Abschied von „Papa Müller“

Erstellt am: Montag, 19. August 2024 von Sabine

Abschied von „Papa Müller“

15 Jahre stand Gosbert Müller an der Spitze des Landesverbandes Baden-Württemberg, auch lange danach hielt der frühere Landeskriminaldirektor den Kontakt zum WEISSEN RING. Im Alter von 90 Jahren starb Anfang August der Mann, der im Verein den wertschätzenden Spitznamen „Papa Müller“ bekommen hatte.

Gosbert Müller wurde 90 Jahre alt und starb am 2. August 2024. Foto: WEISSER RING

Ein Schönschreiber war Gosbert Müller, jemand, der auch im digitalen Zeitalter noch handgeschriebene Postkarten verschickte, dem Geschriebenen Wert und dem Adressaten oder der Adressatin Wertschätzung beimaß. Mit dem Stift in der Hand hielt er den persönlichen Kontakt zum WEISSEN RING aufrecht, auch lange nach seiner Amtszeit als Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbandes.

Es ist leicht vorstellbar, wie Müller, Jahrgang 1934, schreibend am Tisch sitzt, jemand, der als unaufgeregt, besonnen und herzlich beschrieben wird. Es fügt sich ein Bild zusammen, in das seine altertümlich anmutende, aber „unnachahmlich schöne Schrift“ passt, wie es Hartmut Grasmück formuliert, der aktuelle Landesvorsitzende.

Der gebürtige Würzburger Müller – den unterfränkischen Spracheinschlag legte er nie ganz ab –  machte zunächst einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt, 1952 ging er zur Polizei. Dort arbeitete er sich bis zum Landeskriminaldirektor hoch, brachte sich ein unter anderem in die Entwicklung der Landes-Nachhaltigkeitsstrategie und in der Fachkommission Zwangsheirat. Auf einem Trauerportal gibt es einen Kommentar, in dem Müller charakterisiert wird als jemand, „der immer ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hatte und auch half, wo immer es ihm möglich war.“ Diese familiäre Nahbarkeit und Hilfsbereitschaft im Beruf zeigte er ebenso im WEISSEN RING, wo sie ihm den wertschätzenden Spitznamen „Papa Müller“ einbrachten.

Nach seiner Pensionierung baute Müller die Kooperation zwischen Verein und Polizei aus. 15 Jahre lang, von 1994 bis 2009, stand er an der Spitze des Verbands in seinem Bundesland. Müller brachte aus dem Arbeitsleben Sachkompetenz und Opferempathie mit, investierte wohl etwa die Hälfte seiner Zeit in das Ehrenamt auf Landes- und Bundesebene, wo er sich an wichtigen Weichenstellungen beteiligte. Parallel war er 2001 Gründungsmitglied und bis 2010 stellvertretender Vorsitzender der Landesstiftung Opferschutz.

Neben der Professionalität spielten stets Humor und Geselligkeit eine Rolle bei „Papa Müller“. Er war jemand, mit dem man, traf man ihn zufällig in Stuttgart, spontan in die Kneipe gehen wollte und konnte. Jemand, der nach Seminaren im Papiermacherzentrum in Gernsbach mit allen Ehrenamtlichen beim badischen Vesper im Billardzimmer saß, Witze machte und regelmäßig zu den Letzten am Tisch gehörte. Auch Fotos von netten langen gemeinsamen Abenden gibt es, so ist zu hören.

Gosbert Müller verstand es auch, die Zeichen der Zeit zu lesen. Ein Schönredner war er jedoch nicht. „Ab einem gewissen Alter muss man auch loslassen und das Erreichte in jüngere Hände geben können“, sagte er 75-jährig, als er sich vor 15 Jahren von der Landesspitze und den Abenden im Billardzimmer zurückzog.

Der Einsatz für Kriminalitätsopfer blieb indes nicht ungesehen: Bereits 1994 erhielt Müller das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2010 dann die höchste Auszeichnung für Bürger in Baden-Württemberg, den Verdienstorden. Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus würdigte Müllers Engagement mit den Worten, er sei vielen Menschen zum Vorbild geworden.

Ein Vorbild vielleicht auch für diejenigen, die heute geschwind mit ihren Fingerspitzen über Tastaturen fliegen und über Smartphones wischen. Man mag innehalten und sich fragen: Für wen möchte man den Stift in die Hand nehmen und sorgfältig überlegte Worte notieren? Wer benötigt gerade Aufmerksamkeit und Zuwendung? So, wie es der Schönschreiber Gosbert Müller getan hat.

Er wurde 90 Jahre alt und starb am 2. August 2024.

Der Akribische

Erstellt am: Dienstag, 6. August 2024 von Sabine

Der Akribische

Lorenz Haser ist seit 30 Jahren für den WEISSEN RING tätig. Seit seiner Pensionierung hat er sein zeitliches Engagement weiter gesteigert.

277 Tage Arbeit für den Verein, 89-mal Referent für die Grundseminare im Landesverband: Lorenz Haser

Genau 6.654 Stunden. Zusammen sind das 277 Tage, fast 40 Wochen, die Lorenz Haser seit 2006 für den WEISSEN RING gearbeitet hat. „Das ist jetzt aber nur die Verwaltung“, sagt er. Haser scrollt durch die Tabelle auf seinem Computer. Im weißen Hemd und mit Fliege – „Schließlich wird ein Foto gemacht“ – sitzt er im Arbeitszimmer in seinem Haus in Peißenberg im oberbayerischen Landkreis Weilheim-Schongau. Neben seiner Urkunde zum 25. Jubiläum beim WEISSEN RING hängen Familienfotos an der Wand. Auf dem Mauspad ist er mit seinem Enkel abgebildet.

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING. Rund 30 Stunden im Monat, rechnet er aus, braucht er als Außenstellenleiter für die Verwaltung. Wie viele Fälle er in den Jahren betreut hat, kann er hingegen nicht sagen. „Manche Sachen sind mit einem Telefongespräch erledigt, weil ein Opfer nur eine Auskunft oder einen Kontakt braucht.“ Andere ziehen sich über Jahre. Seit der Gründung der Außenstelle 1987, das kann er wieder aus seiner Tabelle lesen, haben er und seine ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen 1.400 Opfer betreut.

Haser leitete die Außenstelle Weilheim-Schongau von 1994 bis 1999, nach einer beruflich bedingten Pause übernahm er von 2000 bis 2006 die Stellvertretung der Außenstellenleitung, bevor er wieder die Leitung übernahm. Seine akribische Art hat mit Hasers Beruf zu tun. 42 Jahre war er Polizist, davon 37 bei der Kriminalpolizei. Über seine Arbeit will er allerdings nicht mehr sprechen. „Jetzt bin ich schon seit 2015 im Ruhestand“, sagt er. Seit der Pension widmet er sich geschätzt rund 80 Stunden pro Monat der ehrenamtlichen Arbeit für den WEISSEN RING.

„Ich erfasse wirklich alles“, sagt Haser. Der Beamte in ihm scheint immer wieder durch, und Haser kommt doch noch einmal auf seinen Beruf zu sprechen. Über den fand er nämlich einst zum WEISSEN RING. „Als Polizist muss man neutral sein, aber die Opfer taten mir immer leid“, sagt er. „Die stehen oft alleine da.“ Bei Vernehmungen, erzählt er, kam er mit den Opfern von Raubdelikten und bei Tötungsdelikten mit Hinterbliebenen ins Gespräch. „Die sind fix und fertig und wissen oft nicht, wie es weitergehen soll, im Leben, aber auch finanziell.“ Als 1994 sein Chef bei der Morgenbesprechung verkündete, dass die Außenstelle wegen Personalmangels vor dem Aus stehe, antwortete Haser geradeheraus: „Schade.“ Sein Chef reagierte ebenso spontan: „Dann mach es halt du“, sagte er. Na gut, Haser zuckt beim Erzählen mit den Schultern, „dann habe ich es halt gemacht.“ So konnte er ehrenamtlich den Opfern helfen, deren Schicksale ihn im Job berührten.

„Da ist man schon stolz.“

Lorenz Haser

Haser und sieben Ehrenamtliche in der Außenstelle begleiten vor allem Opfer von Sexualdelikten, Körperverletzung, sogenannter „häuslicher Gewalt“ und Stalking. „Man erinnert sich ja hauptsächlich an die ‚spektakuläreren‘ Fälle“, sagt er und setzt Anführungszeichen in die Luft. Ihm fällt eine Frau ein, die er betreute und die später ein Buch über ihr Leben schrieb. Haser erinnert sich an die Vorstellung und Lesung. „Sie schrieb, dass sie sich das Leben genommen hätte, wenn der WEISSE RING nicht gewesen wäre“, sagt Haser. „Da ist man schon stolz.“

Mit den Opfern trifft sich Haser meistens an öffentlichen Orten, zum Beispiel im Café. „Das Problem auf dem Land ist, dass jeder jeden kennt. Wenn ich öfter mit jemandem gesehen werde, fragen die Leute gleich: Was will die oder der vom WEISSEN RING? Was ist denn da passiert?“ Seit dem Jahr 2000 war Haser – er zeigt wieder in seine Tabelle – insgesamt 89-mal als Referent oder Leiter für die verschiedene Seminarformate für die Ehrenamtlichen tätig.

2019 hat er in seiner Außenstelle zudem ein Team aufgestellt, dass sich nach Großereignissen, wie etwa Amokläufen oder Anschlägen, um die Betreuung von Opfern und Hinterbliebenen kümmert. „Bisher sind wir verschont geblieben“, sagt er. „Gott sei Dank.“

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING.

Haser glaubt, dass es für Opfer das Entscheidende ist, „dass wir Zeit haben, mit ihnen reden, auf sie eingehen. Oft sagen die Opfer, ich sei der Erste, der ihnen richtig zuhört.“ Im Gespräch versucht er herauszufinden, was sein Gegenüber braucht. „Jedes Opfer ist anders – aber alle werden gleich behandelt“, sagt Haser. „Wir sind für die Opfer da, und wir glauben dem Opfer.“ Das ist auch seine Erfahrung vor Gericht. „Auch wenn die Strafe gering ausfällt – Hauptsache, das Opfer weiß: Die haben mir geglaubt.“

In diesem Jahr wird Haser 70. Vor vier Jahren wollte er eigentlich schon aufhören, dann verlieh ihm 2020 die Landrätin im Namen des Bundespräsidenten die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland, die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik als Anerkennung für Verdienste um die Allgemeinheit vergibt. Haser führt ins Wohnzimmer und holt die Schatulle mit der Medaille aus dem Wohnzimmerschrank. „Natürlich freue ich mich“, sagt Haser und fügt bescheiden an: „Aber hätten sie nicht auch andere verdient?“

Während der Pandemie wollte er die Außenstelle nicht im Stich lassen. Sein neuer Plan: Zwei Jahre will er sie mindestens noch leiten, vielleicht drei. Fünf sollen es aber nicht mehr werden. „Die Mitarbeiter sagen immer, ich darf nicht aufhören, aber ich will auch nicht am Sessel kleben“, sagt er. „Und wer weiß, wie lange ich noch fit bin?“ Er will sich rechtzeitig um eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger in der Außenstelle kümmern.

Hasers Freizeit besteht überwiegend aus seinem Ehrenamt. Ansonsten spielt er Schafkopf und Akkordeon – „beides gern, aber nicht besonders gut“, sagt er und lacht. Und da sind der Garten, ein Sportraum im Keller, vier Enkel. Seine Tochter ist seit 20 Jahren Mitarbeiterin beim WEISSEN RING, die Enkel meldete Haser direkt nach ihrer Geburt als Mitglieder an.

Auch am Wochenende ist Haser im Einsatz; früher, als er noch kein Handy hatte, war er über das Festnetz auch nachts erreichbar. Einmal rief ihn eine ältere Dame mitten in der Nacht an und wollte wissen, wie spät es sei. „Ich antwortete: Zwei Uhr, aber warum rufen Sie mitten in der Nacht bei mir an? Es stellte sich heraus, dass sie am nächsten Tag in der Früh für eine Kaffeefahrt abgeholt werden sollte und die Batterie vom Wecker leer war. Meine Nummer stand im Kreisboten – mit dem Zusatz ‚rund um die Uhr‘.“ Er erklärte ihr noch, wie sie die Batterie wechselt, dann war die Sache erledigt. Haser nimmt es mit Humor.

Sonst ist er regelmäßig mit schweren Schicksalen konfrontiert. Wie gewinnt er Abstand? „Das musste ich im Beruf schon“, sagt er. „Da gilt auch, dass man mit dem Opfer mitfühlt, aber nicht mitweint – denn wenn ich mich gehen lasse, kann ich nicht mehr logisch denken und für das Opfer da sein.“ Am erfüllendsten bei seinem Engagement für den WEISSEN RING sei, sagt Haser, „wenn ich glaube, dass es dem Opfer jetzt besser geht, und ich das Gefühl habe, dass ich da auch ein bissl mitverantwortlich bin.“

Motivation findet er aber auch, wenn er selbst gar nicht beteiligt ist. Haser erinnert sich an die Begegnung mit einem Ehepaar, das sich im Café an seinen Tisch setzte, als er auf ein Opfer wartete. Als er sein Ehrenamt erwähnte, erzählten sie, dass ihre Tochter ermordet worden sei, und dass ihnen der WEISSE RING in Nordrhein-Westfalen einen Erholungsurlaub ermöglicht habe. „Das tat ihnen offensichtlich gut“, sagt Haser. „Die Welt ist oft klein – solche Begegnungen nehme ich als Zeichen: weitermachen!“

Was wäre für Sie der GAU bei der BDV, Frau Richstein?

Erstellt am: Dienstag, 6. August 2024 von Sabine

Was wäre für Sie der GAU bei der BDV, Frau Richstein?

Einstimmig hat der Bundesvorstand des WEISSEN RINGS Barbara Richstein als Leiterin der Bundesdelegiertenversammlung (BDV) in Frankfurt am Main nominiert – wie auch schon vor zwei Jahren für die BDV im sächsischen Radebeul.

Alles im Blick: Versammlungsleiterin Barbara Richstein (Mitte) in Radebeul

Wir haben der Vorsitzenden des Landesverbands Brandenburg aus diesem Anlass einen (nicht immer ganz ernst gemeinten) Fragebogen geschickt.

Welche drei Eigenschaften sollte eine Versammlungsleiterin unbedingt haben?

Einen Sensor für die Stimmung im Saal, Durchsetzungsvermögen, Sitzfleisch.

Welche drei Eigenschaften sollte eine Versammlungsleiterin besser nicht haben?

Schwache Nerven, eine schwache Blase, Hunger.

Ist eine Politikerin eine bessere Versammlungsleiterin als eine Nichtpolitikerin?

Nein. Hier entscheidet nicht die Profession, sondern die Erfahrung.

Barbara Richstein ist seit 2022 Landesvorsitzende des WEISSEN RING in Brandenburg.

Was unterscheidet eine Bundesdelegiertenversammlung des WEISSEN RINGS von einer Sitzung des Brandenburgischen Landtags – und was leiten Sie lieber?

Sitzungen des Landtags sind viel formalisierter als die Sitzung der BDV. Es gibt eine abgestimmte Rednerreihenfolge und festgelegte Redezeiten. Wir tagen manchmal bis zu zwölf Stunden, mit nur einer kurzen Mittagspause. Da sind die Sitzungen der BDV kurzweiliger. Entscheiden, welche Sitzung ich lieber leite, kann ich gar nicht. Da ich jedoch nicht mehr als Abgeordnete für den Landtag Brandenburg antrete und gerade die letzten Plenarsitzungen für diese Legislaturperiode absolviert wurden, bleiben mir in Zukunft nur die Sitzungen des BDV, sofern der Bundesvorstand dies möchte.

Was wäre für Sie der GAU bei der BDV?

Der Gau wäre, wenn die Technik ausfiele und ich heiser bin.

Worauf freuen Sie sich bei der BDV am meisten?

Auf das Wiedersehen mit meinen lieben Kolleginnen und Kollegen, Landesvorsitzenden und vielen weiteren zugewandten Menschen. Es ist immer eine besondere Stimmung auf der BDV, weil sich hier empathische Menschen treffen.

Ist Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Brandenburg das schönste Ehrenamt der Welt?

Bestimmt! Dicht gefolgt von dem zweitschönsten Ehrenamt als Präsidentin des Leichtathletikverbandes Brandenburg.

Was macht so eine Landesvorsitzende eigentlich den ganzen Tag?

Zusammen mit meinen Stellvertretern und dem Landesbüro koordinieren wir die Arbeit der Außenstellen und der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir Landesvorsitzende initiieren und leiten die Landestagungen, Außenstellenleitertreffen und landesweite Fortbildungsveranstaltungen. Wir vernetzen und repräsentieren den Verein gegenüber der Politik und Gesellschaft; machen Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit im positiven Sinne.

Was hat Sie überzeugt, Mitglied des WEISSEN RINGS zu werden?

Bereits bei meiner ersten konkreten Berührung mit dem WEISSEN RING auf einem Opferforum in Mainz Anfang der 2000er habe ich gemerkt: Das ist ein besonderer Verein. Den musst Du unterstützen. Der Ansatz, den Verletzten zu helfen, hat mich sehr angesprochen.

Was muss sich am dringlichsten verbessern für Kriminalitätsopfer?

Der WEISSE RING hat sich bei der Erarbeitung des neuen Opferentschädigungsrechts stark eingebracht. Jetzt müssen die Neuerungen bekannt gemacht und angewandt werden.

Was kann der WEISSE RING dafür tun?

Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bereits von der WEISSER RING Akademie in dem neuen Recht geschult worden, so dass sie die Betroffenen darauf hinweisen können. Wir müssen jedoch die Versorgungsämter weiterhin für die besondere Situation von Verbrechensopfern sensibilisieren.

Was gibt es im WEISSEN RING selbst zu tun in den nächsten Jahren? Wie muss sich der Verein aufstellen für die Zukunft?

Wir müssen uns noch stärker auf neue Deliktsphänomene einstellen und insbesondere in den neuen Bundesländern noch bekannter werden. Davon abgesehen finde ich den WEISSEN RING in seiner jetzigen Form bereits gut aufgestellt. Mit der Zeit müssen wir uns natürlich verjüngen und breiter aufstellen.

Transparenzhinweis:
Barbara Richstein sitzt seit 1999 für die CDU als Abgeordnete im Landtag Brandenburg und ist seit 2019 dort Vizepräsidentin. Beim WEISSEN RING ist die Politikerin seit Mai 2022 Landesvorsitzende in Brandenburg.

Deutlicher Anstieg bei Opferfällen

Erstellt am: Dienstag, 23. April 2024 von Sabine

Datum: 23.04.2024

Deutlicher Anstieg bei Opferfällen

Immer mehr Menschen wenden sich an den WEISSEN RING. 2023 waren es fast elf Prozent mehr als im Vorjahr.

Mainz – Der WEISSE RING verzeichnet deutlich mehr Anfragen von Kriminalitätsopfern. Die rund 2700 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben im vergangenen Jahr fast elf Prozent (10,9) mehr neue Opferfälle bearbeitet als im Vorjahr, die Zahl stieg von 18.402 auf 20.415. Noch größer fällt der Anstieg im Fünf-Jahres-Vergleich aus, seit 2018 wuchs die Nachfrage sogar um 19 Prozent.

Erst vor wenigen Tagen hatten Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023 veröffentlicht und den höchsten Stand an Straftaten seit 2016 gemeldet. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der polizeilich erfassten Kriminalfälle demnach um 5,5 Prozent. Eine hohe Zunahme registrierte die Polizei bei den Gewalttaten (plus 8,6 Prozent) und bei den Diebstählen (plus 10,7 Prozent). Gewachsen ist laut PKS auch der Anteil ausländischer Tatverdächtiger.

Anders als in der PKS lässt sich beim WEISSEN RING kein signifikanter Anstieg bei einzelnen Deliktformen erkennen. Die häufigsten erfassten Straftaten sind Körperverletzung (36,9 Prozent) inklusive häuslicher Gewalt (19,4 Prozent), Sexualstraftaten (27,2 Prozent) und Stalking (8,1 Prozent). Gut drei Viertel der Hilfesuchenden sind Frauen. Zur Nationalität von Opfern und Tätern kann der WEISSE RING keine Angaben machen.

Insgesamt mehr als 43.000 Fälle

Nicht eingerechnet in die ausgewerteten Opferfälle sind sogenannte Wiederholerfälle, bei denen Mitarbeitende die Betroffenen manchmal über Jahre betreuen. In der Statistik fehlen zudem die Fälle, die über das bundesweite Opfer-Telefon oder die Onlineberatung beim WEISSEN RING ankommen. Rechnet man diese beiden Stellen mit ein, gab es 2023 beim WEISSEN RING insgesamt 43.279 neu angelegte Opferfälle (2022: 40.379).

„Der Bedarf an kompetenter Hilfe für Kriminalitätsopfer ist da, und er nimmt immer weiter zu“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir sind froh, dass wir ein großes Netzwerk von engagierten Opferhelferinnen und Opferhelfern in rund 400 Außenstellen des Vereins haben. Aber die Zahlen zeigen auch, dass wir stetig um weitere ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben müssen, um allen Hilfesuchenden die Unterstützung geben zu können, die sie brauchen.“

Kornelia Fröde will „Menschen wie meiner Mutti helfen“

Erstellt am: Freitag, 12. April 2024 von Sabine

Kornelia Fröde will „Menschen wie meiner Mutti helfen“

Beim Sport haben sich ­Kornelia Fröde und Thomas Karius ­kennengelernt, heute betreibt das Paar eine Kampfkunstschule und leitet seit Kurzem die Außenstelle im Burgenlandkreis.

Kornelia Fröde und Thomas Karius leiten die Außenstelle im Burgenlandkreis.

In ihrer Kindheit war Gewalt keine Seltenheit, erinnert sich Kornelia Fröde. Nicht gegen sie selbst, aber sie habe sie beobachtet. Und das über viele Jahre. Die Gewalt sei von ­ihrem Vater ausgegangen, erzählt Fröde. Er habe ihre Mutter regelmäßig geschlagen. „Als Kind will man das nicht wahrhaben und versucht es wegzuschieben“, ­erinnert sie sich, „wir haben immer heile Familie ­gespielt.“

Die Familie lebte inmitten einer Wohngegend. Häuser links und rechts und gegenüber. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass niemand jemals etwas mitbekommen hat“, sagt Fröde heute. Schon damals merkte sie, dass Menschen oft keine Hilfe bekommen und viele lieber wegschauen. Und schon als Kind sagte sie zu sich selbst: „Dir passiert so etwas nie!“

Als Kornelia Fröde 15 Jahre alt war, schaffte ihre Mutter den Absprung: Sie verließ ihren Mann und flüchtete in ein Frauenhaus. Mehrere Monate lebten sie dort, bis sie eine eigene Wohnung bekamen.

Diese frühe Erfahrung ist ein Grund, weshalb Kornelia Fröde mit der Kampfkunst begonnen hat. Und auch die Arbeit als neue Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt hat damit zu tun. „Das Frauenhaus unterstütze ich auch heute noch ­finanziell, aber ich wollte immer auch aktiv etwas für die Opfer von Gewalt tun“, sagt die 42-Jährige.

Kurz vor dem Gespräch sitzt sie gemeinsam mit ihrem Verlobten Thomas Karius auf den weichen Matten ­ihrer Kampfkunstschule in Lützen, beide trainieren hier den chinesischen Kung-Fu-Stil Wing Tsun. Am ­Tablet ­planen sie die Kurse für das neue Jahr. An der Wand ­hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Kampfkunst­meistern. Auf Aushängen sind einige der Grund­bewegungen des Wing Tsun abgebildet. Eine Holzpuppe, Stöcke und Trittpolster zum Trainieren stehen und liegen bereit. Ein großflächiger Spiegel nimmt fast die ganze Wand ein. Vor ihm lernen vor allem Frauen das Schreien und sich dabei Anschauen. „Es ist eine Kampfkunst von Frauen für Frauen“, sagt Kornelia Fröde. Angeblich hat sie sich eine Chinesin angeeignet, um sich gegen einfallende Soldaten zur Wehr setzen zu können. Es geht vor allem um Selbstverteidigung und darum, einen potenziellen Angreifer auch mit wenig Kraft abwehren zu können. Schwer vorstellbar, aber je stärker der Gegner, desto besser für die angegriffene Person, sagt Fröde. Denn beim Wing Tsun arbeitet man mit der Kraft des anderen und setzt sie gegen ihn ein.

Vor acht Jahren haben sie sich beim Sport kenngelernt. „Konni hat meine Turnschuhe für mich getragen, weil ich so schwer beladen war“, sagt Thomas Karius und ­lächelt. Der gebürtige Stuttgarter kam 1999 nach ­Leipzig und macht seit 15 Jahren Kampfsport. Als Kind war er klein und schmächtig und wurde in der Schule oft auf­gezogen. Bis er zum Wing Tsun kommt, lernt er fünf Jahre Judo und zwei Jahre Karate. Bei einem ­Probetraining gibt ihm der Trainer drei Kettenfauststöße auf seine Brust. „Da wusste ich, das will ich lernen“, sagt der 52-Jährige.

Heute leben sie in einer Wohnung unweit der Kampfkunstschule. Der Sport nimmt viel Zeit in ihrem Leben ein und verbindet: Laufen, Kraftsport, Windsurfen, lange Spaziergänge mit den zwei Hunden und ihr neues Hobby Motorradfahren.

Zu den Kursen in der Kampfkunstschule kommen auch Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalttaten sind. Zum Beispiel zwei junge Mädchen, die vergewaltigt wurden. Eine war unsicher und schüchtern und trug immer sehr weite Sachen. „Sie hat ihre Weiblichkeit komplett versteckt“, sagt Kornelia Fröde. Zum Ende des Kurses traute sie sich, beim Sport wieder bauchfreie Tops zu tragen. Das andere Mädchen hatte Angst, allein Bus zu fahren. In Rollenspielen, in denen Thomas Karius den Angreifer spielte, lernte sie sich zur Wehr zu ­setzen. Am Ende des Kurses sogar im Bus mit anderen Fahrgästen.

,,Ich habe sofort gedacht, dass ich beim WEISSEN RING Menschen wie meiner Mutti helfen kann."

Kornelia Fröde

Die Frauen und Jugendlichen trainieren in der Kampfkunstschule nicht nur die Selbstverteidigung. Es gehe vor allem darum, ein selbstbewusstes Auftreten zu ­lernen und mögliche Täter abzuschrecken, sagen die beiden. So könne es zum Beispiel helfen, statt mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf aufrecht zu ­gehen und den Blick schweifen zu lassen. Die beiden wollen ihre Schüler und Schülerinnen stark machen.

Ihre Erfahrungen aus dem Training und den Gesprächen in der Kampfkunstschule helfen den beiden auch bei ­ihrer neuen Arbeit für die Außenstelle des WEISSEN RINGS im Burgenlandkreis. Auch hier treffen sie auf Menschen, die häusliche Gewalt, Mobbing oder ­Stalking erleben. Sie hatten aber auch schon mit Fällen von ­sexuellen Übergriffen und Missbrauchsfällen zu tun. „Am schlimmsten ist es natürlich, wenn Kinder und Jugendliche betroffen sind“, sagt Kornelia Fröde. Die Leitung der Außenstelle hat sie erst im November des vergangenen Jahres übernommen. Ihr Partner Thomas ist ihr Stellvertreter. Beide teilen sich die Arbeit, ­erledigen den Papier- und Organisationskram, führen aber nach wie vor auch Erstgespräche und beraten.

Mitglieder beim WEISSEN RING sind sie seit 2022. Ein befreundeter Kampfkunstmeister erzählte von seiner Arbeit im Verein und wie dieser Opfern von Gewalt hilft. Für Kornelia Fröde steht nach diesem Gespräch schnell fest, dass sie auch im WEISSEN RING aktiv werden will. „Ich habe sofort gedacht, dass ich dort Menschen wie meiner Mutti helfen kann.“ Denn viele Opfer stehen meist allein da. Sie erinnert sich an die Zeit mit ihrer Mutter im Frauenhaus. Als Jugendliche wusste sie nicht, dass es diese Einrichtungen überhaupt gibt. Und auch die Zeit danach war nicht einfach. Sie hatten eine Wohnung, aber sonst nichts. Kein Konto, keine Möbel. Die erste Zeit schliefen sie auf einer Matratze.

Beim Sport hat sich das Paar kennengelernt, heute betreiben sie gemeinsam eine Kampfkunstschule.

Dass sie die Leitung der Außenstelle gemeinsam so schnell übernehmen, hätten die beiden nicht gedacht. Sie sind zu dem Zeitpunkt noch nicht lange dabei, ­haben aber schon einige Hospitationen mitgemacht und gemeinsam mit den „alten Hasen“ Menschen betreut, die sich an die Außenstelle gewandt hatten. Schnell ­haben sie ­gemerkt, dass es vor allem erst einmal darum geht, da zu sein, zuzuhören und nicht zu urteilen.

Dann musste ihr Vorgänger aus familiären Gründen aufhören und suchte dringend jemanden, der über­nehmen konnte. Natürlich müssen sie sich noch ein­arbeiten, aber man ist beim WEISSEN RING nicht allein. „Es gibt immer jemanden, den man fragen kann und der unkompliziert hilft“, sagt Kornelia Fröde. Ein ­eigenes Büro haben sie nicht. Aber das Landratsamt und die ­Kirche stellen Räume zur Verfügung, wenn sie ­gebraucht werden, manchmal führen sie Erst- und Beratungs­gespräche auch im Raum der Kampfkunstschule. „Die Leute bleiben so anonym und wir haben hier genug Platz und Ruhe für die Beratung“, sagt Fröde.

Kornelia Fröde arbeitet hauptberuflich als stellver­tretende Niederlassungsleiterin bei einer Spedition, die Kampfkunstschule betreibt das Paar nebenberuflich. Die Anrufe von Betroffenen gehen meist bei Thomas Karius ein. Er ist Frührentner und arbeitet aushilfsweise in einem Baumarkt. So hat er mehr Zeit, sich die Anliegen der Anrufer anzuhören, und ist einfacher erreichbar. Insgesamt koordinieren sie acht ehrenamtlich Mit­arbeitende im Burgenlandkreis. Nach einem Anruf ist es die Aufgabe von Thomas Karius, schnell jemanden zu vermitteln, der in der Nähe wohnt. Manchmal reicht aber auch eine Hilfestellung am Telefon, wer in einer bestimmten Situation der richtige Ansprechpartner ist. Oft geht es auch um eine seelische Unterstützung oder Beistand. Zum Beispiel die Begleitung auf das Polizeirevier, wenn sich jemand nicht traut, zur Anzeigen­erstattung allein dorthin zu gehen.

Auch außerhalb der Kampfkunstschule und des Vereins gehen die beiden immer mit wachen ­Augen durch die Straßen. „Wir haben ein sensibles Radar und nehmen Sachen wahr, die andere gar nicht ­sehen“, sagt Kornelia Fröde. So zum Beispiel am Bahnhof in Hannover, wo ein betrunkenes Paar in heftigen Streit geriet. Kurz bevor der Mann mit einer Flasche auf die Frau losging, stellten sich beide dazwischen. Oder die Frau am Leipziger Hauptbahnhof, die zusammengekauert auf der Straße saß. Niemand hatte mitbekommen, dass sie nach einer Messerstecherei schwer verletzt war. Sie gingen zu ihr und kümmerten sich. Das sind ­Situationen, in denen sich Kornelia Fröde und Thomas Karius dann für andere stark machen.

Ihre Mission: Gewalt zu verhindern

Erstellt am: Mittwoch, 27. Dezember 2023 von Sabine

Ihre Mission: Gewalt zu verhindern

Ein sinnstiftender Arbeitsplatz, zwei Ehrenämter und eine tolle Nachbarschaft: Adelina Michalk ist seit 2022 stellvertretende Vorsitzende im Landesverband Hamburg des WEISSEN RINGS – und fühlt sich besonders im Stadtteil Altona wohl.

Adelina Michalk ist seit 2022 stellvertretende Vorsitzende im Landesverband Hamburg des WEISSEN RINGS.

Adelina Michalk hat wenig Zeit, eine gute Stunde vielleicht. Dafür ist sie bestens vorbereitet: So hat sie sich überlegt, die Fotos vorm Gespräch zu machen, damit man danach bis zur letzten Minute reden kann. Sie kommt einem gleich entgegen, durchs Treppenhaus des altehrwürdigen Altonaer Rathauses, das Smartphone in der Hand, für alle Fälle. Michalk, den Eindruck gewinnt man bald, ist strukturiert und planvoll. In ihrem Büro stehen Tee und Kekse bereit, ihre Tasche für den Anschlusstermin hat sie schon gepackt. Etwas überraschend zwischen all der Effizienz: die sphärischen Klänge, die aus dem Computerlautsprecher herüberschwingen. „Das ist mein Geheimnis bei der Arbeit“, sagt sie, „Entspannungsmusik. Die höre ich den ganzen Tag lang, und das wirkt tatsächlich.“ Jetzt schaltet sie sie ab und setzt sich kerzengerade hin: kann losgehen.

Michalk, 40 Jahre, ist seit 2022 stellvertretende Vorsitzende im Landesverband Hamburg des WEISSEN RINGS. Das ist eins ihrer Ehrenämter. Beruflich arbeitet sie im Bezirksamt Hamburg-Altona als Fachkraft für Integration und Diversität. Mit Opfern beschäftigt sie sich in beiden Rollen — oder vielmehr damit zu verhindern, dass Menschen Opfer werden, von Dis­kriminierung, hassmotivierten Verbrechen, Gewalt. Anders als viele Ehrenamtliche des Vereins, die persönlich ansprechbar sind für Menschen in Not, agiert Michalk auf der Metaebene, im Aufbau von Kontakten, Netzwerken und Öffentlichkeitsarbeit. „Das liegt mir mehr“, sagt sie. Fallarbeit, auch mit Opfern, hat sie beruflich fünf Jahre lang gemacht, im Rahmen der Gewaltprävention in der Jugendhilfe. „Da war natürlich jeder Fall und jeder Mensch anders, aber das Prozedere war immer das gleiche“, sagt sie. „Es passte zwar gut zu meinem Studium, aber irgendwann wollte ich was Neues machen.“

Studiert hat sie zunächst Sozialpädagogik. Sie merkte bald, dass das Fach Kriminologie sie dabei am meisten interessierte. Michalk wählte es als Masterstudiengang und konzentrierte sich auf Viktimologie, die Lehre von den Opfern. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über Nachahmungseffekte bei Schulmassakern. Sie untersuchte, warum sich nach School Shootings wie in der US-Kleinstadt Columbine die Nachahmungstaten häuften, auch in Deutschland, in Winnenden zum Beispiel. Ihre Antwort: Den Tätern wurde viel zu viel Aufmerksamkeit gewidmet, gerade in den Medien. „Man muss Tätern diese Aufmerksamkeit entziehen, sonst generiert man Trittbrettfahrer“, sagt Michalk. „Es ist total verrückt! Da gab es ganze Subkulturen, die neue Massaker als Hommage an ihre Vorbilder planen. Denen darf man kein Material liefern für Glorifizierungen.“ Michalk redet stets schnell, druckreif und sachlich, in diesem Moment aber merkt man, wie das Thema sie noch heute bewegt. Die Berichterstattung, sagt sie, müsse sich um die Opfer drehen und viel sensibler werden.

Da sie sich im Studium auf Kriminalitätsopfer fokussierte, absolvierte Michalk Praktika in der Zeugen­betreuung bei Gericht — so entstand Kontakt zum WEISSEN RING. Mit 26 trat sie in die Gruppe der „Jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“ des Landes­verbands ein. Es waren die Ehrenämter beim WEISSEN RING, als Junge Mitarbeiterin und dann als Jugend­beauftragte, die Michalk zeigten, wie sie beruflich wirken wollte: thematisch, steuernd, netzwerkend. Und so wechselte sie auch den Job, als sich die Gelegenheit bot: weg von der Fallarbeit, hin zur Koordinierung.

Im Bezirksamt hat sie bereits zum dritten Mal die ­Altonaer Vielfaltswoche mit auf die Beine gestellt: Verschiedenste Gruppen werden eingeladen, Veranstaltungen anzubieten, um sichtbarer zu werden. Ziel ist es, das Zusammenleben in diesem enorm vielfältigen Stadtteil zu verbessern, Ausgrenzung und gruppen­bezogener Menschenfeindlichkeit entgegenzuwirken — zum Beispiel Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antiziganismus, Antisemitismus, Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen oder ohne Wohnsitz.

Michalk wohnt in Altona, sie schätzt die kulturelle, ethnische Vielfalt, den Trubel. „Ich habe ja nicht nur deutsche, sondern auch malaiische Wurzeln, durch meine Mutter“, sagt sie. „Deshalb fühle ich mich hier wohler als an Orten, an denen ich womöglich als ­exotisch wahrgenommen werde.“ Diskriminierungserfahrungen hat sie bisher keine, anders als Mutter oder Bruder, „die sehr viel dunkler sind als ich“.

Wie ist sie aufgewachsen, mit einem deutsch-malaiischen Elternpaar? Recht behütet, sagt Michalk, in ­einem Reihenhaus in Hamburg-Schnelsen. Religiös sind weder Vater noch Mutter, Traditionen wie ein geschmückter Weihnachtsbaum wurden zwar gepflegt, „aber eher, weil’s cool war, und nicht mit dem christlichen Hintergrund“. Heute reist sie alle drei Jahre mit ihren Eltern in den asiatischen Vielvölkerstaat, wo auch Verwandte leben. Winkekatzen und andere Glücksbringer, die sie dort findet, hat sie auf dem Schreibtisch aufgereiht. Die Herkunft, der familiäre Hintergrund, das alles habe sie schon geprägt, sagt Michalk. „Diversity betrifft mich persönlich, diese Themen sind mir einfach sehr zugänglich.“ Um die Vielfalt und Buntheit der Welt zu genießen, hat ihr ­jedoch stets Hamburg ausgereicht. Es kam ihr nie in den Sinn, die Stadt zu wechseln: „Ich fühle mich hier einfach verwurzelt. Die Lebensqualität ist hoch, die Wege sind kurz in diesem Stadtstaat.“

Michalk, so scheint es, führt ein aufgeräumtes Leben. Dazu hat sie eine Mission: Gewalt zu verhindern und das menschliche Miteinander zu verbessern. Doch als die Pandemie einsetzte, bekam auch sie eine Sinnkrise. Sie gab einem Wunsch nach, der schon lange in ihr schlummerte: sich als Sterbebegleiterin im Hospiz zu engagieren. Sterben, findet sie, wird in unserer Gesellschaft geradezu tabuisiert. „Dabei ist es genauso ultimativ wie die Geburt. Klammert man es aus, lebt man nur halb. Mir fehlte dieser Pol des Daseins, weil er den Blick aufs Leben erst vollständig macht.“

Jetzt geht sie zweimal pro Monat am Sonntagnachmittag in ein kleines Hospiz und fragt alle Gäste, was sie brauchen: ein Gespräch, Vorlesen, mit dem Rollstuhl an die frische Luft? Anschließend bereitet sie Abendessen nach Wunsch, etwas Suppe zum Beispiel, einen Joghurt, ein Brot. „Manchmal denke ich, dies ist vielleicht das fünftletzte Brot, das dieser Mensch essen wird“, sagt Michalk. „Das zuzubereiten, finde ich bewegend. Und schön.“ Leicht sei es trotzdem nicht. Sie habe schon manche Lebensgeschichte gehört, hochspannende und traurige. Was hat sie daraus für sich mitgenommen? „Was ich am Ende des Lebens bedauern oder bereuen könnte“, sagt sie. „Würde ich heute sterben, hätte ich sicher einiges zu bereuen, das hat wohl jeder. Aber verpasste Chancen zu bedauern habe ich zum Glück nicht viele.“

Ein sinnstiftender Arbeitsplatz, zwei Ehrenämter und eine tolle Nachbarschaft – das klingt ja auch perfekt. Dennoch schaut Michalk kritisch auf sich selbst: „Ich lebe wie eine 27-Jährige, ohne Partnerschaft, ohne Kinder. Irgendwas muss da noch kommen, sich ver­ändern.“ Ein so planvoller Mensch wie sie hat doch ­bestimmt ein Ziel, zumindest Meilensteine für die ­Zukunft? „Nein“, sagt sie und lacht. „So was hatte ich noch nie. In meinem Leben hat sich bisher alles immer Schritt für Schritt ergeben und war dann sehr stimmig und in der Rückschau auch stringent.“

Die Bekanntmacherin

Erstellt am: Mittwoch, 27. Dezember 2023 von Sabine

Die Bekanntmacherin

Sie ist so lange im Amt wie Angela Merkel: Ilse Haase aus Bielefeld telefoniert sogar noch für den WEISSEN RING, während sie in einen OP-Saal geschoben wird.

Ilse Haase engagiert sich seit 2007 im WEISSEN RING.

Schon eine Autofahrt von einer Viertel­stunde reicht, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie Ilse Haase arbeitet. Während sie den Reporter in einem alten Mercedes vom Bielefelder Hauptbahnhof zu ihrem Haus fährt, berichtet sie von dem jungen Paar, das sich am Tag vorher bei ihr ge­meldet hat. Das Leben der beiden war bedroht, die ­Familien hatten etwas gegen die Liebesbeziehung. Vermutlich würde das volle Programm nötig sein, um sie zu schützen – neuer Name, neuer Wohnsitz –, aber erst mal mussten sie vorübergehend eine neue Bleibe finden. Bloß wo? Haase fuhr mit den beiden zu sich nach Hause, machte ihnen was zu essen und führte mehrere Telefonate. Kontakte und Wissen hatte sie schließlich nach 16 Jahren als Leiterin der Außenstelle Bielefeld, Angela Merkels Amtszeit als Bundeskanzlerin war ebenso lang. Natürlich fand Haase eine Unterkunft für die beiden, zumindest für die nächsten Wochen.

So lange im Amt wie Angela Merkel: Ilse Haase gibt die Außenstellenleitung in Bielefeld nach dem Jahresabschluss ab.

Nun sitzt der Reporter an diesem Tisch, an dem sie am Vortag das junge Paar bewirtet hat, und Haase – kurze Haare, stets freundliche Miene – fährt erst mal Brötchen, Käse und Kuchen auf. Man hört ihr noch immer ein wenig an, dass sie weiter nördlich in Deutschland aufgewachsen ist, in Niedersachsen. Die 70-Jährige ist froh, dass ihr der Fall nicht zu Beginn ihrer Zeit beim WEISSEN RING begegnet ist, so aber konnte sie ihre ganze Erfahrung ausspielen. Allzu häufig wird das vermutlich nicht mehr nötig sein, denn so allmählich möchte Rentnerin Haase auch wirklich in Rente gehen. Im vergangenen Jahr hat sie sich beim Radfahren das Bein gebrochen. Weil es ein komplizierter Bruch war, dauerte es lange, bis sie wieder gesund war. Das nahm sie als Zeichen, sich mit ihrer Nachfolge zu beschäftigen. „Selbst als ich in den OP geschoben wurde, habe ich noch mit meinem Vertreter telefoniert, um Dinge zu regeln“, sagt sie.

Die Nachfolge ist mittlerweile geregelt. Jedenfalls so ungefähr. Eigentlich hatte sie schon eine Nachfolgerin aufgebaut, doch aus gesundheitlichen Gründen musste diese absagen. Haase dachte darüber nach, noch so lange weiterzumachen, bis sie eine andere Person gefunden hatte. Davon aber nahm sie Abstand, weil sie sich selbst zu gut kennt: „Ich komme sonst nie davon ab.“ Nach dem Jahresabschluss wird ein Mitglied ihres Teams die Leitung der Außenstelle kommissarisch übernehmen.

Als Ilse Haase ihr Ehrenamt 2007 antrat, arbeitete sie noch als Verwaltungsangestellte bei der Polizei. Häufig schrieb sie die Aussagen von Verdächtigen und Zeugen mit, bekam eine Ahnung davon, was Menschen anderen Menschen antun konnten. Dennoch sagt sie: „Ich habe mir da ehrlich gesagt nicht so viele Gedanken gemacht. Wenn ich fertig war mit meiner Schreiberei, habe ich was anderes gemacht.“ Schon damals lernte sie: Es ist wichtig, nicht alles an sich heranzulassen. Doch da gab es auch diesen Fall mit fünf Getöteten, nur die Großmutter und ihre zwei Enkelkinder überlebten. Haase schrieb mit, als die Frau ihre Aussage machte, die Kinder hatte sie mitgebracht. Eines der Kinder machte sich in die Hosen, Haase bastelte aus Taschentüchern und Toilettenpapier Windeln. Vielleicht war das ihr erster Kontakt mit dem Thema Opferschutz. Sie fragte sich: „Was wird aus den Kindern? Ist die Oma überfordert?“

Eine Arbeitskollegin, eine Polizistin, erzählte Haase häufiger von ihrem Engagement beim WEISSEN RING. Eines Tages machte eine bundesweite Ausstellung vom WEISSEN RING auch im Polizeipräsidium Bielefeld ­Station. Haase kam jeden Tag daran vorbei, sah Bilder von Frauen mit blauem Auge. Ob sie sich dort ein­bringen sollte? Als der damalige Leiter der Außenstelle die Ausstellung besuchte, kam sie mit ihm ins Gespräch, bekundete ihr Interesse. Der bot ihr gleich an, seine Nachfolge zu übernehmen.

Damals war Haase noch in der Rumänien-Hilfe tätig – das heißt, sie und ihr Mann waren die Rumänien-Hilfe in Bielefeld, sammelten Kleidung und andere Spenden, fuhren damit zweimal im Jahr nach Rumänien, ver­mittelten Patenfamilien. Aber immer herrschte wegen der Spenden Chaos im Haase-Keller, und wenn sie mit ihrem Mann unterwegs war, musste sie ihre drei Töchter und den Pflegesohn anderswo unterbringen. Da war ein Ehrenamt für den WEISSEN RING schon leichter umzusetzen. Aber gleich die Leitung über­nehmen? Wollte und sollte das nicht jemand machen, der schon mehr Erfahrung gesammelt hatte?

Sie ging zur nächsten Mitarbeiterbesprechung und stellte fest: Es ist ja gar nicht so schwer, Menschen zu helfen. Auch die Leitung übernahm sie wenig später. Schon weil ihr Vorgänger aus familiären Gründen dringend jemanden suchte. „Er war in Not. Da braucht man gar nicht mehr zu hinterfragen“, sagt Haase. Sie sagt es so, als hätte deshalb jeder dem Mann geholfen. Haase war damals 54. Dass sie es noch als Rentnerin machen würde, kam ihr nicht in den Sinn. Ihr Vorgänger hatte die Außenstelle vier Jahre lang geleitet.

,,Helfen kann man tatsächlich bei jedem Anruf."

Ilse Haase

In den 16 Jahren bearbeitete Ilse Haase so viele Fälle, dass sie sich längst nicht mehr an alle erinnern kann, auch nicht an die großen, über die die Medien berichteten. Was wieder mal dafür spricht, dass sie die Fälle nicht zu nah an sich heranlässt. Unter anderem, weil sie mit ihrem Mann darüber reden kann, der dem WEISSEN RING gleich mit beitrat, sich in der Außenstelle aber eher um Papierkram und Computer-Angelegenheiten kümmerte.

In all den Jahren habe ihr besonders gefallen, dass man selbstständig arbeiten und eigene Ideen einbringen könne. Außerdem könne man selbst festlegen, was eine „Notwendigkeit“ sei. Haase erzählt von einem Mädchen, das vom Partner der Mutter missbraucht worden war. Als die Tochter der Mutter davon erzählte, warf sie den Mann raus. Ihren Lebensunterhalt musste die Frau nun vom Bürgergeld bestreiten, aber sie wollte mit ­ihrer 15-jährigen Tochter unbedingt mal was erleben. Sie wandte sich an den WEISSEN RING. Haase zahlte ihr eine Soforthilfe, damit sie mit ihrer Tochter einen Ausflug machen konnte. Das Mädchen habe geweint, weil sie sich so freute, mal rauszukommen, sagt Haase.

„Helfen kann man tatsächlich bei jedem Anruf, und wenn ich nur weiterleite“, sagt Haase. Das ist einer der Gründe, warum sie es 16 Jahre gemacht hat. Manchmal denke sie, der WEISSE RING sei wie eine Oma: „fürsorglich, immer da und rückt auch mal einen Schein raus“. Als sie anfing, bearbeitete der WEISSE RING in Bielefeld weniger als 100 Opferfälle im Jahr, sagt Haase. Nun seien es 300. Das liegt nicht daran, dass mehr Straftaten begangen werden, sondern dass der Verein in der Stadt bekannter geworden ist. Die Vermutung ist nicht allzu kühn, dass Ilse Haase daran einen großen Anteil hat.

Die Fädenspinner mit dem Zeitumkehrer

Erstellt am: Mittwoch, 27. Dezember 2023 von Sabine

Die Fädenspinner mit dem Zeitumkehrer

Sebastian und Sandra Gillmeister schaffen es, ihre Klinik-Jobs zu stemmen, sich in der Außenstelle Ulm/Alb-Donau-Kreis für den WEISSEN RING zu engagieren, ihren Hobbys nachzugehen und ganz nebenbei noch ein Haus zu renovieren. Wie geht das?

Ein Powerpaar: Sandra und Sebastian Gillmeister

Manchmal, während man Sebastian und Sandra Gillmeister zuhört, fragt man sich verwundert, ob sie vielleicht irgendwo ­einen Zeitumkehrer versteckt haben. Das kleine magische Gerät, das wie eine Sanduhr an einer Kette aussieht, kennt man aus den Harry-Potter-Büchern. Seinen Besitzern ermöglicht es, in der Zeit zurückzureisen. So können sie mehr Aufgaben erledigen, als der Tag es eigentlich zulässt. Wie sonst schaffen es die Gillmeisters, ihre Klinik-Jobs zu stemmen, sich in der Außenstelle Ulm/Alb-Donau-Kreis für den WEISSEN RING zu engagieren, ihren Hobbys nachzugehen und ganz nebenbei noch ein Haus zu renovieren?

Im Moment aber sitzen die beiden ganz entspannt auf der Couch ihrer Ulmer Wohnung, die Schultern an­einandergeschmiegt. Zu ihren Füßen liegt Hundedame Mila, ein Chihuahua-Terrier-Mix. Es ist Montagabend, vor sich haben sie den Laptop aufgeklappt. Das Licht des Bildschirms spiegelt sich in ihren Brillengläsern. Per Videochat erzählen die Vielbeschäftigten, warum ihnen die ehrenamtliche Arbeit für den Verein in der Außenstelle in Baden-Württemberg so wichtig ist.

Sandra Gillmeister kennt den WEISSEN RING schon lange. Die 33-Jährige stammt aus dem Zollernalbkreis. Ihre Mutter Heike Dachs arbeitet seit Jahren für die dortige Außenstelle und wird zum Jahresende sogar deren Leitung übernehmen. „Durch sie habe ich mitbekommen, was der WEISSE RING alles leistet“, sagt Sandra Gillmeister. „Das hat mich sehr beeindruckt.“ Und noch etwas ist ihr im Kopf geblieben: „Wie er­füllend diese Aufgabe für meine Mutter ist.“

Zunächst aber wollte Sandra Gillmeister beruflich Fuß fassen. In Tübingen machte sie eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin. Dabei lernte sie ihren späteren Mann kennen. Sebastian Gillmeister, in Sachsen geboren und aufgewachsen im Schwarzwald, ließ sich dort zum Anästhesietechnischen Assistenten ausbilden. Später setzte er ein Medizinstudium obendrauf. 2016 heirateten die beiden. Sandra Gillmeister folgte ihrem Mann nach Ulm, wo er sein Studium abschloss. Sie selbst begann berufsbegleitend ein Stu­dium in Gesundheitsmanagement.

Die Gillmeisters möchten Menschen helfen, aus einer schwierigen Situation herauszukommen.

Inzwischen arbeiten sie beide für das RKU, die Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm. Er macht dort seinen Facharzt für Anästhesie. Sie arbeitet im Case Management, kümmert sich zum Beispiel um die ­Bettenbelegung und die nachstationäre Versorgung der Patientinnen und Patienten. Sebastian Gillmeister arbeitet hundert Prozent, seine Frau 85 Prozent. Ihre Arbeitstage sind voll, der Klinikalltag ist oft auf­reibend. Man könnte meinen, sie seien froh, wenn sie sich nach Feierabend endlich auf dem Sofa ausstrecken können. Doch Stillstand mögen beide nicht. Sie brauchen die Abwechslung so dringend wie ein Profisportler das tägliche Training.

„Betroffene sollen wissen, dass sie nicht allein sind.“

Sandra Gillmeister

Parallel zu ihrer beruflichen Entwicklung ist ihr ehrenamtliches Engagement mit den Jahren gewachsen. 2018 wurde das Paar zunächst Mitglied im Verein. 2020 meldete sich Sandra Gillmeister als ehrenamtliche Mitarbeiterin. Zu diesem Zeitpunkt stand sie kurz vor dem Ende ihres Bachelorstudiums. „Ich habe neben dem Studium immer hundert Prozent gearbeitet“, sagt sie. „Da habe ich mich gefragt, was ich nach dem Abschluss plötzlich mit der ganzen freien Zeit anfangen soll.“ Sie muss schmunzeln, als sie davon erzählt. Jede freie Minute einer Aufgabe zu widmen, die Sinn stiftet oder Freude bereitet, diese sympathische Rastlosigkeit hat sie mit ihrem Mann gemeinsam.

Ihre Motivation, sich für den WEISSEN RING einzu­setzen? „Ich möchte Menschen helfen, aus einer schwierigen Situation herauszukommen“, sagt sie. „Betroffene sollen wissen, dass sie nicht allein sind.“

Sebastian Gillmeister hat zeitweise im Rettungsdienst gearbeitet. Dabei gab es immer wieder Berührungspunkte mit dem WEISSEN RING. Wirkliches Interesse für die Arbeit des Vereins weckte dann aber erst seine Schwiegermutter: „Sie erzählte von ihren Fällen und ich bekam immer größere Ohren“, erinnert sich der 34-Jährige. Ein Jahr nach seiner Frau, 2021, wurde auch er ehrenamtlicher Mitarbeiter. Er sagt: „Jemandem wieder auf die Beine zu helfen, ihn auf seinem Weg zu begleiten, der Starke an seiner Seite zu sein, das gibt einem ein unglaublich gutes Gefühl.“

Sie teilen sich ein Telefon des WEISSEN RINGS, auf dem sie Hilfsanrufe entgegennehmen. „Das ist ein Herzens­projekt von uns, da nimmt man sich die Zeit“, sagt Sandra Gillmeister. „Dann telefoniert man eben auch mal abends um 21 Uhr mit einer Betroffenen.“ Manchmal können Kriminalitätsopfer nur tagsüber sprechen. Dann nehmen die Gillmeisters das Telefon mit in die Klinik. „Meine Chefin ist sehr tolerant“, sagt Sandra Gillmeister. „Wenn ich ihr sage, dass ich mit einem Opfer von häuslicher Gewalt telefonieren muss, sagt sie nie nein.“

Die Gillmeisters unterstützen sich gegenseitig. Wenn einer bei einem Fall nicht weiterweiß, fragt er den ­anderen um Rat: Wie am besten vorgehen? Welche ­Hilfe wird jetzt am dringendsten benötigt? Wenn eine Geschichte eine der beiden emotional stark mitnimmt, hilft es, mit dem Partner darüber zu sprechen. „Ich hatte schon gestandene Männer, die vor mir in Tränen ausgebrochen sind, weil in ihrer Familie etwas passiert ist“, sagt Sandra Gillmeister. „Da muss auch ich als Beraterin kräftig schlucken.“ Sebastian Gillmeister schöpft in solchen Situationen Kraft aus einem Gedanken: „Wenn ich aufzähle, was wir vom WEISSEN RING alles für einen Betroffenen tun können, verwandelt sich die Schwäche in Stärke.“

Und natürlich sind die Gillmeisters nicht allein. Sie haben­­­ in ihrer Außenstelle ein starkes Team von Ehrenamt­lichen, die wie sie alle noch im Berufsleben stehen. Große Themen besprechen sie gemeinsam. Mindestens einmal im Quartal treffen sie sich persönlich, zwischendurch wird bei Bedarf telefoniert oder gemailt.

Sebastian Gillmeister hat 2023 ein wichtiges Amt ­übernommen: Er ist Jugendbeauftragter für Baden-Württemberg. Damit ist er Ansprechpartner für die Gruppe der Jungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und auch bei den Treffen der Außenstellenleiter mit dabei. In dieser Funktion koordiniert er zum Beispiel landesweite Aktionen, an denen die jungen Ehrenamtlichen unter 35 Jahren beteiligt sind. Spricht man mit Sebastian Gillmeister über seine neue Aufgabe, kristallisieren sich schnell zwei Herausforderungen heraus, denen er sich stellen möchte. Zum einen möchte er mehr junge Menschen für das Ehrenamt begeistern, zum anderen ihrer Stimme innerhalb des Vereins mehr Gewicht verschaffen. „Da ist noch Luft nach oben, ­dabei ist die Jugendarbeit enorm wichtig“, sagt er. „Ich habe oft das Gefühl, dass junge Menschen nicht so viel gefordert und gefördert werden, wie sie es eigentlich verdient hätten.“ Im WEISSEN RING engagierten sich vor allem lebenserfahrene Menschen, viele davon sind bereits im Ruhestand. „Deren Erfahrung ist natürlich wichtig“, sagt Sebastian Gillmeister. „Trotzdem kann man auf einen jungen Mitarbeiter zugehen und fragen: Was denkst du darüber?“ Seine Frau ergänzt: „Eine gute Mischung aus allen Altersgruppen, das wäre ­wünschenswert.“

„Jemandem wieder auf die Beine zu helfen, ihn auf seinem Weg zu begleiten, der Starke an seiner Seite zu sein, das gibt einem ein unglaublich gutes Gefühl.“

Sebastian Gillmeister

Das junge Paar will noch weitere Dinge anstoßen. In Ulm hat der WEISSE RING keine eigenen Räume, in ­denen man sich mit den Opfern in einer sicheren und ruhigen Umgebung treffen kann. „Wir sind auf unsere Netzwerkpartner angewiesen: Altenheime, Polizei, Bibliotheken, Cafés mit einem separaten Bereich“, zählt Sandra Gillmeister auf. Derzeit suchen sie nach einem Raum in Zentrumsnähe, der kostenfrei nutzbar ist.

Netzwerk ist ein Wort, das im Gespräch immer wieder fällt. Die Gillmeisters sammeln Kontakte wie emsige Bienen Nektar. Sie wollen sich mit möglichst vielen Akteuren aus den unterschiedlichsten Bereichen verbinden. Als zum Beispiel in Ulm eine Ambulanz für ­Gewaltopfer öffnete, besorgten sie sich sofort Flyer, um sie bei Bedarf an Betroffene zu verteilen. „Umgekehrt sollen uns auch die Mitarbeiter der Ambulanz kennen, damit sie Menschen auf unsere Beratung aufmerksam machen können“, erklärt Sandra Gillmeister.

Kein Wunder, dass sie auch in anderen Organisationen mitmischen wollen. Beide sind für die SPD im Orts­verein Ulm Süd aktiv. Sebastian Gillmeister bringt sich in medizinischen Gewerkschaften ein. Er möchte die Ausbildung junger Ärzte verbessern. In der Gewerkschaft Verdi haben sich die Gillmeisters ebenfalls schon eingesetzt. Doch im Moment ruht ihr Engagement dort – zu viel anderes zu tun. „Wenn man in ein Netzwerk eintritt, muss man sich auch engagieren, um die Fäden weiterspinnen zu können“, sagt Sebastian Gillmeister. Und erklärt gleich, was er sich davon verspricht: „Einem Opfer von häuslicher Gewalt kann man vielleicht schneller zu einer Wohnung verhelfen, unabhängig vom Frauenhaus. Dem Vergewaltigungsopfer eine konkrete Anlaufstelle in einer Klinik nennen.“

Anspruchsvolle Jobs, ausfüllende Ämter – bleibt da überhaupt Zeit fürs Privatleben? Tatsächlich haben die Gillmeisters ein Haus gekauft, das sie gerade reno­vieren lassen. Sebastian Gillmeister träumt von einem Musikzimmer. Er spielt Gitarre und Dudelsack, möchte aber gerne noch Schlagzeug und ein Blasinstrument lernen. Sandra Gillmeister strickt und näht. Und dann ist da noch Mila, die sich über Aufmerksamkeit freut und ihren täglichen Auslauf braucht.

Wird ihnen das alles manchmal zu viel? Sebastian Gillmeister lacht: „Durch unseren medizinischen Background sind wir einiges an Stress gewohnt.“ Seine Frau und er haben ein Ritual etabliert: Wenn sie von der ­Arbeit nach Hause kommen, setzen sie sich erst einmal auf die Couch. Sie kuscheln mit Mila und reflektieren den Tag. So meistern sie die täglichen Herausforderungen bisher gut – auch ohne Zeitumkehrer.

„Menschen intensiv zuhören, Lotsin sein“

Erstellt am: Montag, 4. Dezember 2023 von Sabine

„Menschen intensiv zuhören, Lotsin sein“

72 Jahre alt ist sie mittlerweile, und eigentlich hatte sie sich den Ruhestand schon längst verdient: Inge Erler. Aufhören mag sie aber noch lange nicht. Vor allem die Sorge um die Jugend treibt sie um.

Seit mehr als 25 Jahren hilft Inge Erler Menschen in Not.

Wenn bei Familie Erler früher der Gong durchs Haus tönte, kamen sie alle angelaufen: Ehemann, drei Söhne und eine Tochter, hungrig aufs Abendessen und auf Gespräche. Am großen Tisch wurde lebhaft geredet, es gab viel Pro und Contra und wurde auch mal turbulent. Inge Erler liebte es, mittendrin zu sein. Die Verschiedenheit ihrer Kinder zu erleben und die reifenden Persönlichkeiten zu begleiten, „sie auch mal aushalten und ihnen trotzen zu müssen“, sagt sie. Wenn sie erzählt und dabei strahlt, spürt man, wie voll ihr Herz ist bei der Erinnerung.

„Chaos-Königin“ sei sie damals oft genannt worden. „Und manchen Freunden war der Trubel auch zu viel.“ Inge ­Erler wurde es selten zu viel. Oft saß sie abends noch auf Bettkanten, sprach mit jedem Kind, bis sie selbst ­todmüde war. Leichte Jahre waren das nicht mit dieser Bande, „aber prägende“, sagt sie. „Deshalb kann ich das, was ich heute tue. Menschen intensiv zuhören, Lotsin sein.“

Inge Erler hilft und tröstet

Seit mehr als 25 Jahren hilft Erler Menschen in Not. Von 1996 bis 2015 hauptberuflich als Sozialarbeiterin bei der Diakonie in Meißen. Seit Ende 2015 als Gründerin und Leiterin der

Außenstelle Meißen des WEISSEN RINGS in Sachsen. 72 Jahre alt ist sie mittlerweile, und ­eigentlich hatte sie sich den Ruhestand schon längst verdient. Als Sozialarbeiterin hatte sie zwei Mal miterlebt, wie die Elbe über die Ufer trat und viele Menschen um ihr ­Zuhause, um Hab und Gut brachte. Sie hatte geholfen und getröstet. Sie hatte Gewaltopfer beraten, die schwer traumatisiert waren und Angst hatten, ihre Wohnung zu verlassen. Sie hatte sich um Frauen gekümmert, die sexuellen Missbrauch erfahren hatten. Erler hatte zugehört, nachgedacht, Hilfe vermittelt. Sie war gut vernetzt mit Kriseninterventionsteams, psychosozialen Diensten, Anwältinnen und Anwälten und anderen Engagierten. Als sie schließlich in Rente ging, hielt sie es genau einen Monat lang aus, nichts zu tun. „Ich wusste ja, was hier in der Gegend los ist. Und was fehlte.“ Was fehlte, war eine Anlaufstelle für Opfer von Kriminalität. Den WEISSEN RING kannte sie bereits, ihr Vorschlag zum Aufbau einer Außenstelle wurde in Mainz gleich begrüßt.

Wer heute Erlers Hilfe braucht, ruft sie an oder kann sie an zwei Tagen pro Monat in einem Büro in der Meißener Beratungsstelle der Verbraucherzentrale aufsuchen. ­Anfangs, als es das Büro noch nicht gab, saß sie mit Hilfe­suchenden in Cafés. „Das war keine gute Umgebung“, sagt sie, „denn oft fließen ja Tränen in diesen Gesprächen.“ Hat sie auch mal mitgeweint? „Ja“, sagt Erler, „selbst wenn das nicht ganz professionell ist. Aber manche Geschich­ten sind einfach zu hart.“ Ein Schutzraum sei enorm wichtig, viele Opfer verspürten große Scham und Schuldgefühle. „Sie denken, sie sind selbst schuld an dem, was ihnen angetan wurde – weil sie sind, wie sie sind.“ Erler schüttelt den Kopf und fährt sich durch das dichte, silbergraue Haar. „Kein Opfer ist selbst schuld!“

Neustart mit Anfang 40

Ihre erste Berufswahl war die soziale Arbeit nicht. Sie studierte Werkstoffwissenschaften und arbeitete als ­Ingenieurin im nahegelegenen Stahl- und Walzwerk ­Riesa, einem Volkseigenen Betrieb (VEB), wo sie in der Forschungsabteilung an der Rezeptur für die Kufen von Profi-Rodelschlitten tüftelte. „Die besonders hart zu machen, dafür habe ich gebrannt“, sagt Erler. Dass die Rodler aus der DDR bei Wettkämpfen so gut abschnitten, macht sie heute noch stolz. Nach der Wende aber wurde der Betrieb geschlossen. Erler musste neu beginnen, ­studierte mit Anfang 40 noch einmal, Sozialarbeit. Das Handfeste, Pragmatische hat sie mitgenommen in ihr neues Aufgabenfeld.

,,Kein Opfer ist selbst schuld!"

Inge Erler

Ihr anderes Lieblingsmaterial, neben dem Stahl, ist Erde. Der Boden in dem sächsischen Dörfchen Staucha, in dem sie heute ihr Gemüse zieht, ist derselbe, auf dem sie ihre ersten Schritte ging. Erler war eine Hausgeburt, als ­drittes Kind 1951 zur Welt gekommen. Das Haus war im Krieg zerschossen worden, ihre Mutter und Tante hatten es wieder aufgebaut. Der Vater kam erst 1950 zurück, nachdem ihn die Sowjetische Militäradministration fünf Jahre im Speziallager Buchenwald interniert hatte. Versorgungsoffizier in der Wehrmacht sei er gewesen, sagt Erler, da gebe es nichts zu beschönigen. Zum Elternhaus gehörte etwas Ackerland und auch ein Pferd, das die Rote Armee beim Einmarsch zurückgelassen hatte, mit blutigen Hufen. Erlers Familie pflegte es gesund und Jahre später spannten sie und ihr Vater das Tier vor den Pflug und zogen Furchen in den Boden. „Wie gut das roch!“ Sie schließt die Augen. „Erdung“, das Wort benutzt sie gerne, wenn sie erzählt, wie sie an ihrem Dörfchen Staucha hängt, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat. Wie sie in ihrem Zuhause auftankt, das nur wenige Schritte von ihrem Elternhaus entfernt liegt. Ganz besonders viel ­Erdung verspürt sie im Garten, beim Säen und Ernten – und wenn die Kinder zu Besuch kommen.

Die Schattenseiten von Social Media

Die wohnen alle in der Region und bringen heute ihre ­eigenen Kinder mit. Zehn Enkel gibt es mittlerweile. Höhe­punkt des Großfamilienlebens sind seit 2008 die ­jährlichen Ausflüge an den Hölzernen See bei Königs-Wusterhausen in Brandenburg, für den sich alle Urlaub nehmen. Dann mieten sie ein Haus in einem „KiEZ“, ­einem Kinder- und Erholungszentrum mit einfacher Einrichtung und Verpflegung, gehen baden, spielen Ball oder Wikingerschach und machen abends ihr eigenes Kulturprogramm mit Musik und Aufführungen. Und ­natürlich sitzen wieder alle an einem großen Tisch und Erler fühlt sich fast wieder wie früher, als Chaos-Königin. „Das ist mein Reichtum“, sagt Erler. Sie weiß, wie glücklich sie sich schätzen darf mit dieser Familie, und von der Kraft, die sie daraus schöpft, gibt sie gerne ­etwas ab.

Nachfrage ist da. Erler schaut mit Sorge auf die Jugend, die oft naiv mit Social Media umgeht, freizügige Selfies versendet, als Täter oder Opfer verstrickt ist in Cybermobbing und die Häme von Chatgruppen. Das Bedürfnis nach schnellen Likes sei groß, sagt sie, wirkliches Interesse aneinander und Geborgenheit dagegen seltener zu finden. Aufklärung ist deshalb ihr großes Anliegen.

2025 will sie aufhören mit der Arbeit im Verein. Bis dahin aber will Erler die Angebote in Meißen noch entscheidend verändern: den heute kleinen Anteil der Prävention auf 50 Prozent steigern. Zum Beispiel, indem sie mit ihrem Team Geld für Filmvorführungen sammelt, die Kinder und Jugendliche sensibilisieren sollen. „Ben X“ steht als Erstes auf dem Programm, ein Spielfilm über Cyber­mobbing, Gaming und Vereinsamung. Mit solchen ­Formaten, weiß Erler, erreicht sie die Teenager besser als bei belehrenden Vorträgen in Klassenzimmern.

Mit beiden Füßen auf dem Boden, im Kopf und im Herzen vernetzt über Generationen und mit der gesamten ­Region: Inge Erler weiß genau, was in der Welt vorgeht, im Guten wie im Schlechten – selbst ohne ihr Dorf je ­verlassen zu haben.

„Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun“

Erstellt am: Freitag, 10. November 2023 von Sabine

„Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun“

Sie steigt trotz Flugangst in eine Linienmaschine und arbeitet sich bis tief in die Nacht in Fälle ein: Karin Skib aus Gießen engagiert sich seit 2001 für den WEISSEN RING. Das erste Jahr hatte es direkt in sich.

Karin Skib gehört zu den Menschen, denen man nicht lange erklären muss, was sie zu tun haben.

Zwei Leitz-Ordner voll mit Zeitungsartikeln über die Aktivitäten der Gießener Außenstelle des WEISSEN RINGS und eine Ehrennadel – das ist die vorläufige Bilanz eines ehrenamtlichen Dienstes, der nun beinahe ein Vierteljahrhundert andauert. Karin Skib, schulterlanges braunes Haar, roter Pullover, Brille, schicke Kordelkette, ist schon ein bisschen stolz auf das, was sie bisher als Leiterin erreicht hat. Aber zu stolz will die 64-Jährige auch nicht wirken, denn irgendwie ist der Einsatz für das Ehrenamt für sie auch selbstverständlich, hört man heraus: „Mein erster Berufswunsch in früher Jugend war es, Richterin zu werden, ich hatte schon früh einen großen Gerechtigkeitssinn“, erzählt sie.

,,Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun"

Karin Skib

Skib absolvierte schließlich eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Später arbeitete sie bei einer Wäschereitechnik-Firma in der Auftragsabwicklung und erwarb dabei eine Fähigkeit, die ihr auch für ihre Tätigkeit im Verein hilft: Multitasking, also die Fähigkeit, viele Dinge zu erfassen und gleichzeitig zu tun. Ende der 90er-Jahre erblindete ein Kollege von Karin Skib, der sehr viel Kundenwissen hatte und auf den das Unternehmen nicht verzichten wollte. Karin Skib wurde sozusagen sein Auge und seine Hand: „Damit er möglichst lange bei uns bleiben konnte, habe ich ihm die Post vorgelesen und die Hand bei Unterschriften geführt“, erzählt sie. Durch ihren eigenen Job und die zusätzliche Betreuung des Kollegen hatte Skib keine andere Wahl als sich gut zu organisieren. Denn neben ihrem „Zweitjob“ musste sie auch den kleinen Sohn versorgen und den Haushalt gebacken kriegen.

Die Anpackerin

Karin Skib gehört zu den Menschen, denen man nicht lange erklären muss, was sie zu tun haben oder wo Arbeit anfällt. Als Außenstellenleiterin beim WEISSEN RING ist sie seit dem Jahr 2001 Seelsorgerin, Antragsbearbeiterin und Eventmanagerin in Personalunion. Eine Anpackerin. „Nur reden hilft nicht, man muss auch etwas tun“, ist Skibs Motto.

Als sie das erste Mal ein Treffen der Opferhilfe in Gießen besuchte, waren die etwa sechs ehrenamtlichen Mitarbeitenden alle schon deutlich älter, als dann der Leiter aus gesundheitlichen Gründen seinen Dienst quittierte, ergriff Karin Skib die Initiative. „Ich wollte nicht, dass das Angebot in Gießen verschwindet.“ Sie übernahm das Amt. Nicht nur reden, machen. Und das, obwohl Skib damals noch gar nicht so recht wusste, was alles auf sie zukommen würde, sagt sie heute rückblickend.

Seit 2001 engagiert sich Karin Skib für den WEISSEN RING.

Nachdem Karin Skib ihren Beruf aufgegeben hatte, entwickelte sich das Ehrenamt schnell zu einem neuen Vollzeitjob. In der ersten Zeit las sich Skib manchmal bis nachts in die Fälle ein. Wenn es sein musste, stand sie mitten in der Nacht auf, um die Frau eines amerikanischen Soldaten zur damaligen Rhein-Main Air Base der US Air Force in Frankfurt zu fahren. Dort nahmen sie ein vom Vater entführte Kind in Empfang. Und wenn es sein musste, setzte sie sich in ein Flugzeug, um eine anderes Opfer zu einer TV-Aufzeichnung nach München zu begleiten, wo es über seinen Fall sprechen wollte, – obwohl sie Flugangst hat.

Hohe Belastbarkeit wichtig

Skib weiß, was sie zu tun hat und warum: „Es bringt ja nichts ‚Oh Gott, oh Gott, das ist ja schlimm‘ zu sagen.“ Man müsse den Opfern helfen und dazu brauche es eine hohe Belastbarkeit. Und ob: Das erste volle Jahr ihrer neuen Leitungsfunktion war gleich ein besonderes: Niemals vor und nach 2001 hatte es in Gießen drei Mordfälle in einem Jahr gegeben. Skib hörte den betroffenen Eltern und Angehörigen stundenlang zu, begleitete sie zu Gerichtsprozessen und half auch sonst, wo sie konnte.

Ihre Kontakte in die hessische Politik nutzt Skib im Sinne des Vereins. Sie erzählt, wie sie zum Beispiel einmal mit hochrangigen Amtsträgen über das Opferentschädigungsgesetz (OEG), das die staatliche Entschädigung von Gewaltopfern regelt, gesprochen habe und wie dabei eine Lücke im Gesetz auffiel. „Zunächst hatten Angehörige von Tötungsopfern oder auch Augenzeugen noch keinen Anspruch auf OEG-Leistungen“, erklärt Skib. Später gab es eine Anpassung, nach der sogenannte Schockschäden heute anerkannt werden.

Mehr Fälle während Corona

Neben Empathie, Belastbarkeit und Zeit nennt Skib auch Koordinierungsfähigkeit und ein geordnetes Privatleben als weitere Voraussetzungen für ihre Aufgaben. Überhaupt: vorausschauende Planung, Struktur und Effizienz, diese Begriffe passen gut zu ihr. Sie gehe nie mit leeren Händen in den Keller, sondern nehme immer gleich etwas mit runter, um den Gang optimal zu nutzen. „Durch Multitasking habe ich erst Zeit für andere Dinge“, sagt Skib und klingt dabei schon fast wie eine Unternehmensberaterin.

Die Außenstelle in Gießen bearbeitet rund 150 Opferfälle im Jahr. Während der Corona-Pandemie schnellten vor allem die Fälle von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt nach oben, was die Arbeitsbelastung von Skib und ihrem Team noch einmal erhöhte. Um sich nicht zu verzetteln, bewertet die Außenstellenleiterin alle Abläufe und Einsatzpläne klar und pragmatisch.

Schlimme Gewalttaten, Mord oder Stalking beschäftigen sie oft über einen längeren Zeitraum. Aber eigentlich hört die Verantwortung nie so richtig auf, wenn man es genau nimmt. Denn wenn Karin Skib etwas verspricht, gibt es kein Verfallsdatum. Noch heute ist die Gießenerin sehr irritiert über ein Interview mit ihr in einer Lokalzeitung, das mit einer allzu reißerischen Überschrift in Bezug auf einen Mordfall erschien. Skib hatte den Fall nur am Rande erwähnt und sich damit an den Wunsch der Angehörigen gehalten, die Sache nicht immer wieder neu aufzuwärmen. „Und jetzt stellen Sie sich mal vor, die Leute schlagen die Zeitung auf, und lesen diese Überschrift!“ Für die Annahme, dass die Opfer mit ihrer Betreuung und Arbeit unzufrieden sind, gibt es jedoch keinen Hinweis. 2022 erhielt Karin Skib sogar den Ehrenbrief des Landes Hessen mit Ehrennadel. Mit der Auszeichnung würdigt das Bundesland soziales, ehrenamtliches Engagement in einem Verein. Mehr geht nicht.

,,Es bringt ja nichts, Oh Gott, oh Gott, das ist ja schlimm' zu sagen."

Karin Skib

In den vergangenen Jahren überließ die 64-Jährige die Opferarbeit immer mehr ihren Mitarbeitern, aber die Organisation der Außenstelle und Öffentlichkeitsarbeit für den Verein lassen bei ihr bis heute keine Langeweile aufkommen. Obwohl Skib einen Gang runtergeschaltet hat – so richtig loslassen, fällt ihr schwer. Mittendrin ist sie auch deswegen, weil die Teamsitzungen seit Corona in einem ausgebauten Kellerraum ihres Hauses stattfinden, das Büro ist dafür zu klein. Die nächsten Spendenübergaben, Statistiken und Infostände wollen auch geplant sein.

Ende in Sicht?

Seitdem sie kleine gesundheitliche Einschränkungen spürt, erlaubt sich Skib nun schon das ein oder andere Mal, vorsichtig ans Aufhören zu denken. Derzeit baut sie eine Stellvertreterin auf. Wie lange sie selbst noch an Bord sein wird, ist unsicher.

Sicher ist hingegen, dass die Noch-Außenstellenleiterin alle Unterlagen der bearbeiteten Opferfälle in ihrem Büro vernichten oder nach Mainz schicken muss, wenn sie irgendwann dem WEISSEN RING den Rücken kehrt. Ihre beiden Leitz-Ordner, die zuhause auf dem Wohnzimmertisch liegen, müssen dem Datenschutz aber nicht gehorchen. Deshalb lag Karin Skib die Öffentlichkeitsarbeit von Anfang an so am Herzen: In den Ordnern sind rund 100 Zeitungsbeiträge – viele davon selbst verfasst – zusammengetragen, jeder einzelne fein säuberlich in einer Prospekthülle abgeheftet. „Die Artikel dokumentieren später, was wir in den ganzen Jahren alles gemacht haben“, erklärt Skib stolz. „Das ist dann mein ganz persönliches Archiv.“