Der Wegweiser

Erstellt am: Freitag, 20. Juni 2025 von Juliane

Der Wegweiser

Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg war die Stimmung in der Republik politisch aufgeheizt, auch wegen der bevorstehenden Bundestagswahl. Vor Ort blieb Rainer Buss besonnen. Der stellvertretende Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS half den Betroffenen, indem er ihnen Perspektiven aufzeigte.

Als langjähriger Vorsitzender Richter hat der Aschaffenburger Rainer Buss nicht nur gelernt, Fragen zu stellen, sondern auch, sich in ganz unterschiedliche Menschen hineinzuversetzen und ihnen aufmerksam zuzuhören.

Von seinem Schreibtisch aus kann Rainer Buss auf den Park Schöntal schauen. An einem sonnigen Vormittag im März steht dort die Blüte des Magnolienhains bevor, des größten in Bayern, während die Krokusse schon sprießen.

Buss, vor seiner Pension langjähriger Vorsitzender Richter, erinnert sich an den Nachmittag des 22. Januar: „Ich war gerade mit einer Angelegenheit für den WEISSEN RING beschäftigt.“ Eben sah der Park noch „ganz unschuldig“ aus. Dann hört der ehrenamtliche Mitarbeiter die Sirenen, sieht „Blaulicht ohne Ende“ und bald einen Hubschrauber. Rainer Buss weiß: „Es muss etwas ganz Schlimmes passiert sein.“

Der 28-jährige, offenbar psychisch kranke Enamullah O. hat eine Kindergartengruppe attackiert und einen zweijährigen Jungen sowie einen 41-jährigen Mann erstochen, der den Täter aufhalten wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Etwa fünfzehn Minuten nach den ersten Sirenen bekommt Buss einen Anruf von der Polizei, am Abend nimmt er am Treffen der Opferbetreuungsgruppe teil und bespricht, wie der WEISSE RING jetzt helfen kann. In den folgenden Stunden und Tagen leitet der Jurist die nächsten Schritte ein. Er ruft bei der Trauma-Ambulanz in Würzburg an, um die Betroffenen dorthin zu vermitteln. Knüpft Kontakte zu Versorgungsamt, Landesunfallkasse, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenige Tage später gibt diese besorgten Eltern bei einer Veranstaltung wichtige Hinweise zum Umgang mit der Tat. Ein Rat, der Buss in Erinnerung blieb: „Kinder brauchen nach so einem Ereignis Routine, und insbesondere Eltern müssen diese Stabilität vermitteln.“

„Die seelische Not war enorm“

Der frühere Richter bekommt von der Polizei eine Liste mit 15 Namen von Betroffenen. Über „Mittelspersonen“, die nah dran sind, geht er auf die Menschen zu. „Die seelische Not war enorm; die Mutter des getöteten Kindes und dessen Tante zum Beispiel waren am Boden zerstört“, blickt Buss zurück. „Es hat mich berührt, das Unglück der Betroffenen und die Tränen zu sehen.“ Aber „man funktioniert“, auch aus dem Impuls heraus, „etwas machen, schnell helfen zu wollen“. In den ersten Wochen ist der Ehrenamtliche in Vollzeit im Einsatz. Die damalige Situation in der Aschaffenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS war „recht ungünstig“, sagt deren Leiter Wolfgang Schwarz. Der frühere Polizist, der auch Landesvorsitzender ist, hatte sich den Arm gebrochen, war gerade operiert worden. Andere, ansonsten aktive Mitglieder waren nur eingeschränkt verfügbar. Vieles lag nun bei Buss.

Er und Schwarz telefonierten regelmäßig miteinander, tauschten sich über die Hilfsmöglichkeiten aus. Die nordbayerische Außenstelle hätte Unterstützung aus der Mainzer Zentrale des WEISSEN RINGS bekommen können. Der Leiter der Außenstelle und sein Stellvertreter besprechen sich und gelangen zu der Überzeugung: „Wir schaffen das mit eigenen Kräften.“ Mit seinem Wissen, aber auch mit seiner besonnenen Art sei Buss ein Glücksfall für den Verein, auch und vor allem in solchen Lagen, beschreibt Schwarz seinen Vereinskollegen.

Aschaffenburg im Park: Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Schnell wurde die Tat zu einem bestimmenden Thema im Bundestagswahlkampf, vor allem rechte Akteure versuchten, sie zu instrumentalisieren und Ressentiments zu schüren. Der AfD-Politiker und Faschist Björn Höcke und seine Partei riefen zu einer Gedenkveranstaltung in der Stadt auf. Rund 70 ihrer Anhänger kamen. Aschaffenburg und die Region hielten dagegen: An der Gegendemo nahmen 500 Menschen teil. Bereits kurz nach der Attacke waren 3000 Menschen zu einem stillen, würdevollen Gedenken zusammengekommen.

In der Nähe des Tatortes entstand bald eine kleine Gedenkstätte, mit unzähligen Kerzen, Blumen und Kuscheltieren. Ein Zelt, in dem Seelsorger Gespräche anboten, wurde aufgebaut. Verschiedene Organisationen, der WEISSE RING und die Stadt knüpften ein helfendes Netzwerk und sammelten Spenden. Bei Treffen gab Buss einen Überblick über die Situation der Betroffenen und deren Bedürfnisse. Oberbürgermeister Jürgen Herzing (SPD) mahnte wenige Stunden nach der Attacke zur Besonnenheit: „Ein Geflüchteter greift unschuldige Menschen an, verletzt und tötet sie. Wir sehen die Parallelen“, sagte er mit Blick auf die Amokfahrt von Magdeburg und den Messerangriff in Solingen. Aber: „Wir können und dürfen die Tat eines Einzelnen niemals einer gesamten Bevölkerungsgruppe anrechnen.“

„Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist.“

Rainer Buss

Buss kritisiert die Versuche, das Verbrechen zu instrumentalisieren. Ja, der Täter sei ein Geflüchteter. Es habe aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte gegeben, die ihn verfolgten und Opfern halfen. Auch habe ihm missfallen, wie Bundes- und Landespolitik bemüht waren, sich gegenseitig die Schuld dafür zu geben, dass die Tat nicht verhindert wurde. Bei seinem Einsatz für die Betroffenen habe er solche Nebengeräusche ausgeblendet. „Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist“, erklärt Buss. „Das ist ein wichtiger Grundsatz des WEISSEN RINGS“, ergänzt Schwarz.

Als Richter hatte Buss in spektakulären Wirtschaftsprozessen den Vorsitz, es ging etwa um Millionenbetrug, Schmiergeld- und Steuerskandale. Er hat gelernt, harte Fragen zu stellen und Urteile zu fällen, aber auch, sich in Menschen hineinzuversetzen. Wenn Buss Opfer begleitet, achte er darauf, „rücksichts- und verständnisvoll vorzugehen, mich erst einmal zurückzunehmen und zu schauen, wie die Menschen mit der Situation umgehen, und mich dann intuitiv anzupassen“. Er tröste schon, verstehe sich aber „nicht als Seelsorger, sondern als Wegweiser“. Informationen könnten Halt geben; vor der polizeilichen Vernehmung habe er einem schwerverletzten Helfer deshalb in Ruhe den genauen Ablauf erklärt. „Ich habe erfahren, dass es vielen Menschen am meisten hilft, wenn ihnen Wege aufgezeigt werden, wie es weitergehen kann, etwa bei der psychologischen Hilfe. Sie möchten auch in den aller schlimmsten Lagen eine Perspektive haben.“ Oft geht es um praktische Fragen: Wie kann eine Behandlung finanziert, wie der Hauskredit weiter abbezahlt werden?

Häufig kommen zum unfassbaren Schmerz über den Verlust von Angehörigen noch große Geldsorgen und Überforderung durch Bürokratie hinzu, auch im Fall von Aschaffenburg. Buss erklärt dann Formulare sowie Leistungen etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und privaten Haftpflichtversicherung oder setzt sich dafür ein, dass die Unfallkasse 15.000 Euro Vorschuss gibt oder der Spendentopf angezapft wird, damit eine Betroffene sich die Fahrt in die Würzburger Trauma-Ambulanz leisten kann.

Aschaffenburg: Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Als Rainer Buss von seinem Einsatz erzählt, klingelt das Telefon. „Buss, WEISSER RING. Guten Tag“, sagt er. Der Anrufer braucht seinen Rat zur Frage, ob Geld aus dem Opferfonds auf Bürgergeld angerechnet wird. Unter bestimmten Bedingungen nicht, ähnlich wie Schmerzensgeld. Buss nimmt sich Zeit und erklärt die Regeln.

Zum WEISSEN RING kam er vor zehn Jahren – durch Wolfgang Schwarz, der seit 18 Jahren dabei ist. Sie gehen in denselben Fitnessclub, dort schlug Schwarz Buss ein Engagement vor. „Ich habe nach etwas Sinnvollem gesucht und fand die Idee gut, auch weil ich aus meiner beruflichen Erfahrung weiß, dass Opfer häufig zu kurz kommen.“ Schwarz war es zuvor ähnlich ergangen. Beide freuen sich über Rückmeldungen von Menschen, die, wie Schwarz es formuliert, „wieder Boden unter den Füßen bekommen“. So wie die Betroffenen, die Buss erzählt haben, die Traumatherapie habe ihnen in den vergangenen Monaten geholfen, aus ihrem Tief herauszukommen.

In Aschaffenburg habe das Netzwerk, auch beim Sammeln von Spenden, gut funktioniert, sagen die Ehrenamtlichen. Zu den Beteiligten zählten etwa der Verein Gutherzig und die Humorbrigade Hofgarten. Kürzlich hat die Stadt eine Bilanz veröffentlicht. Demnach sind für die Betroffenen 485.000 Euro zusammengekommen.

Der Park Schöntal

Zwei Monate nach der Tat steht Rainer Buss im sonnendurchfluteten Park Schöntal. Eine Gänsefamilie mit Küken watschelt in den Teich; junge und alte Menschen nutzen das gute Wetter für einen Spaziergang. Vor der provisorischen Gedenkstätte, die an die Attentate erinnert, bleibt ein Paar stehen. „Is scho schlimm“, sagt der Mann. Die beiden halten inne und schweigen eine Weile. Vor ihnen, in der Nähe des Tatortes, liegen Dutzende von Kuscheltieren, dazu Puppen, Blumen, Kerzen, kleine Engelsstatuen und handgeschriebene Briefe. Ein Teddy trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Lasst uns einfach wieder Mensch sein!“, auf eine Leinwand hat jemand eine Variante der Nationalhymne geschrieben: „Einigkeit und Recht und Freiheit / sei Gesetz in jedem Land / blüht ihr Menschen auf der Erde / blüht mit Liebe und Verstand“.

Ob der Anschlag seinen Blick auf den Park Schöntal verändert habe? „Nein“, sagt Rainer Buss, der oft mit dem Fahrrad durchfährt. Es sei nach wie vor ein schöner Park – wenngleich er manchmal an die Ereignisse denkt. Nach dem Messerangriff hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen bislang 25 Leute betreut.

Von seinem Schreibtisch aus wird Buss den Park im Blick behalten, auch bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING. „Die Betreuung von Opfern ist oft eine langfristige Aufgabe. Wir sind weiterhin für sie da, wenn sie uns brauchen.“

 

“Opfer hatten früher keine Rechte“

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Sabine

“Opfer hatten früher keine Rechte“

Lothar Pohle war 40 Jahre Kriminalkommissar und hat in vielen Fällen von sexualisierter Gewalt ermittelt. Seit 33 Jahren engagiert er sich beim WEISSEN RING und hat für den Verein in der Lausitz Pionierarbeit geleistet.

Lothar Pohle und seine Frau Monika vom WEISSEN RING.

Lothar Pohle und seine Frau Monika engagieren sich beide intensiv für den Verein.

An diesem kalten Wintertag sieht das Leben von Lothar Pohle gemütlich und beschaulich aus. Er öffnet die Tür zu seinem Haus in der Siedlung Gallinchen, einem Ortsteil von Cottbus. Drinnen brennt das Holz im Kaminofen, es gibt Kaffee und Kekse, Katze Emmi liegt auf dem Kratzbaum und schaut in den Garten. Hier lebt Pohle seit 1997 mit seiner Frau Monika. Lothar Pohle hat eine Maurerlehre gemacht und viel an dem Haus selbst gebaut. Ein Ort, an den man sich zurückziehen und Kraft tanken kann.

Pohles Berufsleben als Kriminalkommissar war alles andere als beschaulich: „Ich habe mich um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen und um Kinderpornografie gekümmert“, sagt er. Der Beruf war am Anfang mehr ein Zufall als ein Wunsch. Als studierter Bauingenieur hatte er in der DDR schlechte Konditionen. „Ich habe weniger verdient als die Bauarbeiter und wollte als Brandursachenermittler zur Feuerwehr“, erinnert er sich. Damals rauchte er noch und bekam die Stelle aus gesundheitlichen Gründen nicht, aber bei der Kripo wurde ihm eine angeboten.

Also beginnt er Ende der 1970er-Jahre das Polizeistudium und arbeitet danach 40 Jahre bei der Polizei Cottbus und Land. Über diese Arbeit kam er zum WEISSEN RING. Ein Kollege aus Nordrhein-Westfalen, wo es den Opferhilfeverein schon gab, „hat angeregt, so etwas auch in Cottbus aufzubauen“. Die hier zuständige Staatsanwältin, Martina Eberhart, wurde Außenstellenleiterin in Cottbus-Stadt und holte Pohle ins Team. „Sie ist heute die Dienstälteste, ich komme direkt nach ihr“, sagt er und lacht.

Weshalb Pohle sich für Betroffene engagieren wollte? „Die Verfahren, die ich bearbeitet habe, waren für die Opfer eine Katastrophe.“ Die Frauen hätten bei der Polizei aussagen müssen, bei der Staatsanwaltschaft und noch einmal vor Gericht. Hinzu kamen Verteidiger, die es als ihren Job angesehen hätten, alles, was die Frauen sagen, anzuzweifeln. Die Opfer seien zur damaligen Zeit nur Zeugen gewesen, erklärt Pohle. “Sie hatten keine Rechte, und ich wollte einfach etwas für die Opfer tun, ohne damals zu wissen, wie man das am besten machen kann.“

Im Jahr 1992 wird er Mitglied im WEISSEN RING. Mit Eberhart baut er im Süden Brandenburgs das Netz des Vereins auf. “Wir waren nur wenige Leute und haben trotzdem in zwei Jahren mehrere Außenstellen eröffnet.“ Seit 1997 leitet Pohle auch die Außenstelle Spree-Neiße mit heute neun Mitarbeitenden, vier davon sind Frauen. Seit 2022 ist er Vize-Landesvorsitzender. Der WEISSE RING hat in Brandenburg 19 Außenstellen, was auch ein Verdienst von Lothar Pohle ist.

„Ich bin ein positiver Mensch geblieben. Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Guten tun.“

Lothar Pohle

Als Kommissar saß er oft im Gerichtssaal. Deshalb weiß er, wie wichtig die Reformgesetze sind. Sie geben den Opfern mehr Rechte: zum Beispiel der Verletztenbeistand vor Gericht. Oder das Recht auf Informationen: Wann wird der  Täter verurteilt, wann wird er entlassen? Pohles Frau Monika ist ebenfalls im Verein aktiv. Sie war Lehrerin und betreut vor allem Fälle aus dem Frauenhaus.

Pohles frühere Arbeit und jene für den WEISSEN RING überschneiden sich oft. Sexualstraftaten machen bis zu 40 Prozent der Fälle aus, mit denen sich der Verein beschäftigt. Nur häusliche Gewalt kommt noch häufiger vor, dahinter folgen Stalking und Mobbing.

Als Kommissar sah Pohle Menschen sterben

Wenn man Lothar Pohle nach den Fällen befragt, in denen er früher als Kommissar ermittelte, blockt er erst mal ab. “Ich mag es nicht, wenn Gewalt- oder Sexualstraftaten heute zur Unterhaltung verwendet werden.“ Er meint damit vor allem die vielen True-Crime-Formate.

Doch natürlich erinnert Pohle sich noch an vieles. Als Kommissar hat er drei Menschen nach Tötungsdelikten sterben sehen. In einem anderen Fall wurde eine Frau im Fahrstuhl vergewaltigt, später konnten Lothar Pohle und seine Kollegen den Täter verhaften. “Das war immer ein befriedigendes Gefühl, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, dem Täter persönlich die Handschellen anzulegen.“ Neben einer gewissen Härte brauche man als Kommissar auch Einfühlungsvermögen. Eine Eigenschaft, die ihm bei seiner ehrenamtlichen Arbeit hilft.

Ein Fall von sexuellem Kindesmissbrauch ließ ihm über Jahre keine Ruhe. Eine 17-Jährige hatte versucht, Suizid zu begehen. Sie erzählte Pohle, ihre Mutter habe sie als Kleinkind an Männer verkauft, die sie missbrauchten. “Aber was kann ein Kind von damals drei bis vier Jahren heute noch wissen?“, fragt er. “Ich konnte keine Täter ermitteln.“ Doch er konnte der Frau dann trotzdem helfen, als Ehrenamtlicher des WEISSEN RINGS. Auch danach hielt sie Kontakt zu ihm, mehr als 20 Jahre lang. “ich war ihr Gesprächspartner am Telefon und habe sie in der psychiatrischen Klinik besucht, wo sie lange Zeit lebte“, erzählt er. Später erfuhr er von ihrer schweren Krankheit, an der sie mit Anfang 40 verstarb. Pohle ging zu ihrer Beerdigung.

Kornelia Fröde will „Menschen wie meiner Mutti helfen“

Beim Sport haben sich ­Kornelia Fröde und Thomas Karius ­kennengelernt, heute betreibt das Paar eine Kampfkunstschule und leitet seit Kurzem die Außenstelle im Burgenlandkreis.

Wie geht er mit all den Erfahrungen um? Er sei ein positiver Mensch geblieben, sagt Pohle. “Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Gutes tun.“ Bis heute ist ihm wichtig, sich in seinem Privatleben nicht mit den Fällen zu beschäftigen. “Man muss aus dem Gespräch rausgehen und es abhaken, sonst wird man irre.“ Lange Zeit hat er nach dem richtigen Ausgleich gesucht. Dass es dafür mehr als ein Hobby braucht, beweist seine lange Liste: Mit dem Motorrad durch die Wälder fahren, Angeln, Fußball, Badminton, Volleyball.

Nicht alle Fälle sind so belastend wie der Fall der jungen Frau, und er hat die Möglichkeit, den Opfern zu helfen. Sein Telefon für den WEISSEN RING hat Pohle immer bei sich. Er arbeitet mit der Polizei und der kommunalen Verwaltung zusammen, die Hilfsbedürftige an ihn verweisen. Seine erste Frage laute immer: “Wie kann ich Ihnen helfen?“

Oft fragen Betroffene nach ganz pragmatischer Hilfe, etwa nach einem Einbruch. Dann kann der WEISSE RING zum Beispiel unbürokratisch eine Soforthilfe von 300 Euro auszahlen. Oder Lothar Pohle hilft bei der Suche nach einem Therapieplatz. “Wir haben auch schon mehrmals die Kosten für eine Tatortreinigung übernommen“, sagt er, “auch so kleine Hilfen sind wichtig für die Menschen.“ Entscheidend sei, dass er sie unterstützt, aus ihrer Ratlosigkeit zu kommen. Wenn ihm da gelingt, hat er ein gutes Gefühl. Damals wie heute.

Starke Stimme für die Ausbildung

Erstellt am: Freitag, 13. Juni 2025 von Sabine

Starke Stimme für die Ausbildung

Menschen vor Ort helfen, ihnen persönlich begegnen – das ist es, was Ruth Stöpper seit 42 Jahren an der Arbeit des WEISSEN RINGS schätzt. Seit 1990 leitet sie die Außenstelle Paderborn und ist seit 2002 Vize-Landesvorsitzende in NRW/Westfalen-Lippe. Besonders am Herzen liegt der 71-Jährigen die Aus- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen.

Ruth Stöpper aus Paderborn liegt die Aus- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen am Herzen

Ruth Stöpper verfügt über eine jahrzehntelange Erfahrung als Lehrerin, auch deshalb ist Aus- und Weiterbildung ihr Spezialgebiet.

Jedes Mal, wenn Ruth Stöpper ihre Wohnung betritt oder Besuch empfängt, schließt sie die Tür von innen ab. Es ist bekannt, dass Sendungen wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“ das Sicherheitsgefühl verändern können. Moderator Eduard Zimmermann warnte unermüdlich vor Neppern, Schleppern und Bauernfängern – und gründete  1976 den WEISSEN RING. „Eduard Zimmermann habe ich sogar mal persönlich getroffen bei einer Veranstaltung des WEISSEN RINGS in Mainz“, sagt Stöpper. Aber die Wohnungstür schließe sie aus einem anderen Grund ab: „Ich hatte früher eine Katze, die konnte auf die Türklinke springen. Da habe ich mir das angewöhnt“, sagt die 71-Jährige schmunzelnd.

Ruth Stöpper hat in 42 Jahren beim WEISSEN RING sehr viele Opfer von Straftaten betreut. Menschen, die mit Fäusten, Messern und sogar Säure angegriffen worden  sind. Sie sei vorsichtiger, aufmerksamer im Umgang mit Menschen. Angst habe sie nicht. „Vielleicht habe ich einfach Glück, dass ich eine sehr robuste Psyche habe“, sagt  die pensionierte Hauptschullehrerin. Möglicherweise helfen auch die professionellen Strukturen des Vereins, die Stöpper vor allem bei der Ausbildung mit auf- und ausgebaut hat. Es dürfte kaum Ehrenamtliche im Verein geben, die nicht von ihr ausgebildet worden sind. In 31 Jahren als Referentin im Grundseminar hat sie nur ein einziges Mal gefehlt. „Da bin ich samstags morgens wach geworden und konnte nicht sprechen. Ich war heiser und habe krächzend am Telefon abgesagt.“ Stöpper hört sich sonst ganz anders an: Ihre markante Stimme ist ihr Markenzeichen.

 

“Es gibt Fälle, die vergisst man nicht.“

Ihr erster Einsatz war eine einschneidende Erfahrung: „Es gibt Fälle, die vergisst man nicht“, erzählt Ruth Stöpper. In einem kleinen Ort bei Paderborn war eine Frau von ihrem Ehemann ermordet worden. Sie hinterließ drei Kinder. „Ich habe die Eltern der Getöteten betreut, bei denen die Kinder untergekommen waren. Das war schwierig für mich, ich hatte ja keinerlei Erfahrung“, schildert Stöpper. „Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen: Wir sind allein losgegangen, ohne eine richtige Einarbeitung. Man ist ins kalte Wasser geworfen worden.“ Erschwerend kam hinzu: Die Eltern des Opfers zeigten ihr Bilder von ihrer toten Tochter. Ruth Stöpper  erschrak: „Ich bin mit der Frau zur Grundschule gegangen.“ In solchen Momenten zeige sich, sagt Stöpper rückblickend, wie wichtig es ist, die Ehrenamtlichen fundiert auszubilden.

Ruth Stöpper ließ sich nicht abschrecken und stieg tiefer in die Arbeit des WEISSEN RINGS ein. Im Jahr 1990 übernahm sie die Leitung der Außenstelle Paderborn.  Heute ist sie mit 71 die Älteste im sechsköpfigen Team, der Jüngste ist 33. Manchmal geäußerte Vorbehalte gegen jüngere Ehrenamtler kann sie nicht nachvollziehen: „Wir brauchen junge Leute, auch wenn diese vielleicht beruflich und familiär stärker eingebunden sind und weniger Zeit einbringen können.“ Stöpper ärgert sich, wenn sie einen Satz hört: „Das habe ich immer schon so gemacht und mache das weiter so.“ Sie betont: „Ich bin auch seit mehr als 40 Jahren dabei. Aber wir müssen uns doch
alle immer gemeinsam darum bemühen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben.“

„Es ist die Hilfe vor Ort. Für Menschen, denen ich persönlich begegne und die mir gegenübersitzen.“

Ruth Stöpper

Deshalb nutzt Stöpper ihre pädagogische Kompetenz für die Aus- und Weiterbildung beim WEISSEN RING. Seit 2003 zunächst in einer Arbeitsgruppe, dann im zuständigen Fachbeirat, seit 2006 in der Seminarleitung. Das Grundseminar hat sie mit aufgebaut, um bundesweit die gleichen Voraussetzungen zu schaffen. „Unsere Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist wirklich gut. Wir können voller Überzeugung sagen: Wir sind professionell arbeitende Ehrenamtler.“ Zehn bis zwölf Wochenenden im Jahr ist sie bundesweit unterwegs. Bis zu ihrer Pensionierung hat sie Vollzeit als Hauptschullehrerin die Fächer Deutsch, Geschichte, Erdkunde,  Biologie und Kunst unterrichtet. „Ich war sehr gerne Lehrerin.“ Als Stöpper 2006 für ihre ehrenamtliche Tätigkeit das Bundesverdienstkreuz erhielt, hat sie einige ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verleihung ins Paderborner Rathaus eingeladen. Sie sollten miterleben, dass Engagement sich lohnt und der Staat es anerkennt.

Kraft gibt ihr das Feedback von Betroffenen

„Die Opferarbeit macht keinen Spaß – aber es ist eine sehr erfüllende Aufgabe.“ Kraft gebe ihr das Feedback von Betroffenen: „Es ist schön, gespiegelt zu bekommen, dass der WEISSE RING in der Gesellschaft so akzeptiert ist und Menschen positive Erfahrungen gemacht haben.“ Entspannen kann Ruth Stöpper am besten, wenn sie reist oder liest. Während die Reisen gern in sonnige Gefilde gehen – nach Ägypten, Italien oder Kuba – fällt ihre Wahl bei Büchern eher auf kühle Krimis aus dem Norden.

Beim Rückblick auf 42 Jahre Opferhilfe sagt Ruth Stöpper: „Ich sehe bei den Mitarbeitenden einen unglaublichen Wandel. Sie stellen viel auf die Beine und haben viele gute Ideen auch im Bereich Prävention.“ Beim Blick in die Zukunft sagt sie: „Das ist jetzt nicht akut, aber irgendwann ist mal Schluss. Ich hoffe, dass ich selbst noch  merke, wenn es an der Zeit ist, aufzuhören.“ Bis dahin wolle sie neugierig bleiben: „Wenn man nicht aufgeschlossen ist, kommt auch nichts Neues mehr dazu im Leben.“

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

 

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Erstellt am: Donnerstag, 3. April 2025 von Selina

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung war groß, nachdem bekannt geworden war, dass der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) auslaufen soll. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds tatsächlich bleibt, ist ungewiss. Beratungsstellen und Betroffene mahnen, die niedrigschwelligen Hilfen in vollem Umfang zu erhalten.

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Bernd Weiland (Name geändert) wurde jahrelang von seinem Vater missbraucht. Er verlor das Gleichgewicht und bekam als Erwachsener auch Geldsorgen, weil er beruflich nicht richtig Fuß fassen konnte. Um wenigstens etwas Abstand zu der Tat und zu dem Mann zu bekommen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, wollte er seinen Nachnamen ändern. Später hatte er noch einen kleinen Wunsch: sich einmal elegant einkleiden, von Kopf bis Fuß, um sich „nicht so ärmlich und erbärmlich“ zu fühlen, sagte er. Keine teure Designerkleidung, aber ordentliche Klamotten. Als der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seinen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Namensänderung und die Kleidung bewilligte, war er sprachlos und brach in Tränen aus, vor Freude.

Die Kleidung habe für ihn eine tiefere Bedeutung gehabt, erklärt Ingeborg Altvater, die beim WEISSEN RING mehr als 100 Beratungen zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS) gemacht hat, das hinter dem Fonds steht. „Die Garderobe stärkte sein Selbstbewusstsein. Das ist ganz wichtig, weil er wie andere Opfer mit dem Gefühl kämpfte, minderwertig und hilflos zu sein“, erinnert sich Altvater.

In der Regel ist eine Unterstützung bis 10.000 Euro möglich

Der Fonds kann Hilfen gewähren, die die Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht nicht abdecken. In der Regel ist eine Unterstützung in Höhe von 10.000 Euro, für Betroffene mit Behinderung bis zu 15.000 Euro möglich. Kürzlich ist bekannt geworden, dass das Ergänzende Hilfesystem und der FSM Ende 2028 auslaufen sollen. Demnach können Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt noch bis Ende August 2025 eingereicht und Zusagen nur bis Jahresende erteilt werden.

Das noch amtierende Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte diesen Schritt mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 bemängelt hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht darüber einigen können, wie sie das EHS neu aufstellen können. Das sei Aufgabe der neuen Bundesregierung. Der WEISSE RING und fünf Fachorganisationen, darunter die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), kritisierten die Entscheidung und forderten in einer gemeinsamen Erklärung: „Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden.“

Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD lässt auf eine Fortsetzung hoffen. Darin heißt es: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“ Doch ob der FSM als Teil des EHS tatsächlich bestehen bleibt und in welcher Form, ist noch unklar. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte eine Sprecherin des nun von Karin Prien (CDU) geführten Familienministeriums mit: Die Koalitionsfraktionen hätten in ihrem Vertrag die politische Grundlage für den Erhalt des EHS gelegt. Derzeit prüfe das Ministerium, auch vorbehaltlich der Ergebnisse der laufenden Haushaltsverhandlungen, die „Möglichkeiten der Umsetzung“.

Leistungen können Folgen des Missbrauchs lindern

Beratende wie Ingeborg Altvater mahnen, den Fonds in vollem Umfang zu erhalten. Sie beschreibt das Hilfesystem als „sehr niedrigschwellige Möglichkeit zu helfen – und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, um die Folgen des Missbrauchs zu lindern“.

Das System bietet aus Sicht der Opfer eine Reihe von Vorteilen: Die Verfahren sind nicht so lang und belastend wie beim Entschädigungsrecht, und die Anträge werden viel häufiger genehmigt. Betroffene müssen glaubwürdige Angaben machen, etwa zu ihrer Person und zu den Taten, letztere jedoch nicht detailliert in Worte gefasst schildern. Sie können auch durch Ankreuzen Informationen geben, beispielsweise dazu, ob sie angefasst worden sind. „Das entlastet Opfer. Sie schaffen es dadurch eher, einen Antrag auf Unterstützung zu stellen“, weiß Altvater. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Beratung sagt Altvater: „Menschen, die in jungen Jahren von ihren Nächsten missbraucht wurden und dadurch einen großen Vertrauensbruch erlitten haben, sind eine besonders belastete Opfergruppe. Sie haben viele Ängste und Schamgefühle.“ Teilweise sind sie beruflich erfolgreich, haben aber privat Probleme. Mitunter verdrängen sie die Tat jahrzehntelang – und brechen dann zusammen.

Der FSM kümmert sich weitgehend um Fälle von sexualisierter Gewalt im familiären Bereich. Zudem übernimmt er Fälle in Institutionen, die sich an ihm beteiligen, etwa der Caritasverband und die Bundeswehr. Laut den jüngsten Zahlen ist der monatliche Schnitt an Erstanträgen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen, auf 412. Das geht aus dem Jahresbericht des Fonds hervor. Der Großteil der Antragstellenden hat sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld angegeben (96,2 Prozent). In etwa 98 Prozent der Fälle wurden Mittel aus dem FSM bewilligt. Im Jahr 2023 flossen Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent), der Bund zahlte in dem Jahr 32 Millionen ein. Nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Hilfen durch den Fonds. Den größten Anteil im vorvergangenen Jahr hatten Leistungen, die der „individuellen Aufarbeitung“ dienen, etwa Hilfen zur sozialen Teilhabe oder Entspannungsverfahren (8 Millionen Euro), gefolgt von therapeutischen Hilfen (7,7 Millionen Euro).

Beratungsstellen warnen vor Aus

Auch in der Fachberatung aktive Einrichtungen kritisieren das drohende Aus bundesweit. Lilo Löffler, geschäftsführender Vorstand beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer Mettmann, warnt zum Beispiel vor einem „fatalen Schritt“ der Politik. Die individuellen Hilfeleistungen seien eine wichtige Anerkennung für Betroffene und „tragen erheblich zur Linderung des erlebten Leids bei.“

Der Fonds Sexueller Missbrauch kann einspringen, wenn gesetzliche Leistungen nicht reichen, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Oder wenn das Fortsetzen gesetzlicher Leistungen abgelehnt oder durch eigentlich vorrangige Leistungsträger erschwert wird. So kann der Fonds beispielsweise eine Behandlung in den sogenannten psychotherapeutischen Richtlinienverfahren über die Stundenobergrenze hinaus ermöglichen. Weitere Beispiele sind Physiotherapie, Ergotherapie, Zahnbehandlungen, Aus- und Fortbildung oder Umzüge, etwa wenn der Tatort auch der Wohnort ist.

Wenn Altvater Betroffene berät, erklärt sie ihnen zu Beginn den Aufbau des Antrags, klärt formale Dinge: „Das verringert die Anspannung.“ Es geht erst um Daten zur Person, später um Tatzeit und Tatort, die Tat, die nicht beschrieben werden muss, dann um seelische und körperliche Folgen sowie die konkreten Leistungen, die das Leid lindern und den Heilungsprozess fördern sollen. Die Sachbearbeiter müssen erkennen, weshalb etwas beantragt wird und inwiefern es helfen kann. „Wir überlegen, was den Opfern guttun, was ihnen eine neue Perspektive eröffnen würde.“ Ein wichtiges Ziel sei, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen, da sie sich häufig machtlos fühlen. Auch deshalb habe der Fonds eine große Bedeutung: „Wenn Betroffene aktiv werden, aus der Opferrolle treten können und schließlich lesen, dass der Staat ihr Leid anerkennt und sie unterstützt, brechen sie manchmal in Tränen aus. Manchen hat ihr Umfeld viele Jahre lang nicht geglaubt.“

Unruhe und Sorgen bei Betroffenen

Ein Ende des Fonds wäre verheerend, sagt Altvater. Die Ankündigung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Teil des EHS nicht weiterzuführen, hat bereits negative Folgen gehabt. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, nicht wahrgenommen. Aufgrund der aktuell geltenden Fristen müssen sie schnell handeln – was für schwer traumatisierte Menschen eine große Herausforderung ist. Ein weiteres Problem: Es gibt keine Vorauszahlungen mehr. Wenn also jemand zum Beispiel das Geld für ein Fahrrad nicht vorstrecken kann und der Händler nicht mit sich reden lässt, muss er aufgrund der aktuellen Antragsflut auf die bewilligte Leistung verzichten. „Das ist alles belastend, sorgt für Unruhe“, so Altvater.

Sie, ihre beratenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer hoffen, dass der Fonds bestehen bleibt, gestärkt wird, und dass bald Klarheit herrscht. Was das Ergänzende Hilfesystem leisten kann, zeigt ein weiterer Fall, der Altvater besonders gut im Gedächtnis geblieben ist: Annette Weber (Name geändert) hatte der Missbrauch so aus der Bahn geworfen, dass sie kaum in der Lage war, ihre Wohnung zu verlassen und unter Leute zu gehen. Die Rollläden in ihrer Zweizimmerwohnung ließ sie zumeist unten. In der EHS-Beratung nannte sie zwei Anliegen: ein Rudergerät, gegen ihre Rückenschmerzen und ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer, wo sie schlief statt im Schlafzimmer. Beim zweiten Wunsch war Altvater der Grund zunächst nicht klar, für den Antrag musste sie ihn aber kennen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fragte Altvater: „Hat der Missbrauch in einem Schlafzimmer stattgefunden?“

Weber nickte, erleichtert darüber, dass die Beraterin es ausgesprochen hatte. Altvater ergänzte den Antrag und er wurde bewilligt. Weber war „einfach nur glücklich“. Sowohl über den Ersatz für die alte, durchgelegene Couch als auch über das Rudergerät. Es half ihrem Rücken, und sie mochte die gleichmäßige, beruhigende Bewegung, die sich so anfühlte, als wäre sie auf dem Wasser.

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Karsten

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden. Er hat erforscht, wie der Staat besser mit Betroffenen umgehen könnte. Riebel macht viele konkrete Vorschläge, etwa zur Gestaltung von Gerichtsprozessen.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Dr. Marius Riebel, der beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis geehrt worden ist (mehr zur Preisverleihung findet sich hier), spricht im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS darüber, welche Bedürfnisse Opfer im Strafverfahren haben, inwiefern diese berücksichtigt werden – und wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt.

Herr Dr. Riebel, Sie haben sich intensiv mit „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ befasst, einem Thema, dem sich die Rechtswissenschaft selten widmet. Wie sind Sie darauf gekommen?

Nach dem ersten Staatsexamen habe ich das Angebot angenommen, an der Universität Leipzig zu arbeiten, um mich tiefer mit rechtswissenschaftlichen Themen auseinandersetzen zu können. Daneben wollte ich etwas Praktisches machen, weshalb ich beim WEISSEN RING als ehrenamtlicher Berater angefangen habe. Oft wollten Betroffene über das anstehende beziehungsweise vergangene Strafverfahren sprechen. Ihr Blick darauf war regelmäßig negativ und mit Ängsten verbunden. Das gab mir den Impuls, dazu zu forschen, welche Erwartungen Betroffene an den Staat und staatliche Verfahren haben.

Was haben Sie mit welchen Methoden untersucht?

Ich habe untersucht, welche Interessen Verletzte haben und inwieweit diese im Strafverfahren, aber auch in anderen staatlichen Verfahren berücksichtigt werden. Dazu habe ich bereits vorliegende empirische Untersuchungen, die Verletzteninteressen herausgearbeitet haben, ausgewertet und die Erkenntnisse mit der derzeitigen Ausgestaltung des Rechts abgeglichen. Dabei habe ich mich zum einen abstrakt mit der Legitimität von Verletztenbelangen auseinandergesetzt. Zum anderen habe ich die bestehenden Rechtsinstitute auf ihr Befriedigungspotenzial hin untersucht und Verbesserungsmöglichkeiten entwickelt.

Was haben Sie im Wesentlichen herausgefunden?

Häufig wird davon ausgegangen, dass Verletzte eine möglichst harte Bestrafung wollen. Die Strafe ist für sie tatsächlich ein relevanter Aspekt. Hier geht es aber weniger um eine möglichst harte Sanktion, sondern mehr darum, dass überhaupt eine staatliche Reaktion erfolgt. Damit wird auch eine Form von Anerkennung verbunden. Daneben haben Betroffene materielle und immaterielle Bedürfnisse: Einerseits sollen Kosten – beispielsweise für die medizinische Versorgung oder den Rechtsbeistand – kompensiert werden. Andererseits wünschen Betroffene, dass während des Verfahrens auf sie eingegangen und Rücksicht auf ihre nicht selten bestehenden psychischen Belastungen genommen wird. Im Zuge dessen ist es relevant, dass sie informiert am Verfahren teilhaben und ihre Perspektive aktiv einbringen können.

Welchen Effekt hat das?

Ein solcher Umgang kann dazu beitragen, dass sie das erlittene Unrecht verarbeiten und damit langfristig leben können. Mit Blick auf den Strafprozess konnte ich feststellen, dass es schon eine ganze Reihe von Instrumenten gibt, die eine verletztengerechte Behandlung sicherstellen können. Gleichzeitig werden diese in bestimmten Bereichen aber nicht genug angewendet. Außerdem konnte ich weitere Gestaltungsspielräume herausarbeiten.

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

Welche Instrumente können helfen, die Interessen von Verletzten zu berücksichtigen?

In Untersuchungen wird von Verletzten beispielsweise die Aussage vor Gericht, aber auch die Konfrontation mit der Tatperson als besonders belastend beschrieben. Hier kann bereits heute Videotechnik eingesetzt werden, um derartige Situationen abzumildern und mehrfache Vernehmungen zu verhindern. Auch ein Ausschluss der Öffentlichkeit oder die Entfernung des Angeklagten kann helfen. Außerdem haben Verletzte Aktivrechte – wie beispielsweise die Möglichkeit, sich als Nebenkläger anzuschließen. Darüber hinaus existieren Informationsrechte, wobei das Gesetz das Idealbild eines über seine Rechte voll informierten Verletzten verfolgt. Die Interessen Betroffener haben aber auch Grenzen.

Welche Grenzen gibt es?

Etwa Rechte der Verteidigung oder rechtsstaatliche Prinzipien wie „in dubio pro reo“. All diese Maximen sind richtig und wichtig, können aber dazu führen, dass ein Urteil oder auch eine Einstellungsentscheidung dem Verletzten keine Anerkennung bringt. Umso wichtiger ist es, das Verfahren so opfersensibel wie möglich zu gestalten. Hier besteht aus meiner Sicht ein großes Potenzial in der Kommunikation mit Verletzten. Wenn ein Täter beispielsweise „in dubio pro reo“ freigesprochen wird, sollte dem Verletzten diese Entscheidung umfassend erklärt werden – auch gerichtsseitig. Dies kann die von Verletztenseite gewünschte Anerkennung bringen, Rechtsfrieden schaffen und zudem Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.

Mit welchen weiteren Mitteln könnte die Justiz den Bedürfnissen von Betroffenen besser Rechnung tragen?

Es gibt einige Stellschrauben. Um ein paar Details zu nennen: Im Bereich der Nebenklage könnten umfassendere Prozesskostenhilferegelungen geschaffen werden. Außerdem sollte der Kreis der Nebenklageberechtigten überarbeitet werden. Auch das Institut der psychosozialen Prozessbegleitung ist weiter optimierungsbedürftig. Ein großer Wurf könnte allerdings gelingen, indem die juristische Aus- und Fortbildung verbessert würde. Hier spielen Verletztenrechte und Disziplinen wie Viktimologie bisher kaum eine Rolle. Das muss sich ändern.

Inwiefern?

Juristinnen und Juristen sollten sich – zumindest, wenn sie später etwa mit häuslicher oder sexualisierter Gewalt zu tun haben – damit auseinandersetzen, was Straftaten und Verfahren mit Betroffenen machen. Ich plädiere dafür, Qualifikationsstandards zu normieren. Als Vorbild kann dabei das Jugendgerichtsgesetz (JGG) dienen, wo es unter anderem heißt, dass Jugendrichterinnen und Jugendrichter sowie Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein müssen. Paragraph 37 JGG fordert hier spezifische Kenntnisse in bestimmten Bereichen. Über eine vergleichbare Regelung für Beteiligte an für Verletzte besonders belastenden Strafverfahren sollte zumindest diskutiert werden. Abschließend ist es allerdings auch wichtig, den Blick auf andere Verfahren zu weiten. Hier birgt das soziale Entschädigungsrecht (SGB XIV) große Potenziale, die künftig noch weiter genutzt werden sollten.

Transparenzhinweis:
Dr. Marius Riebel befindet sich seit Mai 2024 im Rechtsreferendariat des Freistaates Sachsen im Landgerichtsbezirk Leipzig. Neben seinem beruflichen Engagement ist er seit 2019 aktives Mitglied beim WEISSEN RING. Vor seinem Referendariat war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, nach seinem mit Prädikat abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Kriminalwissenschaften. Für seine Arbeit zu „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ ist er beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und der WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

WEISSER RING und Bundeskriminalamt zeichnen herausragende Forschung zum Opferschutz aus

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Sabine

Glückliche Preisträger im Biebricher Schloss in Wiesbaden. Foto: Lena Everding

Datum: 27.03.2025

WEISSER RING und Bundeskriminalamt zeichnen herausragende Forschung zum Opferschutz aus

Der WEISSE RING e. V. und das Bundeskriminalamt (BKA) verleihen zum zweiten Mal den „Wissenschaftspreis Opferschutz“ in feierlichem Rahmen im Schloss Biebrich in Wiesbaden. Mit der Auszeichnung wird das wissenschaftliche Engagement im Bereich des Opferschutzes gewürdigt und die Sichtbarkeit der Belange von Betroffenen in der Bevölkerung erhöht.

Wiesbaden/Mainz – Der WEISSE RING e.V. und das Bundeskriminalamt (BKA) verleihen zum zweiten Mal den „Wissenschaftspreis Opferschutz“ in feierlichem Rahmen im Schloss Biebrich in Wiesbaden. Mit der Auszeichnung wird das wissenschaftliche Engagement im Bereich des Opferschutzes gewürdigt und die Sichtbarkeit der Belange von Betroffenen in der Bevölkerung erhöht. Die Preisverleihung findet unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein statt.

In diesem Jahr steht das Thema Menschenhandel im Fokus der Preisverleihung. Das BKA leistet sowohl mit der Forschung im Kriminalistischen Institut als auch mit der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität einen Beitrag zur Bekämpfung von Menschenhandel. Das Dunkelfeld in diesem Deliktsbereich ist jedoch hoch, Betroffene zeigen aus Scham und Ohnmacht Straftaten oftmals nicht an. Daher ist es wichtig, die wissenschaftliche Perspektive mit der polizeilichen Praxis zu verbinden.

Der Wissenschaftspreis geht in diesem Jahr an Prof. Dr. Tillmann Bartsch, Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Nora Labarta Greven und Marco Kubicki für ihre Arbeit „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“. Die Studie befasst sich mit dem „Non-Punishment-Prinzip“, nach dem Opfer von Menschenhandel für Straftaten, die sie in der Menschenhandelssituation begangen haben, unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft werden sollen. Die Forschungsarbeit verbindet eine rechtsdogmatische Analyse mit einer empirisch-kriminologischen Betrachtung der Anwendungspraxis und kommt zu dem Schluss, dass das Prinzip im deutschen Strafrecht bislang unzureichend umgesetzt ist.

»Wir sehen in der Polizeilichen Kriminalstatistik seit einigen Jahren steigende Opferzahlen«, betonte Helen Albrecht, Vizepräsidentin des Bundeskriminalamtes, in ihrer Rede. »Und das ist nur das Hellfeld: Viele Opfer zeigen eine gegen sie gerichtete Straftat nicht an – aus Angst vor der Tatperson, aus Scham oder weil sie sich gar nicht als Opfer wahrnehmen. Mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz wollen wir all diesen Menschen symbolisch ein Gesicht geben und die Prävention von Opferwerdung ebenso wie die Verbesserung des Opferschutzes in Deutschland stärken. Die ausgezeichneten Arbeiten leisten einen bedeutenden Beitrag dazu.«

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Der Gewinner des Wissenschaftspreises erklärt ,wie die Interessen von Opfern besser berücksichtigt werden könnten.

Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, fügt hinzu: »Es ist wichtig, dass sich Menschen, die Opfer von Menschenhandel werden oder geworden sind, trauen, Hilfe zu suchen und sich nicht aufgrund der Angst vor Strafe dagegen entscheiden. Genau dafür gibt es das Non-Punishment-Prinzip, das unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine Strafbefreiung im Falle schwerer Delikte gewährleistet. Die Autorinnen und Autoren haben sich hier einem Thema gewidmet, das bisher in der Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit bekommen hat. Jetzt liegt es an der Politik und den Behörden, Lehren aus der Arbeit zu ziehen und den oftmals schwer geschädigten Betroffenen endlich den Schutz zu gewähren, der ihnen zusteht.«

Der Nachwuchspreis wird an Marius Riebel für seine Dissertation „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ verliehen. Seine Arbeit analysiert die Bedürfnisse und Erwartungen von Straftatopfern im Rahmen von Strafverfahren und stellt dabei auch in Frage, ob es Betroffenen von Straftaten um eine möglichst harte Bestrafung von Täterinnen und Tätern geht.

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Im Interview spricht Professor Tillmann Bartsch über die schwierige Situation von Opfern von Menschenhandel.

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Selina

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS wird herausragende Forschung zu Opferschutz ausgezeichnet und über Menschenhandel diskutiert.

Der Weg im Kampf gegen Menschenhandel ist noch weit – darin sind sich während der Podiumsdiskussion alle einig. Foto: Lena Everding

„Es hängt bislang oft vom Zufall ab, ob Betroffene von Menschenhandel erkannt werden oder nicht“, sagt Tillmann Bartsch, Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht, am Donnerstag im festlichen Saal des Schlosses Biebrich in Wiesbaden. Bartsch und sein Forscherteam sind gerade mit dem Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes (BKA) und des WEISSEN RINGS geehrt worden, für ihre Arbeit zum Thema: „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“. Der Professor bedankt sich für die Auszeichnung der Studie und fügt hinzu: Es wäre eine noch größere Freude, wenn diese dazu beitragen könnte, den Faktor Zufall im Kampf gegen Menschenhandel zu reduzieren.

Der Preis, über den eine unabhängige, interdisziplinäre Jury entscheidet, ist in diesem Jahr zum zweiten Mal verliehen worden. Damit sollen Forschungsarbeiten zum Opferschutz gewürdigt und die Bedürfnisse von Betroffenen sichtbarer gemacht werden. Schirmherr der Preisverleihung ist Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU).

BKA-Vizepräsidentin Helen Albrecht sagte, in der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik seien 1,3 Millionen Opfer erfasst worden – ein Höchststand. Und das sei nur das „Hellfeld“. Der Wissenschaftspreis solle ihnen symbolisch „ein Gesicht geben“ und die Prävention stärken. Barbara Richstein, Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, erklärte: „Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Basis für nachhaltigen Opferschutz.“ Dadurch sei es zum Beispiel möglich, ein genaueres Bild von den Folgen von Straftaten für Betroffene zu bekommen.

Bartsch und sein Team haben herausgearbeitet, dass die Möglichkeit der Straffreiheit bei Taten, die von Opfern von Menschenhandel begangen werden, in Deutschland bislang kaum umgesetzt wird. Das erschwert den Opferschutz und die Verfolgung von Menschenhandel. Die Jury lobte unter anderem, die Studie sei methodisch breit gefächert und enthalte einen eigenen Gesetzesvorschlag.

Den Nachwuchspreis erhielt Dr. Marius Riebel für seine Dissertation „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ – laut Jury eine akribische Darstellung und Einordnung aller Möglichkeiten, Opfer im Rahmen von Verfahren zu informieren und zu schützen. Riebel sagte, er hoffe, dass seine Vorschläge für eine bessere Berücksichtigung von Opferinteressen sowohl in der Justiz als auch in der Wissenschaft intensiv diskutiert werden.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Der Gewinner des Wissenschaftspreises erklärt ,wie die Interessen von Opfern besser berücksichtigt werden könnten.

Nach der Preisverleihung widmete sich eine Podiumsdiskussion den Betroffenen von Menschenhandel „im Blick von Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft“. Tanja Cornelius, beim BKA Expertin für Menschenhandel, betonte: „Bevor wir den Opfern helfen können, müssen wir sie identifizieren.“ Das sei eine ressortübergreifende Arbeit, bei der auch zivilgesellschaftlichen Einrichtungen eine wichtige Rolle spielten. Helga Gayer, heute als Beraterin tätig und früher ebenfalls beim BKA, bezeichnete die Bekämpfung von Menschenhandel als Daueraufgabe – die vor einer neuen Herausforderung stehe. Nachdem das Thema in Europa eine relativ hohe Priorität gehabt habe, stehe es nun im Spannungsfeld mit der Debatte um „irreguläre Migration“.

Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, kritisierte, es fehle der politische Wille, Menschenhandel konsequent zu bekämpfen. Renzikowski plädierte zudem für eine bessere finanzielle Ausstattung der Fachberatungsstellen und ein „humanitäres Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel“.

Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, forderte unter anderem informierte sowie mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Diese sollten etwa auf Anzeichen von Arbeitsausbeutung achten, ihre Kaufentscheidung überdenken – und bei direkten Hinweisen oder Beobachtungen die zuständigen Behörden oder Beratungsstellen kontaktieren.

Besonders Frauen werden im Netz zu Opfern

Erstellt am: Freitag, 21. März 2025 von Sabine
Razzien wegen Hasspostings: Frau hält ein Handy in der Hand.

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 21.03.2025

Besonders Frauen werden im Netz zu Opfern

Frauen, die heute Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, leiden oft doppelt: Zusätzlich zur physischen kommt in vielen Fällen auch noch die digitale Gewalt.

Mainz – Frauen, die heute Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, leiden oft doppelt: Zusätzlich zur physischen kommt in vielen Fällen auch noch die digitale Gewalt. Ex-Partner stalken sie online weiter, greifen persönliche Daten ab, stellen intime Fotos ins Netz oder missbrauchen die Identität der Frau in den sozialen Medien, um ihren Ruf zu schädigen. So etwas trifft nicht nur, aber vor allem Frauen. Daher möchte der WEISSE RING dieses Thema am 22. März 2025, dem „Tag der Kriminalitätsopfer“, besonders hervorheben – und informieren, wie jeder sich vor digitaler Gewalt schützen kann.

62 Prozent der Opfer sind weiblich

Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche, teilweise kriminelle Handlungen im Internet. Nach aktuellen Zahlen des BKA sind 62,3 Prozent der Opfer digitaler Gewalt weiblich. Eine Studie der gemeinnützigen Organisation HateAid und der TU München konnte zudem bestätigen, dass Frauen, die sich politisch engagieren, öfter von digitaler Gewalt betroffen sind (63 Prozent) als ihre männlichen Kollegen (53 Prozent). Fast ein Viertel der weiblichen Betroffenen hat schon einmal Androhungen physischer sexueller Gewalt erhalten, zum Beispiel Vergewaltigungsdrohungen (bei Männern sind es nur 3 Prozent). Das Ausmaß der digitalen Gewalt führt dazu, dass vor allem Frauen ans Aufhören denken.

Hintergrund-Info

Seit 1991 macht der WEISSE RING mit dem „Tag der Kriminalitätsopfer“ alljährlich am 22. März auf Menschen aufmerksam, die durch Kriminalität und Gewalt geschädigt wurden. Er soll das Bewusstsein für Opferbelange in Deutschland stärken und Informationen zu Prävention, Schutz und praktischen Hilfen geben. Inzwischen ist der Aktionstag fester Bestandteil im Kalender von Institutionen aus den Bereichen Politik, Justiz und Verwaltung, aber auch Vereinen und Schulen geworden. Traditionell beteiligen sich in ganz Deutschland ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Außenstellen des WEISSEN RING mit Aktionen und Info-Veranstaltungen am Tag der Kriminalitätsopfer.