„Fragen Sie doch mal den Herrn Zeck“

Erstellt am: Mittwoch, 3. März 2021 von Sabine

„Fragen Sie doch mal den Herrn Zeck“

Im Saarland sind die Wege kurz. Ein Mann wie Jürgen Felix Zeck – einst Polizist, Dozent, Autor, Berater, jetzt Außenstellenleiter beim WEISSEN RING – kennt immer jemanden, der jemanden kennt und helfen kann.

Jürgen Felix Zeck ist seit elf Jahren Mitarbeiter des WEISSEN RINGS.

Als die Apothekerin an diesem Morgen im September 2020 die Ladentür aufschließt, tritt sie schnell wieder einen Schritt zurück: Ihr schlägt ein Gestank entgegen, wie sie ihn noch nie gerochen hat. „Wie Erbrochenes“, so beschreibt sie ihn später, „bestialisch“. Angewidert macht sich die 61-Jährige mit ihren Mitarbeitern auf die Suche nach der Quelle des Gestanks. Im Keller werden sie fündig: Durch einen Lichtschacht hat jemand Buttersäure in die Apotheke gekippt.

Apotheken sind saubere Orte, so sollte auch ihr Geruch sein: rein, gesund, fast ein bisschen steril. Der Gestank muss also verschwinden. Bloß wie? Die Apothekerin recherchiert im Internet. Sie meldet den Buttersäureanschlag der Polizei. Sie ruft alle Behörden an, die „Umwelt“ oder „Chemie“ im Namen tragen. Wie sie den Buttersäuregestank wieder loswird, erfährt sie nicht. Bis ihr irgendwann jemand rät: „Fragen Sie doch mal den Herrn Zeck.“

Der Herr Zeck wartet am Stummdenkmal, das steht vor der Stummstraße auf dem Stummplatz im Zentrum von Neunkirchen, Saar. Er trägt Mantel und Mütze gegen die Kälte, unter der Mütze lugt sein Zopf hervor, im Gesicht setzt ein freundliches Lächeln seinen eindrucksvollen Schnurrbart in Bewegung. Jürgen Felix Zeck, 71 Jahre alt, steht nicht zufällig beim alten Freiherrn von Stumm, ehedem Politiker und Montanindustrieller. Erstens ist das Denkmal für stadtfremde Besucher leicht zu finden, zweitens kann Zeck hier ein bisschen Stadt- und Saargeschichte an den Mann bringen: Neunkirchen, mit kaum 48.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Saarlands, ist eine ehemalige Montanstadt. „Mit der Hütte groß geworden, mit der Hütte gestorben“, so sagt es Zeck. Hinter dem Stummdenkmal ragt das Gerippe der Eisenhütte auf, geschlossen 1982.

Eine Stadt im Wandel

Zecks Großvater war Bergmann, der Enkel ging einen anderen Weg, zum Glück, die letzte Kohlengrube schloss 1968: Jürgen Felix Zeck wurde Polizist. Zecks eindrucksvoller Schnurrbart setzt sich fröhlich in Bewegung: „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht“, verkündet er, „ein Saarländisches Bergmannsfrühstück.“ Früher aß man das in der Bergmannskneipe, sagt Zeck, am Stummplatz gab es jede Menge davon, aber mit den Bergleuten sind auch die Bergmannskneipen verschwunden.

Die Stadt hat sich verändert. Nach der Eisenhütte kam ein Einkaufszentrum: Das riesige Saarpark-Center steht am Rande des Stummplatzes, Ende der 80er-Jahre war es eine Attraktion. Aber Einkaufszentren haben es schwer in diesen Zeiten, wegen des Online-Handels, wegen Corona. Menschen sind weggezogen aus Neunkirchen, andere gekommen. Geblieben ist die Kriminalität, die braucht nämlich keine Orte, sondern Menschen, und für die Kriminalitätsopfer, die ebenfalls bleiben, braucht man Opferhelfer.

Der WEISSE RING blieb in Neunkirchen, und Jürgen Felix Zeck, seit elf Jahren Mitarbeiter, hält nun häufiger Vorträge für muslimische Frauen, sein Thema: „Häusliche Gewalt bei Migranten“.

„Man kennt sich hier“

Die Apotheke mit dem Buttersäureanschlag liegt nicht weit entfernt vom Stummplatz. Eigentlich liegt nichts weit entfernt in Neunkirchen, im ganzen Saarland nicht, „man kennt sich hier“, sagt Zeck. Er lächelt, er erinnert sich an einen Vortrag in Berlin, wo er beiläufig berichtete, wie der zuständige Minister ein Problem löste, das Zeck ihm angetragen hatte. „Wie, du hast direkten Zugang zum Minister?“, staunten die Berliner. „Das ist das Saarland“, antwortete Zeck, „man kennt sich.“

„Du, ich brauche da jemanden“, so sprach der Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Gerhard Müllenbach, 2012 den Herrn Zeck an. Seitdem ist Zeck stellvertretender Landesvorsitzender.

Eine andere Geschichte: Ein Schausteller stand vor Gericht, die Sache war nicht allzu schlimm, die Richterin verzichtete auf eine Strafe. Stattdessen verpflichtete sie den Schausteller, sein Karussell einen Tag lang kostenlos für Kinder aufzubauen. Die Frage war bloß: Wo bekommen wir die Kinder her, wer kümmert sich um den kostenlosen Karusselltag? Man fragte den Herrn Zeck. Der sprach Schulen für seh- und hörgeschädigte Kinder an, die Begeisterung war groß. Am letzten Schultag vor den Ferien fuhren 200 jauchzende Kinder, die sonst selten Gelegenheit dazu haben, Karussell. Und am Abend schlug der Schausteller dem WEISSEN RING vor, so etwas doch jährlich zu organisieren.

Spitzname „Umweltpapst“

„Herr Zeck, Herr Zeck … den kenn ich doch von einem Vortrag“, sagt die Apothekerin, als man ihr den Namen nennt. Als sie dann mit Zeck spricht und vom Buttersäuregestank berichtet, sagt er: „Warten Sie mal, ich kenne da jemanden.“ Er setzt sich ans Telefon.

41 Jahre lang war Jürgen Felix Zeck bei der Kriminalpolizei. Zunächst war er für Todesermittlungssachen zuständig, für Brände, Explosionen, Sexualdelikte. Anfang der 80er-Jahre kam dann das Thema Umweltkriminalität auf. „Da kannte sich keiner aus“, sagt Zeck. Auch er kannte sich nicht aus, aber er las sich ein, tiefer und tiefer. Er kümmerte sich um das Fischsterben in Prims und Saar, um illegale Abfallentsorgung in der Altölverbrennungsanlage, er bekam den Spitznamen „Umweltpapst“, wurde in Ausschüsse geladen und zu internationalen Tagungen.

Als wäre das nicht genug, lehrte er an der Polizeischule und an der Fachhochschule, schrieb Zeitschriftenartikel und Fachbücher, beriet die Politik zum Thema Opferschutz.

„Niemand ist allein“

Nach seiner Zeit bei der Polizei lässt ihn der Opferschutz nicht los: Er engagiert sich beim WEISSEN RING. Rund 70 Opferfälle bearbeitet die Außenstelle jährlich, lange mit 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aktuell sind es sieben. Darüber hinaus organisiert der Außenstellenleiter nicht nur Karussellfahrten – er hält Vorträge, sitzt in Arbeitskreisen und an Runden Tischen, macht Öffentlichkeitsarbeit. Der Saarländische Rundfunk möchte ein Interview führen zum Thema „Häusliche Gewalt“? Zeck fährt ins Studio und ist um 19 Uhr live auf Sendung. Die Tageszeitung braucht einen Artikel zum gleichen Thema? Zeck setzt sich an den Computer und schreibt einen Text, den die Zeitung unverändert abdruckt. Eine Frau ruft ihn an; sie hatte einen Verkehrsunfall und gerät dadurch in finanzielle Nöte? Der WEISSE RING könne nicht helfen, bedauert Zeck, „aber warten Sie mal, ich rufe mal ein paar Leute an“. Im Grunde, so Zeck, sei das hier eigentlich ein Vollzeitjob, aber seine Frau mache das zum Glück mit.

Was Zeck wichtig ist: Opfer ist nicht gleich Opfer. Oft werden Menschen ganz anders zum Opfer, als man sich das gemeinhin so vorstellt. Aber helfen muss man immer. Natronlauge! Das ist die Lösung! Zeck hat es herausgefunden in seinen Telefonaten. Natronlauge kann Buttersäure neutralisieren. Tatsächlich gelingt es der Apothekerin mit einem Handwerksteam und einigem finanziellen Aufwand, den Gestank endlich loszuwerden.

„Wer glaubt, er ist allein, der irrt“, sagt Zeck. „Der WEISSE RING ist da, wenn man ihn braucht.“ Das saarländische Bergmannsfrühstück, Jürgen Felix Zeck überreicht eine hübsche Frischhaltetasche: Lyoner, Weck, Bier. „Den ganzen Tag unterwegs … Sie haben doch bestimmt Hunger, oder?“ Die Bergmannskneipen mögen verschwunden sein, aber Zeck kennt einen guten Fleischer und einen guten Bäcker. „Mit dem Bier war es schwieriger“, sagt er, die örtlichen Brauereien seien ja fast alle weg, aber Karlsberg, das gehe immer. „Guten Appetit“, wünscht er zum Abschied, die Freude lässt seinen Schnurrbart beben.

Lecker wars.

Klaus Hübner

Erstellt am: Samstag, 30. Januar 2021 von Sabine

Klaus Hübner

Klaus Hübner war Gründungsmitglied des WEISSEN RINGS. Er war aber auch Arbeiter, Polizist, Gewerkschafter und Bundestagsabgeordneter. Nun ist er im Alter von 96 Jahren verstorben. Ein Nachruf.

Gründungsmitglied Klaus Hübner, Foto: Matthias Haslauer

19. Juni 1924 |  30. Januar 2021

Klaus Hübners Leben war eines dieser Leben, vor dem man staunend steht angesichts dessen, was da alles in dieses Leben hineinpasste: Arbeiter, Polizist, Gewerkschafter, Bundestagsabgeordneter war er, Polizeipräsident der damaligen Westberliner Polizei und Gründungsmitglied des WEISSEN RINGS. Und Ehemann, das natürlich auch.
63 Jahre lang.

Ihr Mann, sagt Waltraud Hübner heute, sei immer ein sehr sozialer Mensch gewesen, der „für die Belange der anderen immer ein offenes Ohr hatte“. Hübner, 1924 in Berlin geboren, 1949 in den Polizeidienst eingetreten, entschied sich dann folgerichtig für die SPD, wurde der erste Geschäftsführer der Gewerkschaft der Polizei, wurde Bundestagsabgeordneter, dann – überraschend für viele – 1969 Polizeipräsident in Berlin. Keine ruhige Zeit, weder für das Land noch für die Stadt und damit auch nicht für Hübner. Die Studentenunruhen waren auf ihrem Höhepunkt, und dann kommt da einer wie Hübner und spricht, damals ein Novum, von Deeskalation – sagt einen Satz wie: „Eine Straßenschlacht, die die Polizei gewinnt, hat die Demokratie verloren.“

Als ihr Mann ihr vom WEISSEN RING erzählte, dieser damals komplett neuen Idee, sich um die Opfer von Verbrechen mehr zu kümmern, da, sagt sie, „war ich nicht gerade begeistert, er hatte ja schon so genug zu tun“. Klaus Hübner selbst hat dem WEISSEN RING erzählt, wie das 1976 war, als Eduard Zimmermann auf ihn zukam: „Eines Tages kam er und fragte, ob und wie man Verbrechensopfern helfen könnte. So wurde die Idee vom WEISSEN RING geboren. Der Verein entstand aus dem Wollen, etwas für eine Gesellschaftsschicht zu tun, die wir als vernachlässigt empfanden.“ Die Gründungsphase habe damals von dem Bedürfnis vieler gelebt, anderen zu helfen.

Eine Idee, die Früchte trug

Ein Selbstzünder sei die Idee gewesen, so Klaus Hübner im Rückblick, aber auch ein „Selbstzünder muss immer Sauerstoff haben“. Den gab Hübner ihm in Berlin, wurde „Regionalbeauftragter“, was sich heute Landesvorsitzender nennt. Er schuf Raum für die erste Geschäftsstelle auf dem Berliner Polizeigelände und sah dann selber, wie der Verein, den er maßgeblich mitbegründet hatte, wuchs und Früchte trug – auch in seiner Stadt. 1986 zum Beispiel, als es einen Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ gab, drei Menschen verstarben und über 100 zum Teil schwerst verletzt wurden. Noch in der Nacht seien die Helfer des WEISSEN RINGS ausgeschwärmt, hätten geholfen. Klaus Hübner erzählte auch diese Erinnerung: „Für die Ehefrau eines verletzten amerikanischen Soldaten, bei dem absehbar war, dass er den Anschlag nicht überleben würde, haben wir den Flug aus den USA nach Deutschland bezahlt, damit sie ihren Ehemann noch einmal lebend sehen kann – was auch gelang.“

Hübner hatte, sagt seine Frau, eigentlich keine zeitaufwendigen Hobbys – Sport schon, Karate, Tennis oder Volleyball mit den Kollegen. Und gelesen habe er so ziemlich alles: „Was gedruckt war, wurde gelesen.“ Für mehr sei gar keine Zeit gewesen. 16 Jahre lang blieb Hübner im Amt des Polizeipräsidenten, dann bat er 1987 um seine Abwahl. Waltraud Hübner sagt heute, dass ihr Mann damals den WEISSEN RING mitbegründet habe, sei eine seiner besten Entscheidungen gewesen. „Und eine ziemliche Leistung.“ Wenn man heute sehe, zu was sich der WEISSE RING entwickelt hat, könne man erahnen, wie notwendig seine Gründung vor nun 45 Jahren gewesen sei.

Zuletzt kam Klaus Hübner in ein Berliner Krankenhaus. Als seine Frau den Schrank im Zimmer öffnete, sagte sie zu ihrem Mann: „Schau mal hier.“ Im Schrank hing eine Aufforderung, auf die eigenen Dinge zu achten und es Dieben nicht zu leicht zu machen. Ein Präventionstipp des Vereins, den Hübner mit aus dem Boden gestampft hat. „Das war das letzte Mal, dass er den WEISSEN RING gesehen hat“, sagt Waltraud Hübner heute. Klaus Hübner starb im Alter von 96 Jahren in Berlin.

Der Fußgänger

Erstellt am: Donnerstag, 10. Dezember 2020 von Sabine

Der Fußgänger

Seit mehr als 40 Jahren legt sich Hans A. Möller für den WEISSEN RING in Schleswig-Holstein ins Zeug. Denn Einsatz für den Opferschutz, das heißt für ihn vor allem: laufen und laufen und laufen.

„Ich war sofort überzeugt.“, sagte Hans A. Möller, Foto: Karsten Krogmann

Angenommen, man wollte Hans A. Möller jemandem beschreiben, der ihn nicht kennt: Welches Möllermerkmal würde man zuerst nennen? Den tadellosen Anzug, den er trägt, dunkelblau mit hellblauer Streifenkrawatte, im Knopfloch die Uhrenkette und am Revers den Bandsteg, Hinweis auf sein Bundesverdienstkreuz? Das Lachen, kräftig, ehrlich und spontan, das sofort gute Laune macht? Oder genügten diese drei Wörter: allzeit bestens vorbereitet?

„Kommen Sie“, sagt Möller, „ich zeige Ihnen erst einmal das Haus. Immerhin war das hier 20 Jahre die Außenstelle des WEISSEN RINGS.“ Er lacht das Möllerlachen und geht flink voran, treppauf und wieder treppab bis in den Keller, und natürlich zeigt er unterwegs kein Haus, sondern sich selbst: Hans A. Möller aus Rendsburg, Schleswig-Holstein, 84 Jahre alt, davon 40 beim WEISSEN RING.

Im Haus hängen Bilder an der Wand. Das Elternhaus in Süderbrarup, „Sägewerk, Torfwerk, Fuhrbetrieb, Landwirtschaft in einem“, erklärt Möller. Seine Ehefrau Heidi, verstorben 2015 nach 56 gemeinsamen Jahren, „so eine liebe Frau, ich habe ein Riesenglück gehabt.“ Die Fotoecke mit den WEISSER RING-Momenten: wechselnder Bundesvorstand, wechselnder Landesvorstand, dazwischen Hans A. Möller, der immer blieb.

„Sofort überzeugt“

Vor allem aber zeigt das Möllerhaus, dass dieser Mann nichts, aber auch gar nichts bereit ist dem Zufall zu überlassen. Oben im Büro stehen zwei Computer, zwei Bildschirme, zwei Tastaturen („voll funktionsfähig, falls einer ausfällt“). Im Schlafzimmerschrank hat er das Pflegefach seiner Frau neu sortiert („für mich, falls ich gepflegt werden muss“). Und in der Diele parkt neben der Eingangstür ein weinroter Krankenhaus-Notfallkoffer, er hatte ihn einst für seine Frau gepackt („jetzt ist das meiner“). Eine Inhaltsliste liegt bei: 1. Patientenverfügung, 2. Medikamentenplan, Schnellhefter für die Krankenhausunterlagen, 4. zwei Schlafanzüge, 5. drei Unterhemden, so geht es weiter mit Krankenhausnotwendigkeiten bis Punkt 18.

Einmal allerdings war Möller, Banker und Revisor, tatsächlich unvorbereitet. 41 Jahre ist das her, Möller spielte damals regelmäßig Skat in Rendsburg, als er am Jackett eines Skatbruders eine Nadel entdeckte mit einem ihm unbekannten Logo. „WEISSER RING?“, fragte Möller. „Was ist das?“ Der Skatbruder erklärte es ihm, Möller war „sofort überzeugt“, wie er sich erinnert. Wenig später unterschrieb er eine Beitrittserklärung, Mitgliedsnummer 8986, Name, Adresse, hinter dem Satz „Ich kann mich in meiner Freizeit für den Verein aktiv betätigen“ setzte er brav das Kreuz bei „Ja“. Zum 1. Januar 1980 wurde er Mitglied, kaum sechs Monate später sollte er die Leitung der Außenstelle Rendsburg übernehmen. Sein Skatbruder hatte auswärts eine Rektorenstelle angenommen und braucht einen Nachfolger. „Warum ich?“, fragte Möller. „Weil du der Einzige bist, der auf dem Antrag ,Ja‘ angekreuzt hat“, antwortete der Skatbruder.

Möller lacht sein Möllerlachen. „Schreiben Sie seinen Namen ruhig auf, viele wissen gar nicht mehr, dass er der erste Außenstellenleiter hier war“, sagt er: „Adolf-Walter Paschke.“

„Außenstellenleiter“, das klingt nach Team und Unterstützung, und tatsächlich findet man auf der Homepage der Außenstelle Rendsburg heute die Namen von 16 Ehrenamtlichen. Damals aber war Möller allein. „Ich hatte kein Handy, ich hatte kein Fax, ich hatte kein Auto. Was ich hatte, waren ein Telefon und zwei gut besohlte Schuhe.“ Möller lief in die Schulen, um vom WEISSEN RING zu erzählen, ins Rathaus, zur Polizei. Er schickte Berichte über den WEISSEN RING an die Zeitung. Wenn die Zeitung einen Bericht veröffentlicht hatte, legte er die Zeitung neben sein Manuskript und verglich Wort für Wort. Was hatte die Redaktion verändert? Wie wollte sie die Berichte wohl haben? Bald druckte die Zeitung seine Texte unverändert ab.

In der Zeitung suchte Möller auch nach Menschen, die seine Hilfe brauchten, der WEISSE RING war ja trotz der Möllerarbeit noch nicht sehr bekannt in Schleswig-Holstein. Weil in den Berichten über Straftaten natürlich keine Adressen von Opfern standen, bat Möller die Redaktion, Kontakt herzustellen. Wenn das klappte, lief er los.

Erschüttern kann ihn nichts mehr

40 Jahre später läuft Hans A. Möller immer noch täglich durch Rendsburg, über den Paradeplatz zum Beispiel zum Nord-Ostsee-Kanal und von dort weiter zum Friedhof Neuwerk, wo seine Frau ruht. Wenn er Besuch hat, so wie heute, führt er ihn unterwegs durch den Fußgängertunnel unterm Kanal und wieder zurück. „Wussten Sie, dass dies eine der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraßen der Welt ist? Befahrener als der Panamakanal und der Suezkanal!“ Von der Restaurantterrasse am Kanal aus lässt sich wunderbar den Containerschiffen zuschauen, Möller lädt zu Schnitzel ein. „Ich hab’ Gutscheine geschenkt bekommen, die kann ich allein gar nicht wegessen“, sagt er und lacht.

Erschüttern könne ihn nichts mehr, sagt Möller beim Essen und zählt auf. Sein Sohn: seit fast 20 Jahren schwerbehindert. Seine Frau: dement, jahrelang bettlägerig, schließlich der Abschied. „Das war schlimm für mich“, sagt Möller, „aber ich konnte mich darauf vorbereiten.“ Er blickt nicht bitter zurück, nicht einmal traurig; seine Erinnerungen sind fröhlich und voller Leben, immer wieder unterbricht Möllerlachen seine Geschichten.

Vereinsgründer Eduard Zimmermann und Hans A. Möller im Gespräch ∙ Foto: privat

Hunderte Opferfälle betreut

Und die Opferfälle? Hunderte muss er doch betreut haben in all den Jahren! „Ja“, sagt Möller, „die waren schon schlimm manchmal.“ Der getötete Zehnjährige. Die Frau, die der Mann mit Salzsäure überschüttet hatte. Der Wirt seines Stammlokals, den ein Betrunkener die Treppe heruntergeworfen hatte und der nicht mehr arbeiten konnte. Möller half dem Wirt später privat weiter, stritt mit Berufsgenossenschaft, Banken, Versicherungen und erkämpfte Tausende Euro für den Mann. „Man kann viel erreichen“, sagt er. „Aber das Erste und Wichtigste, was man können muss, ist zuhören.“

Den Opfern sagte er oft: „Schreiben Sie es auf! Schreiben Sie es sich von der Seele!“ Möller selbst schreibt alles auf, seitenlang dokumentiert er sein Leben, seine Arbeit, sein Ehrenamt. Anfangs schickte er monatliche Berichte nach Mainz, die Auskunft gaben über seine Außenstellenleitertätigkeit.

Heute übernimmt er Opferfälle nur noch „auf ausdrücklichen Wunsch“, wie er sagt. Lieber nutzt er seine zweite Begabung neben dem Zuhören, das ist das Hinsehen: Er liest die Finanzberichte des Vereins gegen, das Jahrbuch, das Mitarbeiterhandbuch, Korrekturen und Verbesserungsvorschläge meldet er der Bundesgeschäftsstelle in Mainz. „Ich möchte nicht wissen, wie oft die anfangs in Mainz gesagt haben: ,Der Möller schon wieder!‘“ Möllerlachen. Heute sagt das keiner mehr. Zum 40. Jubiläum hat ihm der WEISSE RING 21 Videogrüße geschickt, wegen Corona musste der offizielle Festakt ja ausfallen:

„Das, was Herr Möller schreibt, stimmt. Wenn Sie uns auf was hinweisen, wenn wir was übersehen haben, dann haben Sie immer Recht. Das kann ich an dieser Stelle offen und offiziell bestätigen.“

Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS

„Nie habe ich Sie auch nur im Ansatz missgelaunt, müde oder gar erschöpft erlebt. Sie scheinen über eine unendliche Quelle an Kraft und Zuversicht zu verfügen.“

Manuela Söller-Winkler, Landesvorsitzende Schleswig-Holstein

„Er ist ein geselliger Mensch. Ich denke an gemeinsame Stunden im Bierkeller in Malente oder anlässlich der Bundesdelegiertenversammlung. Anzumerken ist aber auch, Hans war am Abend und in der Nacht der Letzte. Doch am nächsten Morgen war er der Erste. Und die Kassenabrechnung hatte er auch schon erledigt.“

Uwe Rath, Ex-Außenstellenleiter Rendsburg-Eckernförde

Ein Bundesverdienstkreuz für Möller

1979 war Rendsburg die 81. Außenstelle des WEISSEN RINGS. Heute gibt es knapp 400 Außenstellen. 120 hauptamtliche Mitarbeiter arbeiten rund 2.900 Ehrenamtlichen zu. Manche Mitarbeiter sagen, dem Verein sei das Spontane, das Unbürokratische der frühen Jahre unterwegs abhandengekommen. Möller findet das gut. Die Sicherung der Gemeinnützigkeit durch Vorschriften und Leitlinien, die Bedürftigkeitsprüfung in Mainz, die Mitarbeiterschulung durch die vereinseigene Akademie, „die Gesetze haben sich geändert, ich halte das auch für richtig“. Wenn der Verein sich weiterentwickelt, entwickelt Möller sich halt mit. „Ich habe jetzt einen Internetzugang beantragt“, sagt er, „zum ersten Mal im Leben, mit 84.“

„Wir sind Ihnen unendlich dankbar, dass Sie sich so in die Themen reinknien und dabei auch noch Spaß haben.“

Brigitte Meise, Leiterin des Landesbüros Schleswig-Holstein

Was muss man noch wissen über Hans A. Möller? Dass ihm 1993 der Bundespräsident das Bundesverdienstkreuz am Bande verlieh? Dass er 2010 den Deutschen Bürgerpreis bekommen hat? Dass der WEISSE RING für ihn 2020 die bundesweit erste Ehrennadel in Gold anfertigen ließ? Vielleicht ist das hier wichtiger: In den nächsten Tagen bekommt er wieder einmal Besuch aus Mainz, die Finanzchefs haben sich angemeldet, sie wollen mit ihm über den Jahresbericht sprechen. Möller lacht das Möllerlachen und verspricht: „Ich bin vorbereitet!“

Die Sammlerin

Erstellt am: Donnerstag, 10. Dezember 2020 von Sabine

Die Sammlerin

Silvia Niedermeier fällt es leicht, andere zu begeistern – auch für die Unterstützung des WEISSEN RINGS in Bayern. 2020 hat sie so viel Spenden für den Verein gesammelt wie nie zuvor.

Silvia Niedermeier, ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS.

Silvia Niedermeiers Arbeit ist im Laufe der Jahre nicht einfacher geworden. Seit 1996 leitet sie die Freisinger Außenstelle des WEISSEN RINGS in Bayern. „Wie viele Vereine spüren auch wir einen Mitgliederschwund“, sagt sie bei einem Spaziergang durch Moosburg. Bußgeldzahlungen, die regelmäßig an den WEISSEN RING gehen, sind im Lauf der Jahre weniger geworden. „Es gibt immer mehr gemeinnützige Vereine, die natürlich auch Unterstützung brauchen.“ Trotzdem hat Silvia Niedermeier im vergangenen Jahr für den WEISSEN RING 21.000 Euro Spenden gesammelt, so viel wie noch nie zuvor.

Am Anfang, erinnert sich Silvia Niedermeier, kamen im Jahr zwischen 1.000 oder 2.000 Euro zusammen, in einem Jahr sogar nur ein paar hundert Euro private Spenden. „Damals kannte niemand in der Gegend den WEISSEN RING“, sagt sie. Niedermeier und ihr Team stellten sich bei der Polizei vor, bei Hilfsorganisationen wie dem Frauenhaus in Freising, bei der Diakonie, Caritas und der Katholischen Fürsorge und in Zeitungsredaktionen und verteilten Flyer. Bei Veranstaltungen wie der Ehrenamtsbörse in Freising standen sie am Infostand und klärten über die Aufgaben des Vereins auf. Sie begannen, Vorträge an Schulen zu halten, in Seniorenheimen, Pfarrämtern und Vereinen. „Wir haben damals Pionierarbeit geleistet“, erzählt Silvia Niedermeier, die immer „wir“ sagt, wenn sie von ihrer Arbeit spricht. „Ich bin keine Einzelkämpferin“, erklärt sie.

Zum WEISSEN RING kam Niedermeier, als die Zentrale 1995 in einer Zeitungsannonce Ehrenamtliche suchte, die vor Ort eine Außenstelle aufbauen. Den Verein kannte sie bereits durch die Arbeit ihres Mannes bei der Polizei. „Die Beamten leisten in erster Linie Täterarbeit“, sagt Niedermeier. „Um die Betroffen hat sich damals fast niemand gekümmert.“

Die Grenzen der Belastbarkeit

Mit sechs weiteren Ehrenamtlichen betreut sie seitdem Opfer von Kriminalität im Landkreis Freising. Knapp 180.000 Einwohner leben in 24 Gemeinden, darunter die Städte Moosburg, Freising und der Flughafen in Hallbergmoos. Opfer von Straftaten melden sich direkt bei Niedermeier, manchmal stellt die Polizei den Kontakt her. Die Ehrenamtlichen vom WEISSEN RING begleiten Opfer oft über Wochen oder Monate. „Manchmal geht es an die Grenze der Belastbarkeit“, sagt Niedermeier, besonders wenn Kinder oder Jugendliche betroffen sind, es um sexuelle Gewalt geht, brutale Raubüberfälle oder Straftaten gegen Senioren.

Fragt man nach ihrem härtesten Fall, antwortet sie: „Da waren ein paar.“ Mit am schwersten sei 2002 der Amoklauf an der Wirtschaftsschule in Freising gewesen. Die ersten Monate konnte sie nach Gerichtsterminen und Treffen mit Opfern schwer abschalten, erinnert sich Niedermeier. Innerhalb ihrer Familie spricht sie nicht über die Arbeit für den WEISSEN RING, um sie nicht zu belasten, und wegen der sensiblen Informationen über Opfer und Täter. Umso wichtiger sind für sie die Gespräche im Team. Einmal im Monat treffen sich alle Ehrenamtlichen im Landkreis und sprechen über Organisatorisches, aber auch über Fälle, die sie belasten.

Tausend Opfer

Meistens betreut Niedermeier mehrere Opfer parallel. 2018 hat sie außerdem ein Netzwerk aus verschiedenen Hilfsorganisationen vor Ort mitgegründet, die in Zukunft bei Großlagen zusammenarbeiten. In ruhigeren Wochen kümmert sie sich um Abrechnungen, Berichte für die Bundesgeschäftsstelle und Öffentlichkeitsarbeit, doch ruhige Wochen sind selten.

In den fast 25 Jahren, die sie im Amt ist, hat Silvia Niedermeier hunderte Opfer betreut, „vielleicht auch mehr als tausend“, sagt sie. „Wenn ich etwas erreichen will, muss ich auf die Menschen zugehen und berichten.“ Schon in ihrem früheren Beruf als Personalerin bei einer Bank hatte sie immer mit Menschen zu tun, es fällt ihr leicht, andere zu begeistern und sich, wenn nötig, bei Institutionen und Anwälten durchzusetzen. Gleichzeitig ist sie sensibel, kann gut zuhören, auch im Gespräch ist sie zugewandt und ehrlich interessiert. Obwohl sie lieber selbst anpackt, weiß sie, dass es sich lohnt, über ihre Erfolge und die ihres Teams zu sprechen – weil es den Opfern zugutekommt, und das ist, was für sie zählt.

„Wenn die Polizei vor Ort Opfern empfiehlt, sich bei uns zu melden, wissen sie, dass das nicht untergeht. Dass wir uns wirklich kümmern.“

Silvia Niedermeier

Im Landkreis bekannt

Regelmäßig besucht Silvia Niedermeier die Lokalredaktionen der Moosburger Zeitung und des Freisinger Tagblatts und berichtet anonym über Fälle aus der Region, hält Kontakt zu Redaktionsleitungen und Redakteure und Redakteurinnen. Der WEISSE RING bekommt jedes Jahr einen Teil der Spenden, die die Zeitungen zu Weihnachten für Menschen in Not sammeln.

Auch mit lokalen Vereinen wie dem Frauentreff Freising und Tante Emma e. V. in Moosburg, der Menschen in schwierigen Verhältnissen ehrenamtlich berät, ist man im Austausch. In Aktion überzeugen Niedermeier und ihr Team. Richter sehen, wie sie sich um Betroffene kümmern, und lassen dem Verein einen Teil der Bußgeldeinnahmen zukommen, die sie an gemeinnützige Vereine verteilen dürfen.

Mit Tante Emma e. V. verbindet sie auch ein gemeinsamer Fall, seitdem spendet der Verein regelmäßig an den WEISSEN RING. Im ganzen Landkreis kennt und schätzt man ihre Arbeit. „Wenn die Polizei vor Ort Opfern empfiehlt, sich bei uns zu melden, wissen sie, dass das nicht untergeht“, sagt sie. „Dass wir uns wirklich kümmern.“ Die Polizei Moosburg veranstaltet jedes Jahr einen Weihnachtsbasar, die Hälfte der Einnahmen geht an den WEISSEN RING.

„Niemand ist gern Opfer und soll auch nicht ein Leben lang Opfer bleiben.“

Silvia Niedermeier

Corona erschwert die Arbeit

Spendengelder werden an Opfer als wirtschaftliche Hilfe ausbezahlt, für Familien mit Kindern auch als Ferienhilfe, außerdem für Anwälte, Verfahrenskosten und Therapien eingesetzt. Ein Büro hat die Außenstelle nicht. „Das Geld soll zu 100 Prozent den Opfern zugutekommen“, sagt Niedermeier. „Das ist auch der Grund, warum ich mich hier schon so lange engagiere.“ Die schönsten Momente sind für Silvia Niedermeier, wenn sie spürt, dass ein Opfer, oft nach der Gerichtsverhandlung, wieder Zuversicht gewinnt. „Wenn sie wieder ins Berufsleben einsteigen, nach vorne schauen, wieder Vertrauen in sich selbst fassen“, sagt sie. „Niemand ist gern Opfer und soll auch nicht ein Leben lang Opfer bleiben.“

Corona hat Silvia Niedermeiers Arbeit einmal mehr erschwert. Eine Weile lang konnte sie Opfer nur telefonisch betreuen, im Sommer, als die Kontaktbeschränkungen gelockert wurden, traf sie manche auf einen Spaziergang statt zu Hause. Pandemiebedingt sind auch die Spenden in diesem Jahr zurückgegangen. Veranstaltungen und Vorträge mussten abgesagt werden, gegen Jahresende bringen normalerweise die Weihnachtsmärkte in der Region Spenden ein. In welchem Rahmen sie dieses Jahr stattfinden können, ist ungewiss. Silvia Niedermeier hofft auf die Spendenaktionen von
Vereinen und in den Zeitungen in der Vorweihnachtszeit.

„Der Verein hat enorme Expertise erworben“

Erstellt am: Dienstag, 1. Dezember 2020 von Sabine

„Der Verein hat enorme Expertise erworben“

Der WEISSE RING hat 2015 eine eigene Akademie für Opferhilfe gegründet, die sich um die Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmert. Vier Fragen an Leiterin Birte Peter.

„Viel von dem, was wir vermitteln, hilft Menschen im Alltag“, so Birte Peter, Leitung Akademie.

Warum gibt es die Akademie, und wie kam es zu ihrer Gründung?

Die Aus- und Weiterbildung des WEISSEN RINGS wurde früher ausschließlich für die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemacht. Auch heute noch bilden wir alle ehrenamtlichen Kräfte für ihre Tätigkeiten im Verein und damit in der Opferhilfe aus. Wir haben eine ziemlich umfassende Grundausbildung, die sich aus vereinsspezifischen Kenntnissen und Fachwissen zusammensetzt, das für die Arbeit im Verein gebraucht wird. Da kommt einiges zusammen: rechtliche Fragen zum Opferentschädigungsgesetz, Opferrechte, pädagogisch-kommunikative Fragen wie zum Beispiel Grundlagen für das Erstgespräch oder Psychotraumatologie oder Psychohygiene. Die jeweilige Ausbildung dauert rund vier Monate.

Den WEISSEN RING gibt es seit über 40 Jahren, allein im Moment sind ja rund 2.900 Menschen ehrenamtlich für und mit uns tätig. Was ich damit sagen will: Über die Jahre hat der Verein in dieser Ausbildung eine enorme Expertise erworben. Diese auch externen Menschen entgeltlich zur Verfügung stellen zu können, war die Ursprungsidee, die zur Gründung der Akademie des WEISSEN RINGS führte. So begann die Geschichte der Akademie, die ja so alt noch nicht ist. Und es ist nicht ganz einfach, es handelt sich um einen langwierigen Prozess, die Konkurrenz ist groß, Aus- und Weiterbildungsangebote gibt es viele – auf diesem Markt müssen wir uns noch einen Namen verschaffen und bekannt werden.

Aktuell dürfte wie in ganz Deutschland die Digitalisierung ein großes Thema sein?

Ja, selbstverständlich. Wir haben im März in der ersten Corona-Phase begonnen, das Grundseminar zu digitalisieren. Das war unabdingbar, weil wir unsere Interessenten verlieren, wenn wir sie nicht zeitnah ausbilden können. Wir können aber nicht auf eine reine Digitalisierung und reines Selbststudium setzen. Eine Präsenz muss weiterhin in irgendeiner Form möglich sein, um zusammenkommen zu können und den Erfahrungsaustausch untereinander zu gewährleisten. Und wenn es, wie geschehen, Online-Seminare, sind.

In der Corona-Phase haben wir versucht, die fehlende Präsenzmöglichkeit über Online-Seminare zu kompensieren. Theoretische Inhalte wird es künftig in einigen Seminaren digital geben, geplant ist aber weiterhin auch eine ein- oder zweitägige Zusammenkunft, um sich kennenzulernen, Fragen zu klären oder in der Gruppe etwas zu erarbeiten. Der Praxisanteil in unseren Schulungen ist sehr hoch und soll es auch bleiben. Wir haben insgesamt rund 120 Dozenten. Da sind Ehrenamtler darunter, Menschen mit einer berufsspezifischen Qualifikation wie zum Beispiel Therapeuten oder Juristen.

Was haben Sie hier selber gelernt?

Sehr viel. Inhaltlich zum Beispiel: Was es für Menschen bedeutet, Opfer zu werden und zu sein. Man macht sich über so etwas in der Regel nur dann Gedanken, wenn man betroffen ist. Oder wenn man beruflich damit zu tun hat. Auch der Umgang mit den Ehrenamtlichen bringt mir viel. Das ist ein anderes Arbeiten, als ich es bei meinem früheren Arbeitgeber, einer Universität, gewohnt war. Herausragend sind auch die großen Veranstaltungen des WEISSEN RINGS, die Bundesvorstandssitzungen oder etwa die Bundesdelegiertenkonferenz.

Was wünschen Sie sich für die Akademie?

Dass es noch mehr gelingt, die Vermittlung der Seminarinhalte moderner zu gestalten. Dass das digitale Lernen ein wichtiges Element bleibt und noch mehr an Bedeutung und Akzeptanz gewinnt. Und natürlich, dass wir mit unseren externen Angeboten auf eine noch größere Resonanz stoßen. Denn sehr viel von dem, was wir hier vermitteln, hilft Menschen im Alltag.

Tu Gutes – und sprich darüber

Erstellt am: Montag, 1. Juni 2020 von Sabine

Tu Gutes – und sprich darüber

Damit der WEISSE RING Kriminalitätsopfern helfen kann, müssen möglichst viele Menschen wissen, dass es ihn gibt und was er macht. In Harburg (Kreis) in Niedersachsen kümmern sich Vera Theelen und Michael Kropp darum.

Sie halten den Kopf hin für den WEISSEN RING: Michael Kropp und Vera Thelen, Foto: Winsener Anzeiger

Sie hatten die Altenheime bereits ausgesucht: neun in Winsen/Luhe, sechs in Buchholz, fünf in Tostedt, ein paar auch noch in den umliegenden Dörfern. „Es gab da eine kleine Betrugsserie bei uns in der Gegend“, sagt Michael Kropp, „Einschleichdiebstähle, Enkeltrick, so etwas.“ „Deshalb wollten wir mal rein in die Heime“, sagt Vera Theelen, „warnen, aufklären, der WEISSE RING informiert.“

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Außenstelle stellten Teams für die Heimbesuche zusammen. Die Polizei wusste Bescheid und wollte mitmachen. Die lokale Presse würde ein Foto schießen. „Es konnte losgehen“, sagt Theelen.

Dann kam Corona. Die Altenheime machten dicht. Niemand kam mehr rein: die Angehörigen nicht, der WEISSE RING nicht, „zum Glück vorerst auch keine Einschleichdiebe“, sagt Kropp. Erst Corona konnte die beiden Öffentlichkeitsarbeiter stoppen. Vera Theelen, 65 Jahre alt, sitzt jetzt im Homeoffice: Holz an den Wänden, Bücher im Regal, „die Kaffeemaschine in Reichweite“, sagt sie und lacht. Ihr gegenüber sitzt Michael Kropp, 62 Jahre alt, nicht leibhaftig, sondern auf dem Computer-Bildschirm: Er ist in seinem Arbeitszimmer in Winsen geblieben, das Gespräch findet als Videokonferenz statt. „Unser Jahresplaner war proppenvoll“, sagt Theelen. „Jetzt müssen wir fast alles absagen“, sagt Kropp.

Ein eingespieltes Team

Vor zweieinhalb Jahren haben sie zeitgleich beim WEISSEN RING angefangen: Kropp, der frühere Polizist, und Theelen, die mit einem Polizisten zusammenlebte. Beide gingen in den Ruhestand, beide suchten eine sinnvolle und interessante Beschäftigung. „Da lag der WEISSE RING nahe“, sagt Kropp, „ich hatte ja schon von Berufs wegen damit zu tun.“ „Und ich habe mich mein ganzes Leben lang für Kriminalität und für Menschen interessiert“, sagt Theelen, „das passte.“

Nahe lag auch, dass die beiden für ihre Außenstelle die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen würden. Theelen hatte zuvor bereits zwölf Jahre lang in diesem Bereich für eine Suchtklinik gearbeitet. „Ich habe keine Scheu, auf Leute zuzugehen“, sagt sie. Kropp fotografiert und schreibt gern, „ich fülle die Homepage.“ Eine junge Mitarbeiterin stößt zum Team? Kropp denkt sich ein paar kluge Fragen aus, er macht ein Foto, schon geht unter „Neuigkeiten“ ein Interview online: „Lisa – ein neues Gesicht in unserer Außenstelle“. „Wir beiden sind schon ein eingespieltes Team“, sagt Theelen. „Bei uns läuft das so: Ich rufe Michael Kropp an und sage: Du, bei der Volkshochschule gibt es ein Seminar über Öffentlichkeitsarbeit. Ich habe uns da mal angemeldet.“ Kropp lacht und nickt.

Linker Bildschirm: „Laut einer Umfrage kennen 40 Prozent der Menschen den WEISSEN RING“, sagt Vera Theelen. Rechter Bildschirm: „Wir müssen es schaffen, dass das 60 Prozent werden. Oder noch besser: 80 Prozent!“, sagt Michael Kropp. Jetzt lacht Theelen. „Ich glaube schon, dass der WEISSE RING als Name bekannt ist“, sagt Kropp. „Aber wer ihn aus dem Fernsehen kennt, von ,Aktenzeichen XY … ungelöst‘, denkt oft, es geht bei uns nur um Kapitalverbrechen“, sagt Theelen. „Dabei helfen wir auch bei anderen Delikten“, sagt Kropp. „Wenn der Rentnerin auf dem Wochenmarkt das Portemonnaie mit dem Rest ihrer Rente geklaut wurde, und wir haben erst den 10. des Monats – dann muss sie doch wissen, dass wir ihr helfen können! Dass wir mit ihr zur Polizei gehen! Dass wir ihr materiell helfen! Und dass sie sich nicht schämen muss, unsere Hilfe anzunehmen!“, sagt Theelen. „Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit so wichtig.“

Sie halten den Kopf hin

Öffentlichkeitsarbeit, das geht bei Theelen und Kropp zum Beispiel so: Auf dem Weihnachtsmarkt verteilt der WEISSE RING Postkarten. Genauer: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stecken die Karten heimlich in Handtaschen. Anschließend sprechen sie die Menschen darauf an: Na, nichts gemerkt? Und wenn wir jetzt Taschendiebe wären?

„Prävention ist ein großes Thema bei uns“, sagt Vera Theelen, „unser Außenstellenleiter Karl-Heinz Langner ist ja im Landesverband der Präventionsbeauftragte.“ Öffentlichkeitsarbeit bedeutet aber auch, Multiplikatoren zu schaffen: Die Polizei lief mit über den Weihnachtsmarkt, die örtliche Presse schoss ein Foto und berichtete.

„Als wir anfingen, haben wir uns zuerst in den Redaktionen vorgestellt“, sagt Kropp. Die Folge war ein großer Artikel im „Winsener Anzeiger“, mit Foto von Theelen und Kropp. Öffentlichkeitsarbeit bedeutet, dass man manchmal buchstäblich den Kopf hinhalten muss für den WEISSEN RING. „Aber das ist ja nicht schlimm“, sagt Vera Theelen, „im Gegenteil: Ich habe so viele nette Rückmeldungen bekommen nach dem Artikel.“

Noch etwas bewirkte der Zeitungstext: Theelen und Kropp erhielten Einladungen zu Vorträgen, sie sollten doch bitte einmal die Arbeit des WEISSEN RINGS vorstellen. Auf Öffentlichkeitsarbeit folgt häufig noch mehr Öffentlichkeitsarbeit. Bei der WEISSER RING Akademie haben Theelen und Kropp das Seminar zu Presse- und Öffentlichkeitsarbeit absolviert. „Ich habe dem Seminarleiter gesagt: Ich habe Pressemitteilungen geschrieben, und die wurden dann nicht gedruckt. Was mache ich falsch?“, sagt Kropp. Der Seminarleiter antwortete: „Gar nichts, das passiert mir genauso.“

Journalisten übernehmen Pressemitteilungen normalerweise nicht einfach, sie recherchieren und schreiben selbst. So wie ja auch Außenstellen mitunter die Pressemitteilungen aus der Bundesgeschäftsstelle für ihre örtlichen Zwecke umschreiben. Eine Pressemitteilung soll der Presse etwas mitteilen.

Kriminalität geht jeden an

„Wir haben uns bei der ,Plattenkiste‘ beworben“, sagt Vera Theelen. Die „Plattenkiste“: Das ist eine Radiosendung auf NDR 1 Niedersachsen. Arbeitskollegen, Vereine, Gruppen stellen dort ihre Lieblingsmusik vor und erzählen von sich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des WEISSEN RINGS wollen vom WEISSEN RING erzählen. „Die Musik haben wir aber noch nicht ausgesucht“, sagt Michael Kropp. „Wir müssen ja mit unseren Ressourcen haushalten“, sagt Vera Theelen. Beide lachen. NDR 1 Niedersachsen ist ein Sender, den eher reifere Menschen hören. „Wir sind halt etwas ältere Semester“, sagt Kropp.

Wer junge Menschen ansprechen will, braucht dafür junge Menschen, finden die beiden. „Wir müssen in die Schulen rein, in die Unis, in Diskotheken“, sagt Theelen, „dafür ist es wichtig, die Sprache zu sprechen, die dort gesprochen wird.“ Das können junge Menschen wie Lisa, das neue Gesicht in der Außenstelle; sie steht kurz vor dem Abitur. Theelen und Kropp sprechen eben nicht nur in Altenheimen, sie gehen gezielt auf junge Leute zu.

Kriminalität geht jeden an. Jetzt zum Beispiel, in der Corona-Krise, mehren sich die Fälle von häuslicher Gewalt. „Mich fasst das immer wieder sehr an“, sagt Theelen: „Dieses Ausgeliefertsein, diese Machtlosigkeit, dieses Erstarren vor der Gewalt. Das macht mich sprachlos.“ Kurz schweigt sie vor ihrem Bildschirm im Homeoffice.

Zum Glück nur vorübergehend. Theelen und Kropp sprudeln über vor Ideen, „wir sehen uns als Impulsgeber“, sagt Kropp. Im Moment der Corona-Krise landen die meisten Ideen zunächst in der Schublade. Aber wenn alles wieder öffnet nach dem Lockdown, dann können sie sofort losgehen und mit den Menschen sprechen. Zum Beispiel über Einschleichdiebstahl, Trickbetrug, so etwas. Die Altenheime haben sie ja längst ausgesucht. Sie halten den Kopf hin für den WEISSEN RING: Michael Kropp und Vera Theelen.