Die Angehörigen
(Ostfriesland)
Sie will am Samstag nur schnell zum Friseur, da sieht sie das Plakat im Schaufenster des örtlichen Zeitungshauses: Werbung für den True-Crime-Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“. Auf dem Plakat stehen ein QR-Code und drei kurze Sätze zum Mord an ihrer Schwester, „so eklig, dass ich sie nicht wiederholen will“, sagt Sophia* (27) später.
Im Internet findet sie einen Zeitungsartikel zum Podcast. Das Foto zum Artikel zeigt den Sarg ihrer Schwester. Sophia sieht ihn zum ersten Mal: 2008, als der Mord geschah, durfte sie nicht mit zur Beerdigung, sie war erst zehn Jahre alt. Sie bekommt eine Panikattacke, ihr Herz rast, sie schwitzt. Sie steigt ins Auto und fährt zur nächsten Polizeistation, „machen Sie doch etwas!“, schreit sie den Polizisten an, sie weint. Am Montag kann Sophia nicht zur Arbeit gehen, ihre Psychotherapeutin muss sie auffangen.
Sarah* (39), ihre Schwester, hat den Podcast bereits ein paar Tage vor Sophia entdeckt. Freunde haben ihr die Facebook-Werbung weitergeleitet, „mach das nicht an“, warnten sie. Natürlich macht sie es trotzdem an, es ist doch ihr Fall: der brutale Mord an ihrer Schwester, der Kummer der Familie, die Mutter, die an dem Tag ein Stück mitgestorben sei. Sie hört nur kurz zu, sofort sieht sie sich 16 Jahre zurückversetzt.
„Es fühlte sich an wie an dem Tag, als das alles passiert ist“, sagt sie später: die Angst, die Panik, der Schmerz. Und der Druck: Sie muss ihre Familie schützen. Die Schwester, die Mutter, der Vater – sie dürfen nicht von dem Podcast erfahren! Sarah erleidet einen Nervenzusammenbruch.
Leer ist eine kleine Stadt, Sarah kann ihre Familie nicht schützen. Sophia fährt zum Friseur, Nachbarn erzählen den Eltern von dem Podcast.
Die Angehörige
(Oberbayern)
Ein neuer Start an einer neuen Schule, eine neue Chance, niemand hier kennt ihre Geschichte. Barbara (38) hat ihren Mädchennamen abgelegt, sie hat eine Auskunftssperre für ihre Adresse beantragt. Auch sonst geht es ihr gut: Zum ersten Mal seit dem Mord an ihrer Zwillingsschwester hat sie der bevorstehende Jahrestag nicht aus der Bahn geworfen. Ausgerechnet jetzt erfährt Barbara von dieser True-Crime-Show: eine große Tournee, Zehntausende Zuschauer, im Mittelpunkt der Fall ihrer Schwester. Seit Tagen kann sie nachts nicht schlafen, jetzt sitzt sie mit Herzrasen und Flashbacks im Lehrerzimmer in der Konferenz.
In ihrer früheren Schule hatte die Polizei ihr die Todesnachricht überbracht. In der neuen Schule versucht sie, ihr Zittern zu verbergen. Nicht in Tränen auszubrechen. Nicht rauslaufen zu müssen. Es geht nicht. Barbara muss ihren neuen Kollegen erklären, wer sie ist und was damals geschah. „Ich hatte gedacht, ich könnte hier endlich neu anfangen“, sagt sie.
Am Nachmittag geht sie zur Gitarrenstunde, um sich abzulenken. Sie kann die Gitarre nicht festhalten, so sehr zittert sie.
Die Live-Show
(Hannover)
„Viel Spaß!“ wünscht der Mann an der Kartenkontrolle, „viel Spaß!“ wünscht die Frau am Getränketresen. Rund tausend Menschen drängen sich gut gelaunt ins „Theater am Aegi“ in Hannover, sie prosten sich zu mit Sekt und Bier.
„Tödliche Liebe“ heißt die Live-Show zum True-Crime-Podcast des Radiosenders Bayern 3, die Veranstalter versprechen ein „einzigartiges und fesselndes Erlebnis“, „mit Tatortfotos, Akteneinsicht und der Möglichkeit, live Fragen zu stellen“. Eintrittskarten kosten zwischen 39,90 und 49,90 Euro, VIP-Pakete gibt es ab 99,90 Euro. Gut 100 Termine sind geplant in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kommentare im Internet sind positiv: „Super lustiger Abend für Fans und solche, die es noch werden wollen!“, lobt ein Fan aus Wien.
Auf der Bühne stehen zwei breite Sessel und ein Spaten, aus den Lautsprechern sickert dräuende Musik, und schon brandet Jubel auf: Jacqueline Belle (35) und Dr. Alexander Stevens (43) treten ins Scheinwerferlicht, Gastgeber des Bayern-3-Podcasts und Stars des Abends. Die nächsten eineinhalb Stunden wird es um einen Mord in Bayern gehen, um den Mord an Barbaras Zwillingsschwester. Belle und Stevens haben die Namen von Opfer und Täter geändert, „zum Schutz der Angehörigen“, sagt Belle, der Rest der Handlung folgt eng dem Original. True Crime bedeutet ja „wahre Verbrechen“.
KI-Bilder zeigen ein junges Paar, Laura und Stefan heißen die beiden hier, sie wollen bald heiraten. Dann verschwindet Laura spurlos. Der KI-Film stoppt, Cliffhanger.
„Habt ihr eine Idee, was mit Laura passiert ist?“, fragt Jacqueline Belle.
„Tot!“, ruft ein Witzbold in den Saal. Großes Gelächter.
Die wahre Laura verschwand 2012, 2013 wurde ihr Leichnam gefunden. Der wahre Stefan geriet in Verdacht, Ermittlungen wurden aufgenommen, eingestellt, wieder aufgenommen, wieder eingestellt. Die Familie der wahren Laura kämpfte dafür, dass der Fall weiterverfolgt wird. 2020 wurde dem wahren Stefan der Prozess gemacht. Das Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest.
„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“
In der True-Crime-Show bleibt der Fall offen. Jacqueline Belle spielt die Rolle der Anklägerin, Alexander Stevens die des Strafverteidigers. Immer wieder bringt er Entlastendes für Stefan vor. Zum Beispiel zum Spaten, der am Fundort lag und für den sich ein Kaufbeleg bei Stefan fand: „Ich verrate dir einen uralten Strafverteidiger-Trick: nichts glauben, was dir die Polizei erzählt!“ Gelächter.
Das Show-Publikum darf mitraten und mit dem Smartphone Richter spielen.
„Hat Stefan mit dem Verschwinden von Laura zu tun?“„Ja“, sagen 58 Prozent, „Nein“ 42 Prozent.
Es wird Zeit für den Höhepunkt der Show. Belle und Stevens haben mit dem wahren Stefan im Gefängnis ein Interview geführt. Kein Laut ist zu hören im Saal, als der Mörder seine vom Gericht widerlegte Lüge wiederholt, es sei doch nur ein Unfall gewesen.
„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“
Knapp ein Viertel der Zuschauer hält Stefan, in Wahrheit ein rechtskräftig verurteilter Mörder, für unschuldig.
Die Angehörige
(Oberbayern)
„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt Barbara, die Zwillingsschwester der wahren Laura. Das Video mit dem Mörder, die Verteidigerrolle von Stevens, die Abstimmung im Saal, „das stellt alles infrage, was meine Familie erreicht hat“.
Wenige Wochen vor dem Start der Show habe Jacqueline Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt Barbara. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Sie besucht die Show nicht selbst, sie will sich schützen, aber sie lässt sich den Inhalt von Bekannten schildern. „Jetzt weiß ich, dass sie auf unseren Fall gar nicht verzichten konnten: Dann hätten sie ja keine Show mehr gehabt.“