Christian Solmecke erklärt, was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht  

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Christian Solmecke erklärt, was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht  

Was rechtens ist und was nicht, erläutert der bekannte Anwalt und Medienrechtsexperte Christian Solmecke.

Foto: Tim Hufnagl

Wann müssen Fotos verpixelt werden? Wann dürfen Namen oder Orte genannt werden und wann nicht? Wer True-Crime-Formate aufmerksam verfolgt, stellt fest: In diesen Fragen scheinen die Macherinnen und Macher keine einheitliche Antwort zu kennen. Das Gesetz hingegen spricht eine klare Sprache. Was rechtens ist und was nicht, erläutert der bekannte Anwalt und Medienrechtsexperte Christian Solmecke.

Christian Solmecke hat sich als Rechtsanwalt und Partner der Kölner Medienrechtskanzlei „Wilde Beuger Solmecke“ auf Beratungen in der Internet- und IT-Branche spezialisiert. Der 49-Jährige betreut auch Medienschaffende und schreibt Fachbücher zum Thema Online-Recht. Vor seiner Tätigkeit als Anwalt arbeitete er mehrere Jahre als Journalist, unter anderem für den Westdeutschen Rundfunk.

1) Verbrechensopfer haben klare Rechte

„Für alle Personen gilt, dass ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht verletzt werden darf. Allein wenn das öffentliche Informations­interesse überwiegt, darf unter Abwägung der Interessen berichtet werden. Für alle gilt weiter­hin, dass unwahre Tatsachenbehauptungen nicht hingenommen werden müssen, zulässige Meinungsäußerungen jedoch schon“, sagt Solmecke.

„Für die Rechte von Opfern – tot oder lebendig – und Angehörigen ist vor allem maßgeblich, dass die Presse auch die Aufgabe hat, über zeitgeschichtliche Ereignisse und Straftaten zu berichten. Allgemein gilt jedoch der Gedanke des Opferschutzes.“

2) Identifizierende Berichterstattung ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt

Identifizierende Berichterstattungen seien demnach nur ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn die Identität des Opfers für das Verständnis eines Geschehens erheblich ist und das Verfahren mit großer Öffentlichkeitswirkung stattfindet.

Die Nennung des vollen Namens identifiziere die Person direkt und sei nach dieser Abwägung in aller Regel nicht zulässig. „Identifizierbar kann die Person aber auch dann sein, wenn der Nachname abgekürzt wird. Und zwar wenn noch andere Merkmale genannt werden (‚Erich H. aus Oldenburg‘). Das kann der Wohnort oder auch der geschilderte Tatort sein“, erläutert Solmecke.

3) Medien dürfen Fotos von Opfern nicht ohne Zustimmung veröffentlichen

Für die Bildberichterstattung gelte, dass grundsätzlich eine Zustimmung eingeholt werden muss. Nur wenn es ein Bildnis von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse sei, dürfe es im Einzelfall dennoch abgedruckt werden. Im Falle des Opfertodes müssen Angehörige in die Bildberichterstattung einwilligen, erklärt Solmecke weiter.

4) Für True Crime gelten meist strengere Regeln als für aktuelle Berichterstattung

„True-Crime-Formate berichten – anders als aktuelle Nachrichten – oft über lange zurückliegende Fälle. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit dürfte in diesen Fällen also abgeklungen sein, so dass die identifizierende Berichterstattung in wenigeren Fällen gerechtfertigt ist“, so Solmecke. Die identifizierende Berichterstattung über Opfer und Angehörige sei dann nur noch unter sehr hohen Anforderungen gerechtfertigt. Es müsse eine Einzelfallabwägung zwischen den Betroffenenrechten und den Öffentlichkeitsrechten stattfinden. „Nur wenn das Opfer beispielsweise prominent war oder andere Faktoren gegeben sind, weshalb das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiegt, kann eine identifizierende Bericht­erstattung auch noch Jahre nach dem Fall gerechtfertigt sein.“

5) Sensationsjournalisten nehmen Rechtsverletzungen häufig billigend in Kauf

„Im Rahmen des Sensationsjournalismus wird die Verletzung von Persönlichkeitsrechten vor allem wegen der hohen Auflagenzahlen häufig gebilligt“, sagt Solmecke. „Je mehr Schock, Empörung und Befriedigung der Sensationsgier, desto höher leider oft der Gewinn.“ Die durch Prozesse anfallenden Kosten würden oft durch die mit der Berichterstattung erzielten Einnahmen übertroffen – zumal nicht alle Betroffenen die Kosten und Mühen eines Prozesses auf sich nehmen.

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

„Das Böse im Menschen“ steht im Mittelpunkt der Arbeit von Nahlah Saimeh. Hier erklärt die forensische Psychiaterin, was Menschen an True Crime fasziniert.

Foto: Ralf Zenker

„Das Böse im Menschen“ steht im Mittelpunkt der Arbeit von Nahlah Saimeh. Die forensische Psychiaterin begutachtet Straftäter, dabei untersucht sie die Schuldfähigkeit der Täterinnen und Täter und ihre Gefährlichkeit. Dank ihrer langjährigen Expertise ist sie in True-Crime-Formaten eine viel gefragte Interviewpartnerin. Hier erläutert sie, warum True Crime so viele Menschen fasziniert.


Ob Magazin, Podcast, Fernsehen oder Youtube: True Crime boomt. Warum findet das Publikum Gefallen am Leid anderer Menschen?

Ich denke nicht, dass die True-Crime-Community Gefallen am Leid anderer findet. Es geht nicht um Sadismus, sondern um ein von sensation seeking und Emotionsverstärkung getriebenes Verhalten, durch die Schicksale anderer an etwas Besonderem, etwas Außergewöhnlichem teilzuhaben – und dennoch selbst verschont zu bleiben. Außerdem lassen die Formate zu, dass wir uns über die Bösartigkeit der Täter oder über den vermeintlichen Leichtsinn der Opfer erheben und uns damit überlegen fühlen. Vor allem erleben wir unsere persönliche Sicherheit in einer insgesamt unsicheren Welt.

Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede innerhalb des Genres?

Grundsätzlich unterscheide ich gerne zwischen True-Crime-Formaten wie „Aktenzeichen XY… ungelöst“, hinter dem das Anliegen steht, ungeklärte Verbrechen doch noch aufzuklären, und jenen Formaten, die – mit mehr oder weniger anspruchsvollen Informationen – auch unterhalten wollen. Vielleicht ist der Informationsteil aber letztlich auch nur Legitimationsüberbau für die Unterhaltung.

Was unterscheidet True Crime von Krimis?

Nun ja, die Formate überlagern sich. Ich kenne Krimis, die basieren auf wahren Geschichten und wahre Geschichten überholen manches Drehbuch auf der Standspur. Die Realität ist manchmal absolut unglaublich.

Welche Auswirkungen können True-Crime-Formate auf das Publikum haben?

Am ehesten denke ich, dass die Häufigkeit von Gewalttaten überschätzt wird.

Es heißt, das Genre komme vor allem bei Frauen gut an. Wieso ist das so?

Frauen interessieren sich sehr viel mehr für Psychologie und für Motive menschlichen Handelns. Sie sind in Bezug auf einige wenige Gewaltformen, das betrifft Sexualdelikte und Partnerschaftsgewalt, häufiger Opfer als Männer und sie sind für emotionale Themen wie Opferleid empfänglicher. Männer interessieren sich weniger für emotionale Befindlichkeiten von Personen, mit denen sie ohnehin nichts zu tun haben, und sie identifizieren sich auch nicht mit den Opfergeschichten.

Können solche Formate auf der anderen Seite auch etwas leisten?

Das habe ich mich auch gefragt, denn auch ich muss mir selbst gegenüber Rechenschaft darüber ablegen, warum ich zum Beispiel Interviews zum Thema gebe oder in True Crime-Formaten mitwirke. Für mich persönlich gibt es nur eine einzige Legitimation: anhand von Fällen zu erläutern, was Menschen anfällig macht, gewalttätig zu werden. Ich will dazu beitragen, dass wir den potenziellen Gewalttäter als einen mit Leben und Schicksal Überforderten auch in uns selbst erkennen können.

Genau darum geht es oft in True-Crime-Produktionen, im Fokus steht meist die Täterin oder der Täter. Sind sie spannender als die Opfer?

Täterinnen und Täter brechen Tabus. Sie tun etwas, was man sich selbst nicht trauen würde und was man nicht für möglich gehalten hätte. Sie sind gewissermaßen stellvertretend für uns asozial. Daher betone ich den Ansatz, möglichst nüchtern zu erklären und damit den Zuschauenden zu sagen: Du und ich könnten im Grunde unter anderen Umständen genauso handeln. Ich vermute übrigens, dass es in sehr gewalttätigen Gesellschaften gar kein Interesse an True Crime gibt. Mord und Totschlag haben die Menschen dann vor der Haustür, als reale Gefahr.

Muss man in solchen Formaten Betroffenen eine Stimme geben?

Man muss Betroffenen keine Stimme „geben“, denn die haben sie ja, sondern ihre Stimme hören und ernst nehmen. Wenn man jemandem eine Stimme „gibt“, macht man ihn oder sie klein. Wichtig ist für Betroffene ja auch, zu einer Selbstwirksamkeit zurückzufinden und selbstbewusst ihre Standpunkte zu vertreten.

Was sollten True Crime-Macher auf gar keinen Fall machen?

Sachlichkeit ist ja der Killer der Unterhaltung. Ich bin keine Freundin künstlicher Emotions-Erzeugung und mir sind Formate lieber, die präzise erklären. Ich bin schon gar keine Freundin von Fragen, wie andere Leute – in diesem Fall Opfer – sich zu fühlen haben. Jeder Mensch empfindet anders und geht mit Schicksalsschlägen anders um, weil er bestimmte Resilienzen hat, bestimmte Vorerfahrungen, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften. Das Normative, wie man gefälligst als Opfer zu sein hat, finde ich problematisch.

Wie könnten Medienschaffende Opfer oder Angehörige am besten in den Entstehungsprozess eines solchen Formats einbinden?

Die Antwort auf diese Frage steht mir nicht zu. Das können allein Opfer und deren Angehörige beantworten.

„Zeit Verbrechen“: Unterwegs in dunklen Ecken

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Karsten

„Zeit Verbrechen“: Unterwegs in dunklen Ecken

Daniel Müller (41) ist seit Januar 2021 Chefredakteur des True-Crime-Magazins „Zeit Verbrechen“, vorher arbeitete er als Kriminal- und Gerichtsreporter. Was fasziniert ihn an Verbrechen? Darf True Crime unterhaltend sein? Wo verlaufen die Grenzen zwischen gutem und schlechtem Journalismus? – Ein Interview in Hamburg.

In einem schmalen Büro im „Helmut-Schmidt-Haus“ in Hamburg, Hauptsitz der Wochenzeitung „Die Zeit“, hängen 124 bunte DIN-A4-Seiten an der Wand: die aktuelle Ausgabe von „Zeit Verbrechen“. Vor den 124 Seiten steht entspannt im Freizeitlook Daniel Müller, der Chefredakteur; das Heft ist fertig, er sieht zufrieden aus. Dies ist nicht sein Büro, Müller lebt und arbeitet in Berlin. Nach Hamburg fährt er alle zwei Monate zur Schlussproduktion des Magazins.  Er setzt sich an den kleinen Konferenztisch, um die nächsten eineinhalb Stunden über den angemessenen Umgang mit Opfern zu sprechen und  die Notwendigkeit, manchmal auch Texte zu schreiben, die Menschen verletzen können.

Herr Müller, angenommen, Sie wären Opfer einer Straftat geworden – hätten Sie dann gern mit dem Journalisten Daniel Müller zu tun?

Ich mache seit mehr als 20 Jahren Journalismus, und eine Frage hat mich nie losgelassen: Warum reden Menschen eigentlich mit uns Journalisten? Warum wollen sie mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit? Eine eindeutige Antwort habe ich nie gefunden, aber eines ist klar: Ein Verbrechen ist in jedem Leben ein tiefer Einschnitt. Es gibt Redebedarf. Von Opferseite, von Täterseite, von Angehörigen, Experten, Anwälten. Verbrechen bewegen ja immer mehr als nur zwei Menschen. Richtig ausmalen kann man sich das wohl erst, wenn man selbst in diese Lage gerät. Aber nehmen wir an, ich käme in diese Lage: Dann würde ich lieber mit jemandem wie mir zu tun haben als mit anderen.

Wie ist er denn, der Journalist Daniel Müller?

Das würde ich lieber andere beantworten lassen. Aber ich denke, dass ich ein aufrichtig interessierter, empathischer und nicht zu fordernder Mensch bin. Einer, der – hoffentlich – den richtigen Ton trifft im Umgang mit anderen. Mir ist es wichtig, Gespräche zu führen, keine Abfragerunden. Journalismus ist keine Einbahnstraße. Ich teile meinen Gesprächspartnern auch Dinge von mir mit. Die Menschen vertrauen mir etwas an, da möchte ich ihnen auch etwas geben und nicht wie ein Informationsstaubsauger an ihrem Tisch sitzen. Aber über allem steht bei mir der journalistische Grundsatz: „Be first but first be right“. Ich habe den Ehrgeiz, exklusive Geschichten zu recherchieren, niemals aber um den Preis, Unfug zu schreiben.

Gibt es im Umgang mit Opfern und Tätern richtigen und falschen Journalismus? Oder sprechen wir bereits über guten und schlechten Journalismus?

Schlechten Journalismus sehen wir jeden Tag. Allein schon, wenn die „Bild“-Zeitung das Wort „Kinderschänder“ verwendet, das ist Nazi-Vokabular. Und wenn sie dazu ohne Verpixelung das Gesicht eines Menschen abdruckt, der vielleicht gerade verhaftet, aber noch nicht einmal angeklagt wurde. Schlechter Journalismus ist Sensationsjournalismus. Und leider muss ich immer wieder erleben, wie diese Art von Journalismus anderen, seriös arbeitenden Kolleg:innen die eigene Recherche erschwert. Oft müssen wir Scherben aufkehren, die andere zurücklassen.

,,Natürlich geht es um die Story. Aber nicht um jeden Preis."

Daniel Müller
Das müssen Sie uns erklären.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben vor ein paar Jahren für die „Zeit“ ein Dossier recherchiert, es hieß „Die weißen Brüder“. Darin geht es um die Zwillingsbrüder Maik und André Eminger, beide rechtsextrem gesinnt, letzterer war Mitangeklagter von Beate Zschäpe beim NSU-Prozess und der wichtigste Helfer des NSU. Die beiden kommen aus einer kleinen Stadt im Erzgebirge. Bevor der Prozess losging, wollten wir wissen: Wie sind die beiden eigentlich geworden, was sie sind? Wir sind nach Johanngeorgenstadt gefahren, haben dort drei Tage verbracht – und festgestellt, dass uns praktisch jede Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Warum? Weil passiert ist, was leider dauernd passiert: Reporter hatten verbrannte Erde hinterlassen. In diesem Fall war es ein Fernsehteam, das sich wohl dachte: Wir fahren jetzt mal in dieses Nazi-Dorf und finden überall Insignien irgendwelcher Nazi-Banden. Und weil sie die nicht fanden, haben sie kurzerhand ein Hakenkreuz an eine Garagenwand geschmiert. Das haben sie abgefilmt und in ihren Beitrag aufgenommen. Das ist widerwärtig. Ja, Journalismus ist ein Beruf, in dem immer Druck herrscht. Wir haben alle Druck – Konkurrenzdruck, Zeitdruck, bei der Zeitung Andruck im wahrsten Sinne des Wortes. Aber das war einfach nur Verrat am Berufsethos.

Das ist also schlechter Journalismus. Und was ist guter Journalismus?

Das ist das, was wir hier machen, denke ich. Guter Journalismus ist ausgewogene, faire und gründliche Recherche. Ein Journalismus, der alle Seiten anhört und keine fertigen Meinungen durchdrückt, der sich nicht instrumentalisieren lässt von irgendeiner Partei, weder von der Opfer- noch der Täterseite. Journalismus, in dem sich Reporter:innen möglichst auch Ermittlungsakten beschaffen, um ein vollständiges Bild eines Falles zeichnen zu können. Journalismus, der auch mal entscheidet, eine Geschichte nicht zu machen, egal wie gut sie ist, weil die Veröffentlichung zum Beispiel jemanden gefährden könnte. Das tun wir regelmäßig.

Sie berichten bei „Zeit Verbrechen“, dem Magazin zum gleichnamigen Podcast, über „echte Kriminalfälle“, wie es auf der Titelseite heißt, also über True Crime. Die Autorin Margarete Stokowski sagte in ihrer Kolumne auf „Spiegel Online“ zum Beispiel über True Crime, dass die allermeisten Podcasts „der räudigste Auswurf seit Erfindung von Aufnahme- und Sendetechnik“ seien. Wie würden Sie True Crime beschreiben?

Ich will Margarete Stokowski nicht zu nahe treten, aber ihr Geschäft ist ja Krach und Tumult und moralische Dauerüberlegenheit. Sie mag eine gute Autorin sein, aber letztlich schaut sie von ihrem Balkon aus auf die Welt und kommentiert, was ihr da so auffällt. Unser Geschäft ist es, rauszugehen in diese Welt, mit den Menschen zu sprechen und Dinge zu erfahren, die zuvor nicht bekannt waren. Und manchmal auch Fehlverhalten aufzuspießen oder mitzuhelfen, dass Schiefgelaufenes in Ordnung kommt. True Crime ist erst einmal Realität, deshalb der Name. Mir fällt kein einziges Argument ein, warum man über Verbrechen und dessen Bekämpfung nicht berichten sollte, denn beides sind Bestandteile unserer Gesellschaft. Wir haben deshalb auch eine Seite in der „Zeit“, die jede Woche vom Verbrechen handelt.

Wenn Ihnen keine Argumente einfallen, warum man nicht darüber berichten sollte – fallen Ihnen denn gute Argumente ein, warum man darüber berichten sollte?

Ich glaube erstens, dass eine gute, tiefe, analytische, ausrecherchierte Berichterstattung über wahre Verbrechen präventiven Charakter haben kann. Zweitens: Sie kann Leute dazu animieren, genauer hinzuschauen und auf sich aufzupassen. Drittens ist es doch das Streben des Menschen, zu verstehen, was uns als Menschen ausmacht. Und wenn wir so tun, als wären Menschen, die Verbrechen begehen, Monster, dann fiktionalisieren wir sie. Dann spalten wir etwas ab von uns selbst und tun so, als hätte Verbrechen mit uns, dem Menschlich-Sein und dem Mensch-Sein, nichts zu tun. Hat es aber! Aggression und Wut sind zwei der elementarsten Gefühle aller Geschöpfe. Mich interessieren diese Kipp-Punkte in Gesellschaften und im Menschen selbst: Was veranlasst sie dazu, plötzlich kriegerisch zu werden oder Täter? Und dann ist es natürlich von grundlegender Bedeutung für den Staat, wie Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte arbeiten. Auch das macht einen Großteil unserer Berichterstattung aus. Das Treiben der Ermittlungsbehörden darf auf keinen Fall aus dem Fokus der Medien geraten.

,,Ich ertappe mich bei einer fast kindlichen Freude, wenn ich eine spannende Akte lesen kann."

Daniel Müller
Wie viel Unterhaltung steckt in dem, was Sie machen?

Natürlich wollen wir auch interessant sein und gern gelesen werden, wir machen ja kein Lexikon. Wenn wir im aktuellen Heft von „Zeit Verbrechen“ einen nackten Männerhintern in einer Bilderstrecke drucken, in der es um einen Nachbarschaftsstreit geht, dann machen wir das mit einem Augenzwinkern. Kriminalität ist grausam, aber manchmal ist sie auch skurril und ulkig, und das wollen wir zeigen. Keine Leserin hält 124 Seiten lang nur Horror aus.

Daniel Müller steht auf und zeigt auf die Wand, genauer: auf die Seite mit der Nummer 111. Zu sehen ist das Schwarz–Weiß-Foto eines Mannes mit Seitenscheitel und Schnurrbart, darunter die Zeile „Räuber aus Reklamesucht“.

Nehmen wir diese Geschichte aus dem aktuellen Heft. Der Text erzählt uns etwas über die Zustände im Berlin der 1920er-Jahre. Es geht um Verbrechen, ja, aber es geht auch um die Welt, wie sie vor 100 Jahren war, in der viele einen Vorläufer sehen für das, was heute ist. Das ist auch Edukation.

Müller geht weiter, er zeigt auf Seite 73, anschließend auf Seite 76.

Wir haben ein Interview mit einem Polizisten, der uns sagt, warum seine Behörde so rassistisch ist. Das ist politisch, aber natürlich geht es auch um Verbrechen: um Verbrechen innerhalb der Behörde, die geschaffen wurde, Verbrechen zu verhindern. Wir haben auch dieses wunderbare Format der „Kleinen Verbrechen“, mit dem wir zeigen, True Crime ist eben nicht nur Mord und Vergewaltigung und Gewalt an Kindern, sondern es sind auch die kleinen Dinge, die vor dem Amtsgericht landen. Jeden Tag stehen tausende Deutsche vor Gericht. True Crime ist immer auch Gesellschaftsdeutung.

Ich höre erstens: Sie haben überhaupt kein Problem damit zu sagen, „Zeit Verbrechen“ sei True Crime – ein Begriff, der für viele Menschen durch die vielen Sensationsformate ja durchaus negativ besetzt ist.

Ja, das ist vollkommen okay. True Crime steht ja sogar auf unserem Titel: „Echte Kriminalfälle“.

Zweitens: True Crime folgt einem gesellschaftlichen Auftrag, True Crime kann Prävention sein und Edukation und politische Bewusstseinsbildung. Hat True Crime für Sie auch einen journalistischen Reiz?

Mein Vater ist Anwalt, und ich bin so aufgewachsen: Bloß nichts falsch machen! Du weißt nie, wie schnell du vor Gericht landen kannst! Was natürlich dazu führte, dass das „Falsche“, das „Dunkle“, das „Absonderliche“ einen Reiz auf mich ausgeübt haben, immer schon. Was ist mit dem Jungen passiert, der fünfmal die Woche zum Fußballtraining ging und Profifußballer werden wollte, der gesund lebte und keinen Alkohol trank, und der dann plötzlich seine Freundin ermordet? Wie kann es sein, dass das Landeskriminalamt Bayern einen V-Mann in eine Rocker-Gruppierung einschleust, ihn nach dessen Auffliegen einfach fallen lässt, ja, gar seinen Einsatz für die Polizei leugnet, selbst als vor Gericht das Gegenteil bewiesen wird?

Bei der Formulierung vom „journalistischer Reiz“ dachte ich mehr an die handwerkliche Ebene. Es gibt wohl kaum ein journalistisches Gebiet, das so viele Unterlagen und Informationen bereithält für den Journalisten wie die Kriminalitätsberichterstattung – und ganz besonders True Crime mit abgeschlossenen Fällen. Macht es das für Journalisten besonders attraktiv? Vielleicht auch besonders leicht?

Im Gegenteil, ich glaube, es gibt nichts Schwereres und Anstrengenderes als die Kriminalreportage. Niemand will mit dir reden. Und wer mit dir spricht, will dich vereinnahmen. Und oft genug stehen Unsinn oder Vorurteile von Polizisten in den scheinbar objektiven Akten. Tatsächlich gibt es kaum einen anderen Bereich, der so gut dokumentiert ist. Aber Achtung: Man darf nicht alles glauben. Bei „Zeit Verbrechen“ sind wir dankbar für viele engagierte Leser*innen und Hörer*innen, die sich uns mit eigenen Geschichten anvertrauen. Die selbst schlimme Dinge erlebt haben oder Leute kennen, denen Schlimmes widerfuhr. Uns hören und lesen viele Polizeibeamte, Strafverteidiger, Staatsanwälte und forensische Psychiater, auch von denen melden sich auch immer wieder welche bei uns. Dieses Vertrauen haben wir uns durch langjährigen seriösen Kriminaljournalismus hart erarbeitet und ich sehe es als meine Pflicht an, dieses Vertrauen immer wieder zu bestätigen, durch fundierte Recherche. Und dazu gehört eben auch, sich Akten zu beschaffen. Doch mit einer Akte ist es eben nicht getan. Man kann auf hunderten Seiten irgendwelche Chat-Protokolle lesen, wie ein Detektiv – aber was bedeuten sie? Ich bin mit den „Drei Fragezeichen“ aufgewachsen, ich höre die Hörspiele bis heute beim Einschlafen, und ich ertappe mich bei einer fast kindlichen Freude, wenn ich eine spannende Akte lesen kann. Das ist aber weit weniger glamourös, als man sich das vorstellt, es ist eine Menge Schwarzbrot. Aber es verstecken sich oft Hinweise darin, die zu etwas Großem führen können. Zum Beispiel dazu, dass man erkennt: Die ganze Akte ist falsch. Hier sind Ermittler auf dem Holzweg. Wolfgang Kaes hat als Reporter beim Bonner „General-Anzeiger“ einen Mord aufgedeckt. Und die stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“, Sabine Rückert, hat als Kriminalreporterin mehrere Menschen aus dem Gefängnis geschrieben, die dort unschuldig einsaßen.

Das Aufdecken von Straftaten, das Lösen alter Fälle, der Dienst an der Gerechtigkeit – das wird gern als Argument für True Crime genannt. Zur Wahrheit gehört aber, dass das nur sehr selten geschieht. Praktisch gefragt: Bietet True Crime mit den vielen Ermittlungs- und Gerichtsakten die Chance, besonders guten Journalismus zu machen?

Allerdings. Deswegen verstehe ich es auch nicht, wenn Kolleg:innen eine Geschichte schreiben, die inhaltlich falsch ist, obwohl sie die Akten kennen. Entweder haben sie diese Akte nicht richtig gelesen, oder sie wissen nicht, wie man eine Akte liest – oder sie wollen sich ihre schöne These nicht kaputt machen lassen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Mir fehlt im True-Crime-Gewerbe manchmal die Bereitschaft, Grautöne wahrzunehmen. Ich verstehe nicht, warum alles immer schwarz/weiß sein muss. Entweder ist jemand gut, oder er ist böse. Aber vielleicht ist jemand auch nur ein bisschen gut oder nur in einer bestimmten Situation böse. Und vielleicht kann man erklären, warum das so ist. Ich mag Autor:innen, die sich trauen, Unsicherheiten transparent zu machen.

Wir sprachen jetzt über den gesellschaftlichen und den journalistischen Reiz von True Crime. Wie steht es um den ökonomischen Reiz von True Crime? Der Podcast „Zeit Verbrechen“ wird von Millionen gehört, das Magazin hat eine Auflage von rund 55.000 Exemplaren. Warum ist True Crime ein so erfolgreicher Markt?

True Crime ist nur da erfolgreich, wo Crime nicht so erfolgreich ist, denke ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Ländern wie Mexiko oder El Salvador, in denen die Gewalt grassiert, einen Markt für True Crime gibt. Das Interesse an True Crime ist schon auch ein Wohlstandsphänomen. Je besser es uns geht, desto lieber lassen wir uns in dunkle Ecken entführen. Das war schon bei der antiken Tragödie so: Wir erleben eleos und phobos, Jammern und Schauder, Furcht und Mitleid. Das sind reinigende Affekte. Das hat schon vor mehr als 2000 Jahren funktioniert, und es funktioniert umso besser, je mehr die Menschen Zeit und Muße haben, über sich selbst nachzudenken.

Aber wie weit darf man gehen, um dieses Unterhaltungsbedürfnis zu bedienen und auch zu monetarisieren? Ich zitiere noch einmal Margarete Stokowski: „Der preisgekrönte Podcast ,Zeit Verbrechen‘ tut faktisch das Gleiche wie die trashigen Formate: Aus realem Leid werden Unterhaltung und Profit geschaffen“.  „Zeit Verbrechen“ wirbt mit dem Slogan „Faszination Verbrechen“. Darf Verbrechen faszinieren und verkauft werden?

Zunächst einmal: Unser Podcast ist zwar preisgekrönt, aber kostenlos. Und dann: Ist es nicht faszinierend, wenn ein Mann jahrelang seiner Familie vorgaukelt, er sei ein Ingenieur bei Audi, der jeden Morgen brav zur Arbeit fährt – und in Wahrheit überfällt er 13 Jahre lang Banken? Wir können über Vokabeln streiten, aber als neugieriger Mensch ist für mich letztlich jeder Bereich im gesellschaftlichen Leben und auch jeder Bereich in einer Zeitung faszinierend, sonst würden die Leute es ja nicht lesen oder hören. Ich mache diesen Job wirklich nicht, um Frau Stokowski zu gefallen. Die kann das gerne blöd finden, und das dürfen gern auch alle anderen, die uns nicht hören oder lesen. Ich halte Kriminalberichterstattung für sehr wichtig in einem Land. Journalismus ist ein Supermarkt. Da gehst du ja auch nicht rein und kaufst alles, was angeboten wird, sondern nur, was dich interessiert.

,,Ich glaube, es gibt nichts Schwereres und Anstrengenderes für Journalisten als die Kriminalreportage."

Daniel Müller
Sie treten gegen Eintritt bei Live-Veranstaltungen auf, kürzlich etwa in Wien. Es gibt ein „Zeit Verbrechen“-Kartenspiel, es gibt einen „Zeit Verbrechen“-Adventskalender. Verbrechen hinterlassen Opfer, die Leid erfahren – haben wir es hier mit einer Kommerzialisierung des Leids zu tun?

Die Frage ist absolut berechtigt, und wir stellen sie uns natürlich auch selbst. Immer wieder und bei jedem Produkt, das wir herausgeben. Und ich kann Ihnen eines sagen: 90 Prozent der Ideen, die an uns herangetragen werden, lassen wir bleiben. Aber was ist verwerflich an einem Adventskalender, in dem der Raub einer Riesengoldmünze aus dem Berliner Bode-Museum in 24 Schritten erzählt wird?

Sie sind der Chefredakteur, Sie müssen für alle Produkte mit dem Etikett „Zeit Verbrechen“ in der Öffentlichkeit geradestehen.

Ich bin der Chefredakteur des Magazins. Den Podcast betreibt Frau Rückert. Wir können beide für unser Produkt geradestehen, weil wir sehr sorgfältig vorgehen – und immer wieder neu entscheiden. Bringen wir ein Buch heraus, dann stehen darin Fälle, die wir auch in Magazin oder Podcast erörtern. Es ist eine Erweiterung der Darstellung um Hintergrundmaterial oder Aktenauszüge für Leser:innen, die noch tiefer eintauchen wollen. Wenn wir einen Adventskalender machen, der Spielcharakter hat, verwenden wir dafür keine schweren Straftaten. Im zweiten Adventskalender hatten wir jetzt sechs verschiedene Fälle, die alle eher ein bisschen mystisch waren, wo aber niemand zu Schaden kam. Das ist wichtig. Jetzt kann man natürlich darüber streiten, ob man eine Fußmatte braucht, auf der „Zeit Verbrechen“ steht. Oder eine Kaffeetasse mit dem Aufdruck „Zeit Verbrechen“. Aber warum nicht? Wir haben sehr spitze Antennen dafür, das Leid von Menschen nicht zu kommerzialisieren.

Welche Rolle spielen die Opfer und ihre Angehörigen für „Zeit Verbrechen“?

Natürlich eine zentrale Rolle!

Ich meine nicht ihre Rolle für die Berichterstattung, sondern: Wie geht „Zeit Verbrechen“ mit Betroffenen um, deren Geschichten Sie erzählen? Wie nehmen Sie diese Menschen mit, binden sie ein, sorgen sich um sie?

Das ist sehr unterschiedlich. Nehmen wir den Fall des Patientenmörders Niels Högel, der in zwei Kliniken fast 100, möglicherweise gar 200 Menschen getötet hat: Da ist die schiere Anzahl an Opfern und Hinterbliebenen so gewaltig, dass man sie gar nicht alle mitnehmen könnte. Für mich fängt der korrekte Umgang mit Betroffenen bei der Ansprache an. Ich finde, als Kriminalreporter sollte man nie aus der kalten Hand beim Opfer anrufen oder – noch schlimmer – überraschend vor der Tür stehen und sagen: Sie sind doch die, deren Mann umgebracht wurde, wollen wir nicht mal darüber reden? Ich empfehle das gute alte Briefeschreiben. Ein Brief hat den Vorteil, sehr persönlich und trotzdem nicht zu nah und überfallartig zu sein. Ich schreibe Opfern immer Briefe. Es sei denn, ich habe einen Erstkontakt mit einem Anwalt, der sagt, ich vermittle Ihnen jemanden. Manchmal suchen Opfer die Unterstützung seriöser Medien.

Und wie geht es weiter, wenn der Kontakt hergestellt ist und die Opfer Ihnen ihre Geschichte erzählt haben?

In dem Prozess, in dem man so einen Artikel recherchiert, finde ich es gut, wenn man sich auch zwischendurch meldet und sagt: Nicht, dass Sie sich wundern, wir haben ja vor sechs Wochen gesprochen, warum da jetzt noch nichts erschienen ist, es ist eine sehr langwierige und aufwendige Recherche. Wenn man ehrlich erklärt, dass solche Recherchen ihre Zeit brauchen und dass es sogar sein kann, dass am Ende doch nichts daraus wird. Transparenz ist der Schlüssel. Wenn eine Geschichte druckfertig ist, schauen wir uns noch einmal tief in die Augen und fragen: Können wir das so machen, oder verletzen wir damit jemanden? Manchmal lautet die Antwort: Wir müssen da noch nachbessern. Oder warten. Manchmal lautet sie aber auch: Ja, wahrscheinlich verletzen wir damit jemanden, aber wir machen es trotzdem. Weil das gesamtgesellschaftliche Interesse überwiegt.

Kommt es vor, dass Sie fertige Texte Betroffenen vollständig zum Gegenlesen geben oder sie ihnen vorlesen?

Das machen wir grundsätzlich nicht. Herr über den Text bleibt der Autor oder die Autorin und nicht der Protagonist. Aber selbstverständlich lassen wir wörtliche Zitate autorisieren.

Könnten Sie sich vorstellen, besonders belasteten Kriminalitätsopfern möglicherweise Psychologen oder Psychotherapeuten zur Seite zu stellen, so wie es manchmal gefordert wird? Zum Beispiel, wenn ein Journalist für seine Story mit den Betroffenen an den Tatort zurückkehrt?

Wir Journalisten sollten uns nicht einmischen in das Leben von Erwachsenen, indem wir Psychologen mitbringen. Jeder Erwachsene kann selbst entscheiden, ob er mit uns redet oder nicht. Was man aber tun kann als Journalist: Man kann Menschen, mit denen man es zu tun bekommt, nahelegen, sich Hilfe zu holen. Ich habe schon mehrfach mit Personen zusammengesessen und gefragt: Sagen Sie, haben Sie schon mal an einen Psychotherapeuten gedacht? Dann hieß es meistens: Nee, das brauche ich ja nicht. Und ich sagte dann: Ich mache das schon eine Weile, und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen guttäte. Da gibt es viele Anlaufstellen, an die man sich wenden kann. Den WEISSEN RING zum Beispiel. Ohnehin finde ich es nicht besonders feinfühlig, mit Betroffenen an den Ort etwa einer Vergewaltigung zurückzukehren – und der Journalist schießt noch ein paar Fotos. Das sollte man nicht machen.

So etwas wird aber gemacht – weil es eben um die Story geht.

Es wird gemacht, aber nicht von uns. Natürlich geht es auch bei uns um die Story. Aber nicht um jeden Preis.

Transparenzhinweis:
Der Autor und Daniel Müller kennen sich seit fast zehn Jahren, sie haben u.a. vor Krogmanns Wechsel zum WEISSEN RING im Fall des Klinikmörders Niels Högel zusammengearbeitet. Texte von Krogmann sind auch schon in der „Zeit“ und auf „Zeit online“ erschienen.

Warum „Mordlust“ die Perspektive gewechselt hat

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Selina

Warum „Mordlust“ die Perspektive gewechselt hat

Der Podcast „Mordlust“ von Laura Wohlers und Paulina Krasa gehört zu den erfolgreichsten überhaupt. Wie gehen die Journalistinnen in ihrem Format mit Betroffenen um – und wie kann ein Perspektivwechsel gelingen?

Mordlust: der Podcast von Laura Wohlers und Paulina Krasa gehört zu den erfolgreichsten überhaupt.

Der Podcast von Laura Wohlers und Paulina Krasa gehört zu den erfolgreichsten überhaupt. Foto: Nico Wöhrle

Es ist ein Kampf ums Überleben. Eine junge Frau muss sich in der eigenen Wohnung gegen einen fremden Angreifer zur Wehr setzen. Gerade so kann sie den besonders schweren Vergewaltigungsversuch des Mannes abwehren. Gerade so schafft sie es, zu überleben – und ringt nun mit den seelischen Folgen. Dass Paulina Krasa und Laura Wohlers von schwerwiegenden und wahren Kriminalfällen wie diesem erzählen, ist nicht ungewöhnlich. Das tun sie in ihrem Podcast „Mordlust“ im Zwei-Wochen-Takt.

Doch in Folge 61, die den Fall der jungen Frau behandelt, gehen sie anders vor als sonst: Sie erzählen die Kriminalgeschichte erstmals aus der Ich-Perspektive, aus der Sicht des Opfers – und setzen sich damit ab vom gängigen Storytelling im True-Crime-Bereich, das Kritiker oft als zu täterfokussiert anprangern. Und bei dem regelmäßig von wahren Fällen erzählt wird, ohne dass Geschädigte eine Wahl haben, ob sie ihre Geschichte öffentlich ausgeleuchtet sehen wollen oder nicht.

Laura Wohlers und Paulina Krasa bemühen sich, opfersensibler vorzugehen. Dazu haben sie schon ein paar Mal Geschichten erzählt, die Kriminalitätsopfer mit ihnen geteilt haben. Bei den Journalistinnen, beide Anfang 30 und privat eng befreundet, hat sich die Sensibilisierung für die Perspektive von Kriminalitätsopfern nach und nach entwickelt. „Wir haben im Laufe unserer Arbeit gemerkt, dass das Rechtsprozedere häufig sehr auf die Täter:innen ausgerichtet ist und die Opfer sich da oft nicht genug repräsentiert sehen“, sagt Laura Wohlers. „Das hatten wir vor dem Podcast natürlich auch noch nicht so auf dem Schirm.“ Wohlers ist bei dem Gespräch in den Berliner Räumlichkeiten des Podcast-Managements digital aus Großbritannien zugeschaltet, sie lebt in London und Berlin. Paulina Krasa lebt ausschließlich in Berlin und ist vor Ort dabei. Das „Mordlust“-Team arbeitet ortsunabhängig.

Christian Solmecke: Was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht

„Mordlust“ gibt es seit fast fünf Jahren. Der Podcast gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten in Deutschland im True-Crime-Bereich. In den Folgen, von denen es bislang 118 gibt, schildern sie sich in der Regel gegenseitig einen Kriminalfall. Sexualisierte Gewalt, Morde, häusliche Gewalt: Die Verbrechen variieren, doch es gibt fast immer ein übergeordnetes Thema. Dazu sind häufig Fachleute zugeschaltet, die das Geschehen einordnen und weitere Hintergründe liefern. In Folge 103 war zum Beispiel Bianca Biwer ihr Gast, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, sie sprach über das Opferentschädigungsgesetz.

Ins Leben gerufen haben Laura Wohlers und Paulina Krasa den Podcast im Jahr 2018, nachdem beide ihr Volontariat beim Sat.1-Frühstücksfernsehen absolviert hatten – und nur wenige Monate nachdem der ebenfalls beliebte True-Crime-Podcast „Zeit Verbrechen“ an den Start ging. Inspiriert hätten sie damals britische und US-amerikanische Formate, sagt Laura Wohlers. Und weil es so ein Format wie ihres in Deutschland noch nicht gegeben habe, ergänzt Paulina Krasa. Doch entscheidend war für beide die Faszination für True Crime.

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

„Was machen Verbrechen mit Angehörigen, was mit Opfern? Und warum werden Menschen zu Täter:innen?“ Diese Fragen hätten sie sich gestellt, sagt Laura Wohlers. „Die fanden wir total spannend, und dann haben wir überlegt, wie wir ein True-Crime-Format auf die Beine stellen können – trotz unserer Jobs und ohne viele Ressourcen.“

Zunächst waren sie unabhängig unterwegs, bevor sie zwischenzeitlich zu „funk“ wechselten, dem Online-Jugendsender bei ARD und ZDF, und schließlich wieder selbstständig wurden. Auch wenn ihnen die Entscheidung schwergefallen sei, weil sie dort drei gute Jahre gehabt hätten – sie wollten lieber unabhängig sein.

Die Zeit bei den Öffentlich-Rechtlichen habe ihnen inhaltlich sehr geholfen. „Wir haben uns da noch mal ganz anders mit der Verbrechensberichterstattung auseinandergesetzt“, sagt Paulina Krasa. „Und da wurden wir auch sehr sensibilisiert.“ Man müsse beispielsweise nicht erzählen, wie oft ein Täter oder eine Täterin zugestochen hat und wie viel Blut dann auf dem Boden lag, um deutlich zu machen, dass jemand erstochen wurde.„Wir stellen uns bei jedem Fall, den wir erzählen, vor: Wie sehen die Angehörigen oder die Betroffenen selbst das, wenn sie die Geschichte hören? Und dann muss die Geschichte eben ethisch und moralisch gut aufgearbeitet sein.“

Umfrage: Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Den ersten Perspektivwechsel in Folge 61 hätten sie vor allem aus einem Grund vorgenommen: „Es gibt mittlerweile so einen Überschuss an True Crime und ich glaube, da muss man sich immer wieder bewusst machen, dass diese Geschichten wirklich die Schicksale und die Leben von Menschen sind“, sagt Paulina Krasa.  

„Und“, ergänzt Laura Wohlers, „ich finde es auch wichtig, dass wir das immer mal wieder machen, weil es daran erinnert, dass das echte Menschen sind und dass wir mal die Möglichkeit hatten, ganz nah an diese Menschen heranzukommen und sie richtig vorzustellen.“ Sie hätten versucht, die Betroffenen so authentisch wie möglich darzustellen, deren Stimme nachzuahmen, deren Wortwahl zu nutzen. „Wir wollten unseren Hörer:innen klarmachen, was das für Personen sind und was dieses Verbrechen mit ihnen gemacht hat.“

Sie glaubt auch, dass die Geschichten, die reale Frauen mit ihnen geteilt haben, das Bewusstsein ihrer Hörer im Umgang mit Geschädigten schärfen. Etwa, wie jemand sich verhalten kann, wenn ein Verbrechen im eigenen Umfeld passiert. Sich dann zum Beispiel zu fragen, was die Opfer und ihre Angehörigen brauchen.

Die Reaktionen auf die Folgen mit dem starken Opferfokus seien jedenfalls sehr positiv ausgefallen. Das zeigt auch die Nachricht einer der Betroffenen: Darin bedankt sich die Frau sehr herzlich bei den Podcasterinnen; deren Arbeit und die vielen Rückmeldungen hätten ihr Kraft gegeben. „Wir haben noch nie von Opfern oder Angehörigengespiegelt bekommen, dass ihnen etwas zu doll gewesen sei“, sagt Paulina Krasa.

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„Mordlust“ erzählt ausnahmslos Fälle, zu denen es bereits ein Gerichtsurteil gibt. „Ganz oft melden sich Leute bei uns, die Opfer eines Verbrechens wurden, das aber nie verurteilt wurde“, sagt Paulina Krasa. „All diese Fälle können wir leider nicht erzählen, weil wir dann nichts zum Gegenchecken hätten. Und wir uns nur auf die Erzählungen des Opfers berufen würden.“ Sie wollen ihre Geschichten belegen können.

„Generell, auch wenn wir nicht in jeder Folge eine Geschichte aus Opfersicht erzählen, gilt bei uns das Credo, dass die Opfer und Angehörigen viel Raum bekommen sollen“, sagt Laura Wohlers. „Dass der Täter oder die Täterin bei uns in die Mitte der Geschichte gestellt wird – das versuchen wir zu vermeiden.“

Bei der Auswahl der Themen wollen sie sich dagegen nicht beschränken. Für manche sei etwa Kindesmissbrauch unerträglich. Sie seien auch schon gefragt worden, ob das denn sein müsse. Aber, fragt Wohlers: „Wenn wir nicht über Kindesmissbrauch sprechen, wer spricht denn dann über Kindesmissbrauch?“

Um die Folgen vorzubereiten, brauchen sie in der Regel die zwei Wochen, die zwischen den Veröffentlichungsterminen liegen. „Es kommt natürlich immer darauf an, wie ausführlich die Quellenlage ist“, sagt Wohlers. Zunächst diskutieren sie das Thema, dann schreiben sie die Geschichten und nehmen auf, ehe sie sich dann die Aufnahme zusammen anhören. Nie, sagt sie, werde eine Geschichte veröffentlicht werden, die sie nicht vorher noch mal beide gehört und abgenommen haben. Denn natürlich, sagt sie, machen sie auch Fehler. In der Vergangenheit hätten sie etwa Begriffe benutzt, die sie heute nicht mehr verwenden würden, weil sie unsensibel waren. Da bekämen sie viele gute Hinweise aus ihrer Community. „Wir sind offen für konstruktive Kritik“, sagt Wohlers.

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Ihre Hörerschaft ist zu 75 bis 80 Prozent weiblich. Das geht aus den Statistiken von Analyseplattformen hervor. Aus eigener Umfrage wissen sie zudem, dass viele ihrer Hörerinnen sich sehr für die Psyche der Täter interessieren. Zum einen, weil deren Leben oft so weit entfernt von ihrem eigenen sei. Zum anderen, weil viele sich die Frage stellten, wie sie sich auf eine potenziell bedrohliche Situation vorbereiten können. „Das fanden wir spannend, weil ich im ersten Moment ein bisschen irritiert war von der Vorstellung, dass man sich Verbrechen anhört, um dann selbst für einen solchen Fall Verhaltensanweisungen herauszuhören“, sagt Paulina Krasa. „Aber tatsächlich ist das ja ein Thema, das viele Frauen beschäftigt: Dass sie, wenn sie beispielsweise abends allein nach Hause gehen, immer den Hintergedanken haben: Eventuell könnte mir jetzt hier was passieren.“

Kritiker werfen True-Crime-Formaten hingegen vor, dass sie auch Voyeurismus bedienen und zur Unterhaltung gehört werden. Krasa kann diese Kritik nachvollziehen. Sie sagt aber: Für Menschen, die solche Geschichten hören, um sich von der Couch aus zu gruseln, produzierten sie ihren Podcast nicht. Sie selbst konsumiere True-Crime-Podcasts nicht in dieser Weise. „Aber ich kann ja nicht ändern, mit welchen Hintergedanken Leute sich die Folgen anhören“, sagt sie.

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Klar sei ihnen auch, dass die Fallauswahl dazu beitragen kann, die Realität zu verzerren. „Ich weiß, laut Statistik erfahren Männer öfter Gewalt als Frauen, und zwar vor allem von Männern“, sagt Laura Wohlers. Sie hätten das auch schon häufiger im Podcast thematisiert. Dass Gewalt gegen Männer seltener zum Thema wird, hängt ihrer Meinung nach insbesondere damit zusammen, dass männliche Opfer wegen des vorherrschenden Männlichkeitsbildes und aus Angst vor gesellschaftlicherr Stigmatisierung ein größeres Schamgefühl hätten und sich deshalb seltener öffentlich äußern.

Mehr Angst vor Verbrechen haben Wohlers und Krasa durch ihre Arbeit nicht entwickelt, sagen sie. „Weil wir die Statistiken kennen und wissen, dass es so unwahrscheinlich ist, dass ich, wenn ich auf der Straße unterwegs bin, nachts von einem Fremden aus dem Gebüsch angefallen werde“, sagt Laura Wohlers.

In jedem Fall wollen sie ihre Arbeit noch eine Weile fortsetzen. „Wir haben früher immer gesagt, wir machen das fünf Jahre, und das wäre dieses Jahr. Doch das möchten wir auf keinen Fall wahr werden lassen. Ich würde sagen, jetzt machen wir noch fünf Jahre weiter“, prognostiziert Paulina Krasa.

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Für sie sei es wichtig aufzeigen zu können, was im Rechtssystem noch nicht richtig laufe, sagt Laura Wohlers. Auch wenn die Podcasterinnen, wie sie betonen, insgesamt sehr überzeugt seien vom deutschen Rechtssystem. Außerdem könnten sie durch das Sichtbarmachen von Missständen Leuten das Gefühl geben, etwas bewegen zu können. Häufiger schon hätten sie Nachrichten bekommen von Menschen, die sich erst durch den Podcast anzuzeigen getraut hätten, was ihnen angetan wurde, sagt Paulina Krasa.

Und solange die beiden das Gefühl haben, mit dem Podcast etwas bewirken zu können, wollen sie weitermachen.

Torsten Körner: „True Crime ist was für Feiglinge“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Torsten Körner: „True Crime ist was für Feiglinge“

True Crime findet er einerseits widerlich, zum anderen lächerlich – und auf jeden Fall medienethisch bedenklich. Gedanken des Schriftstellers und Fernsehkritikers Torsten Körner zu echten „Schlachtplatten fürs Gemüt“.

Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

Obgleich True-Crime-Formate boomen, nun schon seit Jahren boomen, wirkt dieses Label, dieses Echtheitsversprechen für mich gerade irgendwie altmodisch. Oder aus der Zeit gefallen. Wenn die Welt ringsherum in Flammen steht oder zumindest zu stehen scheint, wenn uns der Krieg in der Ukraine Tag für Tag mit Kriegsverbrechen konfrontiert und wir medial Zeuge werden können, wie Soldaten vor laufender Kamera erschossen, erschlagen oder enthauptet werden, dann fragt man sich, ob True-Crime-Erzählungen noch mit der realen Realität konkurrieren können. Denn der Krieg und andere Krisen verwandeln den Planeten in einen globalen Schauraum des Verbrechens, der es dem Individuum schwer macht, sich nicht schuldig, tatbeteiligt oder als gefühllos zu betrachten.

Der Einzelne muss zwangsläufig unglücklich werden, wenn er sich ansatzweise darauf einlässt, die Zeitläufte zu beobachten.

Überhaupt ist das Individuum im 21. Jahrhundert vielfach überfordert, die Stellung zu halten, Identität zu behaupten, ein gelingendes Leben auf die Beine zu stellen. Alles fühlt sich unwirklich an, jeden dürstet es nach Echtheit, nach Echtzeit, sofern die Zeit es ihm erlaubt. Wer Freizeit hat, muss diese totschlagen, und Totschlagen ist ein faszinierendes Ding, jedenfalls für die, die Fliegen mit der Hand fangen und dann überlegen, die Faust wieder zu öffnen. Erst vor diesem medialen und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund wird die Konjunktur von True Crime verständlich: Im Zeitalter der Mangel-Authentizität will man sich unterhaltungstechnisch an Authentizität laben, im Zeitalter globaler Verantwortungslosigkeit und Unübersichtlichkeit will man einen Täter zweifelsfrei dingfest machen, im Zeitalter multipler Krisen und Kriege will man mit einem Serienkiller die Komplexität reduzieren. Serienkiller sind demnach Einfaltspinsel, weil sie das Übermaß an simultaner Vielfalt, das uns quält, ausradieren.

„Algorithmen lügen nicht“

True Crime ist stets post mortem, das heißt die Geschichte ruht, und wir können uns von ihrer Beunruhigung beruhigt erfassen lassen, True Crime ist also was für Feiglinge. Und True Crime muss man sich also leisten können, freizeit- und sofatechnisch, finanziell. True Crime ist ein massenmediales Produkt des 19. Jahrhunderts, das sich dem medialen Strukturwandel des 21. Jahrhunderts bestens anzupassen weiß. Denn die Algorithmen lügen nicht, Blut fließt einmal um den Erdball und wieder zurück.

Natürlich wäre es wenig glaubhaft, ich könnte mich dem Boom immerzu entziehen, und man kann kaum leugnen, dass die blutbeglaubigten Verbrechensfälle bei Netflix und Co Spannung erzeugen, aber gerade das macht sie dann auf die Dauer fad, medienethisch bedenklich, punktuell ärgerlich und auch skandalös; letztlich sind sie ein Symptom der Dekadenz, kollektiver Verunsicherung und erzählerischer Erschöpfung. Was leisten die True-Crime-Formate überhaupt an diesem Punkt maximaler Existenz- und Identitätserschütterung? Unter einem massenmedialen Regime, das alles, was passiert, letztlich in eine Form von Entertainment verwandelt, selbst wenn es sich um Kriege, Seuchen, Klimakatastrophen oder Flüchtlingsdramen handelt? Die True-Crime-Formate versprechen echte Fälle, echtes Blut, echtes Leben. Zugleich grenzen sie Schauplätze ein. Es gibt den Täter und das Opfer oder häufiger noch den Täter und seine Vielzahl von Opfern. Durch diese Eingrenzung, Lokalisierung, durch diese manichäische Ordnung wird die Undurchschaubarkeit der Gegenwart verbannt.

Blick in sonst verschlossene Räume

Das erste Opfer des Killers ist die Realität, das erste Opfer des Labels „True“ ist die Wahrheit, denn True Crime behauptet, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. In diesem Monopolanspruch stecken schon Verzerrung und Gewalt, ja, auch Gewalt, denn ob das Format will oder nicht, es macht sich und die Zuschauer fast immer zu imaginären Handlangern des Täters. Aber eben darin liegt auch die Leistung dieser Erzählungen, denn sie laden uns ein, nicht nur als Voyeure die Tatorte zu betreten, sie vermitteln uns auch Allmachtsgefühle, denn wir sind – jenseits des Falls – Meta-Detektive, die das Verbrechen auf dem Sofa obduzieren. Wir überblicken die Perspektiven des Täters, des Opfers, der Ermittler und vielleicht sogar der Angehörigen und haben Zugang zu Räumen, die sonst stets verschlossen bleiben: Tatorte, Verhörräume, private Wohnräume. Alles wird retrospektiv geordnet, geprüft, verglichen, archiviert. Und dann kommen wir und verwandeln die Kammern des Schreckens in Tiny-Entertainment-Houses. Wir treten hinter die Kulissen und glauben plötzlich, die Welt zu verstehen, denn das alles ist ja echt und passiert, und wir fressen die Menschen, die gefressen wurden, wir Menschenfresser.

Aus medienethischer Sicht versuche ich mich immer zu prüfen, mit wem gehst du da befristete Abkommen ein? Welche Perspektive übernimmst du, nobilitiert deine Aufmerksamkeit den Mörder, der immer häufiger und gegen jede Realität ein machtvoller „Serienkiller“ ist, der sich schon – während er noch tötet – in einen mythischen Allzeithelden verwandelt, einen Musterschüler der hyperkapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, einen Helden der Soft Power, der keine Fabriken besitzt, aber unsere Träume und Fantasien belagert und besetzt?

Dem Blutdurst nachspüren

Wenn ich gerade nicht als Prüfer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen aufgefordert bin, diese Formate in Hinblick auf den Jugendschutz zu prüfen, meide ich solche Produkte mittlerweile, weil sie mich – ich finde kein anderes Wort – einerseits anwidern und sie andererseits lächerlich wirken in ihrer grellen Theatralisierung. Es mag ja Fälle geben, wo journalistisch geprägte Formen (etwa „Serial“) herausarbeiten, dass Verurteilte zu Unrecht verurteilt wurden, aber die Regel ist das nicht – und selbst solche Podcasts, Dokus und Serien machen das nicht aus menschenfreundlichem Gerechtigkeitsempfinden, sondern aus kommerziellen Erwägungen. Die größte Grausamkeit, die in diesen Medienprodukten steckt, ist das Versprechen, dem Blutdurst nachzuspüren, der Angst des Opfers, des Tötungsrausches teilhaftig zu werden und zugleich Sorge um das eigene Selbst zu bewahren. Die Werbesprüche für diese Mordsmaschinchen klingen überall gleich, ob bei CNN, Netflix, Amazon, ARD/ZDF/BBC, wo auch immer, das serielle Schauerversprechen killt zugleich das Individualitäts- und Echtheitsversprechen. Blut ist eben kein besonderer Saft mehr, Blut ist eine Einheitswährung. Und will man wirklich, als Zuschauer und Produzent solcher Geschichten, der Steigerungslogik der medialen Inszenierungen folgen? Will man, weil man alles schon kennt, immer bestialischere Morde sehen, immer größer aufgeblasene „Helden der Finsternis“?

Ein imaginärer Notfallkoffer?

Hochproblematisch ist zudem die Fixierung auf die Psyche des Täters, auf seinen Aktionsradius, auf seine Taten, denn er bleibt ja stets der Autor, oder erinnern wir uns an einen True-Crime-Fall, der überwiegend aus der Sicht des Opfers erzählt wurde? Diese Formate betreiben die stete Reviktimisierung und ich fürchte: auch die Retraumatisierung von Angehörigen und Familien, die von Verbrechen betroffen sind. Wie kann es sein, dass wir angeblich in einer immer sensibleren Medienkultur leben, wo kaum ein Film ohne Trigger-Warnung auskommt, und zugleich boomen True-Crime-Formate, die das erlittene Leid rücksichtslos vor- und zurückspulen, es erneut inszenieren, die Täter mythisieren und die Opfer als individuelle Personen erneut auslöschen?

Halt, halt, werden einige rufen, True-Crime-Formate, die offenbar überwiegend von Frauen geschaut werden, dienen als imaginäre Notfallkoffer, mit denen sich die Zuschauerinnen wappnen gegen reale Alltagsängste, oder aber man sagt, True Crime sei bereits eine kollektive Bewältigung individueller Verbrechen und eine narrative Zähmung des Verbrechens – doch kommen mir diese kathartischen Lesarten eher hilflos vor, weil sie annehmen, dass man das Echte vom Falschen, den braven Bürger vom Verbrecher, das Reale vom Imaginären und den aktiven Täter von uns passiven Zuschauern scheiden, trennen könne. Aber ist das wirklich alles so klar und eindeutig, so trennscharf und säuberlich? Warum sollten True-Crime-Formate, die bislang post mortem oder besser post facto ansetzen, auf diesen Moment warten? Wäre True Crime ante mortem nicht noch wahrhafter, echter, wenn man die Täter in Echtzeit begleitete? Haben viele Serienkiller und Amokläufer diese Fame-Option nicht längst gewählt, wenn sie ihre Verbrechen selbst filmen und sogar live ins Internet übertragen? An welchem Punkt würden Medien zu Co-Autoren der Täterschaft? Der Film „Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis“ (2014) erzählt genau diese Geschichte, in der sich ein Kriminalreporter mit seiner Kamera zum Mittäter aufschwingt und sensationsheischende Verbrechen stimuliert. Okay, vielleicht muss man nicht gleich so dystopisch denken, aber ist es beruhigender, darüber nachzudenken, in welcher Ära der kalten Schaulust wir leben?

Wenn schon True Crime, dann …

Ich habe wenig Verständnis dafür, dass sich die öffentlich-rechtlichen Medien an diesen Formaten beteiligen oder gar selbst welche entwickeln. Wenn sie jedoch auf dieser Spur unterwegs sind, sollten sie Sendungen entwickeln, mit denen der Zuschauer ermächtigt würde, diese Formate kritisch zu begleiten. Die Rückverwandlung des Opfers in einen Menschen vor der Tat, die entmythisierende Beschreibung des Täters, die Reflexion der medialen Gewalt und die Erschütterung der scheinsicheren Sofa-Perspektive wären lohnende Aufgaben. Und auch die Frage, schaust du nur True Crime oder lebst du auch auf eigene Kosten, wäre zu stellen. Wovor verschließen wir die Augen, wenn wir in die entsetzensweit geöffneten Augen des Opfers schauen? Macht das nicht blind, all diese finsteren Sonnen? Manchmal kommt es mir vor, als frönten wir als Zuschauer dieser Formate einem heidnischen Kult: Blut muss vergossen werden, damit wir selbst verschont bleiben, damit die Ernte gelingt, der kommende Beutezug. Als brächten wir grausamen Göttern eine Gabe der Besänftigung. Das Leben lässt sich nicht besänftigen, es ist immer true, und es braucht unsere Empathie, unsere Entzifferungskunst jenseits dieser Schlachtplatten fürs Gemüt.

Ich favorisiere das Verbrechen im Buchstabenwald und lese, wenn ich Spannung suche, Kommissar Maigret. Auch mit ihm, dem Pfeifenraucher und Fährtenleser, komme ich fast überall hin. Ganz ohne True und Täterkult.

True Crime – sinnvoll oder voyeuristisch?

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

True Crime – sinnvoll oder voyeuristisch?

Als Autorin und Regisseurin hat Christiane Fernbacher über fünf Jahre lang True-Crime-Dokumentationen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen umgesetzt. Hier erklärt sie, warum sie damit aufgehört hat.

Foto: Christian J. Ahlers

Es war im Frühjahr 2020, als mir eine junge Frau erzählte, wie ihr Vater ihre Mutter tötete. Bei Kaffee und Kuchen sprach sie über das Schlimmste, das in ihrem Leben passiert war. Ganz ruhig und reflektiert. Die Frau, die vor mir saß, war eloquent, taff und gleichzeitig emotional. Sie beeindruckte und berührte mich. Sie war die ideale Protagonistin.

Ich war bei ihr, weil mein damaliger Arbeitgeber, eine Film- und Fernsehproduktionsfirma, eine Dokumentation über das Verbrechen in ihrer Familie plante; einem öffentlich-rechtlichen Sender hatten wir den Film zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft. Der Fall war außergewöhnlich, mit unglaublichen Wendungen und einem Ende, das alle erschaudern ließ.

„Also warum jetzt nochmal?“

Als Filmemacherin wollte ich die junge Frau natürlich unbedingt dabeihaben. Ich wusste: Sie war die Einzige, die ihre Geschichte auf diese besondere Art schildern kann. Doch nach etwa zwei Stunden sagte sie mir ab, sie wollte nicht mitmachen. Sie hatte sich mit mir getroffen, weil sie wissen wollte, was wir vorhatten und warum wir den Fall nochmals erzählen wollten. Ein anderer Fernsehsender habe doch bereits einen Film über ihre Geschichte gemacht. Bei dem habe sie auch mitgewirkt, um die Standpunkte, die ihr wichtig waren, zu schildern. „Also warum jetzt nochmal?“, fragte sie. Gute Frage. Eine gute Antwort hatte ich darauf nicht.

Sie führte aus, dass sie einerseits mitmachen wollte, damit kein Film über ihre Familie entstehe, in dem niemand aus der Familie zu Wort kommt. Der Film würde ja trotzdem entstehen (auch wenn sie nicht mitwirken würde). Andererseits überwiege das Gefühl, dass sie nicht mitmachen sollte. Sie sei nach den ganzen Geschehnissen umgezogen und genieße ihre wiedergewonnene Anonymität – diese wolle sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Letztendlich war das der Grund ihrer Absage. Ich verstand genau, was sie meinte und fragte mich: Wer bin ich eigentlich, dass ich sie zu diesem Projekt überreden wollte?

Nach unserem Treffen habe ich mich ins Auto gesetzt und dort noch lange über diese besondere Begegnung nachgedacht. Es war der Moment, in dem ich angefangen habe, True Crime und damit auch mich selbst als Teil des Genres zu hinterfragen. Wem nutzen diese Filme, die wir machen? Ist True Crime irgendwie sinnvoll, oder ist es bloßer Voyeurismus? Der Fall über die Familie der jungen Frau war bereits die zehnte Folge unserer True-Crime-Reihe, an der ich von Anfang an mitgearbeitet hatte.

Warnsignale übersehen

Anfangs war True Crime für mich spannend. Ich hatte großen Spaß daran, diese vielen, vor allem historischen Kriminalfälle zu recherchieren: In Archiven durfte ich alte Polizeiakten durchstöbern, konnte Fotos sehen, die sonst kaum jemand zu sehen bekam, und filmte an Orten, die für die meisten Menschen nicht zugänglich sind, etwa die Rechtsmedizin in Frankfurt am Main. Ich traf viele Kommissare, viele beeindruckende Persönlichkeiten – Menschen, die (wie auch ich) leidenschaftlich ihren Job machten, dafür brannten und mich das in ihren Erzählungen spüren ließen.

Doch gerade in diesen ersten Jahren als True-Crime-Autorin habe ich mir nicht allzu große Gedanken um Opfer und Angehörige gemacht. Für mich war es natürlich wichtig, dass es ihnen gut geht, dass sie ein gutes Gefühl bei der Sache haben, aber ich wollte eben auch, dass sie mitmachen. Ich wollte ja einen guten Film machen. Üblich war es bei uns, dass wir vor Dreharbeiten die Menschen, die mit dem Fall zu tun hatten, besuchten. Wir haben uns Zeit genommen und ihnen zugehört. Das war uns allen wichtig. Immerhin konfrontierten wir hier Menschen mit der wohl schlimmsten Zeit ihres Lebens. Das war uns allen immer bewusst. Und doch habe ich manche Warnsignale übersehen.

Beispielsweise habe ich einen Mann getroffen, der einen Mordversuch überlebt hat. Wir hatten ein gutes Gespräch und waren uns sympathisch. Erst ging es um Gott und die Welt, als würden sich hier Bekannte zum Kaffeetrinken treffen. Doch dann mussten wir auf den Fall zu sprechen kommen. Ich kann heute sagen: Ich habe noch nie jemanden so sehr zittern sehen. Die Tat lag Jahrzehnte zurück, in einer Zeit, in der psychische Gesundheit von der Gesellschaft nicht ernstgenommen wurde. Der Mann erzählte mir, er sei nie in Therapie gewesen. Offenbar hatte er die Geschehnisse nie richtig verarbeitet. Zum Dreh sagte er dennoch zu – und „funktionierte“. Kein Zittern, kein Stocken, nichts.

Kein gutes Gefühl

Ein anderes Mal war es genau umgekehrt. Das Vorgespräch lief gut: Eine Frau schilderte mir den Fall ihrer getöteten Schwester. Ohne Tränen und Aufregung. Beides überwältigte sie erst, als am Drehtag die Kamera lief. Nach dem Interview begleitete ich sie nach draußen. Für das Team hatte sie mir noch kleine Weihnachtsköstlichkeiten in die Hand gedrückt. Sie mochte uns, glaube ich. Wir sie auch. Aber ohne das Verbrechen an ihrer Schwester hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt. Wie sehr sie die Situation und die Erinnerung aufwühlten, zeigte sich wieder beim Ausparken, als sie mit ihrem Auto gegen einen Pfosten fuhr. Ich hatte damals kein gutes Gefühl, sie allein nach Hause fahren zu lassen. Zum Glück kam sie gut an.

Diese Situationen habe ich wahrgenommen, sie beunruhigten mich irgendwie, aber sie bewegten mich noch nicht zum Umdenken. Zu euphorisiert war ich davon, die spannenden Kriminalfälle zu erzählen. Erst dieses Treffen im Frühjahr 2020 mit der Frau, deren Mutter vom Vater getötet worden war, zeigte mir: Ich will das nicht mehr. Ich will Opfer und Angehörige nicht mehr vor die Kamera locken. Mit Folge zehn kamen wir mit unserer Reihe immer näher an Kriminalfälle der jüngeren Vergangenheit, das machte mir zu schaffen. Denn je näher wir der Gegenwart kamen, desto mehr Menschen könnten unsere Filme aufwühlen, sie vielleicht sogar stören – einfach, weil mehr Betroffene noch am Leben sind. Ich machte nach dieser Geschichte um die junge Frau noch zwei weitere Folgen, dann war für mich Schluss. Ich habe weiterhin Fernsehen gemacht, aber meine Zeit als True-Crime-Autorin war endgültig vorbei. Eine ganz bewusste Entscheidung.

Persönliche Grenzen

Aber, wie sagt man so schön, es war natürlich auch nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Wir haben viele positive Rückmeldungen von Protagonistinnen und Protagonisten bekommen. Mir lag es besonders am Herzen, dass die Mitwirkenden am Ende diejenigen waren, die mit unseren Filmen auch zufrieden waren. Und sicherlich hat True Crime seine ganz eigene Kraft: Wir konnten mit diesen Geschichten zeigen, was für schreckliche Dinge passieren können. Wir konnten warnen, wie weit Gewalt gehen kann. Wir konnten berichten, wie präzise Ermittlerinnen und Ermittler kombinieren können und wie ausgefeilt Kriminaltechnik ist. Und vor allem konnten wir an jene Menschen erinnern, die – oft auf sehr brutale Art – ums Leben gekommen sind.

Ist True Crime nun also sinnvoll oder purer Voyeurismus? Es kann beides sein. Ich selbst bin nach über fünf Jahren an meine persönlichen Grenzen gekommen. Das Genre ist für mich aber weder schwarz noch weiß. Wie sehr Betroffene allerdings durch Medienanfragen aufgewühlt werden können, ist mir erst durch meine Arbeit beim WEISSEN RING richtig deutlich geworden. Täglich habe ich hier die Opferperspektive solcher Projekte vor Augen. Daher ist meine Meinung heute, dass Opfer und Angehörige viel mehr in den Entstehungsprozess eines True Crime-Formates involviert werden sollten, und die Macher auf ihre Wünsche und Bedürfnisse hören müssen. Es ist immerhin ihre Geschichte, die öffentlich erzählt wird.

Podcasts: Ein boomendes Erfolgsformat

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Podcasts: Ein boomendes Erfolgsformat

63 Prozent der Befragten gaben in einer Studie an, täglich Podcasts zu hören. Warum das Format so erfolgreich ist, erklärt Vincent Kittmann von OMR.

Foto: Podstars by OMR

Sende-Anstalten, Unternehmen, öffentliche Personen – alle machen Podcasts. Thematisch geht es von reiner Unterhaltung über Nach­richten- und Wissensformate bis hin zu lange recherchierten, oft auch investigativen Reportagen. Das Medium Podcast hat sich in Deutschland weiter etabliert, das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der „Pod­stars by OMR“. Die Agentur ist Deutschlands führendes Podcast-Netzwerk und vereint Werbung, Produktion und Beratung.

63 Prozent der Befragten gaben in der Studie an, täglich Podcasts zu hören. Sie nutzen das Medium als Nachrichtenquelle, für Bildung und Unterhaltung. 31 Prozent sagten, dass sie gerne Geschichten über echte Kriminalfälle hören. „Das Genre True Crime liegt damit im guten Mittelfeld“, erklärt Vincent Kittmann (Foto), Geschäftsführer von „Podstars“. „Es ist ein Genre, das mehr Aufmerksamkeit benötigt als ein Talk-Format und meistens länger dauert als ein News-Podcast. Man muss sich also bewusst Zeit nehmen. Wirft man einen Blick auf die aktuellen Top-20-Podcasts, sind oft mehrere True-Crime-Formate vertreten, das spricht für den Erfolg des Genres.“

Kein Versprechen auf Erfolg, aber …

Wie bei allen anderen Medienformaten gebe es auch bei Podcasts keine Erfolgsgarantie. „Wir sehen zwar, dass es ein großes Interesse für Geschichten über wahre Kriminalfälle gibt, aber das verspricht noch nicht den nächsten Streaming-Erfolg“, sagt Kittmann. „Wie bei jedem Podcast ist das Konzept das A und O. Gerade beim Thema True Crime müssen die Fälle gut recherchiert sein und es muss innerhalb der Folgen ein Spannungsbogen aufgebaut werden. Das Thema True Crime eignet sich natürlich sehr gut dafür, weil viele Geschichten von Grund auf diesen Spannungsbogen besitzen. Dennoch reicht es nicht aus, die Geschichten nur nachzuerzählen. Es geht auch darum, Emotionen zu transportieren und Awareness (deutsch: Bewusstsein) zu schaffen.“

Während die Geschlechterverteilung bei Podcasts im Allgemeinen sehr ausgeglichen sei, sei das Genre True Crime eines, das besonders Frauen lieben. „Nicht nur die Hostinnen der beliebtesten deutschen Crime-Formate sind Frauen, auch viele der Hörer:innen sind weiblich“, weiß Kittmann. Die allgemeine Geschlechterverteilung zeigt dieses Jahr, dass Hörerinnen und Hörer zu 54 Prozent Männer und 45 Prozent Frauen sind. Am meisten werden Podcasts übrigens in den Altersgruppen 26 bis 30 Jahre und 31 bis 36 Jahre konsumiert. Die Altersgruppen ab 36 Jahren haben im Jahresvergleich aber auch um zehn Prozent zugelegt.

Wa(h)re Verbrechen

Diesen Zahlen zeigen: Podcasts werden immer beliebter. Aber lässt sich damit auch Geld verdienen? „Natürlich gibt es Podcaster:innen, die nur von ihrem Podcast leben können. Für viele ist aber der Podcast nicht die einzige Einnahmequelle. Generell kann man mit jedem Podcast Geld verdienen, wenn man die richtige Form der Monetarisierung wählt“, erläutert Kittmann. „Laut Safe and Sound Report 2022 sind Fans von True Crime überdurchschnittlich tolerant gegenüber Werbung und meist besonders engagiert, wenn es um Werbung geht, die ihren Lieblingscontent unterstützt.“

Werbung funktioniert also auch im True-Crime-Podcast: „Hörer:innen hören die Formate in der Regel zu Unterhaltungszwecken. Den Macher:innen ist durchaus bewusst, dass ihr Content sensible oder gewalttätige Sequenzen enthalten können. Deshalb platzieren sie die Werbung nur da, wo es passt, so dass die Werbepartner nicht in einem unangemessenen Kontext integriert werden“, sagt Kittmann. Eine Studie von „Seven.One Audio“ aus dem Jahr 2022 stellt fest: True-Crime-Podcasts seien ein gutes Umfeld für Werbung, die auf gesellschaftlich relevante Aspekte wie die Nachhaltigkeit eines Produkts eingeht (über 80 Prozent Zustimmung).

Die Marke festigen

Neben Werbung gehen auch immer mehr Podcasts auf Tour und nutzen ihr eigenes Merchandising. „Beides sind zusätzliche Einnahmequellen, die aber vor allem auch dem Community-Building guttun. Live-Tourneen und Merchandising helfen dabei, aus dem Podcast eine Marke zu machen“, so Kittmann.

Die ungewöhnliche Anfrage eines Fernseh-Teams

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Die ungewöhnliche Anfrage eines Fernseh-Teams

Nahezu täglich erreichen den WEISSEN RING Anfragen von Journalisten aus ganz Deutschland, die Kontakt zu Kriminalitätsopfern suchen. Auch zwei Dokumentarfilmerinnen gehören dazu – und doch war ihre Anfrage anders.

Foto: meineresterampe by Pixabay

Nahezu täglich erreichen den WEISSEN RING Anfragen von Journalisten aus ganz Deutschland, die Kontakt zu Kriminalitätsopfern suchen. Sie möchten Betroffene interviewen für Zeitungen, Fernsehsendungen oder Podcasts.

Auch zwei Dokumentarfilmerinnen aus München, die im Oktober 2021 eine E-Mail an den WEISSEN RING schickten, suchten Kontakt zu Opfern. Und doch war ihre Anfrage anders: Katharina Köster und Katrin Nemec wollten niemanden vor ihre Kamera stellen, sie wollten niemanden befragen – sie wollten die Opfer nur informieren. Über den Film, den sie zurzeit drehen.

„Wir wollten einfach nicht, dass die Betroffenen über den Flurfunk von unserem Projekt erfahren und aus Mangel an Informationen verunsichert werden. Wir wollten nicht neues Leid verursachen“, sagt Katharina Köster.

Kann man sein Kind noch lieben, wenn es zum Mörder wurde?

Das Projekt, das ist ein Dokumentarfilm über die Eltern des Serienmörders Niels Högel, der in den Jahren 2000 bis 2005 in Krankenhäusern in Norddeutschland mutmaßlich weit mehr als 100 Patientinnen und Patienten tötete. Vier Mal stand er vor Gericht, in insgesamt 91 Fällen wurde er verurteilt. „Wir teilen das Interesse an Themen, die uns an den Rand unserer Vorstellungskraft bringen, wo Richtig und Falsch nicht auf den ersten Blick erkennbar sind“, sagt Katrin Nemec über sich und ihre Kollegin Köster. So seien sie, selbst Mütter, zu der Frage gekommen: Kann man sein Kind noch lieben, wenn es zum Mörder wurde?

In ihrem Film geht es ausschließlich um die Perspektive der Eltern des Mörders. Nicht um die des Mörders selbst („wenn wir sie bei einem Besuch im Gefängnis begleiten, machen wir die Kamera aus, bevor er den Raum betritt“), auch nicht um die seiner Opfer und ihrer Angehörigen. Gleichgültig sind den Filmemacherinnen die Angehörigen aber nicht. „In diesem Fall gibt es so viele Betroffene – das kann man nicht außer Acht lassen“, sagt Köster. „Und es gab schon sehr viel Berichterstattung zum Fall, und immer wieder wurde auch der schlechte Umgang der Medien mit den Familien der Opfer kritisiert“, so Nemec. Die Filmemacherinnen möchten es besser machen: Sie wollen, dass Betroffene frühzeitig informiert sind, sie wollen bei Bedarf deren Fragen beantworten, sie wollen bei Interesse sogar ein Vorab-Screening im geschützten Rahmen mit psychologischer Begleitung organisieren.

Sie wollen Kontakt zu Betroffenen herstellen

Zu sehen sein wird der Film frühestens im Jahr 2024 auf Festivals und 2025 in der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“. Die Dreharbeiten aber laufen bereits, der „Flurfunk“ dazu könnte Betroffene schon jetzt erreichen. „So eine Info kann ja immer auch Retraumatisierung hervorrufen“, befürchtet Köster. Deshalb schrieben die Filmemacherinnen an den WEISSEN RING, deshalb meldeten sie sich bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Seit eineinhalb Jahren bemühen sie sich nun neben ihrer Arbeit am Film, Kontakt zu Betroffenen herzustellen.

Helfen konnten ihnen dabei letztlich weder die Behörden noch der WEISSE RING – der Datenschutz steht dem entgegen. Allerdings hat der WEISSE RING in diesem besonderen Fall mit seinen vielen Betroffenen einen Brief an die Familien verschickt, die sich im Lauf der Jahre mit der Bitte um Unterstützung beim Verein gemeldet hatten. Petra Klein, stellvertretende Bundesvorsitzende und als Opferhelferin selbst aktiv im Fall Högel, versicherte darin den Empfängern: „Weder sind wir in die Konzeption des Films eingebunden, noch fördern wir das Projekt in materieller Hinsicht. Wir begrüßen aber ausdrücklich, dass sich die Dokumentarfilmerinnen Gedanken über die möglichen Konsequenzen ihres Projekts für Betroffene machen und sich die Frage stellen, was dieser Film bei Opfern und Angehörigen auslösen könnte.“ Wer von ihnen mehr Infos wünsche, Interesse an dem Vorab-Screening habe oder sonstigen Gesprächsbedarf sehe, könne sich beim WEISSEN RING melden.

Bisher nur eine Rüge für True-Crime-Format

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Bisher nur eine Rüge für True-Crime-Format

Die Rügen des Deutschen Presserats sind in vielen Medienhäusern berüchtigt. True-Crime-Macher mussten sich hingegen bisher kaum Sorgen machen.

Foto: Andrys Stienstra/Pixabay

Beschwerden speziell über True-Crime-Formate erreichen den Deutschen Presserat kaum: „Bislang haben wir dazu auch nur eine Rüge ausgesprochen, und zwar 2019 gegen ‚Stern Crime‘”, teilt die Organisation, die die Einhaltung des Pressekodex überwacht, auf Anfrage der Redaktion mit.

Die Überschrift der Meldung, die der Rat dazu veröffentlichte, spricht für sich: „Opfer kurz vor der Ermordung fotografiert.“ Dass das Magazin den Schutz der Persönlichkeit (Ziffer 8 des Pressekodex) sowie das Verbot von Sensationsberichterstattung (Ziffer 11) nicht berücksichtigt hatte, wurde als schwerer Verstoß gewertet. Der Artikel  „Killer on the Road“ handelt von einer Mordserie, in der in den 1980er- und 90er-Jahren in den USA Tramperinnen zu Opfern wurden. „Insbesondere die Veröffentlichung eines Fotos, das der Täter von einem der minderjährigen Opfer kurz vor dessen Ermordung gemacht hatte, verstieß gegen den Opferschutz und erfüllte das Kriterium der unangemessenen Darstellung.“  Zudem seien weitere Opfer namentlich genannt und durch Portraitfotos identifizierbar dargestellt worden, heißt es in der Meldung.

#TrueCrimeReport: Was dürfen True-Crime-Formate – und was nicht?

Bei Beschwerden, die den Presserat grundsätzlich im Zusammenhang mit Opferschutz erreichen, geht es überwiegend um die Abbildung von Betroffenen. „Der Klassiker: Eine Redaktion übernimmt aus den sozialen Medien das Foto einer Person, die Opfer eines Unfalls oder Verbrechens wurde, ohne das Opfer oder die Angehörigen um Erlaubnis zu bitten”, beschreibt eine Sprecherin. Seit Jahren stünden solche schweren Verstöße in der Rügen-Statistik an erster Stelle. Die Rügen richteten sich in der Mehrheit gegen Boulevardmedien, „und hier vor allem BILD”. Wie oft sich Betroffene über Opferschutz-Themen bei ihm beschweren, kann der Presserat nach eigenen Angaben nicht nachvollziehen.

Die sieben wichtigsten Erkenntnisse aus unserer Recherche

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Die sieben wichtigsten Erkenntnisse aus unserer Recherche

Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS zu True Crime recherchiert – und so erstmals ein detailliertes Lagebild erstellt.

Foto: Alexander Lehn

#1 True Crime boomt.

True Crime kommt zunehmend auch aus der unmittel­baren Nachbarschaft: Mehr als jede zweite lokale Zeitungsredaktion hat bereits ein regel­mäßiges Angebot oder plant zeitnah eines. Das hat eine Umfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS ergeben.

#2 Millionen Menschen hören, schauen oder lesen True Crime.

Ein paar Beispiele nach Angaben von True-Crime-Machern: Die Videos des YouTube-Kanals „Insolito“ wurden insgesamt mehr als 55 Millionen Mal aufgerufen, der Podcast „Verbrechen von nebenan“ erreicht monatlich „mehrere Millionen“ Hörer, die Zeitschrift „Stern Crime“ startete 2015 gleich mit einer Auflage von 150.000 Exemplaren.

#3 „Wahre Verbrechen“ sind für Medien „Ware Verbrechen“.

Medienhäuser verkaufen mit True Crime Werbeblöcke, die bekanntesten True-Crime-Podcasts wie „Mordlust“ gehen auf Tournee, namhafte Marken wie „Zeit Verbrechen“ bieten Fan-Artikel wie Fußmatten oder Adventskalender an.

#4 True Crime bedeutet meistens Mord und Totschlag.

Drei Viertel der deutschen True-Crime-Podcasts beschäftigen sich mit Tötungsdelikten. Nur selten kommen andere Straftaten vor wie Raub (drei Prozent), Wirtschaftskriminalität (zwei Prozent) oder häusliche Gewalt (0,33 Prozent). Das ist das Ergebnis einer Datenanalyse des WEISSEN RINGS.

#5 True Crime ist mitunter (zu) schnell gemacht.

Mit True Crime können Zeitungen und Verlage nicht nur hohe Reichweiten erzielen – die Aufarbeitung abgeschlossener Kriminalfälle ist auch verhältnismäßig einfach zu recherchieren und produzieren: Texte und Bilder aus dem Archiv werden neu aufbereitet, in Podcasts interviewen sich Redaktionsmitglieder gegenseitig und schildern ihre Erinnerungen.

#6 Opfer und ihre Interessen spielen bei True Crime häufig keine Rolle.

Wenn Journalistinnen oder Journalisten über zurückliegende Kriminalfälle berichten, binden sie Opfer und ihre Angehörigen häufig nicht ein. Das bestätigen True-Crime-Macherinnen und -Macher in einer Umfrage des WEISSEN RINGS. Nicht selten stoßen Betroffene zufällig beim morgendlichen Zeitungslesen oder abendlichen Fernsehgucken auf „ihren“ Fall. Auf eine Umfrage des WEISSEN RINGS unter Lokalzeitungen meldeten sich zwar nur wenige Redaktionen zurück – die Mehrheit dieser Rückmelder gab aber an, für True-Crime-Formate keinen Kontakt zu Betroffenen aufzunehmen.

#7 Täter haben größere Rechte als Tote.

Mörder, die aus der Haft entlassen werden, müssen ihre Einwilligung zu einer identifizierenden Berichterstattung geben, während die Rechte ihrer toten Opfer nach zehn Jahren quasi erloschen sind. Der Medienanwalt Christian Schertz nennt das in seinem Meinungstext für „Forum Opferhilfe“ „kaum zu ertragen“.