Torsten Körner: „True Crime ist was für Feiglinge“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Torsten Körner: „True Crime ist was für Feiglinge“

True Crime findet er einerseits widerlich, zum anderen lächerlich – und auf jeden Fall medienethisch bedenklich. Gedanken des Schriftstellers und Fernsehkritikers Torsten Körner zu echten „Schlachtplatten fürs Gemüt“.

Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Obgleich True-Crime-Formate boomen, nun schon seit Jahren boomen, wirkt dieses Label, dieses Echtheitsversprechen für mich gerade irgendwie altmodisch. Oder aus der Zeit gefallen. Wenn die Welt ringsherum in Flammen steht oder zumindest zu stehen scheint, wenn uns der Krieg in der Ukraine Tag für Tag mit Kriegsverbrechen konfrontiert und wir medial Zeuge werden können, wie Soldaten vor laufender Kamera erschossen, erschlagen oder enthauptet werden, dann fragt man sich, ob True-Crime-Erzählungen noch mit der realen Realität konkurrieren können. Denn der Krieg und andere Krisen verwandeln den Planeten in einen globalen Schauraum des Verbrechens, der es dem Individuum schwer macht, sich nicht schuldig, tatbeteiligt oder als gefühllos zu betrachten.

Der Einzelne muss zwangsläufig unglücklich werden, wenn er sich ansatzweise darauf einlässt, die Zeitläufte zu beobachten.

Überhaupt ist das Individuum im 21. Jahrhundert vielfach überfordert, die Stellung zu halten, Identität zu behaupten, ein gelingendes Leben auf die Beine zu stellen. Alles fühlt sich unwirklich an, jeden dürstet es nach Echtheit, nach Echtzeit, sofern die Zeit es ihm erlaubt. Wer Freizeit hat, muss diese totschlagen, und Totschlagen ist ein faszinierendes Ding, jedenfalls für die, die Fliegen mit der Hand fangen und dann überlegen, die Faust wieder zu öffnen. Erst vor diesem medialen und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund wird die Konjunktur von True Crime verständlich: Im Zeitalter der Mangel-Authentizität will man sich unterhaltungstechnisch an Authentizität laben, im Zeitalter globaler Verantwortungslosigkeit und Unübersichtlichkeit will man einen Täter zweifelsfrei dingfest machen, im Zeitalter multipler Krisen und Kriege will man mit einem Serienkiller die Komplexität reduzieren. Serienkiller sind demnach Einfaltspinsel, weil sie das Übermaß an simultaner Vielfalt, das uns quält, ausradieren.

„Algorithmen lügen nicht“

True Crime ist stets post mortem, das heißt die Geschichte ruht, und wir können uns von ihrer Beunruhigung beruhigt erfassen lassen, True Crime ist also was für Feiglinge. Und True Crime muss man sich also leisten können, freizeit- und sofatechnisch, finanziell. True Crime ist ein massenmediales Produkt des 19. Jahrhunderts, das sich dem medialen Strukturwandel des 21. Jahrhunderts bestens anzupassen weiß. Denn die Algorithmen lügen nicht, Blut fließt einmal um den Erdball und wieder zurück.

Natürlich wäre es wenig glaubhaft, ich könnte mich dem Boom immerzu entziehen, und man kann kaum leugnen, dass die blutbeglaubigten Verbrechensfälle bei Netflix und Co Spannung erzeugen, aber gerade das macht sie dann auf die Dauer fad, medienethisch bedenklich, punktuell ärgerlich und auch skandalös; letztlich sind sie ein Symptom der Dekadenz, kollektiver Verunsicherung und erzählerischer Erschöpfung. Was leisten die True-Crime-Formate überhaupt an diesem Punkt maximaler Existenz- und Identitätserschütterung? Unter einem massenmedialen Regime, das alles, was passiert, letztlich in eine Form von Entertainment verwandelt, selbst wenn es sich um Kriege, Seuchen, Klimakatastrophen oder Flüchtlingsdramen handelt? Die True-Crime-Formate versprechen echte Fälle, echtes Blut, echtes Leben. Zugleich grenzen sie Schauplätze ein. Es gibt den Täter und das Opfer oder häufiger noch den Täter und seine Vielzahl von Opfern. Durch diese Eingrenzung, Lokalisierung, durch diese manichäische Ordnung wird die Undurchschaubarkeit der Gegenwart verbannt.

Blick in sonst verschlossene Räume

Das erste Opfer des Killers ist die Realität, das erste Opfer des Labels „True“ ist die Wahrheit, denn True Crime behauptet, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. In diesem Monopolanspruch stecken schon Verzerrung und Gewalt, ja, auch Gewalt, denn ob das Format will oder nicht, es macht sich und die Zuschauer fast immer zu imaginären Handlangern des Täters. Aber eben darin liegt auch die Leistung dieser Erzählungen, denn sie laden uns ein, nicht nur als Voyeure die Tatorte zu betreten, sie vermitteln uns auch Allmachtsgefühle, denn wir sind – jenseits des Falls – Meta-Detektive, die das Verbrechen auf dem Sofa obduzieren. Wir überblicken die Perspektiven des Täters, des Opfers, der Ermittler und vielleicht sogar der Angehörigen und haben Zugang zu Räumen, die sonst stets verschlossen bleiben: Tatorte, Verhörräume, private Wohnräume. Alles wird retrospektiv geordnet, geprüft, verglichen, archiviert. Und dann kommen wir und verwandeln die Kammern des Schreckens in Tiny-Entertainment-Houses. Wir treten hinter die Kulissen und glauben plötzlich, die Welt zu verstehen, denn das alles ist ja echt und passiert, und wir fressen die Menschen, die gefressen wurden, wir Menschenfresser.

Aus medienethischer Sicht versuche ich mich immer zu prüfen, mit wem gehst du da befristete Abkommen ein? Welche Perspektive übernimmst du, nobilitiert deine Aufmerksamkeit den Mörder, der immer häufiger und gegen jede Realität ein machtvoller „Serienkiller“ ist, der sich schon – während er noch tötet – in einen mythischen Allzeithelden verwandelt, einen Musterschüler der hyperkapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, einen Helden der Soft Power, der keine Fabriken besitzt, aber unsere Träume und Fantasien belagert und besetzt?

Dem Blutdurst nachspüren

Wenn ich gerade nicht als Prüfer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen aufgefordert bin, diese Formate in Hinblick auf den Jugendschutz zu prüfen, meide ich solche Produkte mittlerweile, weil sie mich – ich finde kein anderes Wort – einerseits anwidern und sie andererseits lächerlich wirken in ihrer grellen Theatralisierung. Es mag ja Fälle geben, wo journalistisch geprägte Formen (etwa „Serial“) herausarbeiten, dass Verurteilte zu Unrecht verurteilt wurden, aber die Regel ist das nicht – und selbst solche Podcasts, Dokus und Serien machen das nicht aus menschenfreundlichem Gerechtigkeitsempfinden, sondern aus kommerziellen Erwägungen. Die größte Grausamkeit, die in diesen Medienprodukten steckt, ist das Versprechen, dem Blutdurst nachzuspüren, der Angst des Opfers, des Tötungsrausches teilhaftig zu werden und zugleich Sorge um das eigene Selbst zu bewahren. Die Werbesprüche für diese Mordsmaschinchen klingen überall gleich, ob bei CNN, Netflix, Amazon, ARD/ZDF/BBC, wo auch immer, das serielle Schauerversprechen killt zugleich das Individualitäts- und Echtheitsversprechen. Blut ist eben kein besonderer Saft mehr, Blut ist eine Einheitswährung. Und will man wirklich, als Zuschauer und Produzent solcher Geschichten, der Steigerungslogik der medialen Inszenierungen folgen? Will man, weil man alles schon kennt, immer bestialischere Morde sehen, immer größer aufgeblasene „Helden der Finsternis“?

Ein imaginärer Notfallkoffer?

Hochproblematisch ist zudem die Fixierung auf die Psyche des Täters, auf seinen Aktionsradius, auf seine Taten, denn er bleibt ja stets der Autor, oder erinnern wir uns an einen True-Crime-Fall, der überwiegend aus der Sicht des Opfers erzählt wurde? Diese Formate betreiben die stete Reviktimisierung und ich fürchte: auch die Retraumatisierung von Angehörigen und Familien, die von Verbrechen betroffen sind. Wie kann es sein, dass wir angeblich in einer immer sensibleren Medienkultur leben, wo kaum ein Film ohne Trigger-Warnung auskommt, und zugleich boomen True-Crime-Formate, die das erlittene Leid rücksichtslos vor- und zurückspulen, es erneut inszenieren, die Täter mythisieren und die Opfer als individuelle Personen erneut auslöschen?

Halt, halt, werden einige rufen, True-Crime-Formate, die offenbar überwiegend von Frauen geschaut werden, dienen als imaginäre Notfallkoffer, mit denen sich die Zuschauerinnen wappnen gegen reale Alltagsängste, oder aber man sagt, True Crime sei bereits eine kollektive Bewältigung individueller Verbrechen und eine narrative Zähmung des Verbrechens – doch kommen mir diese kathartischen Lesarten eher hilflos vor, weil sie annehmen, dass man das Echte vom Falschen, den braven Bürger vom Verbrecher, das Reale vom Imaginären und den aktiven Täter von uns passiven Zuschauern scheiden, trennen könne. Aber ist das wirklich alles so klar und eindeutig, so trennscharf und säuberlich? Warum sollten True-Crime-Formate, die bislang post mortem oder besser post facto ansetzen, auf diesen Moment warten? Wäre True Crime ante mortem nicht noch wahrhafter, echter, wenn man die Täter in Echtzeit begleitete? Haben viele Serienkiller und Amokläufer diese Fame-Option nicht längst gewählt, wenn sie ihre Verbrechen selbst filmen und sogar live ins Internet übertragen? An welchem Punkt würden Medien zu Co-Autoren der Täterschaft? Der Film „Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis“ (2014) erzählt genau diese Geschichte, in der sich ein Kriminalreporter mit seiner Kamera zum Mittäter aufschwingt und sensationsheischende Verbrechen stimuliert. Okay, vielleicht muss man nicht gleich so dystopisch denken, aber ist es beruhigender, darüber nachzudenken, in welcher Ära der kalten Schaulust wir leben?

Wenn schon True Crime, dann …

Ich habe wenig Verständnis dafür, dass sich die öffentlich-rechtlichen Medien an diesen Formaten beteiligen oder gar selbst welche entwickeln. Wenn sie jedoch auf dieser Spur unterwegs sind, sollten sie Sendungen entwickeln, mit denen der Zuschauer ermächtigt würde, diese Formate kritisch zu begleiten. Die Rückverwandlung des Opfers in einen Menschen vor der Tat, die entmythisierende Beschreibung des Täters, die Reflexion der medialen Gewalt und die Erschütterung der scheinsicheren Sofa-Perspektive wären lohnende Aufgaben. Und auch die Frage, schaust du nur True Crime oder lebst du auch auf eigene Kosten, wäre zu stellen. Wovor verschließen wir die Augen, wenn wir in die entsetzensweit geöffneten Augen des Opfers schauen? Macht das nicht blind, all diese finsteren Sonnen? Manchmal kommt es mir vor, als frönten wir als Zuschauer dieser Formate einem heidnischen Kult: Blut muss vergossen werden, damit wir selbst verschont bleiben, damit die Ernte gelingt, der kommende Beutezug. Als brächten wir grausamen Göttern eine Gabe der Besänftigung. Das Leben lässt sich nicht besänftigen, es ist immer true, und es braucht unsere Empathie, unsere Entzifferungskunst jenseits dieser Schlachtplatten fürs Gemüt.

Ich favorisiere das Verbrechen im Buchstabenwald und lese, wenn ich Spannung suche, Kommissar Maigret. Auch mit ihm, dem Pfeifenraucher und Fährtenleser, komme ich fast überall hin. Ganz ohne True und Täterkult.

True Crime – sinnvoll oder voyeuristisch?

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

True Crime – sinnvoll oder voyeuristisch?

Als Autorin und Regisseurin hat Christiane Fernbacher über fünf Jahre lang True-Crime-Dokumentationen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen umgesetzt. Hier erklärt sie, warum sie damit aufgehört hat.

Foto: Christian J. Ahlers

Es war im Frühjahr 2020, als mir eine junge Frau erzählte, wie ihr Vater ihre Mutter tötete. Bei Kaffee und Kuchen sprach sie über das Schlimmste, das in ihrem Leben passiert war. Ganz ruhig und reflektiert. Die Frau, die vor mir saß, war eloquent, taff und gleichzeitig emotional. Sie beeindruckte und berührte mich. Sie war die ideale Protagonistin.

Ich war bei ihr, weil mein damaliger Arbeitgeber, eine Film- und Fernsehproduktionsfirma, eine Dokumentation über das Verbrechen in ihrer Familie plante; einem öffentlich-rechtlichen Sender hatten wir den Film zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft. Der Fall war außergewöhnlich, mit unglaublichen Wendungen und einem Ende, das alle erschaudern ließ.

„Also warum jetzt nochmal?“

Als Filmemacherin wollte ich die junge Frau natürlich unbedingt dabeihaben. Ich wusste: Sie war die Einzige, die ihre Geschichte auf diese besondere Art schildern kann. Doch nach etwa zwei Stunden sagte sie mir ab, sie wollte nicht mitmachen. Sie hatte sich mit mir getroffen, weil sie wissen wollte, was wir vorhatten und warum wir den Fall nochmals erzählen wollten. Ein anderer Fernsehsender habe doch bereits einen Film über ihre Geschichte gemacht. Bei dem habe sie auch mitgewirkt, um die Standpunkte, die ihr wichtig waren, zu schildern. „Also warum jetzt nochmal?“, fragte sie. Gute Frage. Eine gute Antwort hatte ich darauf nicht.

Sie führte aus, dass sie einerseits mitmachen wollte, damit kein Film über ihre Familie entstehe, in dem niemand aus der Familie zu Wort kommt. Der Film würde ja trotzdem entstehen (auch wenn sie nicht mitwirken würde). Andererseits überwiege das Gefühl, dass sie nicht mitmachen sollte. Sie sei nach den ganzen Geschehnissen umgezogen und genieße ihre wiedergewonnene Anonymität – diese wolle sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Letztendlich war das der Grund ihrer Absage. Ich verstand genau, was sie meinte und fragte mich: Wer bin ich eigentlich, dass ich sie zu diesem Projekt überreden wollte?

Nach unserem Treffen habe ich mich ins Auto gesetzt und dort noch lange über diese besondere Begegnung nachgedacht. Es war der Moment, in dem ich angefangen habe, True Crime und damit auch mich selbst als Teil des Genres zu hinterfragen. Wem nutzen diese Filme, die wir machen? Ist True Crime irgendwie sinnvoll, oder ist es bloßer Voyeurismus? Der Fall über die Familie der jungen Frau war bereits die zehnte Folge unserer True-Crime-Reihe, an der ich von Anfang an mitgearbeitet hatte.

Warnsignale übersehen

Anfangs war True Crime für mich spannend. Ich hatte großen Spaß daran, diese vielen, vor allem historischen Kriminalfälle zu recherchieren: In Archiven durfte ich alte Polizeiakten durchstöbern, konnte Fotos sehen, die sonst kaum jemand zu sehen bekam, und filmte an Orten, die für die meisten Menschen nicht zugänglich sind, etwa die Rechtsmedizin in Frankfurt am Main. Ich traf viele Kommissare, viele beeindruckende Persönlichkeiten – Menschen, die (wie auch ich) leidenschaftlich ihren Job machten, dafür brannten und mich das in ihren Erzählungen spüren ließen.

Doch gerade in diesen ersten Jahren als True-Crime-Autorin habe ich mir nicht allzu große Gedanken um Opfer und Angehörige gemacht. Für mich war es natürlich wichtig, dass es ihnen gut geht, dass sie ein gutes Gefühl bei der Sache haben, aber ich wollte eben auch, dass sie mitmachen. Ich wollte ja einen guten Film machen. Üblich war es bei uns, dass wir vor Dreharbeiten die Menschen, die mit dem Fall zu tun hatten, besuchten. Wir haben uns Zeit genommen und ihnen zugehört. Das war uns allen wichtig. Immerhin konfrontierten wir hier Menschen mit der wohl schlimmsten Zeit ihres Lebens. Das war uns allen immer bewusst. Und doch habe ich manche Warnsignale übersehen.

Beispielsweise habe ich einen Mann getroffen, der einen Mordversuch überlebt hat. Wir hatten ein gutes Gespräch und waren uns sympathisch. Erst ging es um Gott und die Welt, als würden sich hier Bekannte zum Kaffeetrinken treffen. Doch dann mussten wir auf den Fall zu sprechen kommen. Ich kann heute sagen: Ich habe noch nie jemanden so sehr zittern sehen. Die Tat lag Jahrzehnte zurück, in einer Zeit, in der psychische Gesundheit von der Gesellschaft nicht ernstgenommen wurde. Der Mann erzählte mir, er sei nie in Therapie gewesen. Offenbar hatte er die Geschehnisse nie richtig verarbeitet. Zum Dreh sagte er dennoch zu – und „funktionierte“. Kein Zittern, kein Stocken, nichts.

Kein gutes Gefühl

Ein anderes Mal war es genau umgekehrt. Das Vorgespräch lief gut: Eine Frau schilderte mir den Fall ihrer getöteten Schwester. Ohne Tränen und Aufregung. Beides überwältigte sie erst, als am Drehtag die Kamera lief. Nach dem Interview begleitete ich sie nach draußen. Für das Team hatte sie mir noch kleine Weihnachtsköstlichkeiten in die Hand gedrückt. Sie mochte uns, glaube ich. Wir sie auch. Aber ohne das Verbrechen an ihrer Schwester hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt. Wie sehr sie die Situation und die Erinnerung aufwühlten, zeigte sich wieder beim Ausparken, als sie mit ihrem Auto gegen einen Pfosten fuhr. Ich hatte damals kein gutes Gefühl, sie allein nach Hause fahren zu lassen. Zum Glück kam sie gut an.

Diese Situationen habe ich wahrgenommen, sie beunruhigten mich irgendwie, aber sie bewegten mich noch nicht zum Umdenken. Zu euphorisiert war ich davon, die spannenden Kriminalfälle zu erzählen. Erst dieses Treffen im Frühjahr 2020 mit der Frau, deren Mutter vom Vater getötet worden war, zeigte mir: Ich will das nicht mehr. Ich will Opfer und Angehörige nicht mehr vor die Kamera locken. Mit Folge zehn kamen wir mit unserer Reihe immer näher an Kriminalfälle der jüngeren Vergangenheit, das machte mir zu schaffen. Denn je näher wir der Gegenwart kamen, desto mehr Menschen könnten unsere Filme aufwühlen, sie vielleicht sogar stören – einfach, weil mehr Betroffene noch am Leben sind. Ich machte nach dieser Geschichte um die junge Frau noch zwei weitere Folgen, dann war für mich Schluss. Ich habe weiterhin Fernsehen gemacht, aber meine Zeit als True-Crime-Autorin war endgültig vorbei. Eine ganz bewusste Entscheidung.

Persönliche Grenzen

Aber, wie sagt man so schön, es war natürlich auch nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Wir haben viele positive Rückmeldungen von Protagonistinnen und Protagonisten bekommen. Mir lag es besonders am Herzen, dass die Mitwirkenden am Ende diejenigen waren, die mit unseren Filmen auch zufrieden waren. Und sicherlich hat True Crime seine ganz eigene Kraft: Wir konnten mit diesen Geschichten zeigen, was für schreckliche Dinge passieren können. Wir konnten warnen, wie weit Gewalt gehen kann. Wir konnten berichten, wie präzise Ermittlerinnen und Ermittler kombinieren können und wie ausgefeilt Kriminaltechnik ist. Und vor allem konnten wir an jene Menschen erinnern, die – oft auf sehr brutale Art – ums Leben gekommen sind.

Ist True Crime nun also sinnvoll oder purer Voyeurismus? Es kann beides sein. Ich selbst bin nach über fünf Jahren an meine persönlichen Grenzen gekommen. Das Genre ist für mich aber weder schwarz noch weiß. Wie sehr Betroffene allerdings durch Medienanfragen aufgewühlt werden können, ist mir erst durch meine Arbeit beim WEISSEN RING richtig deutlich geworden. Täglich habe ich hier die Opferperspektive solcher Projekte vor Augen. Daher ist meine Meinung heute, dass Opfer und Angehörige viel mehr in den Entstehungsprozess eines True Crime-Formates involviert werden sollten, und die Macher auf ihre Wünsche und Bedürfnisse hören müssen. Es ist immerhin ihre Geschichte, die öffentlich erzählt wird.

Podcasts: Ein boomendes Erfolgsformat

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Podcasts: Ein boomendes Erfolgsformat

63 Prozent der Befragten gaben in einer Studie an, täglich Podcasts zu hören. Warum das Format so erfolgreich ist, erklärt Vincent Kittmann von OMR.

Foto: Podstars by OMR

Sende-Anstalten, Unternehmen, öffentliche Personen – alle machen Podcasts. Thematisch geht es von reiner Unterhaltung über Nach­richten- und Wissensformate bis hin zu lange recherchierten, oft auch investigativen Reportagen. Das Medium Podcast hat sich in Deutschland weiter etabliert, das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der „Pod­stars by OMR“. Die Agentur ist Deutschlands führendes Podcast-Netzwerk und vereint Werbung, Produktion und Beratung.

63 Prozent der Befragten gaben in der Studie an, täglich Podcasts zu hören. Sie nutzen das Medium als Nachrichtenquelle, für Bildung und Unterhaltung. 31 Prozent sagten, dass sie gerne Geschichten über echte Kriminalfälle hören. „Das Genre True Crime liegt damit im guten Mittelfeld“, erklärt Vincent Kittmann (Foto), Geschäftsführer von „Podstars“. „Es ist ein Genre, das mehr Aufmerksamkeit benötigt als ein Talk-Format und meistens länger dauert als ein News-Podcast. Man muss sich also bewusst Zeit nehmen. Wirft man einen Blick auf die aktuellen Top-20-Podcasts, sind oft mehrere True-Crime-Formate vertreten, das spricht für den Erfolg des Genres.“

Kein Versprechen auf Erfolg, aber …

Wie bei allen anderen Medienformaten gebe es auch bei Podcasts keine Erfolgsgarantie. „Wir sehen zwar, dass es ein großes Interesse für Geschichten über wahre Kriminalfälle gibt, aber das verspricht noch nicht den nächsten Streaming-Erfolg“, sagt Kittmann. „Wie bei jedem Podcast ist das Konzept das A und O. Gerade beim Thema True Crime müssen die Fälle gut recherchiert sein und es muss innerhalb der Folgen ein Spannungsbogen aufgebaut werden. Das Thema True Crime eignet sich natürlich sehr gut dafür, weil viele Geschichten von Grund auf diesen Spannungsbogen besitzen. Dennoch reicht es nicht aus, die Geschichten nur nachzuerzählen. Es geht auch darum, Emotionen zu transportieren und Awareness (deutsch: Bewusstsein) zu schaffen.“

Während die Geschlechterverteilung bei Podcasts im Allgemeinen sehr ausgeglichen sei, sei das Genre True Crime eines, das besonders Frauen lieben. „Nicht nur die Hostinnen der beliebtesten deutschen Crime-Formate sind Frauen, auch viele der Hörer:innen sind weiblich“, weiß Kittmann. Die allgemeine Geschlechterverteilung zeigt dieses Jahr, dass Hörerinnen und Hörer zu 54 Prozent Männer und 45 Prozent Frauen sind. Am meisten werden Podcasts übrigens in den Altersgruppen 26 bis 30 Jahre und 31 bis 36 Jahre konsumiert. Die Altersgruppen ab 36 Jahren haben im Jahresvergleich aber auch um zehn Prozent zugelegt.

Wa(h)re Verbrechen

Diesen Zahlen zeigen: Podcasts werden immer beliebter. Aber lässt sich damit auch Geld verdienen? „Natürlich gibt es Podcaster:innen, die nur von ihrem Podcast leben können. Für viele ist aber der Podcast nicht die einzige Einnahmequelle. Generell kann man mit jedem Podcast Geld verdienen, wenn man die richtige Form der Monetarisierung wählt“, erläutert Kittmann. „Laut Safe and Sound Report 2022 sind Fans von True Crime überdurchschnittlich tolerant gegenüber Werbung und meist besonders engagiert, wenn es um Werbung geht, die ihren Lieblingscontent unterstützt.“

Werbung funktioniert also auch im True-Crime-Podcast: „Hörer:innen hören die Formate in der Regel zu Unterhaltungszwecken. Den Macher:innen ist durchaus bewusst, dass ihr Content sensible oder gewalttätige Sequenzen enthalten können. Deshalb platzieren sie die Werbung nur da, wo es passt, so dass die Werbepartner nicht in einem unangemessenen Kontext integriert werden“, sagt Kittmann. Eine Studie von „Seven.One Audio“ aus dem Jahr 2022 stellt fest: True-Crime-Podcasts seien ein gutes Umfeld für Werbung, die auf gesellschaftlich relevante Aspekte wie die Nachhaltigkeit eines Produkts eingeht (über 80 Prozent Zustimmung).

Die Marke festigen

Neben Werbung gehen auch immer mehr Podcasts auf Tour und nutzen ihr eigenes Merchandising. „Beides sind zusätzliche Einnahmequellen, die aber vor allem auch dem Community-Building guttun. Live-Tourneen und Merchandising helfen dabei, aus dem Podcast eine Marke zu machen“, so Kittmann.

Die ungewöhnliche Anfrage eines Fernseh-Teams

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Die ungewöhnliche Anfrage eines Fernseh-Teams

Nahezu täglich erreichen den WEISSEN RING Anfragen von Journalisten aus ganz Deutschland, die Kontakt zu Kriminalitätsopfern suchen. Auch zwei Dokumentarfilmerinnen gehören dazu – und doch war ihre Anfrage anders.

Foto: meineresterampe by Pixabay

Nahezu täglich erreichen den WEISSEN RING Anfragen von Journalisten aus ganz Deutschland, die Kontakt zu Kriminalitätsopfern suchen. Sie möchten Betroffene interviewen für Zeitungen, Fernsehsendungen oder Podcasts.

Auch zwei Dokumentarfilmerinnen aus München, die im Oktober 2021 eine E-Mail an den WEISSEN RING schickten, suchten Kontakt zu Opfern. Und doch war ihre Anfrage anders: Katharina Köster und Katrin Nemec wollten niemanden vor ihre Kamera stellen, sie wollten niemanden befragen – sie wollten die Opfer nur informieren. Über den Film, den sie zurzeit drehen.

„Wir wollten einfach nicht, dass die Betroffenen über den Flurfunk von unserem Projekt erfahren und aus Mangel an Informationen verunsichert werden. Wir wollten nicht neues Leid verursachen“, sagt Katharina Köster.

Kann man sein Kind noch lieben, wenn es zum Mörder wurde?

Das Projekt, das ist ein Dokumentarfilm über die Eltern des Serienmörders Niels Högel, der in den Jahren 2000 bis 2005 in Krankenhäusern in Norddeutschland mutmaßlich weit mehr als 100 Patientinnen und Patienten tötete. Vier Mal stand er vor Gericht, in insgesamt 91 Fällen wurde er verurteilt. „Wir teilen das Interesse an Themen, die uns an den Rand unserer Vorstellungskraft bringen, wo Richtig und Falsch nicht auf den ersten Blick erkennbar sind“, sagt Katrin Nemec über sich und ihre Kollegin Köster. So seien sie, selbst Mütter, zu der Frage gekommen: Kann man sein Kind noch lieben, wenn es zum Mörder wurde?

In ihrem Film geht es ausschließlich um die Perspektive der Eltern des Mörders. Nicht um die des Mörders selbst („wenn wir sie bei einem Besuch im Gefängnis begleiten, machen wir die Kamera aus, bevor er den Raum betritt“), auch nicht um die seiner Opfer und ihrer Angehörigen. Gleichgültig sind den Filmemacherinnen die Angehörigen aber nicht. „In diesem Fall gibt es so viele Betroffene – das kann man nicht außer Acht lassen“, sagt Köster. „Und es gab schon sehr viel Berichterstattung zum Fall, und immer wieder wurde auch der schlechte Umgang der Medien mit den Familien der Opfer kritisiert“, so Nemec. Die Filmemacherinnen möchten es besser machen: Sie wollen, dass Betroffene frühzeitig informiert sind, sie wollen bei Bedarf deren Fragen beantworten, sie wollen bei Interesse sogar ein Vorab-Screening im geschützten Rahmen mit psychologischer Begleitung organisieren.

Sie wollen Kontakt zu Betroffenen herstellen

Zu sehen sein wird der Film frühestens im Jahr 2024 auf Festivals und 2025 in der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“. Die Dreharbeiten aber laufen bereits, der „Flurfunk“ dazu könnte Betroffene schon jetzt erreichen. „So eine Info kann ja immer auch Retraumatisierung hervorrufen“, befürchtet Köster. Deshalb schrieben die Filmemacherinnen an den WEISSEN RING, deshalb meldeten sie sich bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Seit eineinhalb Jahren bemühen sie sich nun neben ihrer Arbeit am Film, Kontakt zu Betroffenen herzustellen.

Helfen konnten ihnen dabei letztlich weder die Behörden noch der WEISSE RING – der Datenschutz steht dem entgegen. Allerdings hat der WEISSE RING in diesem besonderen Fall mit seinen vielen Betroffenen einen Brief an die Familien verschickt, die sich im Lauf der Jahre mit der Bitte um Unterstützung beim Verein gemeldet hatten. Petra Klein, stellvertretende Bundesvorsitzende und als Opferhelferin selbst aktiv im Fall Högel, versicherte darin den Empfängern: „Weder sind wir in die Konzeption des Films eingebunden, noch fördern wir das Projekt in materieller Hinsicht. Wir begrüßen aber ausdrücklich, dass sich die Dokumentarfilmerinnen Gedanken über die möglichen Konsequenzen ihres Projekts für Betroffene machen und sich die Frage stellen, was dieser Film bei Opfern und Angehörigen auslösen könnte.“ Wer von ihnen mehr Infos wünsche, Interesse an dem Vorab-Screening habe oder sonstigen Gesprächsbedarf sehe, könne sich beim WEISSEN RING melden.

Bisher nur eine Rüge für True-Crime-Format

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Bisher nur eine Rüge für True-Crime-Format

Die Rügen des Deutschen Presserats sind in vielen Medienhäusern berüchtigt. True-Crime-Macher mussten sich hingegen bisher kaum Sorgen machen.

Foto: Andrys Stienstra/Pixabay

Beschwerden speziell über True-Crime-Formate erreichen den Deutschen Presserat kaum: „Bislang haben wir dazu auch nur eine Rüge ausgesprochen, und zwar 2019 gegen ‚Stern Crime‘”, teilt die Organisation, die die Einhaltung des Pressekodex überwacht, auf Anfrage der Redaktion mit.

Die Überschrift der Meldung, die der Rat dazu veröffentlichte, spricht für sich: „Opfer kurz vor der Ermordung fotografiert.“ Dass das Magazin den Schutz der Persönlichkeit (Ziffer 8 des Pressekodex) sowie das Verbot von Sensationsberichterstattung (Ziffer 11) nicht berücksichtigt hatte, wurde als schwerer Verstoß gewertet. Der Artikel  „Killer on the Road“ handelt von einer Mordserie, in der in den 1980er- und 90er-Jahren in den USA Tramperinnen zu Opfern wurden. „Insbesondere die Veröffentlichung eines Fotos, das der Täter von einem der minderjährigen Opfer kurz vor dessen Ermordung gemacht hatte, verstieß gegen den Opferschutz und erfüllte das Kriterium der unangemessenen Darstellung.“  Zudem seien weitere Opfer namentlich genannt und durch Portraitfotos identifizierbar dargestellt worden, heißt es in der Meldung.

#TrueCrimeReport: Was dürfen True-Crime-Formate – und was nicht?

Bei Beschwerden, die den Presserat grundsätzlich im Zusammenhang mit Opferschutz erreichen, geht es überwiegend um die Abbildung von Betroffenen. „Der Klassiker: Eine Redaktion übernimmt aus den sozialen Medien das Foto einer Person, die Opfer eines Unfalls oder Verbrechens wurde, ohne das Opfer oder die Angehörigen um Erlaubnis zu bitten”, beschreibt eine Sprecherin. Seit Jahren stünden solche schweren Verstöße in der Rügen-Statistik an erster Stelle. Die Rügen richteten sich in der Mehrheit gegen Boulevardmedien, „und hier vor allem BILD”. Wie oft sich Betroffene über Opferschutz-Themen bei ihm beschweren, kann der Presserat nach eigenen Angaben nicht nachvollziehen.

Die sieben wichtigsten Erkenntnisse aus unserer Recherche

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Die sieben wichtigsten Erkenntnisse aus unserer Recherche

Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS zu True Crime recherchiert – und so erstmals ein detailliertes Lagebild erstellt.

Foto: Alexander Lehn

#1 True Crime boomt.

True Crime kommt zunehmend auch aus der unmittel­baren Nachbarschaft: Mehr als jede zweite lokale Zeitungsredaktion hat bereits ein regel­mäßiges Angebot oder plant zeitnah eines. Das hat eine Umfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS ergeben.

#2 Millionen Menschen hören, schauen oder lesen True Crime.

Ein paar Beispiele nach Angaben von True-Crime-Machern: Die Videos des YouTube-Kanals „Insolito“ wurden insgesamt mehr als 55 Millionen Mal aufgerufen, der Podcast „Verbrechen von nebenan“ erreicht monatlich „mehrere Millionen“ Hörer, die Zeitschrift „Stern Crime“ startete 2015 gleich mit einer Auflage von 150.000 Exemplaren.

#3 „Wahre Verbrechen“ sind für Medien „Ware Verbrechen“.

Medienhäuser verkaufen mit True Crime Werbeblöcke, die bekanntesten True-Crime-Podcasts wie „Mordlust“ gehen auf Tournee, namhafte Marken wie „Zeit Verbrechen“ bieten Fan-Artikel wie Fußmatten oder Adventskalender an.

#4 True Crime bedeutet meistens Mord und Totschlag.

Drei Viertel der deutschen True-Crime-Podcasts beschäftigen sich mit Tötungsdelikten. Nur selten kommen andere Straftaten vor wie Raub (drei Prozent), Wirtschaftskriminalität (zwei Prozent) oder häusliche Gewalt (0,33 Prozent). Das ist das Ergebnis einer Datenanalyse des WEISSEN RINGS.

#5 True Crime ist mitunter (zu) schnell gemacht.

Mit True Crime können Zeitungen und Verlage nicht nur hohe Reichweiten erzielen – die Aufarbeitung abgeschlossener Kriminalfälle ist auch verhältnismäßig einfach zu recherchieren und produzieren: Texte und Bilder aus dem Archiv werden neu aufbereitet, in Podcasts interviewen sich Redaktionsmitglieder gegenseitig und schildern ihre Erinnerungen.

#6 Opfer und ihre Interessen spielen bei True Crime häufig keine Rolle.

Wenn Journalistinnen oder Journalisten über zurückliegende Kriminalfälle berichten, binden sie Opfer und ihre Angehörigen häufig nicht ein. Das bestätigen True-Crime-Macherinnen und -Macher in einer Umfrage des WEISSEN RINGS. Nicht selten stoßen Betroffene zufällig beim morgendlichen Zeitungslesen oder abendlichen Fernsehgucken auf „ihren“ Fall. Auf eine Umfrage des WEISSEN RINGS unter Lokalzeitungen meldeten sich zwar nur wenige Redaktionen zurück – die Mehrheit dieser Rückmelder gab aber an, für True-Crime-Formate keinen Kontakt zu Betroffenen aufzunehmen.

#7 Täter haben größere Rechte als Tote.

Mörder, die aus der Haft entlassen werden, müssen ihre Einwilligung zu einer identifizierenden Berichterstattung geben, während die Rechte ihrer toten Opfer nach zehn Jahren quasi erloschen sind. Der Medienanwalt Christian Schertz nennt das in seinem Meinungstext für „Forum Opferhilfe“ „kaum zu ertragen“.

Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot

Zu True Crime gibt es kaum Daten. Deshalb haben wir versucht, selbst welche zu erheben: mit einer KI-gestützten Analyse von Podcasts und einer Umfrage unter Zeitungen. Ergebnis: In True-Crime-Podcasts geht es fast ausschließlich um Mord und Totschlag.

Foto: Christian J. Ahlers

Liebe: Jeder erkennt sie, aber niemand kann sie richtig erklären – so ähnlich ist es auch bei True Crime. Wer den Begriff schon einmal gehört hat, hat eine Vorstellung davon, aber eine allgemeinverbindliche Definition gibt es nicht – keine gute Voraussetzung für eine Datenanalyse.

Aber wir wollten trotzdem herausfinden, wie groß der Hype im Bereich True-Crime-Podcasts ist und welche Inhalte sie behandeln. Dafür haben wir in einem ersten Schritt am 1. Februar die Metadaten (Titel, Beschreibung, Stich­wörter) von fast 10.000 deutschsprachigen Episoden heruntergeladen, die mindestens fünf Minuten lang und auf Plattformen wie Spotify, Podimo oder Apple in der Kategorie True Crime gelistet sind. Die Podcasts, zu denen diese Episoden gehören, haben wir mangels einer verbind­lichen Definition anhand der folgenden drei Elemente untersucht, die True Crime unserer Einschätzung nach kennzeichnen:

#1

Ein tatsächlich verübtes, ein „wahres“ Ver­brechen steht im Mittelpunkt. Demzufolge haben wir alle Podcasts, die eigentlich Mystery-Storys oder griechische Götter behandeln, nicht berücksichtigt. Ebenso Formate, in denen es eigentlich ums Kochen geht oder in denen nur Kaffee­klatsch gehalten wird, die aber aus inhaltlich nicht nachvollziehbaren Gründen von ihren Machern als True Crime beworben werden.

#2

Es handelt sich nicht um aktuelle Berichterstattung, aber auch nicht um historische Stoffe. So wird sogar die Ermordung Cäsars als True-Crime-Geschichte angeboten, ist aber aus den genannten Gründen nicht in unseren Datensatz aufgenommen worden.

#3

Das Format hat erzählerische Elemente. Rein nachrichtliche Beiträge fallen daher nicht in das True-Crime-Genre.

Bei etwa 40 Prozent der untersuchten Episoden handelte es sich nach den genannten Kriterien nicht um True-Crime-Inhalte und wir haben sie aus unserem Datensatz entfernt. Berücksichtigt haben wir schließlich 5.914 Episoden von 283 Formaten. Im Durchschnitt hat also jeder Podcast des Genres gut 20 Folgen ver­öffentlicht. Das ist ziemlich viel und zeigt, dass es den Podcasts gelingt, das Publikum über einen längeren Zeitraum zu halten. True-Crime-Podcasts fesseln.

Die händische Auswertung einer zufälligen Stichprobe von mehr als 600 Episoden aus dem Datensatz ergab im zweiten Schritt unserer Untersuchung, dass die am häufigsten behandelten Verbrechen Tötungsdelikte sind: 451 Fälle von Mord, Serienmord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, erweitertem Suizid und Ähnlichem (rund 75 Prozent). Zum Vergleich ein Blick in die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik 2022: Der Anteil der „Straftaten gegen das Leben“ gemessen an allen erfassten Straftaten beträgt 0,1 Prozent. Die nach den Tötungsdelikten häufig­sten Taten in der Stichprobe waren Entführungs- und Vermisstenfälle (rund 8 Prozent), Vergewaltigung und Kindesmissbrauch (jeweils rund 3 Prozent).

In einem dritten Schritt haben wir sodann eine künstliche Intelligenz (KI) mit den Daten aus der Stichprobe trainiert, die daraufhin sämtliche Episoden im True-Crime-Datensatz auf deren Inhalt prüfte. Diese Analyse bestätigte das Ergebnis der Stichprobe für den gesamten Datensatz: Drei Viertel aller Episoden behandeln Fälle, in denen Menschen getötet wurden. True-Crime-Podcasts fesseln –  mit Mord und Totschlag.

 

True Crime in Medien: Umfrage unter Lokal- und Regionalzeitungen

Spielt der True-Crime-Hype, der sich am großen überregionalen Angebot ablesen lässt, auch für traditionellen Medien eine Rolle? Dieser Frage sind wir mittels einer nicht repräsentativen Umfrage nachgegangen, zu der wir Ende 2022 alle Lokal- und Regionalzeitungen in Deutschland eingeladen haben. Der Rücklauf war äußerst gering: Von 305 angefragten Zeitungen haben lediglich 53 die Frage beantwortet, ob sie aktuell ein regelmäßiges True-Crime-Format anbieten, beispielsweise eine Artikelserie oder einen Podcast. 22 davon bejahten dies, sechs gaben an, dieses Jahr ein entsprechendes Format einführen zu wollen.

#TrueCrimeReportWie die Redaktion recherchiert hat

Uns interessierte insbesondere, wie Journalisten bei der Produktion mit Opfern oder Angehörigen umgehen. Daher haben wir Redaktionen, die laut erster Umfrage bereits True-Crime-Inhalte veröffentlichen und Kontakt­daten angegeben hatten, gebeten, an einer zweiten Befragung teilzunehmen. Nur von sechs erhielten wir Rückmeldungen: Ein Teilnehmer gab an, bei der Recherche mit Betroffenen in Kontakt zu treten. Ein weiterer gab an, dies gelegentlich zu tun.

Die übrigen vier Teilnehmer nehmen keinen Kontakt auf, mit der Begründung, dies sei inhaltlich nicht nötig. Auch informieren sie die Betroffenen nicht vor der Veröffentlichung des Beitrags, da dies entweder rechtlich nicht erforderlich sei oder sie keine Kontaktdaten hätten.

Wie die Redaktion recherchiert hat

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Wie die Redaktion recherchiert hat

Mit dem #TrueCrimeReport hat der WEISSE RING ein Lagebild zum boomenden Genre veröffentlicht. Wie ist die Redaktion dabei vorgegangen?

Foto: Christian J. Ahlers

Mit dem #TrueCrimeReport hat der WEISSE RING ein Lagebild zum boomenden Genre veröffentlicht. Wie ist die Redaktion dabei vorgegangen? Die wichtigsten Fakten:

#1

In der Redaktion des WEISSEN RINGS arbeiten Journalistinnen und Journalisten, die Berufserfahrung unter anderem als Filmregisseurin, Buchautor oder Polizei- und Gerichtsreporterin gesammelt haben. Sie veröffentlichten vor ihrem Wechsel zu Deutschlands größter Opferhilfeorganisation selbst Beiträge, die unter das Etikett True Crime fallen.

#2

Auch im Auftrag des WEISSEN RINGS veröffentlichen wir im Magazin „Forum Opferhilfe“, auf der Webseite, in den sozialen Medien und mit unserem Hör-Angebot „WRstory“ Beiträge, die als True Crime etikettiert werden können und es teilweise auch werden, weil sie sich mit realen Kriminalfällen beschäftigen. Anliegen der Redaktion ist es bei all diesen Beiträgen, Opfer-Perspektiven herauszuarbeiten.

#3

Das wachsende Interesse an True Crime lässt sich am erhöhten Aufkommen in der Pressestelle des WEISSEN RINGS messen: Es häufen sich die Anfragen entsprechender Formate, die auf der Suche nach Opfer-Kontakten sind, um mit ihnen für ihre Podcasts, Filme oder Texte zu sprechen. Gleichzeitig berichten Betroffene dem WEISSEN RING von ihrer Verunsicherung und von ihren Erfahrungen mit True-Crime-Formaten.

#4

Es gibt keine einheitliche Definition von True Crime (auf Deutsch: „wahre Verbrechen“). Kennzeichnend für das Genre sind unserer Beobachtung nach:

– dass True-Crime-Formate keine fiktiven, sondern tatsächlich geschehene („wahre“) Kriminalfälle aufbereiten,

– dass sie dies mit erzählerischen Mitteln tun (Storytelling),

– dass es sich dabei nicht um aktuelle Kriminali­tätsberichterstattung handelt, sondern zumeist um länger zurückliegende, oft juristisch abgeschlossene Geschehnisse.

#5

Es fehlt an Statistiken und wissenschaftlicher Forschung zu True Crime, was mit der unklaren Definition zusammenhängen könnte. Wir haben deshalb versucht, eigene Daten zu erheben. Wir haben künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt für eine quantitative Umfrage unter 305 deutschen Lokal- und Regionalzeitungen, um zu erfahren, ob sie regelmäßige True-Crime-Inhalte produzieren. Ebenfalls mithilfe von KI haben wir die Delikte analysiert, die in deutschsprachigen Podcasts thematisiert werden. Bei den Zeitungen haben wir eine qualitative Umfrage angeschlossen, auf die es allerdings nur wenige Rückmeldungen gab.

#6

Qualitativ befragt haben wir zudem ausgewählte True-Crime-Macherinnen und -Macher. Die Ergebnisse beider Umfragen sind keineswegs repräsentativ, aber sie lassen Rückschlüsse zu und machen Trends erkennbar.

#7

Wir haben Postings und Kommentare in Social Media zu True Crime ausgewertet und in einer Umfrage Instagram-Nutzer nach ihren Erfahrungen mit True Crime befragt.

#8

Während unserer Recherche haben wir mit zahlreichen Kriminalitätsopfern gesprochen. Die Mehrzahl von ihnen stand bereits zuvor in Kontakt mit dem WEISSEN RING.

#9

Kontakt aufgenommen zu Betroffenen haben wir, wenn möglich, über die ihnen vertrauten Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS. Die meisten Betroffenen wollten nicht mit uns über ihre Erfahrungen mit der True-Crime-Berichterstattung sprechen. Sie meldeten uns häufig zurück, dass sie nicht noch einmal alles durchmachen und nicht noch einmal in der Öffentlichkeit stehen möchten.

#10

Wir haben im Sinne einer journalistischen Aufbereitung des Themas Expertise eingeholt von Juristen, Wissenschaftlern, Psychologen, True-Crime-Macherinnen und -Machern, Fernsehkritikern, Presserat und Opferbetreuern des WEISSEN RINGS. Ziel war es, so aus zahlreichen Mosaiksteinchen ein Lagebild zu True Crime in Deutschland zu erstellen, das sowohl die negativen wie auch die positiven Aspekte zeigt.

ZDF darf Fotos von Entführungsopfern nicht mehr zeigen

Erstellt am: Sonntag, 9. April 2023 von Sabine

Foto: Uli Deck/dpa

Datum: 09.04.2023

ZDF darf Fotos von Entführungsopfern nicht mehr zeigen

Persönlichkeitsrechte oder Interesse der Öffentlichkeit – was überwiegt? Der Bundesgerichtshof hat dazu nun ein wegweisendes Urteil gefällt, das die Arbeit von True-Crime-Machern verändern könnte.

Karlsruhe – Das ZDF darf in einem Beitrag über ein Ende 1981 entführtes Kind nicht weiter Fotos sowie einen Brief des Mädchens zeigen und keinen Audio-Mitschnitt eines Telefongesprächs verwenden. Andernfalls drohten eine Haftstrafe oder eine Geldstrafe von bis zu 250.000 Euro, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. „Die Klägerin ist als damals minderjähriges Opfer einer schweren Straftat in ganz besonderem Maße schutzwürdig“, heißt es in einem nun veröffentlichten Urteil (Az. VI ZR 309/22).

Das ZDF erklärte, nach Auswertung der Urteilsgründe über das weitere Vorgehen redaktionell und juristisch zu entscheiden. Der Beitrag sei in einer überarbeiteten Fassung zuletzt am 28. Mai dieses Jahres ausgestrahlt worden. Online sei er aktuell nicht verfügbar.

Achtjährige wurde auf Schulweg entführt

Die damals acht Jahre alte Bankiers-Tochter war in Köln in einem Auto entführt und fünf Monate später auf einer Autobahnraststätte bei Solingen freigelassen worden. Die Eltern hatten 1,5 Millionen Mark Lösegeld gezahlt. Die Tat ist bis heute unaufgeklärt und mittlerweile verjährt.

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Der Sender ZDFinfo hatte in einer 2018 ausgestrahlten Dokumentation Fotos des Mädchens von der damaligen Suche sowie das Cover einer Illustrierten mit einem Bild des Kindes nach der Entführung gezeigt. Außerdem einen von der Klägerin während ihrer Entführung geschriebenen Brief. Ferner nutzten die Macher einen Mitschnitt eines ebenfalls während der Entführung geführten Telefongesprächs, in dem sich die Klägerin zum Ablauf einer geplanten Lösegeldübergabe äußerte.

BGH kassiert älteres Urteil ein

Das Oberlandesgericht Köln hatte im März 2022 entschieden, die Veröffentlichung verletze die Rechte der Klägerin nicht. Es handle sich um Dokumente der Zeitgeschichte und ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Die Interessen der Klägerin müssten zurücktreten.

Das sah der BGH nun anders und hob das Urteil auf. Das Recht am eigenen Bild werde schon dann beeinträchtigt, wenn ein Abgebildeter begründeten Anlass hat, anzunehmen, er könne identifiziert werden. Der Begriff des Zeitgeschehens dürfe nicht zu eng verstanden werden, allerdings bestehe das Informationsinteresse nicht schrankenlos. „Die Belange der Medien sind dabei in einen möglichst schonenden Ausgleich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von einer Berichterstattung Betroffenen zu bringen“, heißt es im Urteil.

Persönlichkeitsrecht überwiegt

Zwar attestierte der sechste Zivilsenat dem Sender, die Bilder kontextgerecht verwendet zu haben – zwei Fotos des Kindes, die einige Wochen vor der Entführung gemacht und den Ermittlungsbehörden übergeben wurden, dienten während der Entführung zur öffentlichen Suche nach dem Mädchen. Auch der Brief und der Audio-Mitschnitt belegten die Authentizität und veranschaulichten das Geschehen. Alle Dokumente waren schon früher einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Allerdings seien seit der Entführung bis zur Veröffentlichung des Films 35 Jahre und bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht 40 Jahre vergangen, erklärte der BGH. „Weder aus dem Kontext des Filmbeitrags der Beklagten noch aus sonstigen Feststellungen ergibt sich eine gleichwohl fortdauernde Bedeutung gerade der Person und vor allem der Persönlichkeit der Klägerin.“

Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Aber wie gehen Sie mit Betroffenen um?

ber auch unabhängig davon könne das Opfer einer Straftat nach einem gewissen Zeitablauf Anspruch darauf haben, selbst zu entscheiden, ob sein Bildnis noch zur Illustration und erneuten Vergegenwärtigung seiner damaligen Opferrolle verwendet werden darf. „Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Fotos der Klägerin aus Kindertagen ohne die an ihr verübte Straftat nicht in die Öffentlichkeit gelangt wären.“

WEISSER RING: Starkes Signal an Betroffene

Der WEISSE RING begrüßt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: „Das Urteil ist wegweisend. Es betrifft nicht nur die Arbeit des ZDF, sondern generell True-Crime-Produktionen in Deutschland. Es ist ein starkes Signal an Betroffene von Kriminalität“, sagte der Bundesvorsitzende Dr. Patrick Liesching. Die erst kürzlich veröffentlichten Recherchen des WEISSEN RINGS hätten belegt, dass die Belange von Opfern kaum eine Rolle spielen, wenn „ihre Fälle“ in Videodokumentationen, Podcasts oder Magazinen nacherzählt werden.

„Die höchstrichterliche Entscheidung unterstreicht unsere Forderung, dass Betroffene in Produktionen über wahre Verbrechen viel mehr eingebunden werden müssen“, sagte Liesching weiter. Das mindeste sei es, dass Betroffene vorab informiert werden müssten. Die Macherinnen und Macher solcher Formate sollten sich zudem gut überlegen, ob der Fall wirklich erneut erzählt werden müsse. „Über allem sollten die Persönlichkeitsrechte der Menschen stehen, die bereits sehr viel Leid in ihrem Leben erfahren mussten“, so Liesching.