Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Erstellt am: Freitag, 5. September 2025 von Selina

Ein fotografisches Denkmal für Opfer rechter Gewalt

Seit vier Jahren reist der Fotograf Julius Schien durch Deutschland, um Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren. Mit seinem Projekt „Rechtes Land“ möchte er den Opfern ein Denkmal setzen.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.

8. Mai 1996, Ammelshain. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Bernd ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.

Vier Jahre arbeitet der Fotograf Julius Schien schon an seinem Projekt „Rechtes Land“. Dafür fährt er durch ganz Deutschland mit dem Ziel, alle Tatorte zu fotografieren, an denen Menschen seit der Wiedervereinigung aufgrund rechter Gewalt getötet wurden. „Ein Denkmal“ möchte er allen Opfern setzen, sagt er, und an die Gefahr erinnern, die von rechts ausgehe. In den vier Jahren hat sich in Deutschland vieles politisch verändert, doch Aufhören kommt für ihn nicht infrage.

Wieso machen Sie Fotos von Tatorten rechter Gewalt?

Nach den rechten Attentaten auf Walter Lübcke, in Halle 2019 und in Hanau 2020 machte sich ein Störgefühl bei mir breit. In Politik und Medien war meist von „Einzeltätern“ die Rede, von rechtem Terror jedoch kaum. Gleichzeitig fiel mir auf, wie schnell bei Taten aus einem anderen politischen Spektrum von „linkem Terror“ gesprochen wird. Daraus entstand die Frage: Hat Deutschland wirklich ein größeres Problem mit linker als mit rechter Gewalt?

Meine Recherchen führten mich zur Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und der vom „Tagesspiegel“ und zu den offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Das Ergebnis: Seit der Wiedervereinigung forderte rechte Gewalt deutlich mehr Todesopfer als linke.

Besonders betroffen machte mich, dass zwei dieser Tatorte Orte waren, die ich persönlich kannte – einer lag an meinem täglichen Schulweg in einer Provinz in Niederbayern, ein anderer befindet sich in meiner heutigen Heimat Hannover. Ohne es zu wissen, habe ich an dem Ort in Hannover Zeit verbracht und Bier mit Freunden getrunken, wo ein Mensch durch rechte Gewalt ermordet wurde. Das brachte mich zu dem Entschluss, alle Tatorte zu fotografieren – als Mahnmal für uns und Denkmal für die Betroffenen. Es gibt laut der Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer, dazu kommen 17 Verdachtsfälle.

Fotostrecke "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
Rechte Gewalt: "Rechtes Land" von Julius Schien.
18. Januar 1993, Arnstadt. Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.
14. Oktober 1994, Paderborn. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus.
9. Juni 2005, Nürnberg. İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der »NSU« 2011 schließlich selbst enttarnt.
31. Oktober 2012, Hannover. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt.
17. April 2018, Wiebelskirchen. Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.

Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass rechte Gewalt nicht alleinig das Problem sei, sondern auch linke oder religiöse. Was denken Sie darüber?

Ich finde, wir müssen die Gesellschaft als Ganzes betrachten, und da darf politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeter Extremismus nicht ausgeklammert werden. Wenn man aber die Zahlen und die vom Verfassungsschutz erhobenen Statistiken betrachtet, dann wird relativ schnell klar, wo das Hauptproblem liegt. Ich persönlich habe ein Problem damit, wie die Politik und Medien über Themen wie politisch linksmotivierte Kriminalität oder religiös begründeten Extremismus im Gegensatz zu politisch rechtsmotivierter Kriminalität berichten.

Schwarz-weiß Foto von dem Fotografen Julius Schien. Er thematisiert rechte Gewalt in seiner Arbeit.

Der Fotograf Julius Schien arbeitet an eigenen Projekten und als Fotojournalist für verschiedene Medien. Foto: Privat

Seit Sie angefangen haben, an Ihrem Projekt „Rechtes Land“ zu arbeiten, sind vier Jahre vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert. Die AfD hat eine wachsende Wählerschaft, der Verfassungsschutz sieht die Partei als gesichert rechtsextrem an, und auch die politisch rechtsmotivierten Delikte sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Wie geht es Ihnen mit alldem?

Ich beobachte es mit Sorge. Ich finde es krass, wie sich der Diskurs verschoben hat. Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben. Es werden rechte Aussagen getätigt, die fast schon normal erscheinen. Das muss ernst genommen werden, aber wir dürfen uns dadurch nicht unterkriegen lassen. Ich würde mir mehr Haltung wünschen, dass rechte Aussagen nicht in den Medien reproduziert werden, dass nicht jede rechte Parole abgedruckt wird. Ich mache daher auch das Projekt weiter und hoffe, in zwei Jahren alle Tatorte einmal fotografiert zu haben.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Die vergessenen Opfer

Seit dem Anschlag in Magdeburg werden migrantische Menschen oft Opfer von Rassismus, aufgrund der Herkunft des Täters.

Welche Geschichte steht hinter Ihrem nächsten geplanten Tatort?

Ich bin gerade in Brandenburg und habe einen Ort in Neuruppin fotografiert. Am 1. Juli 1992 haben sich drei rechtsextreme Skinheads zum „Penner klatschen“ verabredet. Im Rosengarten trafen die Täter auf Emil Wendland, der dort auf einer Parkbank schlief. Wendland wurde von den Rechtsextremen getreten, geschlagen und letzten Endes erstochen. Und so stehe ich jetzt in Brandenburg und werde gleich auf meine Karte schauen, wo ich als Nächstes hinfahre.

Fall Emil Wendland

Emil Wendland wurde am 1. Juli 1992 in Neuruppin erstochen. Drei Skinheads verabredeten sich zum „Penner klatschen“ und stießen im Neuruppiner Rosengarten auf den 50-Jährigen, der dort alkoholisiert auf einer Parkbank schlief. Dort malträtieren sie ihr Opfer mit Schlägen und Tritten. Als sich die Täter von Wendland entfernen, kehrt einer von ihnen zu dem schwer verletzten Opfer zurück und sticht sieben Mal mit einem Messer in den Oberkörper des wehrlosen Mannes. Das Gericht stellt fest, der Haupttäter habe sein Opfer für „einen Menschen zweiter Klasse gehalten“. Ein Mittäter wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Auch hier wird der „sozialdarwinistische Hintergrund“ der Tat vom Gericht erwähnt: „…faßte man spätestens zu diesem Zeitpunkt den Entschluß, in der Nacht ‚Assis aufzuklatschen‘; gemeint war damit das Zusammenschlagen von Obdachlosen oder anderen Personen“, die man als missliebig oder verachtenswert betrachtet habe.

Karla

Erstellt am: Donnerstag, 31. Juli 2025 von Sabine
Karla ist ein Film über Kindesmissbrauch: Auf dem Bild blickt sie an der Kamera vorbei. Sie ist erst elf Jahre alt, hat kurzes Haar.

Gucken

Karla

Ab 2. Oktober 2025 im Kino

Karla schlägt die Stimmgabel auf den braunen kleinen Holztisch. Ein klarer und reiner Ton flutet das Büro des Richters. Er versteht das Zeichen, das sie ganz am Anfang vereinbart haben. Ein Schlag, ein Ton, bedeutet einen weiteren sexuellen Missbrauch durch ihren Vater.

Es ist 1962, eigentlich war die Familie auf dem Weg in den Sommerurlaub mit dem Auto. Während einer kurzen Toiletten-Pause in einem Feld rennt die Tochter Karla los – zum nächsten Polizeirevier. Sie verlangt, den Richter zu sprechen. Noch in der Nacht kommt er zum Revier. Sie ist erst zwölf Jahre alt und will ihren Vater anzeigen. Sie sagt, es geht um Paragraf 176 des Strafgesetzbuchs: sexueller Missbrauch von Kindern. „Es gibt den Artikel ‚Recht auf Leben‘ – Artikel zwei im Grundgesetz, gleich nach dem mit der ‚Würde des Menschen‘. Gilt das alles auch für Kinder?“, fragt Karla den Richter.

Karla kommt in ein Mädchenheim eines Klosters. Täglich trifft sie den Richter in seinem Büro, erzählt ihm von Situationen mit ihrem Vater, aber nicht über die einzelnen Taten; stattdessen schlägt sie die Stimmgabel auf den Tisch.

Karla ist ein sanfter und zugleich lauter Film nach einer wahren Begebenheit. Die Regisseurin Christina Tournatzés schafft es, allein durch Anspielungen und Symbolik, den Kindesmissbrauch darzustellen, ohne das Leid in Szene zu setzen. Zum Beispiel zeigt sie nur die Unterseite des Bettes, wenn es um Missbrauch geht, mehr bekommt das Publikum nicht zu sehen. Die Würde und die Stärke des Opfers stehen im Vordergrund. Gespielt wird die Protagonistin von Elise Krieps. Es ist die erste Filmrolle der noch jungen Schauspielerin.

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung ist groß, nachdem bekannt geworden ist, dass der Fonds Sexueller Missbrauch auslaufen soll. Ein Papier aus den Koalitionsverhandlungen, das dem WEISSER RING Magazin vorliegt, lässt jetzt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds bleibt, ist ungewiss.

Der Film thematisiert die Qual von Opfern, über das Erlebte sprechen zu müssen. Ob bei der Polizei für die Anzeige oder später vor Gericht: Betroffene werden immer aufgefordert, die Tat zu schildern, teilweise mit intimen Details. Und das möchte Karla nicht. Für den Richter eine große Herausforderung – wie verurteilt man jemanden, wenn das Opfer keine Angaben zur Tat machen möchte? Mit viel Feingefühl und Geschick schafft er es schließlich, an ausreichend Informationen zu gelangen, um ein Verfahren eröffnen zu können. Die Mutter als Zeugin, der Vater als Täter – und erst hier bekommt er ein Gesicht. Um Karla herum Männer, die darüber streiten, ob ein 12-jähriges Mädchen eventuell die Verführerin gespielt hat. Später stellt sich heraus: Es war nicht ihr erster Versuch, den Vater anzuzeigen.

Neben berührenden Dialogen bekommt der Zuschauer auch die Welt gezeigt, in die Karla flieht, wenn sie für kurze Zeit nicht das Mädchen sein möchte, dem all das Grausame angetan wurde. In ihrer Fantasiewelt rennt sie über Wiesen voller Mohnblumen. Ein bewusstes Stilmittel von Christina Tournatzés, da die Blume Frieden symbolisiert. Denn genau den möchte Karla endlich in ihrem Leben: Frieden.

Auch wenn der Film im Jahr 1962 spielt, ist er noch heute aktuell. Erst kürzlich erschien die nationale Dunkelfeldstudie, die bundesweit die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht sowie auch die Kontexte der Taten und deren Folgen beleuchtet. Das Ergebnis: Sexualisierte Gewalt im Kindes- und Jugendalter bleibt oft unentdeckt, weil Betroffene schweigen. Mehr als ein Drittel hat bisher nie über das Erlebte gesprochen.

BR trennt sich von Alexander Stevens

Erstellt am: Freitag, 11. Juli 2025 von Selina
True Crime Kritik: Alexander Stevens

Foto: ARD Audiothek

Datum: 11.07.2025

BR trennt sich von Alexander Stevens

Nach Kritik an der Liveshow „Tödliche Liebe“ trennt sich der Bayerische Rundfunk vom Strafverteidiger Alexander Stevens. Der True-Crime-Podcast „Schuld und Unschuld“ soll ab Ende Juli inhaltlich und personell weiterentwickelt werden.

Nach mehrfacher Kritik: Der Bayerische Rundfunk (BR) trennt sich vom Strafverteidiger Alexander Stevens. Seit 2020 moderiert Stevens gemeinsam mit der Journalistin Jacqueline Belle den Podcast „Bayern3 True Crime – Schuld und Unschuld“. Nach Angaben der „Mittelbayerischer Zeitung“ kündigte eine BR-Sprecherin an, dass das Format ab Ende Juli „sowohl inhaltlich als auch personell weiterentwickelt wird“.

Zuletzt gab es heftige Kritik an der dazugehörigen Liveshow mit dem Titel „Tödliche Liebe“. Auch das WEISSE RING Magazin berichtete, nachdem sich eine Angehörige des in der Liveshow thematisierten Mordfalles an den WEISSEN RING gewandt hatte. Die Schwester des Opfers hatte schon Wochen vor dem Tourstart versucht, die Darstellung ihres Falls zu verhindern, doch ein Telefonat mit Jaqueline Belle blieb erfolglos. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet“, sagt die Angehörige gegenüber dem WEISSEN RING Magazin. Trotz Bitte der Schwester, den Fall nicht ins Programm aufzunehmen, wurde er Teil der Show. Der Fall wurde anonymisiert.

In ihrer Show bereiten Belle und Stevens den Fall unterhaltsam für ein Event-Publikum auf. Dabei werden laut WEISSER RING Magazin Elemente eingesetzt, die das rechtskräftige Urteil infrage stellen – etwa eine Abstimmung per Smartphone über die Schuld des Täters oder ein aufgezeichnetes Interview, in dem dieser seine eigene Version schildert. Solche Elemente schüren unnötig Zweifel am Rechtssystem und sind eine Zumutung für Angehörige. Ein weiterer Punkt: Alexander Stevens ist der Strafverteidiger des verurteilten Täters gewesen. Die Kritik rief auch die Politik auf den Plan – der Bayerische Landtag fordert einen „verbesserten Opferschutz“.

Die beiden Hosts Belle und Stevens reagierten nach der Kritik durch das WEISSE RING Magazin und dem Medienmagazin „Übermedien“: Künftig soll der Fall nicht mehr verwendet werden. Im April 2025 wurde diese Änderung allerdings noch nicht umgesetzt, wie „Übermedien“ berichtete. Auch der BR reagierte und versuchte der Live-Show die Lizenz für die Nutzung des Bayern3-Logos zu entziehen, bisher ohne Erfolg.

Der Strafverteidiger Alexander Stevens sieht darin eine „vertragliche Verletzung“ seitens BR und möchte nun eine Klage vorbereiten, wie die „Mittelbayerischer Zeitung“ berichtet.

True Crime und Social Media

Erstellt am: Montag, 30. Juni 2025 von Sabine

True Crime und Social Media

Unsere Berichterstattung über True Crime in Lokalzeitungen und Live-Shows hat in den Social-Media-Kanälen des WEISSEN RINGS ein breites Echo ausgelöst. Hier veröffentlichen wir eine Auswahl der Kommentare.

True Crime und WEISSER RING
„Ich habe noch nie das Format ,True Crime‘ als Unterhaltung begriffen. Vielleicht weil ich selbst mal Opfer war. Ich finde es unglaublich wichtig, dass Ihr darauf aufmerksam macht. Vielen Dank dafür
„True Crime ist Voyeurismus.“
„Ich höre selber True Crime und finde es total wichtig, endlich auch die andere Seite publik zu machen. Neben guter Qualität und respektvollem Umgang mit der schrecklichen Tat und den Opfern
gibt es leider auch viele minderwertige Formate, die so auch genannt werden sollten. Einwände der Angehörigen sollten immer oberste Priorität haben. Wer das nicht respektiert, hat das falsche  Betätigungsfeld. Es gibt so etwas wie Ethik und Berufsehre aus gutem Grund. Es geht in der Berichterstattung um echte Menschen.“
„So wichtig, dass das auch beleuchtet wird. Für die Betroffene tut es mir sehr leid und sehe es sehr kritisch, womit da Profit gemacht und Sensationslust gestillt wird.“
„Es ist schlichtweg respektlos, wahre Verbrechen derart kommerziell auszuschlachten. Was soll denn das werden? Abstimmen, was ein spektakuläres Ende wäre? Was wollen die Zuschauer da? I don‘t get it. Lies ein Buch, hör einen Podcast. Dies auch noch alles zu tun nach Bitten von Familie, dies zu unterlassen, ist dann widerlich.“
„Das ist echt unmöglich! 😡😮😳“
„Danke, Danke, Danke für diesen wichtigen Beitrag zu dem Thema True Crime und die Möglichkeit, die Sicht der Angehörigen zu zeigen. Das ist so wichtig.“
Eine Skizze von einem Handy mit zwei Armen und Händen. Der eine Daumen zeigt nach unten und der andere Daumen zeigt nach oben.

Illustration: Studio Pong

„Es ist unbegreiflich, was da aus schlecht getarnter Sensationslust getrieben wird, um Geld zu verdienen…🤮“
„Danke für diese Berichterstattung im Sinne der Angehörigen! Leider wird darauf nie Rücksicht genommen!“
„Es mutet schon sehr geschmacklos an, im Podcast über die Angehörigen und deren Belastung zu philosophieren, gleichzeitig aber genau die nicht involviert zu haben. Wie wäre es denn, die generierten Einnahmen durch diesen geschmacklosen Podcast zur Finanzierung der Therapien für die belasteten Angehörigen zu nutzen? Oder ist das dann doch zu viel verlangt? […]“
„Die Anzahl der Geschmacklosigkeiten und Würdelosigkeit in der Wortwahl nimmt deutlich zu in den Podcast-Formaten. […]“
„Das ist so ekelhaft pervers, es muss sofort verboten werden!!!!“
„Wenn’s um das Geldverdienen geht, schwimmen Moral und Gefühl für Betroffene mit der Quote schnell dahin. Da trotzdem die Quoten stimmen, wird nur ein Verbot die Opfer schützen…“
„Das ist wirklich an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Entertainment und Geldmacherei auf dem Rücken der Hinterbliebenen. Ich habe auch viel True-Crime-Podcasts gehört, aber mittlerweile interessiert es mich nicht mehr so sehr, ich halte mich lieber an Fiktion. Den Hinterbliebenen und Überlebenden sollte aber schon ein Mindestmaß an Respekt entgegen gebracht werden, und wenn die nicht wollen, dass ein Fall so breitgetreten wird, dann ist das zu respektieren. […]“
„Also wenn wir über Opferschutz und Hinterbliebenen-/ Angehörigenschutz sprechen, dann frag ich mich, wieso es anscheinend völlig in Ordnung ist, dass ein Format wie die ,BILD‘ solche Fälle  ausschlachtet. Mit reißerischen Überschriften, Angehörige und Hinterbliebenen geben diesem Schmutzblatt sogar noch Interviews. […]“

Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Erstellt am: Freitag, 23. Mai 2025 von Christiane
Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“.

Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“. Foto: Matthias Balk/dpa

Datum: 23.05.2025

Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Für die Live-Show „Tödliche Liebe“ des Podcast-Duos Jacqueline Belle und Alexander Stevens gab es deutliche Kritik. Jetzt reagiert der Bayerische Rundfunk.

Nach der öffentlichen Kritik an der Live-Show des „Bayern 3 True Crime“-Podcasts hat der Bayerische Rundfunk (BR) nun entschieden, sein Logo dafür nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Der Lizenzvertrag soll „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ auslaufen, das geht aus der Berichterstattung des Onlinemagazins „Übermedien“ hervor.

BR-Moderatorin Jacqueline Belle und Strafverteidiger Alexander Stevens haben für ihre Live-Show „Tödliche Liebe“ einen Mordfall derart ausgeschlachtet, dass sich die Schwester des Opfers öffentlich zu Wort meldete, sowohl der WEISSE RING als auch „Übermedien“ berichteten.

„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt sie dem WEISSER RING Magazin. Wenige Wochen vor dem Tour-Start habe Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt die Schwester. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Das Duo hat den aus zahlreichen Schlagzeilen bekannten Fall in der Show zwar anonymisiert, aber nicht darauf verzichtet.

Die Schwester schaltete eine Anwältin ein, die ein Schreiben an den Bayerischen Rundfunk schickte, in dem sie forderte, dass keine Bilder aus der Originalakte in der Show gezeigt werden. Die Antwort des Senders: Der BR könne als Lizenzgeber der Show nicht in das Bühnenprogramm eingreifen, sehe aber auch keinen Anlass dafür. Opferrechte würden nicht verletzt, das Leid der Angehörigen nicht relativiert. Immerhin sagten Belle und Stevens daraufhin zu, keine Originalbilder aus der Akte mehr zu nutzen.

Das Duo nutzte in seiner Show den Kriminalfall, um einem Event-Publikum einen unterhaltsamen Abend zu bieten. In der Show wurden laut Bericht des WEISSER RING Magazins Elemente verwendet, die das rechtskräftige Urteil in Frage stellen: beispielsweise das Abstimmen über die Schuld des Täters per Smartphone oder das aufgezeichnete Täter-Interview, in dem dieser seine Version darstellt. Solche Elemente schüren unnötig Zweifel am Rechtssystem und sind eine Zumutung für Angehörige. Die Berichterstattung über die Show hat auch die Politik auf den Plan gerufen, der Bayerische Landtag fordert einen „verbesserten Opferschutz“.

Laut „Übermedien“ wollen Stevens und Belle auf den Fall künftig im Programm verzichten, bis April 2025 wurde diese Änderung noch nicht umgesetzt. Die Begründung war allerdings nicht die Einsicht, den Opferschutz missachtet zu haben. Der Anwalt des Moderatoren-Duos teilte „Übermedien“ mit: Der Fall wird ersetzt, weil die Medienpräsenz der Schwester die Frage aufgeworfen habe, „ob die bislang umgesetzte Anonymisierung unter diesen Umständen weiterhin aufrechterhalten werden kann“.

True Crime: CSU fordert „verbesserten Opferschutz“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Karsten
Der Bayerische Landtag in München ist abgebildet. Davor stehen drei große Flaggen: Europa, Deutschland und Bayern. Der Landtag beschäftigt sich jetzt mir dem True-Crime-Boom.

Der True-Crime-Boom und seine Folgen für Verbrechensopfer sind jetzt auch Thema im Bayerischen Landtag in München. Foto: Matthias Balk/dpa

Datum: 27.03.2025

True Crime: CSU fordert „verbesserten Opferschutz“

Wenn Medien wahre Verbrechen zu Unterhaltungszwecken aufbereiten, begeistert das ein Publikum – aber es belastet oft die Opfer schwer. In Bayern schaltet sich nun die Politik ins Thema True Crime ein.

München/Mainz – True Crime boomt, Geschichten über „wahre Verbrechen“ begeistern ein stetig wachsendes Publikum. Zu wahren Verbrechen gehören aber auch wahre Verbrechensopfer, und für die bedeutet der True-Crime-Boom: Sie müssen immer häufiger hilflos mit anschauen, wie ihre oftmals traumatisierenden Erlebnisse zu Unterhaltungszwecken für Film, Podcast, Zeitung oder Live-Show aufbereitet werden.

Die CSU stellt sich nun demonstrativ an die Seite der Betroffenen: In einem Antrag an den Bayerischen Landtag fordern 23 namentlich genannte Abgeordnete die Staatsregierung auf, sich im Bund für einen „verbesserten Opferschutz“ bei True-Crime-Formaten einzusetzen. Vor allem bei Show-Veranstaltungen solle künftig dem postmortalen Persönlichkeitsrecht und den Interessen von Angehörigen mehr Rechnung getragen werden. „Dies gilt insbesondere, wenn nahe Verwandte unter der Darstellung stark leiden“, heißt es in der Beschlussvorlage.

Anlass des Antrags ist die Live-Show zum „Bayern 3 True Crime“-Podcast des Bayerischen Rundfunks (BR), die zurzeit durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourt und bereits Zehntausende zahlende Zuschauer erreichte. Wie das WEISSER RING Magazin berichtete, haben die Moderatoren Jacqueline Belle und Dr. Alexander Stevens unter dem Titel „Tödliche Liebe“ rund um einen realen Mordfall aus dem Jahr 2012 ein auf Unterhaltung getrimmtes Abendprogramm präsentiert, in dem das Saalpublikum nicht nur viel zu lachen hat, sondern auch interaktiv per Smartphone über Schuld oder Unschuld des rechtskräftig verurteilten Mörders abstimmen darf. Die Familie des Mordopfers leide stark unter dem Geschehen, schreiben die Abgeordneten in ihrem Antrag. Die derzeitige rechtliche Regelung des Opferschutzes greife zu kurz in solchen Fällen.

Tatsächlich erlischt das Persönlichkeitsrecht mit dem Tod des Opfers. Lediglich das Recht am eigenen Bild bleibt noch für eine Frist von zehn Jahren bestehen, bevor es ebenfalls verfällt – anders als die Rechte des lebendigen Täters. „Da der Opferschutz nicht hinter dem Täterschutz zurückbleiben darf, ist eine Änderung der Rechtsgrundlagen angezeigt“, begründen die Abgeordneten ihren Antrag. Ihr Vorschlag: „Eine Möglichkeit könnte sein, die Beweislast für einen sorgfältigen Umgang mit Persönlichkeitsrechten den Medien und nicht den Betroffenen aufzuerlegen.“

Initiator des Antrags ist der Straubinger Landtagsabgeordnete Josef Zellmeier (60). Er kennt die im Jahr 2012 von dem Mord betroffene Familie seit vielen Jahren persönlich und sagte auf Nachfrage des WEISSEN RINGS: „Ich habe die schlimme Belastung sehr nah erlebt. Dass der Fall so jetzt wieder aufgegriffen wird, finde ich fürchterlich.“ Es sei ihm wichtig, dass die betroffene Familie, aber auch der Bayerische Rundfunk sehe, dass die Politik hier im Sinne der Opfer tätig werde.

Der Antrag habe die zuständigen Ausschüsse bereits passiert und gehe nun zeitnah ins Plenum zur Abstimmung, was laut Zellmeier eher eine Formsache sein sollte. Mit der Zustimmung würde sich zwar die Rechtslage für die Betroffenen noch nicht ändern, aber die Bayerische Staatsregierung erhielte den Arbeitsauftrag, das Thema in den Bund zu tragen. Sie könnte dort zum Beispiel eine Bundesratsinitiative starten oder Kontakt zum Bundesjustizministerium suchen.

Zuletzt hatte der bekannte Medienanwalt Prof. Dr. Christian Schertz den Gesetzgeber im Interview mit dem WEISSER RING Magazin aufgefordert, mit Blick auf den Boom von True-Crime-Formaten ein postmortales Persönlichkeitsrecht zu schaffen, „was derlei Ausschlachtungen von menschlichen Tragödien untersagt“. Schertz nannte es eine „geradezu perverse und schier unerträgliche Situation, dass die Mörder aufgrund ihrer Persönlichkeitsrechte und nach Haftverbüßung aufgrund des dann bestehenden Rechts auf Resozialisierung oftmals nicht mehr identifizierend dargestellt werden dürfen mit Namen und Bild – die Persönlichkeitsrechte der Opfer aber erlöschen, weil sie verstorben sind, weil sie ermordet wurden“.

Nach der öffentlichen Kritik an ihrer Show haben die Veranstalter von „Tödliche Liebe“ angekündigt, den aktuell behandelten Mordfall herausnehmen und durch einen anderen Kriminalfall zu ersetzen. Das bestätigte der Bayerische Rundfunk auf Anfrage des WEISSER RING Magazins. Auf die Frage, wann dies geschehen soll und ob bis zu diesem Zeitpunkt weiter der Fall von 2012 den Show-Mittelpunkt bilde, teilte eine BR-Sprecherin lediglich mit: „Der Veranstalter hat uns versichert, den Fall zum nächstmöglichen Termin auszutauschen.“ Die Sprecherin teilte zudem mit, dass künftig bei den im „Bayern 3 True Crime“-Podcast behandelten Fällen „die Interessen der Betroffenen insbesondere in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und Opferschutz geprüft werden“.

Nachtrag:
Der Landtag hat den Antrag in seiner Sitzung am 1. April 2025 beschlossen.

Der Kommentar

Erstellt am: Donnerstag, 13. März 2025 von Selina

Der Kommentar

„Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?“

Foto von Tanjev Schultz.

Die Inflation von True-Crime-Formaten ist ökonomisch begründet, nicht journalistisch. Beiträge über Mord und Totschlag wecken Aufmerksamkeit, versprechen Profit, erzielen Reichweite. Über Kriminalfälle zu berichten ist eine sinnvolle Aufgabe, solange dies in einem angemessenen Rahmen geschieht. Eine Gesellschaft, in der Kriminalität verschwiegen wird, wäre sehr verdächtig. Sie wäre alles andere als frei. Aber daraus folgt kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse. Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?

True-Crime-Beiträge sollten strengen Kriterien genügen: Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben. Das trifft zu, wenn der Fall ungelöste Fragen oder Widersprüche birgt, die mit Hilfe fortlaufender Recherchen und Veröffentlichungen womöglich geklärt werden können. Erst recht trifft es zu, wenn ernst zu nehmende Anzeichen auf einen Justizirrtum hindeuten. Ebenfalls von öffentlichem Interesse können die Langzeitfolgen eines Verbrechens sein, beispielsweise für das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen – sofern diese mit erneuten Veröffentlichungen einverstanden sind.

Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte und werden zum Lehrstoff, der für ein Verständnis historischer Zusammenhänge wichtig ist. Das gilt vor allem für politisch motivierte Anschläge, wie den linken Terror der RAF oder den rechten Terror des NSU. Über solche Fälle auch Jahre später noch zu berichten, kann einer Erinnerungskultur dienen, die versucht, den Betroffenen gerecht zu werden und die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen, beispielsweise für die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden.

Wie aber sieht es mit Morden aus Eifersucht oder Habgier aus? Es muss gewichtige Gründe geben, solche Fälle wieder aufzugreifen und damit sowohl die psychische Gesundheit der Betroffenen als auch die Resozialisierung der Täter zu gefährden. Es genügt nicht, dass ein Fall in Teilen des Publikums noch immer ein Thema ist. Nicht alles, worüber Menschen reden, verdient es, ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Sonst würden auch der Ehebruch einer Bürgermeisterin oder der Rausch eines Pfarrers, über den sich die Gemeinde ewig das Maul zerreißt, zu billigem Medienmaterial. Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.

Ungefragt ausgenutzt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Karsten

Ungefragt ausgenutzt

True Crime boomt. Journalisten erzählen „wahre Verbrechen“ nach, in Podcasts von Lokalzeitungen oder in großen Live-Shows. Fast immer geht es um Mord. Das Publikum ist begeistert, für die Hinterbliebenen aber ist es oft der blanke Horror, der sie buchstäblich zum zweiten Mal verletzt.

Eine Collage mit dem Anwalt Alexander Stevens und der Moderatorin Jacqueline Belle, die ein gemeinsamen True-Crime-Format haben. Zur Collage gehört noch ein Richterhammer, ein Mikrofon und große Menschenmengen in einem Stadion.

Die Show „Tödliche Liebe“ mit den Moderatoren Jacqueline Belle und Alexander Stevens verspricht dem Publikum „ein einzigartiges und fesselndes Erlebnis“ mit Tatortfotos und Akteneinsicht.

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Sie will am Samstag nur schnell zum Friseur, da sieht sie das Plakat im Schaufenster des örtlichen Zeitungshauses: Werbung für den True-Crime-Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“. Auf dem Plakat stehen ein QR-Code und drei kurze Sätze zum Mord an ihrer Schwester, „so eklig, dass ich sie nicht wiederholen will“, sagt Sophia* (27) später.

Im Internet findet sie einen Zeitungsartikel zum Podcast. Das Foto zum Artikel zeigt den Sarg ihrer Schwester. Sophia sieht ihn zum ersten Mal: 2008, als der Mord geschah, durfte sie nicht mit zur Beerdigung, sie war erst zehn Jahre alt. Sie bekommt eine Panikattacke, ihr Herz rast, sie schwitzt. Sie steigt ins Auto und fährt zur nächsten Polizeistation, „machen Sie doch etwas!“, schreit sie den Polizisten an, sie weint. Am Montag kann Sophia nicht zur Arbeit gehen, ihre Psychotherapeutin muss sie auffangen.

Sarah* (39), ihre Schwester, hat den Podcast bereits ein paar Tage vor Sophia entdeckt. Freunde haben ihr die Facebook-Werbung weitergeleitet, „mach das nicht an“, warnten sie. Natürlich macht sie es trotzdem an, es ist doch ihr Fall: der brutale Mord an ihrer Schwester, der Kummer der Familie, die Mutter, die an dem Tag ein Stück mitgestorben sei. Sie hört nur kurz zu, sofort sieht sie sich 16 Jahre zurückversetzt.

„Es fühlte sich an wie an dem Tag, als das alles passiert ist“, sagt sie später: die Angst, die Panik, der Schmerz. Und der Druck: Sie muss ihre Familie schützen. Die Schwester, die Mutter, der Vater – sie dürfen nicht von dem Podcast erfahren! Sarah erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Leer ist eine kleine Stadt, Sarah kann ihre Familie nicht schützen. Sophia fährt zum Friseur, Nachbarn erzählen den Eltern von dem Podcast.

Die Angehörige
(Oberbayern)

Ein neuer Start an einer neuen Schule, eine neue Chance, niemand hier kennt ihre Geschichte. Barbara (38) hat ihren Mädchennamen abgelegt, sie hat eine Auskunftssperre für ihre Adresse beantragt. Auch sonst geht es ihr gut: Zum ersten Mal seit dem Mord an ihrer Zwillingsschwester hat sie der bevorstehende Jahrestag nicht aus der Bahn geworfen. Ausgerechnet jetzt erfährt Barbara von dieser True-Crime-Show: eine große Tournee, Zehntausende Zuschauer, im Mittelpunkt der Fall ihrer Schwester. Seit Tagen kann sie nachts nicht schlafen, jetzt sitzt sie mit Herzrasen und Flashbacks im Lehrerzimmer in der Konferenz.

In ihrer früheren Schule hatte die Polizei ihr die Todesnachricht überbracht. In der neuen Schule versucht sie, ihr Zittern zu verbergen. Nicht in Tränen auszubrechen. Nicht rauslaufen zu müssen. Es geht nicht. Barbara muss ihren neuen Kollegen erklären, wer sie ist und was damals geschah. „Ich hatte gedacht, ich könnte hier endlich neu anfangen“, sagt sie.

Am Nachmittag geht sie zur Gitarrenstunde, um sich abzulenken. Sie kann die Gitarre nicht festhalten, so sehr zittert sie.

Ungefragt ausgenutzt

True Crime boomt. Journalisten erzählen „wahre Verbrechen“ nach, in Podcasts von Lokalzeitungen oder in großen Live-Shows. Fast immer geht es um Mord. Das Publikum ist begeistert, für die Hinterbliebenen aber ist es oft der blanke Horror, der sie buchstäblich zum zweiten Mal verletzt.

Die Live-Show
(Hannover)

„Viel Spaß!“ wünscht der Mann an der Kartenkontrolle, „viel Spaß!“ wünscht die Frau am Getränketresen. Rund tausend Menschen drängen sich gut gelaunt ins „Theater am Aegi“ in Hannover, sie prosten sich zu mit Sekt und Bier.

„Tödliche Liebe“ heißt die Live-Show zum True-Crime-Podcast des Radiosenders Bayern 3, die Veranstalter versprechen ein „einzigartiges und fesselndes Erlebnis“, „mit Tatortfotos, Akteneinsicht und der Möglichkeit, live Fragen zu stellen“. Eintrittskarten kosten zwischen 39,90 und 49,90 Euro, VIP-Pakete gibt es ab 99,90 Euro. Gut 100 Termine sind geplant in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kommentare im Internet sind positiv: „Super lustiger Abend für Fans und solche, die es noch werden wollen!“, lobt ein Fan aus Wien.

Auf der Bühne stehen zwei breite Sessel und ein Spaten, aus den Lautsprechern sickert dräuende Musik, und schon brandet Jubel auf: Jacqueline Belle (35) und Dr. Alexander Stevens (43) treten ins Scheinwerferlicht, Gastgeber des Bayern-3-Podcasts und Stars des Abends. Die nächsten eineinhalb Stunden wird es um einen Mord in Bayern gehen, um den Mord an Barbaras Zwillingsschwester. Belle und Stevens haben die Namen von Opfer und Täter geändert, „zum Schutz der Angehörigen“, sagt Belle, der Rest der Handlung folgt eng dem Original. True Crime bedeutet ja „wahre Verbrechen“.

KI-Bilder zeigen ein junges Paar, Laura und Stefan heißen die beiden hier, sie wollen bald heiraten. Dann verschwindet Laura spurlos. Der KI-Film stoppt, Cliffhanger.

„Habt ihr eine Idee, was mit Laura passiert ist?“, fragt Jacqueline Belle.

„Tot!“, ruft ein Witzbold in den Saal. Großes Gelächter.

Die wahre Laura verschwand 2012, 2013 wurde ihr Leichnam gefunden. Der wahre Stefan geriet in Verdacht, Ermittlungen wurden aufgenommen, eingestellt, wieder aufgenommen, wieder eingestellt. Die Familie der wahren Laura kämpfte dafür, dass der Fall weiterverfolgt wird. 2020 wurde dem wahren Stefan der Prozess gemacht. Das Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

In der True-Crime-Show bleibt der Fall offen. Jacqueline Belle spielt die Rolle der Anklägerin, Alexander Stevens die des Strafverteidigers. Immer wieder bringt er Entlastendes für Stefan vor. Zum Beispiel zum Spaten, der am Fundort lag und für den sich ein Kaufbeleg bei Stefan fand: „Ich verrate dir einen uralten Strafverteidiger-Trick: nichts glauben, was dir die Polizei erzählt!“ Gelächter.

Das Show-Publikum darf mitraten und mit dem Smartphone Richter spielen.

„Hat Stefan mit dem Verschwinden von Laura zu tun?“„Ja“, sagen 58 Prozent, „Nein“ 42 Prozent.

Es wird Zeit für den Höhepunkt der Show. Belle und Stevens haben mit dem wahren Stefan im Gefängnis ein Interview geführt. Kein Laut ist zu hören im Saal, als der Mörder seine vom Gericht widerlegte Lüge wiederholt, es sei doch nur ein Unfall gewesen.

„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“

Knapp ein Viertel der Zuschauer hält Stefan, in Wahrheit ein rechtskräftig verurteilter Mörder, für unschuldig.

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Die Angehörige
(Oberbayern)

„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt Barbara, die Zwillingsschwester der wahren Laura. Das Video mit dem Mörder, die Verteidigerrolle von Stevens, die Abstimmung im Saal, „das stellt alles infrage, was meine Familie erreicht hat“.

Wenige Wochen vor dem Start der Show habe Jacqueline Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt Barbara. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Sie besucht die Show nicht selbst, sie will sich schützen, aber sie lässt sich den Inhalt von Bekannten schildern. „Jetzt weiß ich, dass sie auf unseren Fall gar nicht verzichten konnten: Dann hätten sie ja keine Show mehr gehabt.“

Eine Collage mit dem Logo des Podcasts "Aktenzeichen Ostfriesland", ein Foto von einem Publikum und einer Justitia-Statue.

„True Crime funktioniert“, sagt der Chefredakteur: „Aktenzeichen Ostfriesland“ ist der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe Ostfriesland – „mit riesigem Abstand“. Mit True Crime erreicht der Verlag junge Leser und bindet sie an die Zeitung.

Barbara schaltet eine Anwältin ein, die ein langes Schreiben an den Bayerischen Rundfunk (BR) aufsetzt. Unter anderem fordert sie, dass keine Bilder aus der Originalakte in der Show gezeigt werden. Es geht unter anderem um ein Bild von der Unterwäsche ihrer Schwester.

Lang ist auch die Antwort aus der Rechtsabteilung des BR, eher knapp der Inhalt: Der BR könne als Lizenzgeber der Show nicht in das Bühnenprogramm eingreifen, sehe aber auch keinen Anlass dafür. Opferrechte würden nicht verletzt, das Leid der Angehörigen nicht relativiert.

Aber: Die Moderatoren der Show hätten zugesagt, künftig keine Originalbilder aus der Akte mehr zu verwenden.

Der Podcast
(Ostfriesland)

Stimme 1: „Hier passieren durchaus auch Morde, Totschläge, allerlei Gewaltdelikte … das sticht natürlich trotzdem komplett heraus.“

Stimme 2: „Ich war ehrlich gesagt ziemlich geflasht … dass ich gedacht habe: krass … das hier in Leer?!“

Stimme 1: „So viel können wir, glaube ich, schon mal sagen, es sind wirklich Abgründe, die sich da auftun, und auch verstörende Details.“

Stimme 2: „Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die beiden Lokaljournalisten der Zeitungsgruppe Ostfriesland sind fasziniert. Der 16 Jahre zurückliegende Mordfall, den sie im Zeitungsarchiv entdeckt haben, der Mord an Sophias und Sarahs Schwester, ist besonders: besonders verstörend, besonders grausam, besonders spektakulär. Fünf Folgen nehmen sie sich Zeit, die Geschehnisse im Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“ nachzuerzählen.

Im Lokaljournalismus funktionieren True-Crime-Podcasts zumeist so: Zwei Zeitungsjournalisten sprechen über das, was sie im Zeitungsarchiv recherchiert haben. So ist es auch hier, die Journalisten spekulieren über eine mögliche Beziehung von Opfer und Täter, über das mögliche Motiv des Täters, über seinen möglichen Suizid. Antworten können sie nicht geben, der Täter starb am Tag der Tat bei einem Autounfall, juristisch aufgearbeitet wurde der Mord deshalb nie.

„Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die Folgen heißen „Der Crash“ oder „Die Beerdigung“, jeder Folge steht eine Triggerwarnung voran: „Die Inhalte, die wir schildern, können belastend und retraumatisierend sein. Wenn du befürchtest, dass dir das nicht guttun könnte, hör bitte nicht weiter.“ Vor Facebook-Werbung, vor Schaufenster-Plakaten, vor gesprächigen Nachbarn wird nicht gewarnt.

In der letzten Folge sprechen die Journalisten über „Die Berichterstattung“.

Stimme 1: „Klar, natürlich konnte man nicht mehr mit (dem Mordopfer) in Rücksprache treten, das liegt in der Natur der Sache dieses schrecklichen Ereignisses. Aber es geht ja auch viel um die Angehörigen, die Hinterbliebenen und so.“

Stimme 2: „Die Angehörigen müssen beklagen, dass ihr Kind gestorben ist, und auch noch auf eine brutale Art und Weise getötet worden ist … und dann müssen sie diese Öffentlichkeit noch ertragen. Ich weiß von vielen dieser Familien, dass die das nicht geschafft haben. … Und da muss man auch wirklich jedes Mal abwägen: Was kann man noch machen und was auch nicht?“

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Für Sophia und Sarah steht fest: Was man nicht machen kann, das ist so ein Podcast.

Beide Schwestern haben eine diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung, beide haben unabhängig voneinander die Zeitung kontaktiert. „Ich habe den Reporter nur angeschrieben“, sagt Sophia. Auch andere meldeten sich bei der Zeitung und berichteten von der Belastung der Angehörigen durch den Podcast: ein damaliger Ermittler, ein Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in Ostfriesland.

Der Zeitungsverlag reagierte auf die Kritik: Er stoppte die Werbung für den Podcast, er nahm die Plakate ab, er beendete die Social-Media-Kampagne. Er nahm Abstand von der Idee, jede Folge einzeln zu bewerben und zu veröffentlichen.

Nur eines tat der Verlag nicht: Er nahm den Podcast nicht aus dem Netz.

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige retraumatisierte

Fast 20 Jahre nach dem Mord an einer Frau zeigt das ZDF einen True-Crime-Film über den Fall. Die überraschten Angehörigen sind empört und fragen: Darf der Sender das?

Die Öffentlichkeit
(Mainz und Berlin)

Im Pressekodex des Deutschen Presserats heißt es: „Bei der Berichterstattung über Gewalttaten (…) wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab.“ Vor der Abwägung steht aber die Frage: Gibt es überhaupt ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einem 16 Jahre zurückliegenden Mord in Ostfriesland oder an einem zwölf Jahre zurückliegenden Mord in Bayern?

Der Mainzer Journalismus-Professor Dr. Tanjev Schultz fordert „strenge Kriterien“ für True-Crime-Beiträge. „Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben“, schreibt er in einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin. „Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.“

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Wie Schultz sieht der Berliner Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz ein „überwiegendes Informationsinteresse“ nur bei Straftaten der Zeitgeschichte, „die zur DNA der Bundesrepublik gehören“: etwa die RAF-Verbrechen oder die NSU-Morde. Hinter der „großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind“, erkennt er keine journalistischen Motive, sondern ökonomische: „Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren“, sagt er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin.

Der Chefredakteur
(Ostfriesland)

Lars Reckermann, 54 Jahre alt, hat wenig Zeit. Gestern war er in Berlin, Chefredakteurstagung; heute trifft er sich mit alten Kollegen in Oldenburg; morgen ist große Mitarbeiterversammlung in Leer. Unser Gespräch quetscht er zwischen Berlin und Oldenburg.

Wie alle Tageszeitungschefredakteure treibt Reckermann der Medienwandel um; die Titel der Zeitungsgruppe Ostfriesland haben seit Ende der 90er-Jahre mehr als 40 Prozent ihrer Druckauflage verloren. Deshalb experimentiert er wie so viele andere Chefredakteure mit digitalen Formen. Eine davon heißt Podcast – und der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe heißt „Aktenzeichen Ostfriesland“, sagt er begeistert, „mit riesigem Abstand“. Der Verlag verdiene kein Geld damit, er bekomme aber anderes von Wert: junge Menschen unter 40! Eine hohe Durchhör-Quote! Fans, eine Community! „Hier erleben Leute, für die Zeitung nur noch totes Papier ist, dass es uns auf anderen Kanälen gibt. True Crime funktioniert.“

Es gibt also ein Verlagsinteresse an dem 16 Jahre alten Mordfall. Gedeckt wird das laut Reckermann aber von einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit: „Ein so außergewöhnlicher Fall gehört zum historischen Gedächtnis der Stadt Leer und zur DNA einer Lokalzeitung.“

Der Chefredakteur sagt aber auch: „Die Kritik der Angehörigen hat uns sensibilisiert, da bleibt etwas hängen. Ich glaube, es wird in Zukunft ein bisschen anders laufen bei uns.“ Wie anders, das weiß er noch nicht.

Der Bayerische Rundfunk (BR) distanziert sich von der Live-Show „Tödliche Liebe“.

Bayerischer Rundfunk zieht sich bei True-Crime-Show zurück

Für die Live-Show „Tödliche Liebe“ des Podcast-Duos Jacqueline Belle und Alexander Stevens gab es deutliche Kritik. Jetzt reagiert der Bayerische Rundfunk.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
(München)

Die Abstimmung mit dem Smartphone. Die Kritik am rechtskräftigen Urteil. Das Mörderinterview aus dem Gefängnis. Der missachtete Wunsch der Zwillingsschwester, den Mord bitte nicht zum Gegenstand der Show zu machen. Verstößt das nicht gegen den Pressekodex? Gegen ein sensibles und ethisches Vorgehen, für das Bayern 3 sich nach eigenen Angaben einsetzt? Schürt das nicht Zweifel am Rechtsstaat?

Wir schicken einen Fragenkatalog an den Bayerischen Rundfunk.

„Im Gegenteil“, antwortet Bayern 3 aus München: „Durch das Programm werden ja gerade Einblicke in unsere Gerichtsbarkeit gewährt, die üblicherweise in dieser Tiefe Nicht-Juristen nicht bekannt sind.“ Die Show zeige, wie das Rechtssystem funktioniere. Die Urteilskritik sei „durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit“ ebenfalls „Teil des Rechtsstaats“. So wie letztlich auch das Mörderinterview: Bei den dort wiederholten Aussagen handele es sich „um die Wiedergabe eines Teils des Prozesses“.

Die Show biete „juristische Einordnung und Erklärung“, mehr noch: „Durch die einerseits juristisch-journalistische, andererseits sehr empathische Aufbereitung erfährt das schwierige, aber wichtige Thema ,Femizid‘ anhand dieses exemplarischen Falles Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.“

Es sei „mit einem besonderen Maß an Sensibilität und Fingerspitzengefühl“ gearbeitet worden. Für die Show habe man die Namen von Täter und Opfer geändert, und man zeige inzwischen keine Originalfotos mehr, „um den Wünschen der Familie noch mehr zu entsprechen“. True Crime im Dienste der Allgemeinheit?

Die Angehörigen
(Oberbayern und Ostfriesland)

Es gehe wieder los, sagt Barbara. Seit die Show laufe, versuchten Journalisten, sie zu kontaktieren: über Kollegen, Bekannte, ihre Anwältin. Neue Berichte über den alten Fall erscheinen. „Und dann sitzt man da abends und bricht zusammen. Und der Partner muss einen auffangen.“

Was wünscht sie sich?

„Eine bessere Rechtsgrundlage“, sagt Barbara. „Wenn das Schlimmste passiert, wenn jemand stirbt, dann steht das Opfer nach zehn Jahren ohne Schutz da.“

„Ich wünsche mir, dass der Podcast gelöscht wird“, sagt Sophia.

„Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn man es anders machen würde“, überlegt Sarah, ihre Schwester. „Wenn man wenigstens versuchen würde, die Angehörigen zu kontaktieren, bevor man so eine Welle lostritt.“

Es sei doch so, sagt Barbara: „Die haben eine erfolgreiche Show, die schlafen gut. Ich liege nachts wach und muss es aushalten.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
In der Show „Tödliche Liebe“ wurde bislang auf die Hilfsangebote des WEISSEN RINGS hingewiesen, die Veranstalter sammelten zudem Spenden für den Verein. Der WEISSE RING hatte auf Anfrage von Bayern 3 Informationsmaterial und eine Spendensammelbox zur Verfügung gestellt. Inhalt und Ablauf der Show waren dem Verein zum Zeitpunkt der Anfrage nicht bekannt. Autor Karsten Krogmann und Lars Reckermann, Chefredakteur der Zeitungsgruppe Ostfriesland, haben zwischen 2016 und 2019 bei der „Nordwest-Zeitung“ zusammengearbeitet.

Ein Anruf bei Christian Schertz

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Ein Anruf bei Christian Schertz

In einem Gastbeitrag für das Magazin des WEISSEN RINGS setzte sich Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz 2023 mit dem True-Crime-Boom auseinander. Unter dem Titel „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“ nannte er die Rechtslage für Betroffene „kaum zu ertragen“ und forderte gesetzliche Nachbesserungen. Was hat sich getan seither?

Medienanwalt Christian Schertz steht vor einer braunen Holztür.

Foto: Julia Steinigeweg

Herr Professor Schertz, lesen Sie, hören Sie, schauen Sie True Crime?

Ich schaue mir immer wieder True-Crime-Formate an – aber vorrangig, weil ich mich sowohl wissenschaftlich als auch in öffentlichen Äußerungen gegen einige dieser kommerziellen True-Crime-Formate ausspreche. Meines Erachtens werden hier nämlich die Opferrechte schlicht missachtet. Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren. Um aber mitzureden zu können, muss ich mir angucken, was die Medien da machen. Und ich kann nur sagen, dass viele der Formate meines Erachtens eklatante Opferrechtsverletzungen enthalten – oder aber, wenn es keine Rechtsverletzungen sind, dass die Opfer rechtlos sind, weil sie als Verstorbene leider postmortal keine Persönlichkeitsrechte mehr besitzen.

Christian Schertz (59) gilt als einer der bekanntesten Medienanwälte Deutschlands. 2005 gründete er gemeinsam mit Simon Bergmann seine eigene Kanzlei „Schertz Bergmann“. Er lehrt zudem als Honorarprofessor für Presse-, Persönlichkeits- und Medienrecht, etwa an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam und der TU Dresden, und ist Herausgeber und Autor zahlreicher Fachbücher.

Gibt es True-Crime-Formate, denen Sie Positives abgewinnen können?

Nachvollziehbar finde ich etwa Fernsehformate, die der Fahndung dienen, wie „Aktenzeichen XY… Ungelöst“, also Fälle, wo der Täter noch nicht ermittelt ist. In diesen Fällen erlaubt auch der Gesetzgeber die Nutzung von Bildern von Opfern und Tätern zu Fahndungszwecken, das ist sogar ausdrücklich erwünscht. Aber das ist ja ein völlig anderer Ansatz als in schätzungsweise 90 Prozent der aktuell laufenden True-Crime-Formate, die Verbrechen spektakulär und effekthascherisch inszenieren mit teilweise unerträglichen Details der Morde, um Auflage und Quote zu machen.

In den allermeisten True-Crime-Formaten geht es um zurückliegende und juristisch abgeschlossene Mordfälle. Darf sich Journalismus hier auf ein öffentliches Interesse berufen?

Dass man im Wege von Chronistenpflichten historische Straftaten darstellt, die zur DNA der Bundesrepublik gehören, das verstehe ich. Weil das Zeitgeschichte ist. Ich denke dabei zum Beispiel an die RAF-Taten, das Gladbecker Geiseldrama oder Entführungstaten wie den Fall Oetker. Aber bei der großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind, sehe ich kein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Weil dieses Interesse immer abzuwägen ist mit der Menschenwürde und den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen.

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Vor wenigen Wochen habe ich die Live-Show des „Bayern 3 True Crime“-Podcasts besucht. Die Show verbindet einen echten Mordfall mit Unterhaltungselementen, das Publikum darf interaktiv per Smartphone abstimmen: Ist der Täter, ein rechtskräftig verurteilter Mörder, schuldig oder nicht schuldig? Wie bewerten Sie so etwas rechtlich und moralisch?

Ich finde das verwerflich. Wir haben ja ganz bewusst im deutschsprachigen Rechtsraum uns gegen ein Geschworenen- oder Jury-System entschieden, sondern es entscheiden glücklicherweise Berufsrichter und nicht die Volksseele in Gestalt von Laien. Es ist höchst unseriös, im Rahmen einer Show gewissermaßen im Nachgang ein Jury-System zu Unterhaltungszwecken einzuführen. Noch unseriöser finde ich es, wenn sich hierbei öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten beteiligen, weil die im Rahmen ihrer Programmgrundsätze eindeutig die Menschenwürde beachten müssen – und ich finde es würdelos für die Opfer, was hier geschieht.

Für den True-Crime-Report, den wir 2023 in unserem Magazin veröffentlicht haben, haben Sie in einem Gastbeitrag den Gesetzgeber aufgefordert, „dringend“ bei den Opferrechten nachzuschärfen. Wie ist der Stand jetzt, knapp zwei Jahre später?

Da ist nichts passiert. Jeder, dem ich das erzähle, auch aus der Politik, sagt: Sie haben völlig recht, Herr Schertz, das geht so nicht. Aber passiert ist nichts. Es ist eine geradezu perverse und schier unerträgliche Situation, dass die Mörder aufgrund ihrer Persönlichkeitsrechte und nach Haftverbüßung aufgrund des dann bestehenden Rechts auf Resozialisierung oftmals nicht mehr identifizierend dargestellt werden dürfen mit Namen und Bild – die Persönlichkeitsrechte der Opfer aber erlöschen, weil sie verstorben sind, weil sie ermordet wurden.

Was muss geschehen, damit verstorbene Verbrechensopfer künftig auch in True-Crime-Formaten zu ihrem Recht kommen?

Ich sehe Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, dass er ein postmortales Persönlichkeitsrecht schafft, was derlei Ausschlachtungen von menschlichen Tragödien untersagt.

„Kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse“

Erstellt am: Dienstag, 4. März 2025 von Torben

„Kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse“

Der Journalismus-Professor Tanjev Schultz sagt über True-Crime-Formate: „Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte“. Das gelte aber nicht für alle Fälle.

Foto: JS Mainz

Die Inflation von True-Crime-Formaten ist ökonomisch begründet, nicht journalistisch. Beiträge über Mord und Totschlag wecken Aufmerksamkeit, versprechen Profit, erzielen Reichweite. Über Kriminalfälle zu berichten ist eine sinnvolle Aufgabe, solange dies in einem angemessenen Rahmen geschieht. Eine Gesellschaft, in der Kriminalität verschwiegen wird, wäre sehr verdächtig. Sie wäre alles andere als frei. Aber daraus folgt kein Freifahrtschein für True-Crime-Exzesse. Warum sollte über zurückliegende Fälle überhaupt noch berichtet werden? Welches öffentliche Interesse, jenseits bloßer Sensationslust, lässt sich dafür anführen?

#TrueCrimeReport: Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

True-Crime-Beiträge sollten strengen Kriterien genügen: Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben. Das trifft zu, wenn der Fall ungelöste Fragen oder Widersprüche birgt, die mit Hilfe fortlaufender Recherchen und Veröffentlichungen womöglich geklärt werden können. Erst recht trifft es zu, wenn ernst zu nehmende Anzeichen auf einen Justizirrtum hindeuten. Ebenfalls von öffentlichem Interesse können die Langzeitfolgen eines Verbrechens sein, beispielsweise für das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen – sofern diese mit erneuten Veröffentlichungen einverstanden sind.

Einige spektakuläre Taten gehören zur Zeitgeschichte und werden zum Lehrstoff, der für ein Verständnis historischer Zusammenhänge wichtig ist. Das gilt vor allem für politisch motivierte Anschläge, wie den linken Terror der RAF oder den rechten Terror des NSU. Über solche Fälle auch Jahre später noch zu berichten, kann einer Erinnerungskultur dienen, die versucht, den Betroffenen gerecht zu werden und die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen, beispielsweise für die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden.

True Crime und die Opfer: Ungefragt ausgenutzt

Wie aber sieht es mit Morden aus Eifersucht oder Habgier aus? Es muss gewichtige Gründe geben, solche Fälle wieder aufzugreifen und damit sowohl die psychische Gesundheit der Betroffenen als auch die Resozialisierung der Täter zu gefährden. Es genügt nicht, dass ein Fall in Teilen des Publikums noch immer ein Thema ist. Nicht alles, worüber Menschen reden, verdient es, ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Sonst würden auch der Ehebruch einer Bürgermeisterin oder der Rausch eines Pfarrers, über den sich die Gemeinde ewig das Maul zerreißt, zu billigem Medienmaterial. Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.