene Erfahrungen gemacht. Ich kann niemanden daran hindern, Fraukes Fall aufzugreifen. Aber ich gebe keine Interviews und gehe nicht vor die Kamera, um irgendjemandem ein tolles Fernsehprogramm oder eine tolle Zeitung zu liefern oder um das Thema so am Köcheln zu halten, obwohl es nichts Neues gibt. Denn was soll das bringen? Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen.“

Zum Weiterlesen: Die Geschichte aus dem Jahr 2023

Für unser Titelthema „True Crime – Wa(h)re Verbrechen“ sprach unsere Redakteurin Nina Lenhardt Anfang 2023 mit der ehemaligen Schuldirektorin Ingrid Liebs, deren Tochter Frauke im Jahr 2006 ermordet wurde. Der Fall ist bis heute ungelöst. Liebs beschrieb, dass sie als Betroffene auf Antwortsuche Öffentlichkeit benötige und die Zusammenarbeit mit Medien deshalb als „Win-win-Situation“ ansehe.

Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben. Was bewegt sie dazu?

Transparenzhinweis:
Ingrid Liebs ist ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS. Seit Januar 2020 leitet sie die Außenstelle Minden-Lübbecke des Vereins.

True Crime mit Mehrwert

Erstellt am: Freitag, 7. Juni 2024 von Torben

True Crime mit Mehrwert

Ein argloses Opfer, ein grausamer Täter, ein Mord: Die Zutaten von „Just no!“ klingen nach True-Crime-Standardware. Doch der Podcast setzt dort Maßstäbe, wo die meisten Genre-Formate versagen – im sensiblen Umgang mit den Betroffenen, in Aufklärung und Prävention. Ein Werkstattbesuch beim NDR in Hamburg.

Foto: NDR (2024)

„Sophie hat nichts falsch gemacht, gar nichts. Sie trifft keinerlei Schuld.“

Diese Feststellung der Journalistin Anouk Schollähn bohrt sich tief ins Gedächtnis. Auch lange nach Ende der vier Stunden, in denen sie und ihr Team die traurige Geschichte von Sophie erzählen – einer jungen Frau, die von ihrem Stalker ermordet wurde.

Die Erzählung, das ist „Just no! Der Podcast gegen Gewalt von NDR 2 und NDR Kultur“. Ein Podcast, der die Hörer und Hörerinnen in seinen Bann schlägt und doch ganz anders funktioniert als die vielen True-Crime-Formate, denen es vor allem um die Sensation geht. In diesem Podcast geht es um das Opfer. Und dieser Podcast stellt schon im Titel klar, dass Aufklärung und Prävention eine wichtige Rolle spielen werden.

Sophies Geschichte

Im Mittelpunkt der ersten Staffel steht dementsprechend kein Täter, sondern Sophie, das Opfer. Gleich in der ersten Minute erklärt Schollähn die Motivation, warum sie Sophies Geschichte erzählen musste: „Sie hatte das Gefühl, komplett machtlos und wehrlos zu sein, keine Hilfe zu bekommen, und das hat uns sehr beschäftigt.“ In acht Folgen schildert die Autorin das Schicksal der jungen Frau. Und noch viel mehr: Im Podcast spricht sie mit Juristen, Ermittlern, Opferhelferinnen, einem (Anti-)Stalking-Experten. Sie widmet sich den Fragen: Woran erkenne ich Stalking, wann geht das los, was kann ich tun, wo sind Anlaufstellen, wie bekomme ich Hilfe?

Diese Herangehensweise macht „Just no!“ zu einem Beispiel, wie True-Crime-Berichterstattung im besten Sinne aussehen kann.

Treffen in Hamburg

Hamburg-Harvestehude, Rothenbaumchaussee 132. Ein Pförtnerhaus, dahinter durchnummerierte Gebäude: Klinker, Keramik, Glasfronten. Über allem ragt der Turm mit den drei blauen Buchstaben „NDR“. Hier produziert der Norddeutsche Rundfunk sein Hörfunkprogramm, hier arbeitet Anouk Schollähn. Im Konferenzraum schenkt sie frischen Kaffee ein, an den Wänden hängen Goldene Schallplatten und Poster von Popstars hinter Glas: Tim Bendzko, Taylor Swift, Nickelback. NDR 2 heißt eben nicht nur Podcast, sondern auch Musik.

Anouk Schollähn, Radiomoderatorin, TV-Reporterin und Podcast-Macherin: „Wir haben 2015 den ersten True-Crime-Podcast gemacht“, sagt sie, „nach der Vorlage des US-Podcasts ‚Serial‘ von Sarah Koenig, die sich als Erste transparent bei der Arbeit hat zuschauen lassen. Man war bei ihren Recherchen mit dabei, sie hat die Leute mitgenommen, und man konnte im Podcast mithören: Wo scheitert sie? Wo stellt sie sich selbst Fragen?“

Nach dem amerikanischen Vorbild entstand beim NDR der erste „Täter unbekannt“-Podcast, damals mit dem Vermisstenfall Inka Köntges. „2018 haben wir dann einen zweiten Fall gemacht, den Fall Katrin Konert. Außerdem habe ich mir, mit einem Kollegen zusammen, die Görde-Morde nochmal angeschaut. Und irgendwie war klar, mein Weg geht in Richtung True Crime. Dann kam dieser Fall von Sophie – und da war es dann irgendwie anders.“

True Crime – aber nur mit Mehrwert

Es sei zwar schon immer so gewesen, dass sie nur Fälle mit Mehrwert umgesetzt habe, sagt Schollähn, „wo man vielleicht nochmal etwas über vermisste Personen herausfinden kann, wo man vielleicht die Möglichkeit generiert, nochmal Hinweise zu bekommen oder Handlungsempfehlungen zu geben, wie ‚Achtung, da kann es gefährlich werden‘ oder ‚darauf müsst ihr achten‘“. Doch während Schollähn die früheren Fälle nach diesen Kriterien ausgesucht hat, hat der Fall Sophie dann Schollähn ausgesucht.

Anouk Schollähn, geboren 1976 in Offenbach am Main, ist Hörfunk- und TV-Journalistin. Sie arbeitet seit 2002 für NDR 2. Im Herbst 2015 hat sie gemeinsam mit Thomas Ziegler die erste Staffel „NDR 2 – Täter unbekannt“ realisiert. 2019 erschien: „Die Geheimnisse des Totenwaldes“, darin geht es um einen der brutalsten Serienmörder Norddeutschlands. Zudem moderiert sie Buchpräsentationen und Lesungen.

„Durch die True-Crime-Formate hatte ich relativ gute Kontakte zu Polizisten, zu Ermittlern, zu Leuten, die mit solchen Dingen zu tun haben. Und aus diesen Reihen hat mich jemand kurz vor Prozessende im Fall Sophie angerufen und gesagt: ‚Hast du dich mit diesem Fall mal näher beschäftigt?‘“

Der Fall Sophie sorgte in Norddeutschland für großes Aufsehen. Die Medien berichteten erst über den Mord, danach über den Prozess. Schollähns Kontakt sagte weiter, sie müsse sich den Fall unbedingt ansehen, denn das Ausmaß an Stalking mache ihn fassungslos. „Und das habe ich dann auch gemacht. Ich habe erst mit der Polizei gesprochen, ob sie bereit wäre zu sprechen, und habe dann gesagt: ‚Vielen Dank, ich melde mich wieder.‘“ Denn bevor sie der Polizei zusagen würde, wollte sie Kontakt zur Mutter des Opfers aufnehmen.

Die goldene Regel

„Bei uns im Team gibt es eine goldene Regel: Wenn die Familie nicht möchte, dass wir die Geschichte erzählen, dann lassen wir sofort die Finger davon. Denn keiner aus dem Team hat erlebt, dass ein Angehöriger gewaltsam getötet wurde. Diese Situation kann niemand nachvollziehen, der das nicht selbst durchmachen musste“, sagt Anouk Schollähn. „Deswegen ist die Entscheidung der Familie – egal wie sie ausfällt – absolut zu respektieren und nicht verhandelbar.“ Familien müssten darüber aufgeklärt werden, dass möglicherweise ein großes Medien-Echo folgen wird, wenn sie bei einer True-Crime-Produktion mitmachen, „dass es ihnen immer und immer wieder begegnet, dass sie von Nachbarn angesprochen werden, dass sie davon in der Zeitung lesen, dass sie es im Radio hören“.

Im Fall von Sophie war dem Team von Anfang an klar, dass es nicht nur den Fall an sich erzählen möchte, sondern auch über Stalking aufklären. „Das habe ich auch Sophies Mutter erklärt. Wir haben mehrfach telefoniert und uns dann in Dessau getroffen. Da war der Prozess gerade vorbei.“ Vier Stunden dauerten die Aufnahmen. „Das war natürlich ein sehr, sehr intensives Gespräch. Wir haben auch nicht wirklich Pause gemacht, wir haben das durchgezogen. Am Ende haben alle geweint. Der Techniker hat geweint, ich habe geweint, die Mutter hat geweint.“

Tief eingegraben haben sich bei Anouk Schollähn die letzten Sätze von Sophies Mutter: „‚Ich habe kein Kind mehr, und ich habe jetzt keine Aufgabe mehr als Mama.‘ Was soll man da als Interviewende noch sagen? Man kann nichts Tröstendes sagen. Man ist total hilflos. Das ist das Schlimmste, das passieren kann.“

Die Rückfahrt von Dessau ist Schollähn noch sehr präsent. „Wir sind dann raus und ins Auto gestiegen, haben kein Wort gesprochen. Mein Kollege ist einfach losgefahren. Wir haben dann irgendwo ein Stück Wiese gefunden und da eine halbe Stunde angehalten.“

Spannung ohne Tätersuche

Für die Produktion spricht Schollähn nicht nur mit Sophies Mutter, sondern auch mit Sophies Freundinnen und Freunden. Das Bild einer jungen Frau entsteht: Anfang 20, lebensfroh, glücklich, die mit ihrer Zukunft noch so viel vorhatte. Eine Sprachnachricht, die das Team im Podcast verwendet, rundet dieses Bild ab. „Sophie ist nicht nur einfach ein Name oder irgendeine anonyme Figur. Das ist Sophie. Wir sind aber sehr sparsam damit umgegangen, denn das ist natürlich auch eine private Sprachnachricht, und man kann Sophie nicht mehr fragen, ob es okay ist, sie zu verwenden.“

„Just no!“ ist ein Podcast von NDR 2 und NDR Kultur. Die acht Folgen finden sich beispielsweise in der ARD-Audiothek oder bei Streamingdiensten wie Spotify.

Wenn es in einem Podcast nicht vorrangig um den Kriminalfall geht, sondern vor allem um Prävention, dann fällt die klassische True-Crime-Erzählweise weg: die Suche nach dem Mörder, die dunklen Geheimnisse der Betroffenen, die Faszination des Bösen. All das bietet „Just no!“ nicht. Im Gegenteil: Anouk Schollähn verrät schon in der ersten Folge, dass Sophie von Patrick getötet wird, einem ehemaligen Arbeitskollegen. Statt eine Tätersuche nachzuzeichnen, stellt „Just no!“ das Opfer würdevoll vor, nimmt dabei die Hinterbliebenen mit und leistet Aufklärungsarbeit.

Frage an Anouk Schollähn: Wie gelingt so etwas, ohne Spannung einzubüßen?

„Das war ein sehr großes Thema, vor allem in der Folge, in der der Stalking-Experte lange spricht“, antwortet die Journalistin im NDR-Besprechungsraum. „Ich hatte die Länge dieser Folge gesehen und sagte: ‚Das geht gar nicht. Das müssen wir auf jeden Fall kürzen, mindestens um die Hälfte.‘ Doch dann habe ich mir das stundenlang angehört und dachte immer wieder, ich finde nichts, das ich da jetzt rauswerfen kann.“ Die Journalistin bat zwei Kollegen, sich die Folge anzuhören. Sie kürzten gerade mal eine oder zwei Minuten. „Da haben wir gedacht, okay, wenn es so ist, dann ist es so.“ Der Experte erklärt in dieser Folge, wie es ist, wenn man selbst einen Stalking-Drang in sich verspürt, und wo man sich Hilfe suchen kann.

True Crime funktioniert auch ohne Sensationshascherei.

Gefahr Stalking

Seit 2019 steigt die Anzahl der Fälle von Nachstellung in Deutschland an. Stalking kann jeden treffen, überdurchschnittlich oft leiden Frauen darunter. Allein im Jahr 2023 wurden in Deutschland 23.156 Fälle von Stalking angezeigt. Beim WEISSEN RING zählt Stalking zu den drei häufigsten Deliktformen, die Betroffene auf der Suche nach Hilfe angeben – nach Körperverletzung/häuslicher Gewalt und Sexualstraftaten.

Dass Stalking wie in Sophies Fall mit einem Mord endet, ist allerdings die Ausnahme. Im Podcast wird die Tat sehr detailliert beschrieben. Eine Schauspielerin liest Passagen des Urteils vor. Diese Minuten erinnern innerhalb der vier Podcast-Stunden am stärksten an „klassisches“ True Crime.

Noch eine Frage an Anouk Schollähn: War die Schilderung dieser Brutalität in dieser Härte unbedingt notwendig?

Schollähn antwortet, ihr Team habe diese Frage sehr kontrovers diskutiert. „Wir sind uns bis heute nicht einig, aber wir haben die Entscheidung als Team getroffen. Denn wenn man sagen würde, Patrick hat Sophie im Badezimmer getötet, dann ist das etwas anderes als das, was da wirklich passiert ist. Die Passagen im Urteil sind hart und brutal, aber genauso war auch dieser Fall. Auch der Umfang des Stalkings war unglaublich. Diese Vorbereitung, die dieser Täter getroffen hat, ist unfassbar. Um die gesamte Komplexität und Brutalität dieses Falls zu verstehen, haben wir uns dazu entschieden, eins zu eins aus dem Urteil zu zitieren, was da vorgefallen ist.“

Reaktionen auf den Podcast

Der Podcast zeigt, dass True Crime auch unaufgeregt funktionieren kann: mit Empathie, solider Recherche und hilfreichen Tipps. Und das Beste: „Just no!“ hat auch beim Publikum Erfolg. Menschen bedankten sich beim NDR, dafür dass der Sender das Thema aufgegriffen hat. Andere erzählten ihre eigene Stalking-Geschichte. „Das war ein sehr, sehr positives Feedback“, sagt Anouk Schollähn.

Letzte Frage: Wie hat Sophies Mutter auf den Podcast reagiert?

„Ich hatte der Mutter den Link geschickt“, sagt Schollähn, „und dann habe ich zwei sehr unruhige Nächte gehabt, weil sie sich nicht gemeldet hat. Ich dachte: ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Man kann den Podcast dann auch nicht mehr zurückholen.“  Und dann hat sie mir irgendwann ein Foto geschickt, eine Naturaufnahme, und sagte: ‚Hier in dieser Umgebung habe ich mir jetzt diesen Podcast angehört, habe viel geweint und finde es gut. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es so umgesetzt haben.‘ Das war für mich das wichtigste Feedback.“

Wie eine Hamburger Kommissarin die „Säurefassmorde“ aufklärte, weil sie den Opfern zuhörte

Erstellt am: Mittwoch, 14. Februar 2024 von Juliane

Wie eine Hamburger Kommissarin die „Säurefassmorde“ aufklärte, weil sie den Opfern zuhörte

Vordergründig geht es in „Die Unsichtbaren“ um eine Mordserie. Aber der Film ist sehr viel mehr als ein weiterer True-Crime-Film: Der Hamburger Regisseur Matthias Freier hält ein berührendes Plädoyer für einen sensibleren Umgang mit Verbrechensopfern. Ein Filmtipp aus der Redaktion des WEISSEN RINGS.

Foto: Rejell – Neue Bioskop Television

Wer als junge Filmemacherin, als junger Filmemacher, mit dem Gedanken spielt, einen True-Crime-Fall zu realisieren, der sollte sich die letzten Minuten von „Die Unsichtbaren“ anschauen, immer und immer wieder. Denn der Respekt, mit dem Regisseur Matthias Freier in diesem Film den Angehörigen einer ermordeten Frau begegnet, hat das Zeug, zum Vorbild für das ganze Genre zu werden.

Ein älterer Herr steht in seiner Wohnung, schaut gedankenverloren aus dem offenen Fenster und zieht an einer Zigarette. Es ist der Lebensgefährte des Opfers Annegret B.

Szenenwechsel: Zwei Schwestern räumen Bilderalben und Notizbücher weg, packen sie in eine schmucklose Plastikkiste. Obendrauf: das Foto einer jungen Frau. Es ist eines der letzten Fotos von Annegret B., ihrer Tante.

Noch ein Szenenwechsel: Diese drei Menschen – Thomas, Inga und Svenja – treffen aufeinander, zum ersten Mal in ihrem Leben. Zuerst begrüßt Thomas Inga. Er lacht, wechselt ein paar höfliche Worte mit ihr – und hält dann plötzlich inne. Sein Blick springt zwischen Inga und ihrer Schwester Svenja hin und her, die er gerade erblickt hat. „Das ist ja wirklich … Das ist ja …“. Er zeigt liebevoll auf ihr Gesicht. „Du siehst übrigens Annegret ähnlich.“

Die Schicksalsgemeinschaft

„Die Unsichtbaren“ ist ein leiser Film. Er verzichtet auf schnelle Schnitte und überspitzte Dramaturgie. Das ist ungewöhnlich für ein Genre, in dem es fast immer um Mord und Totschlag geht. Zumindest was das betrifft, ist der Dokumentarfilm von Matthias Freier waschechtes True Crime: Immerhin geht es vordergründig um den Fall des sogenannten „Säurefassmörders“ Lutz R., der im Hamburg der 1980er Jahre zwei Frauen grausam ermordet und ihre Leichen in Fässern mit Salzsäure verscharrt hat. Und doch unterscheidet sich Freiers Film wohltuend von vielen anderen True-Crime-Filmen: „Mir war es wichtig, die Opferperspektive zu zeigen“, sagt der Regisseur. „Ich spreche von einer Schicksalsgemeinschaft, die durch den Fall entstanden ist. Von dieser wollte ich erzählen, weil sie in normalen True-Crime-Formaten keine Stimme bekommt.“

Im Mittelpunkt des Films steht nicht, wie so oft, der Täter, sondern die Frau, die ihn überführt hat: Marianne Atzeroth-Freier, geboren 1946, gestorben 2017, Hamburger Kriminalkommissarin. Sie ist auch die Stiefmutter von Regisseur Matthias Freier, der von ihr liebevoll immer nur als „Janne“ spricht.

Als Janne 1978 zur Hamburger Polizei kommt, gibt es in ihrem Ausbildungsjahrgang 375 Männer – und fünf Frauen. Welche Folgen für die Opfer die oftmals sexistischen Strukturen und männlichen Denkmuster auf die Polizeiarbeit haben können, zeigt sich im Fall Christa S. im Jahr 1991: Die Frau sucht Hilfe bei der Polizei, gibt an, von einem ihr unbekannten Mann in einem Bunker festgehalten worden zu sein. Spuren von körperlicher Gewalt gibt es nicht. Die männlichen Kollegen glauben ihr nicht, nehmen sie verbal in die Mangel, fordern sie auf, die Wahrheit zu sagen. Auch Janne weiß nicht, ob sie Christa S. glauben kann. Doch sie tut etwas, das keiner ihrer Kollegen getan hat: „Ich habe darüber auch nicht nachgedacht. Ich habe ihr nur zugehört. Ich habe es so aufgenommen, wie sie es sagte“, hört man sie auf Tonband sagen. Ihr Gespür hat sie nicht getäuscht.

Die Ermittlungen führen Marianne Atzeroth-Freier auf die Spur von Lutz R., dem Entführer von Christa S., der sich im Mai 1992 wegen dieser Entführung vor Gericht verantworten muss. Während des Prozesses kommt eine Frau auf Janne zu: Sie berichtet ihr, dass ihre Tochter Annegret verschwunden sei, und bittet sie um Hilfe. Außerdem kenne ihre Tochter auch den Angeklagten, fügt die Frau hinzu. Dieser letzte Satz führt zu einer Gedanken-Explosion in Jannes Kopf. Denn noch eine weitere Frau aus dem Bekanntenkreis von Lutz R. gilt als vermisst. Im Film ist Jannes Stimme auf Tonband zu hören: „Dann hatte ich zwei Frauen, die sich nicht kannten, beide aber vermisst waren und die beide Lutz R. kannten.“

Die Polizistin, die sich gegen Widerstände durchsetzt

Mittlerweile ist Janne eine der ersten Frauen in der Hamburger Mordkommission. Sie beginnt in den beiden Fällen zu ermitteln, gegen den Willen ihres Vorgesetzten. Das sei ein Vermisstenfall, bekommt sie zu hören, kein Tötungsdelikt. Also ermittelt sie in ihrer Freizeit. Die Frau, die sich hilfesuchend an sie gewandt hat, wollte sie nicht einfach so im Stich lassen. Jannes unermüdlicher Einsatz und ihre Empathie gegenüber den Opfern führen letzten Endes zur Aufklärung einer der spektakulärsten Mordserien der bundesdeutschen Geschichte.

Regisseur Matthias Freier setzt mit seinem Film nicht nur seiner 2017 verstorbenen Stiefmutter ein Denkmal, sondern hält mit ihm ein Plädoyer für einen sensiblen Umgang mit den Opfern von Straftaten bei Polizei und Medien: „Meine Stiefmutter hat den Fall gelöst, indem sie den Opfern und Angehörigen der Opfer zugehört hat. Ich bin der Meinung, dass wir aus dieser Perspektive mehr lernen können, als wenn wir immer auf den Mörder gucken“, sagt Freier. Er prangert auch toxische Männlichkeit in der Polizeiarbeit an: „Die weiblich konnotierten Eigenschaften wie Empathie, Zuhören und Hilfsbereitschaft gehören einfach mit an den Tisch, wenn es darum geht, Morde aufzuklären.“

Kommissarin Marianne Atzeroth-Freier (Foto: Rejell – Neue Bioskop Television)

Im Film sagt Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Hamburg: „Diese Vertrauensbasis zu schaffen, die hilft dann, alles andere zu bewältigen. Und das ist das, was Frau Atzeroth-Freier gemacht hat. Vertrauensbasis schaffen und nicht nachlassen. Und auf eine gesunde Weise Kontakt halten, ohne sich von Mitleid oder sich von zu viel Nähe auffressen zu lassen. Denn zu viel Nähe bedeutet auch, sie kann nicht mehr handeln, aber sie konnte ja immer handeln.“

Eine der größten filmischen Qualitäten von „Die Unsichtbaren“ ist die Tatsache, wie nah das Publikum der Frau Marianne Atzeroth-Freier kommt. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Tonaufnahmen, auf denen Janne von ihren Erlebnissen und Gedanken während des Falls berichtet. Durch hochwertige Szenen, die mit Schauspielerinnen und Schauspielern nachgestellt worden sind, taucht man ein in den Alltag bundesdeutscher Amtsstuben der frühen 90er-Jahre. Verknüpft wird das mit ausgiebigen und mitunter emotionalen Interviews mit Angehörigen der Ermordeten, wie eben ihren Nichten Inga und Svenja oder ihrem damaligen Lebensgefährten Thomas. „Wir fokussieren nicht auf den Täter und seine Motive, sondern hauptsächlich auf die direkt und indirekt betroffenen Personen wie die Nachkommen der Angehörigen“, sagt Regisseur Freier. „Außerdem haben wir bewusst Rücksicht auf eine mögliche Retraumatisierung der Betroffenen genommen. Wir nutzen das True-Crime-Format nur als Vehikel, um eine Frauen- und Opfergeschichte zu erzählen.“ Die beiden Nichten haben den Film auch vorab gesehen, „um sicherzugehen, dass sie ihn ertragen können, wenn der Film so mit ihnen und ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit geht“.

Ertragen müssen die beiden zum Beispiel die Szene, in der es um die rechtsmedizinischen Aspekte des Falls geht, nachdem die Leichen der Frauen gefunden worden sind. Klaus Püschel, einer der renommiertesten Rechtsmediziner Deutschlands, der damals auch für diesen Fall zuständig war, berichtet über einige grausame Details, die Regisseur Freier nicht weglassen wollte. „Mir war es wichtig, zumindest anzudeuten, was für schreckliche Bilder die SoKo und Janne damals aufgenommen haben. Sie hat das immer etwas runtergespielt, aber die Gerüche und anderen Eindrücke der Leichenteile müssen auch etwas Traumatisierendes gehabt haben. So war es zumindest für mich, und ich war nicht vor Ort und habe ‚nur‘ Videoaufnahmen und Bilder davon gesehen“, erklärt er. Das ist einer der wenigen Momente, in denen sein Film an klassisches True Crime erinnert. Matthias Freier sagt selbst: „Je länger ich Jannes Weg nachgezeichnet habe, umso mehr wurde mir klar, dass ich Lutz R. so wenig Bühne wie möglich geben darf.“

Die Opfer bekommen Zeit und Raum

Der Dokumentarfilm „Die Unsichtbaren“ ist in zwei Jahren reiner Produktionszeit entstanden. „Aber die Vorarbeit hat 20 Jahre gedauert“, sagt Freier. Diese Vorarbeit ist im Film deutlich zu spüren. Insgesamt verlangt er dem Zuschauenden einiges ab, seelisch wie intellektuell. Das Leid der Ermordeten und ihrer Angehörigen trifft ihn umso mehr, weil sie nicht einfach als „Opfer“ abgetan werden, sondern Zeit und Raum bekommen, um als Mensch zu erscheinen. Gleichzeitig erfordert der rund eineinhalbstündige Film Konzentration, denn die Komplexität der Ermittlungen wird hier nur bedingt einer mainstream-tauglichen Dramaturgie geopfert.

Der Film nimmt sich Zeit und schenkt diese seinen Protagonisten, allen voran Marianne Atzeroth-Freier. Das letzte Bild des Films: „Es ist das herzhafte Lachen von Janne, dass ich immer noch im Ohr habe“, sagt Regisseur Freier. „Das hat allerdings Andreas Lohmeyer, ein Kollege meiner Stiefmutter, in den 90ern gedreht.“ Sein Film ist ein emotional aufwühlendes Beispiel dafür, dass True Crime und Filmkunst keine Gegensätze sein müssen.

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige erschütterte

Erstellt am: Montag, 16. Oktober 2023 von Karsten

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige erschütterte

Fast 20 Jahre nach dem Mord an einer Frau zeigt das ZDF einen True-Crime-Film über den Fall. Die überraschten Angehörigen sind empört und fragen: Darf der Sender das?

Foto: Alexander Lehn

Eine Stadt in Deutschland, im Kern Mittelalter mit Kopfsteinpflaster und Wirtshäusern, drumherum Nachkriegsbeton mit Behörden und Supermärkten. Wenige Zehntausend Menschen leben hier, man kennt und sieht sich. Man redet miteinander, man redet ­übereinander.

Läuft im Fernsehen eine Sendung, in der es um die Stadt geht und um ihre Menschen, dann weiß bald jeder davon.

Kapitel 1: Der Schock

„Unsere Geschichte? Im Fernsehen? Das kann nicht sein!“

Petra Meyer ist fassungslos, als die Anruferin aufgelegt hat. Fast 20 Jahre ist es nun her, dass ihre Schwester ermordet und der Ehemann als Mörder verurteilt wurde. Jetzt soll es im ZDF wieder einen Bericht über den Mord geben? Warum? Sie schaltet den Fernseher an, in der Mediathek findet sie schnell den Beitrag, von dem die Anruferin ihr berichtet hat.

Sie sieht zehn Minuten True Crime: ein „wahres Verbrechen“, spannend aufbereitet mit dräuender Musik. Sie sieht Bilder vom Tatort. Von Blutspritzern auf der Treppe und auf Täterkleidung. Vom Fundort der Toten. Sie sieht einen ehemaligen Staatsanwalt, der im großen Sitzungssaal des Landgerichts daran erinnert, dass der Leichnam „blutverschmiert“ gewesen sei. Petra Meyer sieht Fotos von ihrer Schwester, bei der Hochzeit und lachend an einem Sommertag. Sie sieht … ja, was eigentlich? Sind das tatsächlich die Hände ihrer toten Schwester, die der Täter verunstaltet hatte – ­womöglich, um die Identifizierung des Opfers zu erschweren? Es ist ein Foto aus der Ermittlungsakte, so stark verpixelt, dass nur Menschen mit Hintergrundwissen das Motiv ­erahnen können. Petra Meyer kann es.

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Sie fühlt sich, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. Sie zittert. Sie ruft ihre Mutter und ihren Bruder an.

,,Unsere Geschichte? Im Fernsehen? Das kann nicht sein!"

Vor wenigen Wochen erst hat die Familie erfahren, dass sich der Täter wieder auf freiem Fuß befindet; seine lebenslange Haftstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Behörden hatten die Familie darüber nicht informiert. Aber in dieser Stadt spricht sich nicht nur eine Fernsehsendung schnell herum, sondern auch eine Mörderentlassung. Im Supermarkt will jemand den Täter gesehen haben, im Baumarkt, in der Innenstadt. Die Anwältin der Familie fragt bei den Behörden nach, die bestätigen die Freilassung. Die Mutter des Opfers bekommt fürchterliche Angst. Sie platziert eine ­Schaufel neben ihrer Haustür; sie will sich verteidigen können, sollte der Mörder ihrer Tochter sie angreifen wollen.

Geschieht ein schlimmes Verbrechen wie der Mord an Petra Meyers Schwester, dann bewegt das die Öffentlichkeit. Es gibt Schlagzeilen: wenn eine Frau verschwindet und gesucht wird, wenn ihr Leichnam gefunden wird, wenn ein Verdächtiger verhaftet wird, wenn ihm der Prozess gemacht wird, wenn er als Täter verurteilt wird. Nach dem Urteilsspruch verschwindet der Fall wieder aus der Öffentlichkeit. Nicht aber aus der Familie des Opfers.

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Für die Familie des Opfers geht es nach dem Strafrecht oft weiter mit Zivilrecht und Sozialrecht. Vielleicht ist eine nahe Angehörige wegen einer Traumatisierung nicht mehr arbeitsfähig und benötigt Sozialleistungen. Vielleicht kann sie die Wohnung nicht halten und muss umziehen. Vielleicht hat sie einen Antrag auf Unter­stützung nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt, mit seinen mitunter jahrelangen Verwaltungsakten, psychiatrischen Gutachten und hohen Ablehnungs­quoten. Vielleicht folgt ein Sorgerechtsverfahren um die Kinder, weil eine Mutter gestorben ist und ein Vater im Gefängnis sitzt. Und da ist die Trauerarbeit, eine Mutter, eine Tochter, eine Schwester fehlt. Nur langsam kann so eine Familie das Verbrechen hinter sich lassen, sie muss Schritt um Schritt vorangehen. Mit viel Mühe führt sie fast 20 Jahre später vielleicht wieder ein fast normales Leben.

Dann zeigt das Fernsehen zehn Minuten „True Crime“, und alles ist wieder da.

Kapitel II: Die Wut

Dies ist eine Geschichte, wie sie Verbrechensopfer immer wieder erleben. Anders als im Fernsehbeitrag fehlen hier identifizierbare Details. Die Stadt trägt keinen Namen, die ZDF-­Sendung auch nicht, und Petra Meyer heißt nicht wirklich Petra Meyer. Die Familie möchte nicht erkennbar sein, sie möchte ihr fast normales Leben zurück. Sie möchte aber erzählen, wie es ihr mit dem ZDF-Beitrag ergangen ist. Und sie möchte, dass das ZDF den Beitrag aus der Mediathek nimmt. Deshalb schreiben wir hier ihre Geschichte auf.

Die Familie hat eine sehr engagierte Anwältin, sie betreut die Angehörigen seit dem Mord. Die Anwältin hat Belastendes und Traumatisierendes so gut es geht ferngehalten von der Familie.

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„Ich habe gewusst, dass es solche Fotos wie von den Händen meiner Schwester gibt“, sagt Petra Meyer, „aber ich habe sie nie gesehen.“ Jetzt sah sie die Fotos im Fernsehen. „Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht.“

In der Schule hörten ihre Kinder von dem Film, auch sie fanden ihn schnell in der Mediathek. „Natürlich hatten wir ihnen von dem Mord erzählt“, sagt Petra Meyer, „das ist schließlich ein Teil unserer Familiengeschichte. Aber wir hatten die Details von ihnen ferngehalten.“ Jetzt sahen die Kinder die Details in dem Beitrag. „Mein Sohn wäre am liebsten in die Couch hineingekrochen“, sagt sie.

Vielleicht noch schlimmer ist das Gerede. Die Stadt spricht jetzt wieder über den Mord. Über die Ehe­probleme des Paares und dessen Finanzsorgen, über den rechtskräftig verurteilten Mörder. Man kennt sich in der Stadt, man sieht sich, man redet übereinander: Der Täter hat den Mord damals geleugnet, war er es womöglich doch nicht?

Petra Meyer ist so wütend. Sie fragt: Wie kann das alles sein? Warum darf der ehemalige Staatsanwalt so über unseren Fall sprechen? Weshalb erlaubt das Landgericht Dreharbeiten mit ihm im Sitzungssaal? Wieso darf das ZDF Fotos von Opfern und Angehörigen zeigen? Warum fragt uns keiner? Ist das nicht unsere Geschichte, die hier zur Unterhaltung des ZDF-Publikums spannend aufbereitet wird? Wir sind doch keine Promis!

Kapitel III: Dürfen die das? Fragen und Antworten

Der WEISSE RING fragt beim Landgericht nach. Der Pressesprecher teilt mit, dass das Gericht den ZDF-Beitrag „weder veranlasst, noch inhaltlich unterstützt“ habe; auch sei das Gericht in die Produktion „weder inhaltlich eingebunden“ gewesen, „noch konnte es hierauf inhaltlich Einfluss nehmen“. Der ehemalige Staatsanwalt spreche „als Privat­person“, die Dreharbeiten im großen Sitzungssaal habe die Gerichtsleitung „mangels erkennbarer entgegenstehender Interessen“ genehmigt. Der Presse­sprecher verweist auf Artikel 5 des Grundgesetzes: ­Pressefreiheit.

Das ZDF antwortet auf Nachfrage sehr ausführlich. „Bei spektakulären Straftaten kann auch nach langer Zeit noch ein öffentliches Informationsinteresse an den Taten als solchen bestehen“, schreibt ein Sprecher der verantwortlichen ZDF-Redaktion. „Soweit möglich“ versuchten die mit dem Beitrag befasste Produktionsfirma und die Redaktion, vor Umsetzung eines solchen Beitrags mit Angehörigen in Kontakt zu treten, „was nicht immer gelingt“. Ob es in diesem Fall den Versuch gegeben hat, sagt der Sprecher nicht.

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„Umso höher steht generell die Nichtidentifizierbarkeit etwaiger Opfer im Rahmen der Berichterstattung“, erklärt er. Das Hochzeitsfoto und das Sommertag-Foto der Schwester sind verpixelt worden. Auch das Bild, das mutmaßlich die verunstalteten Hände der Toten zeigt, sei „technisch verfremdet“ worden, „sodass der genaue Bildinhalt nicht erkennbar ist“.

,,Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht. Mein Sohn wäre am liebsten in die Couch hineingekrochen."

Das ZDF erklärt: „Das verwendete Foto- und ­Bildmaterial zum Fall wurde ausnahmslos von den Ermittlungs­behörden zur Verfügung gestellt. Eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft zur Verwendung liegt vor.“

Noch eine Nachfrage, diesmal bei der Staatsanwaltschaft. Eine Sprecherin erklärt, dass ihre Behörde „weder in den Beitrag involviert“ gewesen sei, „noch war hier der Inhalt, der Umfang oder der Zeitpunkt der Ausstrahlung bekannt“. Und sie schreibt noch etwas: „Seitens der Staatsanwaltschaft wurden die in dem ­Beitrag gezeigten Lichtbilder nicht dem ZDF zur Verfügung gestellt.“ Man habe die Ermittlungsakten „auf entsprechende Anfrage“ lediglich dem ehemaligen Staatsanwalt übersandt, damit dieser sich auf seinen Auftritt als Experte in der geplanten Dokumentation vorbereiten könne.

Hinsichtlich der Genehmigung durch die Staatsan­waltschaft gibt es also einen Widerspruch. Unabhängig davon steht aber fest: Die Familie des Opfers hat keiner­lei Genehmigung erteilt. Mit ihr hat niemand über die geplante Dokumentation gesprochen, das ZDF nicht, das Landgericht nicht, die Staatsanwaltschaft nicht.

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Noch etwas steht fest: Ermittlungsbehörden arbeiten immer häufiger und durchaus offensiv mit Medien zusammen, das bestätigen ­True-Crime-Journalisten wie Staatsanwaltschaften. Sie tun das aus nachvollziehbaren Gründen. Man möchte „transparent über die Arbeit von Ermittlungsbehörden informieren“, sagt eine Staatsanwältin. Auch das ZDF möchte „hintergründig über die Ermittlungsarbeit“ berichten, so auch im Fall von Petra Meyers Schwester. „Inhaltlich sollte der Beitrag besonders beispielhaft verdeutlichen, welch‘ akribische, intensive und kräftezehrenden Anstrengungen nötig sein können, um mit einer wasserdichten Indizienkette einen nicht geständigen, reuelosen Täter dennoch zu überführen und seiner gerechten Strafe zuzuführen“, erklärt der Sprecher des ZDF.

Braucht man dafür Fotos von der Hochzeit, vom Sommer­tag, von den Händen, vom Tatort und vom Fundort? Zwei rechtliche Fragen bleiben zudem ­unbeantwortet: Dürfen Ermittlungsbehörden oder -beamte solche Fotos weitergeben? Und dürfen Medien diese Fotos veröffentlichen?

Kapitel IV: Recht und Gesetz

Prof. Dr. Christian Schertz ist einer der bekanntesten Medienanwälte in Deutschland, ein Fachmann für das Persönlichkeitsrecht. Er vertrat und vertritt Prominente wie den Showmaster Günther Jauch und den Fußballer ­Christiano Ronaldo, er setzt sich für die Rechte von Betroffenen genauso ein wie für die von Beschuldigten. Nach den Machtmissbrauchs-Vorwürfen gegen ­Ex-„Bild“-Chef Julian Reichelt oder TV-Regisseur ­Dieter Wedel stand er an der Seite der mutmaßlichen Opfer, im Fall der Vorwürfe gegen die Band Rammstein vertritt seine Kanzlei Sänger Till Lindemann.

Auf die Frage, ob Ermittlungsbehörden in Fällen wie dem von Familie Meyer Bildmaterial an Medien weitergeben dürfen, antwortet er: „Nein. Denn da sind Rechte Dritter betroffen.“

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Ein einfaches Beispiel für eine Rechtsverletzung ist das Foto des Mordopfers vom Sommertag. Das Bild hat Petra Meyer gemacht, das Urheberrecht liegt bei ihr. Ohne dass sie ihr Einverständnis gegeben hat, darf grundsätzlich keine Ermittlungsbehörde die Veröffentlichung des Fotos für eine True-Crime-Dokumentation genehmigen und kein Fernsehsender das Foto zeigen. Petra Meyer stellte das Foto der Polizei für die Fahndung nach ihrer verschwundenen Schwester zur Verfügung. Für eine andere Verwendung gab sie ihr Einverständnis nicht.

Laut Schertz betreiben Ermittlungsbehörden nach Abschluss des Verfahrens mitunter eine Pressearbeit, die „problematisch“ ist. Um private Fotos wie im Fall von Petra Meyer weiterzugeben, bräuchte es eine Ermächtigungsgrundlage. Für Schertz gibt es nur eine einzige: Fahndungszwecke, etwa die Suche nach einer vermissten Angehörigen. „Ist der Fall abgeschlossen, sehe ich keine Ermächtigungsgrundlage, aber auch sonst keine Berechtigung, Bildmaterial, an dem Rechte Dritter bestehen, an Medien abzugeben oder dies­bezüglich Rechte einzuräumen“, sagt er. Der Fall der toten Schwester ist seit fast 20 Jahren abgeschlossen.

Nach dem Urteilsspruch verschwindet der Fall wieder aus der Öffentlichkeit. Nicht aber aus der Familie des Opfers.

True-Crime-Beiträge können weitere Rechte verletzten, das Recht am eigenen Bild zum Beispiel und das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das Recht am eigenen Bild erlischt zehn Jahre nach dem Tod, das allgemeine Persönlichkeitsrecht bereits mit dem Tod. Darüber ­hinaus sind aber Verstöße gegen den sogenannten ­postmortalen Achtungsanspruch möglich, der sich aus der in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierten Menschen­würde ableitet.

Aber wie ist es, wenn Medien die Fotos von Opfern ­verpixeln und technisch verfremden, so wie es das ZDF im Fall von Petra Meyers Schwester getan hat? Der ­Sprecher der verantwortlichen Redaktion sagt: „Im ­Beitrag selbst wurde penibel darauf geachtet, dass keine identifizierende Berichterstattung stattfindet.“

„Verpixeln ist zumeist ein Alibi“, sagt hingegen Medien­anwalt Schertz. „Solange eine Erkennbarkeit gegeben ist, und sei es auch nur für Angehörige, ist es trotzdem eine Verletzung des Rechts am eigenen Bild. Und allein durch die Benennung des Falls ist eine Erkennbarkeit auch bei gepixelten Bildern gegeben.“

Der Film über Petra Meyers Schwester nennt den Namen der Stadt, den Vornamen von Opfer und Täter und den abgekürzten Nachnamen. Er zeigt das Wohnhaus der Familie und die Straße, an der es steht. In einer Stadt, in der man sich kennt und sieht und übereinander redet, wissen alle, um wen es geht.

Kapitel V: Verletzungen

Petra Meyer ist eine ruhige, höfliche Frau. Wenn sie über den ZDF-Beitrag spricht, rutscht ihr aber doch ein

Kraftausdruck ­heraus, sie schimpft: „Ich fühle mich verarscht!“ Ihrer Mutter gehe es schlecht, die Bilder suchten sie wieder heim. Mit den Bildern seien auch die fast 20 Jahre alten Fragen wieder da: Warum habe ich das alles nicht ­kommen sehen? Warum habe ich nicht eingegriffen? Warum konnte ich meine Tochter nicht retten?

Neulich hat Petra Meyer einen True-Crime-Beitrag im Fernsehen gesehen, es war ein vergleichbarer Fall, es ging um einen Mord. Sie nahm Kontakt zur betroffenen Familie auf. Die Angehörigen waren genauso empört und verletzt wie sie. Niemand hatte mit ihnen über den geplanten Film gesprochen.

„Wenn ich früher so einen Film gesehen habe, dann habe ich oft gedacht: Warum haben die Angehörigen das zugelassen? Jetzt weiß ich: Die haben gar nichts zugelassen, sie wussten nichts davon. Sie werden einfach nicht gefragt.“

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