Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot

Zu True Crime gibt es kaum Daten. Deshalb haben wir versucht, selbst welche zu erheben: mit einer KI-gestützten Analyse von Podcasts und einer Umfrage unter Zeitungen. Ergebnis: In True-Crime-Podcasts geht es fast ausschließlich um Mord und Totschlag.

Foto: Christian J. Ahlers

Liebe: Jeder erkennt sie, aber niemand kann sie richtig erklären – so ähnlich ist es auch bei True Crime. Wer den Begriff schon einmal gehört hat, hat eine Vorstellung davon, aber eine allgemeinverbindliche Definition gibt es nicht – keine gute Voraussetzung für eine Datenanalyse.

Aber wir wollten trotzdem herausfinden, wie groß der Hype im Bereich True-Crime-Podcasts ist und welche Inhalte sie behandeln. Dafür haben wir in einem ersten Schritt am 1. Februar die Metadaten (Titel, Beschreibung, Stich­wörter) von fast 10.000 deutschsprachigen Episoden heruntergeladen, die mindestens fünf Minuten lang und auf Plattformen wie Spotify, Podimo oder Apple in der Kategorie True Crime gelistet sind. Die Podcasts, zu denen diese Episoden gehören, haben wir mangels einer verbind­lichen Definition anhand der folgenden drei Elemente untersucht, die True Crime unserer Einschätzung nach kennzeichnen:

#1

Ein tatsächlich verübtes, ein „wahres“ Ver­brechen steht im Mittelpunkt. Demzufolge haben wir alle Podcasts, die eigentlich Mystery-Storys oder griechische Götter behandeln, nicht berücksichtigt. Ebenso Formate, in denen es eigentlich ums Kochen geht oder in denen nur Kaffee­klatsch gehalten wird, die aber aus inhaltlich nicht nachvollziehbaren Gründen von ihren Machern als True Crime beworben werden.

#2

Es handelt sich nicht um aktuelle Berichterstattung, aber auch nicht um historische Stoffe. So wird sogar die Ermordung Cäsars als True-Crime-Geschichte angeboten, ist aber aus den genannten Gründen nicht in unseren Datensatz aufgenommen worden.

#3

Das Format hat erzählerische Elemente. Rein nachrichtliche Beiträge fallen daher nicht in das True-Crime-Genre.

Bei etwa 40 Prozent der untersuchten Episoden handelte es sich nach den genannten Kriterien nicht um True-Crime-Inhalte und wir haben sie aus unserem Datensatz entfernt. Berücksichtigt haben wir schließlich 5.914 Episoden von 283 Formaten. Im Durchschnitt hat also jeder Podcast des Genres gut 20 Folgen ver­öffentlicht. Das ist ziemlich viel und zeigt, dass es den Podcasts gelingt, das Publikum über einen längeren Zeitraum zu halten. True-Crime-Podcasts fesseln.

Die händische Auswertung einer zufälligen Stichprobe von mehr als 600 Episoden aus dem Datensatz ergab im zweiten Schritt unserer Untersuchung, dass die am häufigsten behandelten Verbrechen Tötungsdelikte sind: 451 Fälle von Mord, Serienmord, Totschlag, Tötung auf Verlangen, erweitertem Suizid und Ähnlichem (rund 75 Prozent). Zum Vergleich ein Blick in die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik 2022: Der Anteil der „Straftaten gegen das Leben“ gemessen an allen erfassten Straftaten beträgt 0,1 Prozent. Die nach den Tötungsdelikten häufig­sten Taten in der Stichprobe waren Entführungs- und Vermisstenfälle (rund 8 Prozent), Vergewaltigung und Kindesmissbrauch (jeweils rund 3 Prozent).

In einem dritten Schritt haben wir sodann eine künstliche Intelligenz (KI) mit den Daten aus der Stichprobe trainiert, die daraufhin sämtliche Episoden im True-Crime-Datensatz auf deren Inhalt prüfte. Diese Analyse bestätigte das Ergebnis der Stichprobe für den gesamten Datensatz: Drei Viertel aller Episoden behandeln Fälle, in denen Menschen getötet wurden. True-Crime-Podcasts fesseln –  mit Mord und Totschlag.

 

True Crime in Medien: Umfrage unter Lokal- und Regionalzeitungen

Spielt der True-Crime-Hype, der sich am großen überregionalen Angebot ablesen lässt, auch für traditionellen Medien eine Rolle? Dieser Frage sind wir mittels einer nicht repräsentativen Umfrage nachgegangen, zu der wir Ende 2022 alle Lokal- und Regionalzeitungen in Deutschland eingeladen haben. Der Rücklauf war äußerst gering: Von 305 angefragten Zeitungen haben lediglich 53 die Frage beantwortet, ob sie aktuell ein regelmäßiges True-Crime-Format anbieten, beispielsweise eine Artikelserie oder einen Podcast. 22 davon bejahten dies, sechs gaben an, dieses Jahr ein entsprechendes Format einführen zu wollen.

#TrueCrimeReportWie die Redaktion recherchiert hat

Uns interessierte insbesondere, wie Journalisten bei der Produktion mit Opfern oder Angehörigen umgehen. Daher haben wir Redaktionen, die laut erster Umfrage bereits True-Crime-Inhalte veröffentlichen und Kontakt­daten angegeben hatten, gebeten, an einer zweiten Befragung teilzunehmen. Nur von sechs erhielten wir Rückmeldungen: Ein Teilnehmer gab an, bei der Recherche mit Betroffenen in Kontakt zu treten. Ein weiterer gab an, dies gelegentlich zu tun.

Die übrigen vier Teilnehmer nehmen keinen Kontakt auf, mit der Begründung, dies sei inhaltlich nicht nötig. Auch informieren sie die Betroffenen nicht vor der Veröffentlichung des Beitrags, da dies entweder rechtlich nicht erforderlich sei oder sie keine Kontaktdaten hätten.

Wie die Redaktion recherchiert hat

Erstellt am: Freitag, 14. Juli 2023 von Torben

Wie die Redaktion recherchiert hat

Mit dem #TrueCrimeReport hat der WEISSE RING ein Lagebild zum boomenden Genre veröffentlicht. Wie ist die Redaktion dabei vorgegangen?

Foto: Christian J. Ahlers

Mit dem #TrueCrimeReport hat der WEISSE RING ein Lagebild zum boomenden Genre veröffentlicht. Wie ist die Redaktion dabei vorgegangen? Die wichtigsten Fakten:

#1

In der Redaktion des WEISSEN RINGS arbeiten Journalistinnen und Journalisten, die Berufserfahrung unter anderem als Filmregisseurin, Buchautor oder Polizei- und Gerichtsreporterin gesammelt haben. Sie veröffentlichten vor ihrem Wechsel zu Deutschlands größter Opferhilfeorganisation selbst Beiträge, die unter das Etikett True Crime fallen.

#2

Auch im Auftrag des WEISSEN RINGS veröffentlichen wir im Magazin „Forum Opferhilfe“, auf der Webseite, in den sozialen Medien und mit unserem Hör-Angebot „WRstory“ Beiträge, die als True Crime etikettiert werden können und es teilweise auch werden, weil sie sich mit realen Kriminalfällen beschäftigen. Anliegen der Redaktion ist es bei all diesen Beiträgen, Opfer-Perspektiven herauszuarbeiten.

#3

Das wachsende Interesse an True Crime lässt sich am erhöhten Aufkommen in der Pressestelle des WEISSEN RINGS messen: Es häufen sich die Anfragen entsprechender Formate, die auf der Suche nach Opfer-Kontakten sind, um mit ihnen für ihre Podcasts, Filme oder Texte zu sprechen. Gleichzeitig berichten Betroffene dem WEISSEN RING von ihrer Verunsicherung und von ihren Erfahrungen mit True-Crime-Formaten.

#4

Es gibt keine einheitliche Definition von True Crime (auf Deutsch: „wahre Verbrechen“). Kennzeichnend für das Genre sind unserer Beobachtung nach:

– dass True-Crime-Formate keine fiktiven, sondern tatsächlich geschehene („wahre“) Kriminalfälle aufbereiten,

– dass sie dies mit erzählerischen Mitteln tun (Storytelling),

– dass es sich dabei nicht um aktuelle Kriminali­tätsberichterstattung handelt, sondern zumeist um länger zurückliegende, oft juristisch abgeschlossene Geschehnisse.

#5

Es fehlt an Statistiken und wissenschaftlicher Forschung zu True Crime, was mit der unklaren Definition zusammenhängen könnte. Wir haben deshalb versucht, eigene Daten zu erheben. Wir haben künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt für eine quantitative Umfrage unter 305 deutschen Lokal- und Regionalzeitungen, um zu erfahren, ob sie regelmäßige True-Crime-Inhalte produzieren. Ebenfalls mithilfe von KI haben wir die Delikte analysiert, die in deutschsprachigen Podcasts thematisiert werden. Bei den Zeitungen haben wir eine qualitative Umfrage angeschlossen, auf die es allerdings nur wenige Rückmeldungen gab.

#6

Qualitativ befragt haben wir zudem ausgewählte True-Crime-Macherinnen und -Macher. Die Ergebnisse beider Umfragen sind keineswegs repräsentativ, aber sie lassen Rückschlüsse zu und machen Trends erkennbar.

#7

Wir haben Postings und Kommentare in Social Media zu True Crime ausgewertet und in einer Umfrage Instagram-Nutzer nach ihren Erfahrungen mit True Crime befragt.

#8

Während unserer Recherche haben wir mit zahlreichen Kriminalitätsopfern gesprochen. Die Mehrzahl von ihnen stand bereits zuvor in Kontakt mit dem WEISSEN RING.

#9

Kontakt aufgenommen zu Betroffenen haben wir, wenn möglich, über die ihnen vertrauten Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS. Die meisten Betroffenen wollten nicht mit uns über ihre Erfahrungen mit der True-Crime-Berichterstattung sprechen. Sie meldeten uns häufig zurück, dass sie nicht noch einmal alles durchmachen und nicht noch einmal in der Öffentlichkeit stehen möchten.

#10

Wir haben im Sinne einer journalistischen Aufbereitung des Themas Expertise eingeholt von Juristen, Wissenschaftlern, Psychologen, True-Crime-Macherinnen und -Machern, Fernsehkritikern, Presserat und Opferbetreuern des WEISSEN RINGS. Ziel war es, so aus zahlreichen Mosaiksteinchen ein Lagebild zu True Crime in Deutschland zu erstellen, das sowohl die negativen wie auch die positiven Aspekte zeigt.

ZDF darf Fotos von Entführungsopfern nicht mehr zeigen

Erstellt am: Sonntag, 9. April 2023 von Sabine

Foto: Uli Deck/dpa

Datum: 09.04.2023

ZDF darf Fotos von Entführungsopfern nicht mehr zeigen

Persönlichkeitsrechte oder Interesse der Öffentlichkeit – was überwiegt? Der Bundesgerichtshof hat dazu nun ein wegweisendes Urteil gefällt, das die Arbeit von True-Crime-Machern verändern könnte.

Karlsruhe – Das ZDF darf in einem Beitrag über ein Ende 1981 entführtes Kind nicht weiter Fotos sowie einen Brief des Mädchens zeigen und keinen Audio-Mitschnitt eines Telefongesprächs verwenden. Andernfalls drohten eine Haftstrafe oder eine Geldstrafe von bis zu 250.000 Euro, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. „Die Klägerin ist als damals minderjähriges Opfer einer schweren Straftat in ganz besonderem Maße schutzwürdig“, heißt es in einem nun veröffentlichten Urteil (Az. VI ZR 309/22).

Das ZDF erklärte, nach Auswertung der Urteilsgründe über das weitere Vorgehen redaktionell und juristisch zu entscheiden. Der Beitrag sei in einer überarbeiteten Fassung zuletzt am 28. Mai dieses Jahres ausgestrahlt worden. Online sei er aktuell nicht verfügbar.

Achtjährige wurde auf Schulweg entführt

Die damals acht Jahre alte Bankiers-Tochter war in Köln in einem Auto entführt und fünf Monate später auf einer Autobahnraststätte bei Solingen freigelassen worden. Die Eltern hatten 1,5 Millionen Mark Lösegeld gezahlt. Die Tat ist bis heute unaufgeklärt und mittlerweile verjährt.

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Der Sender ZDFinfo hatte in einer 2018 ausgestrahlten Dokumentation Fotos des Mädchens von der damaligen Suche sowie das Cover einer Illustrierten mit einem Bild des Kindes nach der Entführung gezeigt. Außerdem einen von der Klägerin während ihrer Entführung geschriebenen Brief. Ferner nutzten die Macher einen Mitschnitt eines ebenfalls während der Entführung geführten Telefongesprächs, in dem sich die Klägerin zum Ablauf einer geplanten Lösegeldübergabe äußerte.

BGH kassiert älteres Urteil ein

Das Oberlandesgericht Köln hatte im März 2022 entschieden, die Veröffentlichung verletze die Rechte der Klägerin nicht. Es handle sich um Dokumente der Zeitgeschichte und ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Die Interessen der Klägerin müssten zurücktreten.

Das sah der BGH nun anders und hob das Urteil auf. Das Recht am eigenen Bild werde schon dann beeinträchtigt, wenn ein Abgebildeter begründeten Anlass hat, anzunehmen, er könne identifiziert werden. Der Begriff des Zeitgeschehens dürfe nicht zu eng verstanden werden, allerdings bestehe das Informationsinteresse nicht schrankenlos. „Die Belange der Medien sind dabei in einen möglichst schonenden Ausgleich mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von einer Berichterstattung Betroffenen zu bringen“, heißt es im Urteil.

Persönlichkeitsrecht überwiegt

Zwar attestierte der sechste Zivilsenat dem Sender, die Bilder kontextgerecht verwendet zu haben – zwei Fotos des Kindes, die einige Wochen vor der Entführung gemacht und den Ermittlungsbehörden übergeben wurden, dienten während der Entführung zur öffentlichen Suche nach dem Mädchen. Auch der Brief und der Audio-Mitschnitt belegten die Authentizität und veranschaulichten das Geschehen. Alle Dokumente waren schon früher einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Allerdings seien seit der Entführung bis zur Veröffentlichung des Films 35 Jahre und bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht 40 Jahre vergangen, erklärte der BGH. „Weder aus dem Kontext des Filmbeitrags der Beklagten noch aus sonstigen Feststellungen ergibt sich eine gleichwohl fortdauernde Bedeutung gerade der Person und vor allem der Persönlichkeit der Klägerin.“

True Crime: Mikrofon mit dem gerne True Crime Podcasts aufgenommen werden.

Wie gehen True-Crime-Formate mit Betroffenen um?

Formate wie „Stern Crime" oder der Podcast „Mord auf Ex“ berichten über Kriminalfälle. Wie gehen Sie mit Betroffenen um?

ber auch unabhängig davon könne das Opfer einer Straftat nach einem gewissen Zeitablauf Anspruch darauf haben, selbst zu entscheiden, ob sein Bildnis noch zur Illustration und erneuten Vergegenwärtigung seiner damaligen Opferrolle verwendet werden darf. „Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Fotos der Klägerin aus Kindertagen ohne die an ihr verübte Straftat nicht in die Öffentlichkeit gelangt wären.“

WEISSER RING: Starkes Signal an Betroffene

Der WEISSE RING begrüßt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: „Das Urteil ist wegweisend. Es betrifft nicht nur die Arbeit des ZDF, sondern generell True-Crime-Produktionen in Deutschland. Es ist ein starkes Signal an Betroffene von Kriminalität“, sagte der Bundesvorsitzende Dr. Patrick Liesching. Die erst kürzlich veröffentlichten Recherchen des WEISSEN RINGS hätten belegt, dass die Belange von Opfern kaum eine Rolle spielen, wenn „ihre Fälle“ in Videodokumentationen, Podcasts oder Magazinen nacherzählt werden.

„Die höchstrichterliche Entscheidung unterstreicht unsere Forderung, dass Betroffene in Produktionen über wahre Verbrechen viel mehr eingebunden werden müssen“, sagte Liesching weiter. Das mindeste sei es, dass Betroffene vorab informiert werden müssten. Die Macherinnen und Macher solcher Formate sollten sich zudem gut überlegen, ob der Fall wirklich erneut erzählt werden müsse. „Über allem sollten die Persönlichkeitsrechte der Menschen stehen, die bereits sehr viel Leid in ihrem Leben erfahren mussten“, so Liesching.