Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Erstellt am: Montag, 23. Dezember 2024 von Sabine

Magdeburg trauert: Ein Meer aus Blumen und Kerzen erinnert an die Opfer der Amokfahrt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Datum: 23.12.2024

Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Nach der schrecklichen Gewalttat auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg am Freitagabend hilft der WEISSE RING allen Betroffenen und hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Magdeburg/Mainz – Der WEISSE RING bietet nach den furchtbaren Ereignissen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Menschen sind schwer verletzt worden, Menschen haben Angehörige verloren, Menschen haben Schreckliches gesehen – so etwas sollte niemand mit sich allein ausmachen müssen“, sagt Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Sachsen-Anhalt. Sie sei fassungslos, bestürzt und vor allem auch wütend über die Tat, so Godenrath. „Aber jetzt ist es Zeit, an die Opfer zu denken.“

Hilfesuchende können den WEISSEN RING bundesweit täglich von 7-22 Uhr unter der Rufnummer 116 006 erreichen.

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden.“ Foto: Moritz Bott

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden. Wir sind für die Opfer da und können versuchen, gemeinsam die Probleme und Herausforderungen zu lösen, vor denen jetzt sicherlich viele Betroffene stehen“, sagt Kerstin Godenrath. Das Angebot richte sich an Verletzte ebenso wie an Angehörige, Augenzeuginnen und -zeugen oder Ersthelferinnen und -helfer.

„Unsere professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für alle Betroffenen da“, so Godenrath. „Sie begleiten sie, lotsen sie durch das Hilfesystem und versuchen, ihnen Halt zu geben.“ Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Der WEISSE RING hat unter dem Stichwort „Opferhilfe Magdeburg“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00) eingerichtet.

Mindestens fünf Tote und 200 Verletzte

Am Freitagabend ist um kurz nach 19 Uhr ein 50-jähriger Mann aus Saudi-Arabien mit einem Geländewagen über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Mindestens fünf Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt, Dutzende davon schwer. Medienberichten zufolge soll der Mann fast 400 Meter weit mit hoher Geschwindigkeit durch den gut besuchten Markt gefahren sein.

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Schnelle Hilfe für Opfer nach Gewalttat in Essen

Erstellt am: Montag, 30. September 2024 von Sabine

Foto: Thomas Banneyer/dpa

Datum: 30.09.2024

Schnelle Hilfe für Opfer nach Gewalttat in Essen

Nach der schrecklichen Gewalttat in Essen mit mehreren Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen.

Essen/Mainz – Nach der schrecklichen Gewalttat in Essen mit mehreren Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen. „Die Ereignisse am Samstagabend in Essen haben mich erschüttert. Wir erleben es immer wieder, dass Männer mit einer Gewalteskalation auf Trennungen reagieren. Aber dieses Ausmaß an Gewalt hat selbst mich überrascht und tief getroffen“, sagt Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS Nordrhein-Westfalen/Rheinland. Nach Bekanntwerden der Brandstiftungen in Nordrhein-Westfalen hat Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer umgehend alle notwendigen Schritte eingeleitet, um Betroffenen schnell und unbürokratisch Hilfe anbieten zu können.

Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS in NRW/Rheinland
(Foto: Recknagel)

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden. Wir sind für die Opfer da und können versuchen, gemeinsam die Probleme und Herausforderungen zu lösen, vor denen jetzt sicherlich viele Betroffene stehen“, so Bernd König. „Unser Angebot gilt auch Angehörigen, Zeuginnen und Zeugen, Helferinnen und Helfern sowie Einsatzkräften vor Ort. Menschen sind in ihrem Zuhause von einem Brand überrascht und dadurch verletzt worden, Kinder schweben in Lebensgefahr. Das sind Ausnahmesituationen, die jede und jeden schwer belasten können. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen und über das Erlebte zu sprechen.“

Rufnummer für Betroffene / Spendenkonto eingerichtet

Der WEISSE RING ist über die Außenstelle Essen unter der Rufnummer 0151/55164689 zu erreichen. Ansprechpartnerin ist Alice Scaglione.

Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Der Verein hat zudem unter dem Stichwort „Opferhilfe für Essen“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank eingerichtet (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00).

Mehrere Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt

Am Samstag, 28. September, kam es in Essen-Altenessen zu Bränden in zwei Mehrfamilienhäusern. Außerdem fuhr in Essen-Katernberg ein Lieferwagen in zwei Geschäfte. Die Polizei nahm einen Verdächtigen in Tatortnähe fest. Es wurden zahlreiche Personen verletzt, darunter auch Kinder. Ersten Ermittlungen zufolge soll der mutmaßliche Täter mit Gewalt auf die Trennung von seiner Ehefrau reagiert haben. Für die Taten hatte er sich demnach mit Brandbeschleuniger sowie Stichwaffen bewaffnet und fuhr gezielt zu Wohnungen und Ladenlokalen in Essen, in denen Personen wohnten, die seine Ehefrau unterstützten. Laut Polizei drang er gewaltsam in die Mehrfamilienhäuser und Geschäfte ein und legte mittels Brandbeschleuniger vorsätzlich Feuer, um die Bewohner zu töten und die Häuser zu zerstören.

WEISSER RING steht an der Seite der Opfer

Erstellt am: Montag, 26. August 2024 von Sabine

Foto: Gianni Gattus/dpa

Datum: 26.08.2024

WEISSER RING steht an der Seite der Opfer

Der WEISSE RING steht nach dem Terroranschlag in Solingen an der Seite der Opfer und hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Solingen/Mainz – Nach dem furchtbaren Anschlag in Solingen mit mehreren Toten und Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen. „Wir sind zutiefst bestürzt über diese Tat. Hier wurden Menschen hinterhältig in einem Moment der Fröhlichkeit angegriffen, verletzt, getötet. Das ist ein entsetzliches Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung geben kann“, sagt Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS Nordrhein-Westfalen/Rheinland. „Bei all den berechtigten Diskussionen um den mutmaßlichen Täter und mögliche Motive müssen wir jetzt zuerst an die Opfer denken und für sie da sein.“

Nach Bekanntwerden des Anschlags hat Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer umgehend alle notwendigen Schritte eingeleitet, um Betroffenen schnell und unbürokratisch Hilfe anbieten zu können.

Unterstützung für Betroffene

Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS in NRW/Rheinland
(Foto: Recknagel)

„Der WEISSE RING ist für alle Menschen da, die jetzt Unterstützung brauchen. Unser Angebot gilt für Verletzte, Angehörige, Zeuginnen und Zeugen, Helferinnen und Helfern sowie für die Einsatzkräfte vor Ort“, sagt König. „Wir möchten Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Mit solch einem zufälligen, grausamen Ereignis wird man alleine nur schwer fertig.“

Der WEISSE RING ist über das Landesbüro unter der Rufnummer 02421/16622 zu erreichen oder per E-Mail an NRW-Rheinland@weisser-ring.de. Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Spendenkonto eingerichtet

Der Verein hat zudem unter dem Stichwort „Opferhilfe Solingen“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00) eingerichtet.

Am Freitagabend hat ein Mann auf dem Solinger Stadtfest mehrere Menschen mit einem Messer attackiert. Drei Menschen starben, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Nach Angaben der Klinik befindet sich inzwischen keiner der Verletzten mehr in Lebensgefahr. Die Tat wird von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ für sich reklamiert. Die Bundesanwaltschaft hat am 25. August 2024 beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Täter erwirkt.

Hass von allen Seiten

Erstellt am: Dienstag, 7. November 2023 von Torben

Hass von allen Seiten

Offener Judenhass gilt in Deutschland seit dem Ende der NS-Terrorherrschaft eigentlich als geächtet. Trotzdem ist Antisemitismus alltäglich. Seit der Nahostkonflikt infolge des Terrorangriffs auf Israel eskaliert, wird jüdisches Leben so bedroht wie lange nicht. Ein Antisemitismus-Report von Michael Kraske.

Dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel mit unvorstellbaren Gräueltaten und Massakern folgten tödliche militärische Gegenschläge Israels auf Gaza sowie weitere Raketenangriffe auf israelische Städte. Weltweit wächst seither die Furcht vor einem großen Krieg im Nahen Osten und einer humanitären Dauerkatastrophe im Gazastreifen. In Deutschland folgte auf den Terror gegen Israel eine antisemitische Hasswelle. Der 7. Oktober wird Israel als Tag des Grauens und der Erschütterung in kollektiver Erinnerung bleiben – so wie der 11. September den USA.

Rund 1.400 Menschen, darunter Kinder, Familien und Alte, waren von den aus Gaza eingedrungenen Terroristen ermordet worden. Die Terroristen vergewaltigten Frauen, schändeten und verstümmelten Leichen und stellten ihre Opfer öffentlich zur Schau. Mehr als 200 Personen wurden bei dem Angriff verschleppt und fortan als Geiseln gehalten. Zwar gab es daraufhin auch in deutschen Städten Solidaritätskundgebungen für Israel. Aber wie so oft, wenn der Nahost-Konflikt eskaliert, brach sich hierzulande rund um pro-palästinensische, israelfeindliche Demonstrationen und Krawalle offener Antisemitismus Bahn.

1) Mitten unter uns

In Hamburg wurden zwei Frauen mit einer Israel-Flagge nach einer Demo von zwei jungen Männern angegriffen und an Schulter, Arm und Kopf verletzt. In mehreren deutschen Städten wurden Israel-Fahnen angezündet. In den Münchner Stachus-Passagen nahm die Polizei einen Mann fest, der zuvor antisemitische Beleidigungen gebrüllt hatte. In Dortmund und Berlin schmierten Unbekannte Davidsterne auf Wohnhäuser, um Bewohnerinnen und Bewohner zu markieren und an den Pranger zu stellen. Aus der jüdischen Community wird über antisemitische Anfeindungen durch nichtjüdische Nachbarn berichtet. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte informierte über einen versuchten Brandanschlag mit Molotowcocktails.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte unterdessen antisemitische Ausschreitungen und Anschläge gegen jüdische Einrichtungen. In Israel werden Jüdinnen und Juden abgeschlachtet – und in Deutschland, dem Land der Shoah, explodiert der Hass. Max Privorozki, der als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale vor vier Jahren den rechtsextremen Terroranschlag auf die dortige Synagoge überlebt hat, sieht jüdisches Leben seither so in Gefahr, wie er es sich nicht hätte vorstellen können.

Ein Mann betritt hinter Polizeiabsperrband die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte. Auf das Haus in Berlin wurde Mitte Oktober 2023 ein Brandanschlag verübt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) registrierten binnen einer einzigen Woche nach dem Terror-Angriff 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland, ein Anstieg um fast 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die auf Antisemitismus spezialisierte Opferberatung OFEK (hebräisch für neue Horizonte) in Berlin musste aufgrund des großen Bedarfs kurzfristig ihr Angebot für Betroffene erweitern. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählte infolge des Hamas-Terrors binnen weniger Wochen über 2.000 Straftaten, darunter Körperverletzungen, Volksverhetzung, Landfriedensbruch sowie Widerstand gegen die Polizei bei pro-palästinensischen Demos in Berlin.

Grünen-Politikerin Lamya Kaddor warnte vor islamistischen Gewalt-Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren: „Diese schrecklichen Gewaltdarstellungen von Folter und Mord werden ungefiltert und unkommentiert auf Schulhöfen geteilt.“ Es ist kein Zufall, dass sich der Hass auf Juden einmal mehr an einer Eskalation in Israel entzündet. Während der sogenannte klassische Antisemitismus hierzulande nach den NS-Menschheitsverbrechen weitgehend tabuisiert ist, wird israelbezogene Judenfeindschaft nicht nur von pro-palästinensischer Seite, Islamisten und in islamischen Milieus mit judenfeindlicher Sozialisation geteilt, sondern auch politisch von links bis rechts sowie in der bürgerlichen Mitte. Der Hass schlägt Jüdinnen und Juden derzeit bedrohlich von allen Seiten entgegen.

In der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ haben Jüdinnen und Juden beschrieben, wie es ihnen in Deutschland seit dem 7. Oktober ergangen ist: Die 25-jährige Deborah Feinstein erzählt dort etwa, wie ihr eine auf Hebräisch gesprühte Hassparole auf der Straße solche Angst eingejagt habe, dass sie fortan öfter zu Hause blieb. Eskaliere der Nahost-Konflikt, dann sei das in Berlin immer spürbar, aber noch nie so heftig wie jetzt. Michael Movchin (26) aus München berichtet, dass ihn derzeit sehr viele Hasskommentare auf Social Media erreichen. Neu sei, dass im Internet vor gefährlichen Orten gewarnt werde. Der junge Mann gibt an, seither vorsichtiger zu sein und nicht mehr in der Öffentlichkeit zu telefonieren.

Rabbinerin Yael Deusel (63) informiert darüber, dass jemand ein Hakenkreuz in ihr Arztpraxisschild in Bamberg gekratzt habe. Sie sorgt sich vor allem um die Sicherheit ihrer Patienten, Mitarbeiter und Gemeindemitglieder. Max Breslauer (38) schreckt in Süddeutschland jedes Mal hoch, wenn es an der Tür klingelt. Einige Nachbarn haben aufgehört, ihn zu grüßen. Das Stimmungsbild, das die Zeitung in der jüdischen Gemeinschaft eingeholt hat, ist alarmierend. Zwar äußern viele, sich nicht einschüchtern zu lassen. Doch die Angst ist allgegenwärtig.

2) Die Ächtung des Antisemitismus bröckelt

Die neuerliche Hochkonjunktur der Judenfeindschaft hat einen wenig beachteten Vorlauf. Diese Gewöhnungseffekte verschärfen die Lage zusätzlich. Es ist noch nicht lange her, dass bei Corona-Protesten mit sogenannten „Judensternen“ und der Aufschrift „Ungeimpft“ der Holocaust relativiert wurde, indem sich Demonstrierende mit NS-Opfern auf eine Stufe stellten. Seither kursieren auch wieder verstärkt antisemitische Verschwörungserzählungen über eine angeblich strippenziehende Elite. Wie so oft in Krisenzeiten werden Jüdinnen und Juden wieder zu Sündenböcken gemacht. Dieser Hass mündet immer häufiger in Taten. So erreichten antisemitische Delikte vor zwei Jahren laut der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes mit über 3000 Fällen ein Rekordniveau. Obwohl es seither vorübergehend weniger Demos und damit auch seltener Anlässe für Täter gab, gingen die Fallzahlen nur leicht zurück.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, stellt klar, „dass der Antisemitismus aus Deutschland nie weg war“. Doch während dieser phasenweise eher im Verborgenen geäußert worden sei, trete er nunmehr wieder zunehmend unverhohlen zutage: „Verschwörungserzählungen, Verharmlosung der Shoah und als Kritik an Israel getarnter Antisemitismus verbreiten sich längst nicht mehr nur am politischen Rand, sondern reichen in die Mitte der Gesellschaft hinein und sind auch in intellektuellen, akademischen Milieus zu finden.“

Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Foto: Bernd von Jutrczenka

Die Forschung unterscheidet einerseits zwischen einem klassischen Antisemitismus uralter Stereotype und Weltbilder über vermeintlich verschlagene Juden und ihren angeblich übergroßen und schädlichen Einfluss sowie modernen Ausdrucksformen andererseits: Beim Sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus wird der Holocaust entweder geleugnet oder relativiert. Neuerdings eben auch dadurch, dass man auf Demos behauptet, aktuell einer Verfolgung wie seinerzeit die NS-Opfer ausgesetzt zu sein. Der Begriff Schuldabwehr beschreibt, dass diese Relativierungen dazu dienen, die deutsche Schuld am Holocaust herunterzuspielen. Nicht selten kommt es dabei zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Der israelbezogene Antisemitismus benutzt den Staat Israel als Projektionsfläche und Aufhänger für Judenfeindschaft.

Die Forschung registriert seit einigen Jahren, dass in Deutschland die eindeutige Ächtung des Antisemitismus bröckelt. Vor drei Jahren stimmten laut Leipziger Autoritarismus-Studie (LAS) 41,1 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Reparationsforderungen nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten.“ Ein weiteres Drittel stimmte dieser zynischen Unterstellung, wonach Reparationszahlungen dem Profit dienen, immerhin teilweise zu. Der beunruhigende Befund lautet: Wenn Antisemitismus nicht offen, sondern über einen Umweg wie etwa die unterstellte Instrumentalisierung der Shoah durch vermeintlich geldgierige Profiteure geäußert wird, ist er in großen Teilen der deutschen Gesellschaft anschlussfähig.

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Wenn der Staat Israel dämonisiert wird

Häufig tritt diese Form der Judenfeindschaft zusammen mit israelbezogenem Antisemitismus auf. In der besagten Studie der Uni Leipzig befürworteten 30,3 Prozent der Befragten: „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg.“ Hier wird die kritikwürdige israelische Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten mit der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden durch das NS-Terrorregime gleichgesetzt. Der Staat Israel wird damit dämonisiert. Das ist übrigens ein Kriterium zur Unterscheidung. Denn natürlich ist auch harte Kritik an israelischer Politik legitim. Die Grenze zum Antisemitismus gilt etwa da als überschritten, wo der Staat Israel dämonisiert oder ihm das Existenzrecht abgesprochen wird und wenn Juden per se für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden.

Traditionell gehört Judenfeindschaft zum festen Repertoire der radikalen Rechten. Seit Jahren werden die meisten antisemitischen Straftaten laut der Polizeilichen Kriminalstatistik von rechten Tätern verübt. Linker Antisemitismus gegen das vermeintlich imperiale und postkolonialistische Israel ist hingegen weniger bekannt. Sogar im Angesicht des barbarischen Terrors der Hamas wurde der Massenmord auch von Teilen der radikalen Linken relativiert oder gar als palästinensischer Freiheitskampf glorifiziert. Bei einer Demo vor dem Auswärtigen Amt in Berlin skandierten Teilnehmende: „Free Palestine from german guilt“, befreit Palästina von deutscher Schuld. Die deutsche Verpflichtung, für Israel einzustehen, die sich aus der Verantwortung für den Holocaust ergibt, soll demnach beseitigt werden.

3) Antisemitischer Alltag vor dem 7. Oktober

In Berlin hat Maria Kireenko schon lange vor dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel immer wieder Antisemitismus zu spüren bekommen. Kireenko hat in Göttingen Geschichte und Soziologie studiert und macht derzeit ihren Master-Abschluss in Osteuropastudien in Berlin. Neben ihrem Studium engagiert sie sich im Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und organisiert politische Bildungsangebote. Vor zwei Jahren, als es nach einer Eskalation im Nahen Osten ähnlich wie in diesem Herbst zahlreiche pro-palästinensische und israelfeindliche Demos gab, hat sie öffentlich gemacht, wie zwei ihrer Freundinnen in Berlin von mutmaßlich muslimischen Tätern auf der Straße angegriffen wurden, weil sie Halsketten mit einem Davidstern trugen. Andere Freunde seien mitten in Berlin beleidigt, bespuckt und bedroht worden, weil einer von ihnen ein Israel-Fähnchen bei sich trug.

Die Studentin bekannte damals, dass sie zuweilen Angst habe, die sozialen Medien im Internet zu nutzen, weil sie etwa beim Messenger-Dienst Telegram regelmäßig auf „antisemitischen Müll“ und „üble Relativierungen des islamistischen Terrors“ treffe. Diese stillen Rückzüge aus den digitalen Diskursräumen bleiben zumeist unbemerkt, tragen aber zur politischen Klimaverschärfung bei, weil nach und nach leise, besonnene Stimmen verstummen.

Maria Kireenko hängt bei einer Plakataktion des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Plakate zu den Ermordeten und Geiseln der Hamas in Berlin-Friedrichshain auf. Foto: Christoph Soeder/dpa

Maria Kireenko leistet freiberuflich politische Bildungsarbeit in Berlin-Neukölln, wo auch viele Muslime wohnen. Neulich, noch vor dem 7. Oktober, hatte sie eine Informationsveranstaltung über die Gründung des israelischen Staates mitorganisiert. „Schon im Vorfeld gab es viele Anfeindungen“, berichtet sie. „Wir mussten eine jüdische Sicherheitsfirma engagieren.“ Bei der Podiumsdiskussion habe es dann organisierte Störungen aus dem Umfeld der BDS-Bewegung gegeben, die sich als Sprachrohr der palästinensischen Zivilgesellschaft versteht und weltweit zum Boykott Israels und aller Personen aufruft, die mit dem israelischen Staat zusammenarbeiten; darunter Künstlerinnen, Sportler und Wissenschaftlerinnen. Die Störer traten Kireenko zufolge bei der Veranstaltung in Neukölln überaus aggressiv auf: „Zwei Personen sind richtig ausgeflippt.“ Immer wieder bekomme sie bei solchen Gelegenheiten zu hören, man dürfe Israel ja nicht kritisieren – von Personen, die das dann umso lauter und aggressiver täten.

„Juden werden für Israel verantwortlich gemacht“, beklagt Kireenko. Der Hass sei für sie nur schwer auszuhalten. Sie versuche mittlerweile, auf eigene Belastungsgrenzen zu achten. „Ich habe mich zu schützen gelernt“, sagt die Studentin. „Man entscheidet sich bewusst, wo man sich als jüdisch zu erkennen gibt.“ Dazu gehört auch, sichtbare Symbole wie den Davidstern bisweilen zu verbergen. „Verwalten von Sichtbarkeit“ nennt sie das: „In manchen Situationen entscheide ich mich dafür, ihn wegzustecken.“ Sie habe auch schon zu hören bekommen, in Neukölln offen jüdisch aufzutreten sei „eine Provokation“. Die engagierte Studentin formuliert eine Einschätzung, die aufhorchen lässt: „In Deutschland verändert sich etwas.“ Dieses Gefühl wachsender Bedrohung unter Jüdinnen und Juden deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Strafverfolgung und von Sozialforschenden. Antisemitismus wird im Land der Shoah wieder lauter, aggressiver und gefährlich normal – nicht erst seit dem Terror der Hamas.

Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen.

Die Erfahrungen der Berliner Studentin sind weder Einzelfall noch Ausnahme. Antisemitismus prägt den Alltag vieler Jüdinnen und Juden, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft davon kaum Notiz nimmt. Der rechtsextremistische Terroranschlag im Herbst 2019 mit zwei Mordopfern, als ein hasserfüllter Attentäter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte, ein Massaker an betenden Jüdinnen und Juden in der Synagoge in Halle/Saale zu verüben, hat daran nichts geändert. Die Sicherheitsvorkehrungen in jüdischen Einrichtungen wie Gemeindezentren und Kindergärten wurden danach nicht nur in Halle, sondern bundesweit verstärkt, beispielsweise auch an der Synagoge in Dresden.

Betroffene müssen sich seither noch stärker zwischen der Sichtbarkeit ihrer jüdischen Identität und der eigenen Sicherheit entscheiden. Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen. Allen jüdischen Kulturwochen und Gedenktagen zum Trotz ist Antisemitismus in der gesellschaftlichen Praxis nicht nur alltäglich, sondern auch so schmerzhaft spürbar, dass Betroffene gezwungen sind, sich in ihrer Lebensführung massiv einzuschränken.

4) „Eigentlich gehört ihr nicht hierher“

Nora Goldenbogen hat der Antisemitismus ein Leben lang beschäftigt. Wie sehr, das habe sie sich seinerzeit als junge Frau gar nicht vorstellen können, sagt sie. Goldenbogen ist Lehrerin, Historikerin und Autorin. Viele Jahre hat sie die Jüdische Gemeinde in Dresden geleitet. Mittlerweile ist sie im Landesverband für die drei sächsischen Gemeinden in Dresden, Leipzig und Chemnitz zuständig. Mit dem Verein Hatikva hat sie sich für politische Bildung und Aufklärung engagiert. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Synagoge in Dresden zu einem Ort der Begegnung zu machen, mit Podiumsdiskussionen und einer offenen Gesprächskultur. Kürzlich hat Nora Goldenbogen ein berührendes Buch über die Geschichte ihrer Eltern veröffentlicht, in dem sie von der jüdischen Mutter und dem kommunistischen Vater und Widerstandskämpfer erzählt, die nur knapp der nationalsozialistischen Vernichtung entkamen und nach dem Ende des NS-Terrors nach Dresden zurückkehrten, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Für ihr kritisches Engagement wurde die Autorin mit der Ehrenmedaille der Stadt Dresden ausgezeichnet.

Antisemitismus begegnet Nora Goldenbogen immer wieder, in ganz unterschiedlichen Formen. „Bis heute werde ich für die Politik von Israel verantwortlich gemacht, auch wenn ich in Dresden geboren bin“, erzählt sie. Als deutsche Jüdin bekommt sie des Öfteren zu hören: „Was macht denn Ihre Regierung da?“ Gemeint ist dann wohlgemerkt nicht die deutsche, sondern die israelische Regierung. Eine gängige Zuschreibung sei, ihr aufgrund ihrer jüdischen Identität die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft abzusprechen, nach dem Motto: „Eigentlich gehört ihr nicht hierher.“ Nicht selten würden auch Relativierungen des Nationalsozialismus wie diese geäußert: „Die (Anm. der Redaktion: Israel) sind ja auch nicht besser als die Nazis.“ In der Öffentlichkeit entstand zuletzt wieder der Eindruck, dass Antisemitismus vor allem ein Problem zugewanderter Muslime sei, eine Art Import also.

„Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren.“

Nora Goldenbogen

Nora Goldenbogen erlebt das in Dresden und Sachsen ganz anders: Wenn etwa deutsche Besucher in die Synagoge kommen und fragen, ob es denn für den Bau der Synagoge nicht genug jüdisches Geld gegeben habe. Juden und Geld. Juden als Strippenzieher. Solche Stereotype verfolgen sie seit Jahrzehnten. In den vergangenen Jahren ist es nach ihrer Überzeugung schlimmer geworden.

„Antisemitische Klischees gab es damals auch in den Köpfen der DDR-Bürger“, erinnert sie sich. Diese Klischees würden in den Familien weitergegeben. Im Osten ebenso wie im Westen. Sie hat gelernt, damit zu leben. Dennoch beunruhigt es sie, wie viele in der Pandemie bereit waren, sich mit einem gelben Ungeimpft-Stern mit NS-Opfern gleichzusetzen: „Das ist erschreckend.“ Krisen seien immer mit starker Verunsicherung verbunden. „Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren“, sagt Goldenbogen. Und die Krisen nehmen anscheinend kein Ende: Corona, Klima, Krieg.

„Du Jude“ als Schimpfwort

Aus vielen Gesprächen in den sächsischen Gemeinden weiß sie, dass Judenfeindschaft längst nicht nur ein Problem von Ewiggestrigen aus der älteren Generation ist. „Wir haben in den vergangenen Jahren sehr oft darüber gesprochen, dass Antisemitismus in den Schulen normal geworden ist“, berichtet Goldenbogen. Auf Schulhöfen ist die Phrase „Du Jude“ vielerorts eine gängige Schmähung geworden. Viele Lehrer seien nicht in der Lage, mit ihren Schülern darüber zu reden, geschweige denn das Klima in Klassen und Schulen zu verändern, kritisiert Goldenbogen. Seit Langem gibt es Pläne der Kultusministerkonferenz, Antisemitismus stärker als bisher in den Lehrplänen zu verankern. Doch umgesetzt wurden diese bislang nicht.

Vorurteile und Anfeindungen im Alltag kennen auch ihre sächsischen Gemeindemitglieder, berichtet Nora Goldenbogen: „Ein großer Teil lebt sein Judentum ziemlich zurückgezogen.“ Sie weiß aus Gesprächen, dass private Konflikte zwischen Nachbarn mitunter eskalieren, wenn jemand plötzlich äußert: typisch Jude. Dann werden in einem bis dahin alltäglichen Streit um Banalitäten auf einmal antisemitische Klischees verwendet. „Das ist ziemlich schwer auszuhalten“, sagt sie.

5) Spucken, drohen, schlagen

Bianca Loy arbeitet als Referentin für die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Berlin, die mit ihrem Monitoring maßgeblich dazu beitragen, ein genaues Bild vom Ausmaß antisemitischer Anfeindungen und Übergriffe zu gewinnen. Sie weist darauf hin, dass es im vergangenen Jahr durchschnittlich fast sieben antisemitische Vorfälle pro Tag gab. Darunter auch mit neun Fällen einen neuen Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt: „Das ist eine neue qualitative Dimension antisemitischer Vorfälle.“ Wobei von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, weil viele Betroffene antisemitische Erlebnisse erfahrungsgemäß selten melden oder gar anzeigen. Loy betont den alltagsprägenden Charakter der Übergriffe. Sie ereigneten sich „beim Einkaufen oder im eigenen Wohnumfeld“. Das macht es für Betroffene so gefährlich und traumatisierend. Denn man kann Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt nicht aus dem Weg gehen, wenn sie sich in der Nachbarschaft, der Schule oder im Supermarkt um die Ecke ereignen.

Neuer Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt

Loy berichtet von einem jüdischen Mann, der mit einem Freund ein Café in Hamburg besucht hat und eine Kippa trug, woraufhin er von der Bedienung zu hören bekam: „Ja, dass er Geld hat, sieht man schon an der Mütze. Die haben immer genug Geld.“ In einem anderen Fall wurde ein erkennbar jüdisches Paar im Auto bis auf einen Parkplatz verfolgt und von einem anderen Fahrzeug ausgebremst. Dort schlugen dann drei Männer gegen das Auto, bespuckten die Fenster, beleidigten ihre Opfer antisemitisch und drohten ihnen Gewalt an. Das Spektrum von alltäglichem Antisemitismus reicht von Vorurteilen über das Absprechen der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft (sog. „Othering“) und Drohungen bis zu offener Gewalt.

Nach den Angriffen der Hamas auf Israel haben in Deutschland deutlich mehr Betroffene Unterstützung bei OFEK gesucht. (Spiegel, Artikel vom 7. November 2023)

Immer wieder beklagen Betroffene, von den Sicherheitsbehörden nicht ernstgenommen zu werden. Insbesondere wird Antisemitismus im Rahmen einer Strafverfolgung nicht immer als Tatmotiv anerkannt. Bianca Loy bemerkt zwar durchaus Fortschritte. So sei es ein erster wichtiger Schritt, dass einzelne Beamtinnen und Beamte in den zuständigen Staatsschutzabteilungen der Polizei inzwischen im Umgang mit Antisemitismus geschult seien. Darüber hinaus brauche es aber „eine Sensibilisierung in der Breite der Polizeibehörden“. RIAS sehe weiterhin großen Bedarf, „die Betroffenenperspektive ernstzunehmen und einzubeziehen; das gilt im Besonderen für die Strafverfolgungsbehörden.

Dafür ist zentral, dass ein Verständnis für Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen vorhanden ist und den Betroffenen Sensibilität entgegengebracht wird.“ So müsse auf Seiten der Staatsanwaltschaften die Würdigung einer antisemitischen Motivlage in Strafverfahren zu einem zentralen Thema werden. Antisemitismus wird oft nur dann eindeutig erkannt und geahndet, wenn es bei einer Tat einen direkten Bezug zu NS-Symbolen oder Parolen gibt. Die Erfahrungen aus der Praxis sprechen dafür, den Umgang mit modernem Antisemitismus sehr viel stärker und systematischer in Aus- und Fortbildungen zu verankern. Viele Institutionen stehen da erst am Anfang, wie Fachleute aus der Praxis politischer Bildungsarbeit übereinstimmend berichten.

6) Antisemitismus in der politischen Kultur

Politisch leistet die AfD dem Antisemitismus systematisch Vorschub. Nicht nur, indem deren Personal mit antisemitischen Codes über „globalistische Eliten“ raunt. Der Begriff „Globalisten“ gilt als ein Synonym für Juden, die in Verschwörungserzählungen als vermeintlich wurzellose, über die Welt verteilte Zerstörer gewachsener Völker und Kulturen angesehen werden. Darüber hinaus greift die AfD offen die deutsche Erinnerungskultur an. Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke hat das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ genannt und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert. AfD-Politiker verhöhnen das rituelle Gedenken an die Opfer der Shoah als „Schuldkult“. Auschwitz soll als zentraler Fixpunkt deutscher Erinnerungskultur beseitigt werden, um wieder ungestört von deutscher Schuld völkische Ideologie propagieren zu können.

Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, warnt vor einem „erinnerungspolitischen Klimawandel“ im Land. Der politische Geschichtsrevisionismus bleibt derweil nicht folgenlos. Seit einiger Zeit registrieren NS-Gedenkstätten eine Zunahme rechtsextremer Vorfälle. Gedenkorte für Nazi-Opfer werden mit Propaganda-Parolen und Hakenkreuzen geschändet.

Hubert Aiwanger. Foto: Lennart Preiss/dpa

Der Fall Aiwanger

Auftrieb erhalten rechte Täter auch durch öffentliche Debatten wie im Fall des Freie-Wähler-Politikers Hubert Aiwanger, bei dem zu dessen Schulzeiten eine antisemitische Hetzschrift gefunden worden war. Bianca Loy von RIAS kritisiert, dass in der Debatte um den bayerischen Politiker eine „Abwehr der Erinnerung an die Shoah“ erfolgt sei und „jegliche Verantwortung zurückgewiesen wurde“. Im Gegenteil stilisierte sich der Chef der Freien Wähler in Bayern in Bierzelten lautstark als Opfer einer medialen und politischen „Schmutzkampagne“. Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, sagt: „Aus meiner Sicht hat diese Angelegenheit dem Kampf gegen Antisemitismus in diesem Land geschadet.“ Er appelliert, nicht zuzulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus lediglich als Teil des politischen Geschäfts wahrgenommen werde. Die politische Kultur entscheidet maßgeblich darüber, wie wirkmächtig Judenfeindschaft in der Gesellschaft werden kann. Ob diese Menschenverachtung stillschweigend geduldet oder im Gegenteil konsequent tabuisiert und ausgegrenzt wird.

Judenwitze im Abendprogramm

Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, Antisemitismus nur als Problem von Jüdinnen und Juden misszuverstehen. Er ist aber vielmehr Ausdruck eines Demokratieproblems, das alle angeht, weil er die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens zerstört. Darum sind Bianca Loy zufolge auch alle in der Gesellschaft gefragt, „jede Form von Antisemitismus zu ächten“. Damit tut sich die deutsche Gesellschaft allerdings regelmäßig schwer. Das war bei antisemitischer Kunst auf der Kunstschau Documenta so und auch, nachdem die Kabarettistin Lisa Eckhart im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Judenwitze erzählt hat.

Zuletzt fiel Fernsehphilosoph Richard David Precht in einem Podcast mit dem Talkmaster Markus Lanz mit antisemitischen Stereotypen über orthodoxe Juden auf, denen die jüdische Religion angeblich zu arbeiten verbiete, mit Ausnahme von „ein paar Sachen wie Diamanthandel“ und „Finanzgeschäfte“. Nach heftiger öffentlicher Kritik ruderten Precht und das ZDF zurück. Precht räumte später seine falsche Aussage ein. Bezeichnenderweise entschuldigte er sich aber lediglich bei jenen, deren „religiöse Gefühle“ er verletzt habe oder „die das an antisemitische Klischees erinnert hat“. Das ZDF sprach auch nur davon, dass Prechts Darstellung „missverständlich interpretiert werden konnte“.

Wo ist die Solidarität, wenn es drauf ankommt?

Dagegen kritisiert Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg, in einem Faktencheck, in dem Podcast seien „reihenweise Falschbehauptungen“ über das Judentum verbreitet worden. So würden gläubige Juden keineswegs wie behauptet „den ganzen Tag beten“, sondern dreimal am Tag. Blume kritisierte auch die Aussage von Lanz über angebliche „Mächte und Kräfte“, die ein großes Interesse daran haben, einen streng gläubigen Menschen „emotional einzukesseln“ und „fast als Geisel zu nehmen“. Blume erkennt in diesen unbedachten Äußerungen „antisemitische Verschwörungsmythen“. In den deutschen Debatten zum Thema ist derartige, auf Sachkenntnis beruhende Kritik selten.

Ebenso die Erkenntnis, dass sich auch ansonsten aufgeklärte Menschen antisemitisch äußern können. In vielen Medien ist oft nur vom Vorwurf des Antisemitismus die Rede, ohne diesen inhaltlich zu prüfen und zu werten. Die vielbeschworene Solidarität mit Jüdinnen und Juden – im Alltag lässt sie gerade dann zu wünschen übrig, wenn es drauf ankommt. Auch weil es in allen gesellschaftlichen Bereichen an Wissen über Antisemitismus fehlt.

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Der beeindruckende Appell von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) gegen jeden Antisemitismus und für Solidarität mit Israel ist eine seltene Ausnahme im deutschen Diskurs. Dessen Videobotschaft, die lagerübergreifend auf große Resonanz stieß, drückt nicht nur eine unmissverständliche Haltung aus, sondern erklärt auch, dass die mantrahaft beschworene Formel „Nie wieder“, die zur deutschen Staatsräson wurde, mehr sein muss als eine bloße Behauptung: nämlich die konkrete Verpflichtung, im Hier und Jetzt entsprechend zu handeln.

Der Minister blendet dabei nichts aus. Weder das unermessliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung noch die Pflicht von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, auch den gesellschaftlichen Grundkonsens einzuhalten, wonach Antisemitismus unter keinen Umständen geduldet wird. Habeck hat damit an ein deutsches Selbstverständnis erinnert, das an Gedenktagen regelmäßig beschworen wird, bevor das Land dann am nächsten Tag wieder zu einer weit weniger idealen Tagesordnung übergeht.

Am 27. Januar, dem sogenannten Holocaustgedenktag, oder in Reden anlässlich der Reichspogromnacht am 9. November heißt es immer wieder, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Deutschland gehöre. Aber die Realität sieht vielerorts anders aus. Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen müssen permanent vor Gewalt und Terror geschützt werden. Im Alltag wird Antisemitismus zu oft entweder nicht erkannt, ignoriert oder sogar geduldet. Das darf nicht so bleiben.

Das Leiden der Anderen

Erstellt am: Samstag, 12. Februar 2022 von Torben

Das Leiden der Anderen

Es gibt Verbrechen, die ein ganzes Land bewegen, wochenlang. Andere Verbrechen finden kaum Aufmerksamkeit, obwohl sie nicht weniger schlimm sind. Wie kann das sein? Warum berühren uns manche Taten mehr als andere? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Eine Frau bückt sich und stellt eine Kerze zu anderen Kerzen, die auf dem Boden stehen. Abseits sind weitere Personen.

Eine Frau stellt eine Kerze bei einer Gedenkveranstaltung für das Todesopfer des islamistischen Messerangriffs von Dresden auf. Foto: Marcel Kusch/dpa

In Dortmund gibt es einen Boulevardjournalisten, er liefert Fernsehbeiträge aus dem gesamten Ruhrgebiet. Wenn irgendwo etwas passiert, ein Gewaltverbrechen zum Beispiel, dann schickt er Leute mit der Kamera raus.

Vorher aber schaut er, wer die Opfer sind: Welche Nationalität haben sie? Der Journalist ist ein alter Hase im Nachrichtengeschäft, er weiß: Geht es um Gewalt unter Ausländern, Türken etwa, interessiert das seine Abnehmer nicht. Weil es deren Kunden vor den Fernsehgeräten nicht interessiert. Es ist ihnen zu fremd, zu weit weg, unverständlich. Sie schalten dann um. Das sei ein Gesetz des Marktes, sagt der Boulevardjournalist, dagegen könne er nichts machen. Er schickt dann in der Regel keine Leute raus.

Ein Verbrechen aber ist ein Verbrechen, ob es einen Deutschen trifft oder einen Türken, es ist immer gleich schlimm. Wenn es also stimmt, was der geschäftstüchtige Boulevardjournalist sagt, wenn Gewalt unter Deutschen eine Nachricht ist, Gewalt unter Ausländern hingegen weniger – was stimmt dann nicht mit dem Markt, mit den Fernsehzuschauern, mit unserer Gesellschaft? Warum berühren uns die einen Verbrechen, die anderen aber nicht?

01 Unterm Radar

Knapp 40 Journalisten und Zuschauer hätten an diesem Apriltag im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden Platz, gekommen ist knapp die Hälfte. Kaum 20 Menschen, abgeschirmt hinter Glaswänden, schauen auf Bildschirme, dort ist Oliver L. zu sehen, ein 54-jähriger Lohnbuchhalter, zugeschaltet aus Köln. Oliver L. ist nicht nach Dresden gekommen an diesem Tag, er muss sich nicht noch einmal in der Stadt aufhalten, in der er im Oktober 2020 eine Messerattacke nur knapp überlebte. In der er seinen langjährigen Lebensgefährten Thomas L. durch die Messerstiche verlor. In der er im Gerichtssaal dem Täter erneut begegnet wäre. Einem Islamisten, der auf Oliver L. und seinen Lebensgefährten einstach, weil er sie als homosexuelles Paar identifiziert hatte.

Ein islamistischer Anschlag in der Dresdner Altstadt: Medien berichteten, stellten Fragen, die rechten Twitter- und Telegram-Blasen glühten. Aber nur kurz. Je sichtbarer das Motiv Homophobie wurde, desto unsichtbarer wurde die Empörung. Ein halbes Jahr nach der Tat läuft der Prozess in Dresden weitgehend unterm öffentlichen Radar.

Ob eine Nachricht als wichtig empfunden wird oder nicht, hängt von sogenannten Nachrichtenfaktoren ab. Einer der wichtigsten Nachrichtenfaktoren im Journalismus ist Nähe.

Im Journalismus spricht man von sogenannten Nachrichtenfaktoren, die darüber entscheiden, ob eine Nachricht als interessant empfunden wird oder nicht. Einer der wichtigsten Nachrichtenfaktoren ist die Nähe. Ein Mord in der Nachbarschaft wühlt Menschen mehr auf als ein Mord am anderen Ende der Stadt. Ein Mord am anderen Ende der eigenen Stadt mehr als ein Mord in einer fremden Stadt. Ein Mord in Deutschland mehr als einer in der Türkei.

Aber Nähe ist nicht allein eine geografische Kategorie, Nähe kann auch politisch sein oder kulturell. Ein Mord in den USA ist den meisten Deutschen näher als einer in Ägypten, obwohl Ägypten geografisch weniger weit entfernt liegt. Ein Brand in einer christlichen Kirche bewegt sie mehr als einer in einer Moschee. Der Boulevardjournalist würde vielleicht sagen: Armin ist meinen Zuschauern näher als Achmed. Und womöglich ist den meisten Fernsehzuschauern und Zeitungslesern ein heterosexuelles Paar näher als ein homosexuelles.

Es gibt Gewalttaten, die bewegen ein ganzes Land. Der Mord an der 14-jährigen Susanna 2018 in Wiesbaden (Hessen) war so ein Fall, vergewaltigt und getötet von einem Asylbewerber. Oder der Mord an der 15-jährigen Mia 2017 in Kandel (Rheinland-Pfalz), getötet von einem Flüchtling; monatelang nahm eine breite Öffentlichkeit Anteil. Der Mord an der 19-jährigen Maria 2016 in Freiburg, vergewaltigt und getötet ebenfalls von einem Flüchtling.

Andere Gewalttaten bewegen die Öffentlichkeit anders oder gar nicht. Als im April 2021 eine Mitarbeiterin in einer Potsdamer Pflegeeinrichtung vier Menschen mit Behinderung tötet und eine weitere Bewohnerin schwer verletzt, fokussiert sich die öffentliche Diskussion schnell auf die mutmaßliche Täterin und ihr Motiv. Tötete sie vielleicht aus Mitleid? Wollte sie schwer kranke Menschen erlösen? War sie überfordert mit der schweren Arbeit? Oder einfach nur psychisch krank?

Das Leiden der Anderen

Warum uns Verbrechen unterschiedlich stark berühren

Der Vorstand der Wohneinrichtung muss in Zeitungsinterviews Stellung beziehen zu Pflegeschlüssel, Personalstand, Sicherheitssystemen. Die Frage, wer die Opfer waren und wie sie lebten vor ihrem gewaltsamen Tod, spielt in der Berichterstattung kaum eine Rolle. Als im Februar 2020 ein 43-jähriger Deutscher im hessischen Hanau zunächst neun Menschen mit Migrationshintergrund erschießt und anschließend seine Mutter und sich selbst, herrscht nach erster Aufregung und Terrorangst eher öffentliche Ratlosigkeit als öffentliches Mitgefühl. Deutschland rutscht in die Corona-Pandemie, erst zum Jahrestag rückten Medien die Opfer verstärkt in den Mittelpunkt. Ihre Namen kennt bis heute kaum einer, sie klingen fremd und sind schwer zu merken.

Auch in Dresden wird es schnell still nach der Tat.

Erst als drei Helfer aufgetaucht seien, setzte seine Erinnerung wieder ein.

Im Gerichtssaal herrscht Stille, als Oliver L. tief durchatmet und zu schildern beginnt, was an jenem Abend in der Rosmaringasse genau geschah – ganz in der Nähe des Dresdner Neumarkts und der berühmten Frauenkirche. „Wir sind einen Tag vorher angereist“, sagt L. und erzählt, dass er und sein Partner in Sachsen Urlaub machten. Anders als am Anreisetag sei der Neumarkt geradezu „menschenleer“ gewesen. „Merkwürdig“ habe er das gefunden. Schließlich war es ein Samstagabend. Sie hätten etwas gegessen, ein Glas Wein getrunken und seien dann vom Neumarkt in die Rosmaringasse eingebogen. L. stockt, kurz ringt er um Fassung. Als er und Thomas L. die Gasse hinunterliefen, habe ihnen plötzlich jemand von hinten auf den Rücken geschlagen. Jedenfalls habe es sich angefühlt wie ein Schlag. Sie hätten sich beide gleichzeitig umgedreht. Es war aber kein Schlag. Ein Mann hatte mit Küchenmessern von hinten auf sie eingestochen.

Oliver L. hat ein freundliches Gesicht, aber jetzt verzieht es sich vor Schmerz. „Ich habe immer wieder um Hilfe gerufen und gedacht: Warum kommt denn keiner?“ Er habe direkt in eine Bar schauen können, es ist die Bar „Alex Dresden am Schloss“. An die nächsten Momente könne er sich nicht mehr erinnern. Der Richter hakt nach, er will sichergehen, dass L. nichts mehr weiß. Oliver L. blickt gequält. Er schnieft, räuspert sich. Energisch schüttelt er den Kopf. „Nein“, sagt er, „als wäre ich eine Zeit lang nicht da gewesen.“ Erst als drei Helfer aufgetaucht seien, setzte seine Erinnerung wieder ein. „Ich lag auf dem Boden, eine Frau half mir“, sagt er. Er habe Thomas liegen gesehen und immer wieder gefragt, wie es ihm geht. Auch erinnert er sich, mehrmals gesagt zu haben: „Ich bekomme so wenig Luft, ich bekomme keine Luft.“

Ich bekomme keine Luft. I can’t breathe.

Erinnerung an George Floyd, ermordet durch einen Polizisten. Foto: F. Muhammad/Pixabay

02 Am Kipppunkt

In Bloomington, USA, lehrt an der Indiana University Indiana seit 25 Jahren ein deutscher Wissenschaftler: Fritz Breithaupt, geboren 1967 in Baden-Württemberg, Brille, breites Lachen, auch mit Mitte 50 noch ein studentischer Typ. Im Mai 2020 hielt er eine Intensivvorlesung an der Uni, 250 Studentinnen und Studenten nahmen teil. Dann starb George Floyd, getötet durch einen Polizisten in Minneapolis, USA, und eine Reihe Studierender erklärte Breithaupt, sie könnten vorerst nicht mehr zu seiner Vorlesung kommen.
Sie wollten stattdessen an den „Black Lives Matter“-Demonstrationen teilnehmen. In den USA, aber auch in Deutschland und in anderen Staaten, gingen Menschen auf die Straßen, sie trugen T-Shirts und Transparente mit dem Satz, den Floyd in den letzten Minuten seines Lebens mehr als 20-mal gesagt hatte: „I can’t breathe“.

Breithaupt hat sich einen Namen gemacht als Forscher zum Thema „Empathie“. Das ist ein Begriff, der helfen kann, wenn man Antworten sucht auf Fragen wie diese: Warum fühlen Menschen nach Gewalttaten einmal mehr mit und einmal weniger? Braucht eine funktionierende Zivilgesellschaft nicht Mitgefühl für alle? Wie lässt sich das erreichen? „Empathie“, sagt Breithaupt, „ist Teil der Lösung. Aber Empathie ist auch Teil des Problems.“

Black Lives Matter

“Black Lives Matter“ bedeutet übersetzt so viel wie „Schwarze Leben zählen“. Die Bewegung entstand nach Tötungen von Schwarzen durch weiße Polizisten in den USA. Vor allem nach dem Tod von George Floyd 2020 kam es auch international zu schweren Protesten.

Da liegt jemand auf dem Boden, ein Polizist hat ihn niedergerungen, er kniet nun auf dem Nacken des Liegenden. I can’t breathe, ich kann nicht atmen, bettelt der Mann am Boden immer wieder. Wer die Szene beobachtet, zum Beispiel im Internet, das Video wurde millionenfach geteilt, empfindet Empathie. „Aber“, sagt Breithaupt, „die Frage ist doch: Aus welcher Position nehme ich das wahr?“ Empfinde ich die Todesangst von George Floyd am Boden nach? Empfinde ich eher die Hilflosigkeit des Beobachters, der helfen möchte, aber nicht kann? Oder kann ich vielleicht sogar den Polizisten verstehen, der einen möglicherweise gefährlichen Vorbestraften niederringt?

Es gibt Experimente, die das vermutete Schmerzempfinden von Fremden abfragen. Die Teilnehmer sehen eine Hand, in die hineingestochen wird, mal etwas stärker, mal leichter, und sie sollen sagen, wie stark wohl der Schmerz ist, den der Mensch hinter der Hand empfindet. Wenn die Hand schwarz ist, gehen die meisten Teilnehmer davon aus, dass der Schmerz nicht so stark ist.

 

Mit diesem Graffiti wird in Frankfurt der neun ermordeten Menschen aus Hanau gedacht. Foto: AP Photo/Michael Probst

In Hanau sterben neun Menschen mit Migrationshintergrund in und vor Shisha-Bars. Vermutlich sind vielen Fernsehzuschauern, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Fernsehbeiträge des Dortmunder Boulevardjournalisten sehen, Shisha-Bars fremd. Vermutlich sind ihnen auch die Namen der Toten fremd, ihre Leben sowieso. Vielleicht haben sie Vorurteile: Diese Menschen mit den fremden Namen sind doch Gewalt gewöhnt, sie sind womöglich selbst kriminell, wer weiß das schon, sie bleiben doch sowieso meistens unter sich. So war es nach der Mordserie der rechtextremen Terrorgruppe NSU, bei der neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin starben. Öffentlichkeit und Polizei gingen jahrelang davon aus, dass die Täter aus dem Umfeld der Opfer kommen müssten. Es gab den Begriff der „Döner-Morde“, die Polizei ermittelte, ob die Opfer in kriminelle Machenschaften verwickelt waren, die die Taten erklären könnten. Die Leben der Opfer von Hanau mögen vielen Menschen in Deutschland fremd sein. Mit dem Leben des Täters, eines 43-jährigen Deutschen aus der Stadt, haben sie möglicherweise deutlich mehr Gemeinsamkeiten.

Täter-Opfer-Geschichten sind die stärksten Erzählungen, die es gibt. „In dem Moment, in dem es zu Polarisierungen kommt, neigen die meisten Menschen dazu, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen“, sagt Professor Breithaupt. Medien böten den Menschen dabei eine Perspektive an. Aber es gebe eben auch Opfer-Geschichten, die medial nicht so gut funktionieren. War es so in Hanau? Wenn Fernsehzuschauer sagen: Ich gehe nicht Shisha-Bars, ich kenne die nicht, das hätte nicht ich sein können, der da sitzt und eine Wasserpfeife raucht. Wenn ihnen aber vielleicht die Gedanken des Täters bekannt vorkommen: Ausländer überrennen dieses Land, rotten sich zusammen, bedrohen unser vertrautes Leben. Das muss nicht bedeuten, dass diese Fernsehzuschauer die Mordtaten weniger verabscheuenswürdig finden oder gar gutheißen. Es kann aber bedeuten, dass sie die Tat weniger berührt.

Breithaupt hält die Bilder aus Minneapolis für einen der drei stärksten Medienmomente der vergangenen 20 Jahre.

Aber warum konnte das Sterben von George Floyd zu einem Kipppunkt werden? Der Tod eines vorbestraften Schwarzen in den USA? Fritz Breithaupt glaubt erstens: weil es zu viele solcher Momente waren. Wieder ein toter Schwarzer, wieder getötet von einem weißen Polizisten, es reicht. Vor allem aber glaubt Breithaupt zweitens an die Macht der Medien. Der Tod von Floyd war sofort online, weltweit zu sehen in den sozialen Medien, nachzuschauen im Fernsehen, nachzulesen in der Presse. Breithaupt hält die Bilder aus Minneapolis für einen der drei stärksten Medienmomente der vergangenen 20 Jahre. Die anderen beiden Momente waren die Live-Bilder vom Fall der Türme des World Trade Centers nach dem Terroranschlag 2001 und das Foto des Flüchtlingsjungen Alan Kurdi, der 2015 tot am türkischen Mittelmeerstrand lag, als ob er schliefe. 2020 gab es dann die Bilder des großen, muskulösen George Floyd, der weinte und um sein Leben bettelte. Auf seinem Nacken kniete derweil der Polizist. Das Video ließ die Welt unmittelbar dabei sein.

Im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts in Dresden im April 2021 will der Richter wissen, ob sich das Paar an den Händen hielt. Liefen Sie eng nebeneinander? Wer ging links, wer rechts? „Ich war auf der rechten Seite. Wir gingen nebeneinander. Ich würde ausschließen, dass wir Hände gehalten haben … das machen wir eigentlich nie … aber ich weiß es nicht“, sagt Oliver L. „Ich denke, wir gingen normal nebeneinander her.“ Noch einmal schildert er seine Erinnerungen. Er habe einen Schlag auf den Rücken gespürt, als ob jemand ihn im fernen Dresden erkannt habe.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Die Polizeiliche Kriminalstatistik wird direkt emotional diskutiert. Aber welche Aussagen trifft überhaupt die PKS?

„Ich bin zu Boden gesunken“, sagt Oliver L. Thomas L. habe auf der Seite gelegen. Seltsam sei gewesen, dass er auf einmal mehrere Meter weit entfernt gelegen habe. Immer wieder habe er im Krankenwagen und in der Vernehmung nach ihm gefragt. Erst am nächsten Tag nach der Vernehmung hätten ihm „sechs, sieben, acht Ärzte“ dann gesagt, was mit Thomas L. passiert ist. Er war verstorben. Aus dem Leben gerissen. Zu schwer waren die Verletzungen. Siebeneinhalb Jahre waren Oliver L. und Thomas L. ein Paar.

Auch Oliver L. hatte schwere Verletzungen. 42 Tage war er krankgeschrieben, erzählt er. Seitdem arbeite er wieder. „Weil es hilft.“ Die körperlichen Schäden seien verheilt, nur die Stellen, in die der Täter stach, fühlten sich taub an. „Die Ärzte und Pflegekräfte waren unglaublich“, sagt er. Die hätten sich eingesetzt, seien toll gewesen. „Sonst wäre das nicht wieder geheilt.“

Der Staatsanwalt wendet sich L. zu: „Darf ich Sie fragen, wie es Ihnen seelisch geht?“ L. blickt nach unten, wieder atmet er tief durch. „Es fällt schwer, die Trauerbewältigung“, sagt er. „Die Arbeit hilft. Wenn ich abgelenkt bin, dann geht’s. Aber ansonsten…“ Er bricht den Satz ab.

03 Im Dunkeln

Im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam sterben am 28. April 2021 vier Menschen: Martina W., 31 Jahre alt, Christian S., 35 Jahre alt, Lucille H., 42 Jahre alt, und Andreas K., 56 Jahre alt. Eine weitere Bewohnerin wird schwer verletzt. Insgesamt leben rund 60 Menschen in der Einrichtung, in der Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen betreut werden. Viel mehr erfährt die Öffentlichkeit nicht über die Opfer. Medien beschäftigen sich lieber mit der mutmaßlichen Täterin und forschen nach ihren möglichen Motiven.

Professor Dr. Karl H. Beine, 70 Jahre alt, ist Deutschlands führender Experte für das Thema Patiententötungen. Er beschäftigt sich damit, seit es an einer Klinik, an der er zu Beginn seiner Ausbildung gearbeitet hatte, zu solchen Taten gekommen war. Bis 2019 leitete er die Klinik für Psychiatrie im St.-Marien-Hospital in Hamm, Westfalen, und lehrte an der Universität Witten/Herdecke. Wenn man Beine fragt, warum die Opfer von Potsdam in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielen und ob es uns womöglich an Empathie fehle, wird er regelrecht zornig, seine Stimme wird hart.

Stilles Gedenken: Steffen Helbing vom Deutschen Gehörlosen- Bund und seine Frau Gerlinde trauern um die in Potsdam getöteten Menschen mit Behinderung. Foto: Michele Tantussi/Reuters/p-a Butzmann

„Empathie?“, fragt er. „Die Leute, die über solch einen Fall berichten, haben selten Berührung zu diesen Menschen: mehrfach behindert, pflegebedürftig, hilfsbedürftig. Sie wissen nichts über sie. Ohne persönliche Erfahrung unterstellen sie: So würde ich nicht leben wollen. Da wäre ich lieber tot.“ Für Beine ist es ein bekanntes Muster, dass nach Tötungen von schwer kranken oder behinderten Menschen schnell über Erlösung oder Mitleid als Tatmotiv diskutiert wird.

Er nennt ein aktuelles Beispiel aus seinem Bundesland Nordrhein-Westfalen: In Essen wurde jüngst ein Arzt angeklagt, er soll Krankenhauspatienten mit Absicht tödliche Medikamente gegeben zu haben. Die örtliche Zeitung überschrieb ihren Bericht mit der Zeile: „Sterbehilfe für Corona-Patienten?“ Wenn Empathie die Fähigkeit meint, sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen und hineinzudenken, dann bringt die Öffentlichkeit viel eher Verständnis für den Arzt und seine schwierigen Arbeitsbedingungen auf. „Die Meinung überwiegt, wenn ich als Patient selbst in einer solchen Situation wäre, dann würde ich das auch so wollen, das ist doch kein Leben. Mit den Opfern beschäftigt man sich lieber nicht so genau“, sagt Beine. Aber er lässt keinen Zweifel: Solche „Helfer“ töten Menschen nicht aus Mitleid, allenfalls aus Mitleid mit sich selbst.

Beine ärgert dieser Perspektivwechsel schon lange. Bereits 2007 kritisierte er in einem Fachaufsatz für das „Deutsche Ärzteblatt“ eine „Spiegel“-Reportage zum Prozess gegen den Krankenpfleger Stephan L., der 2003/04 in der Klinik Sonthofen 29 Patienten mit Giftspritzen tötete. Beine sah darin „Vorurteile über die angeblich so seelenlosen Reparaturwerkstätten im Gesundheitswesen bedient“, er zitierte: „Menschen werden da ,zwecks Mobilisierung auf Nachtstühle verfrachtet‘, ,Nahrung in sie hineingestopft, die sie nicht mehr schlucken konnten oder wollten‘. Über Stephan L. heißt es in dem Artikel: ,Wäre er kaltschnäuziger gewesen oder abgestumpft oder weniger empathiefähig, hätte er die Taten vermutlich nicht begangen.‘“ Beine schreibt: „Auslöser und Schuldige sind so schnell gefunden: Ein inhumaner Medizinbetrieb und abgestumpfte, kaltschnäuzige oder verrohte Vorgesetzte, die die Not des neuen Kollegen ignorieren: So wird der Täter zum Opfer.“

Wer Mitgefühl wecken will für Opfer wie Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. in Potsdam, muss sie aus dem Dunkeln ins Helle holen – und darf nicht die Täter strahlen lassen.

04 Bei den Anderen

„Die dunklen Seiten der Empathie“, so hat Professor Fritz Breithaupt sein jüngstes Buch überschrieben. Darin beschreibt er, dass sich die Identifikation mit der vermeintlichen Opferseite steigern kann zu Hass und Hetze, sogar zu Gewalt. „Wenn die eigene Seite als Opfer gesehen wird, ist die andere Seite natürlich Täter“, sagt Breithaupt. Er erkennt darin einen wesentlichen Auslöser für Terrorismus, aber auch für Gewalttaten überhaupt.

Noch etwas kommt erschwerend hinzu. Wenn ein Deutscher in Hanau „Ausländer“ tötet, ein Islamist in Dresden Homosexuelle angreift, wenn eine Pflegerin Hilfsbedürftige von ihrem vermeintlichen Leiden erlösen will, dann scheint sich diese Tat nicht gegen Menschen zu richten, sondern gegen Gruppen, gegen ihre Repräsentanten, vielleicht sogar gegen Symbole. Das lässt die Interpretation zu: Ich bin gar nicht betroffen, ich bin gar nicht gemeint. Weil ich kein Ausländer bin, kein Homosexueller, kein Pflegebedürftiger. Eine zweite Interpretation könnte sogar sein: Die sind mitschuldig an der Tat. Weil sie Ausländer sind, weil sie homosexuell sind, weil sie nicht der vermeintlichen Norm entsprechen. Auch deshalb sinkt der Nachrichtenwert einer solchen Gewalttat: Es geht ja um Andere.

Medien stehen zunehmend unter wirtschaftlichem Druck, sie müssen ihre redaktionellen Ressourcen ökonomisch einteilen. Aufwändige Recherchen, etwa weil es an schnellen Zugängen fehlt, fallen als Erstes hinten runter.

Wie lassen sich diese Anderen ins Helle ziehen? Breithaupt sieht vor allem den Journalismus in der Pflicht, er müsse „mediale Hilfestellung“ leisten. „Journalisten müssen die Geschichten von viel mehr Menschen erzählen“, sagt er.

Dr. Tanjev Schultz, 47 Jahre alt, ist ein erfolgreicher Journalist, er recherchierte intensiv zur Plagiatsaffäre Guttenberg und zu den NSU-Morden, er wurde mit dem renommierten Nannen-Preis ausgezeichnet. Seit 2016 lehrt er als Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und forscht über Journalismus. Er sieht gleich mehrere Gründe dafür, warum bestimmte Opfergruppen häufig im Dunkeln bleiben:

1. Für viele Medien sind bestimmte Gruppen keine Zielgruppe. Die Abnehmer der Bilder des Dortmunder Boulevardjournalisten gehen offenbar davon aus, dass Türken nicht zu ihren Zuschauern gehören.

2. Der Journalismus ist nicht sonderlich divers, zu vielen Gruppen fehlen den Redaktionen die Zugänge. Das galt für die Familien der Opfer des NSU oder in Hanau, das gilt für die Opfer in Potsdam.

3. Wo kein Zugang ist, fehlt es an unverzichtbarem Material für eine Veröffentlichung: Fotos, Filmaufnahmen, O-Töne.

4. Medien stehen zunehmend unter wirtschaftlichem Druck, sie müssen ihre redaktionellen Ressourcen ökonomisch einteilen. Aufwändige Recherchen, etwa weil es an schnellen Zugängen fehlt, fallen als Erstes hinten runter.

5. Wenn Minderheiten von Gewalttaten betroffen sind, fehlt oft der öffentliche Druck, der Aufmerksamkeit auf den Fall zieht und dadurch Berichterstattung erzwingt: laute Interessengruppen, starke Anwälte, fordernde Opferschutzverbände. Schultz spricht von „Pressure-Groups“.

„Empathie“, sagt Tanjev Schultz, „hat mit Nähe zu tun, mit Vertrautheit.“ Auch er sieht den Journalismus in der Pflicht, Vertrautheit über Geschichten herzustellen. Geschichten, die das Opfer in Hanau nicht als Ausländer oder Mann mit Migrationshintergrund schildern, sondern beispielsweise als Vater, der vielleicht Geldsorgen hatte, der wegen Corona in Kurzarbeit war und um seinen Hauskredit bangte, der sich über das Abitur seiner Tochter freute, der glühender Fußballfan von Eintracht Frankfurt war. Aber Schultz ahnt auch, dass Journalismus allein nicht genügen wird: Erst wenn Migranten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung in Kinofilmen vorkommen, in TV-Serien, in Büchern, erst wenn sie „ganz selbstverständlich“ überall präsent sind und einfach dabei, wenn ihre Namen nicht mehr fremd klingen, tritt Vertrautheit ein. „Dann sind wir besser in der Lage, Empathie zu empfinden“, sagt Schutz.

So wie im Video, als George Floyd der Welt neun Minuten und 29 Sekunden plötzlich ganz nah kam.

05 Nach dem Urteil

Am 21. Mai 2021 spricht im Dresdner Hochsicherheitssaal der Vorsitzende des Staatsschutzsenats, Hans Schlüter-Staats, das Urteil: Der 21-jährige Täter soll wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung für den Rest seines Lebens ins Gefängnis. Das Gericht stellt zudem die besondere Schwere der Schuld fest und ordnet für den Fall der Fälle auch noch die Möglichkeit der anschließenden Sicherungsverwahrung an.

„Es ist eine Tat, die tatsächlich fassungslos macht“, sagt Schlüter-Staats. „Der Angeklagte handelte in radikalislamistischer Gesinnung in dem Bestreben, Repräsentanten einer von ihm abgelehnten freiheitlich demokratischen Gesellschaft zu töten.“ Er habe Oliver L. und Thomas L. „zu Opfern seiner tiefverwurzelten Homophobie“ gemacht.

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Christina Feist hat den antisemitischen Anschlag in Halle überlebt. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Presseagenturen schicken nach dem Urteilsspruch ihre Texte über den Ticker, Medien veröffentlichen sie, mal länger, meistens eher kürzer. Große Wellen schlägt die Nachricht nicht.

Die „Vernetzung gegen Queerfeindlichkeit“, ein Zusammenschluss linker und queerer Gruppen in Dresden, kritisiert, dass das homofeindliche Motiv wochenlang von der Staatsanwaltschaft verschwiegen worden sei.

Die sächsische Opferbeauftragte Iris Kloppich fordert die Zivilgesellschaft auf, sich mit dem Verbrechen und seinen Ursachen auseinanderzusetzen und sich die Frage zu stellen, „wie sich derartige Straftaten zukünftig verhindern lassen“.

Oliver L. spürt weiter jeden Tag die tauben Stellen an seinem Körper, in die das Messer eindrang. Er befindet sich in psychologischer Behandlung. Sein Partner fehlt ihm.

Nachtrag:

Das Urteil „lebenslange Haftstrafe“ wegen der Messerattacke in Dresden ist inzwischen rechtskräftig.

Im Prozess wegen Mordes an vier Menschen in einer Behinderteneinrichtung hat das Landgericht Potsdam die Täterin im Dezember 2021 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Richter legten zudem die Unterbringung der Pflegerin in einer psychiatrischen Klinik fest.

Volkmarsen – Ein Ort der Tat

Erstellt am: Donnerstag, 3. Februar 2022 von Torben

Volkmarsen – Ein Ort der Tat

Nach der Amokfahrt am Rosenmontag 2020 im hessischen Volkmarsen mit 154 Verletzten wurde aus einem Tatort schnell ein Ort der Tat: Viele packten mit an, halfen. Wie geht es den Opfern heute?

Volkmarsen aus der Vogelperspektive. Foto: Christoph Klemp

Diana wippt mit den Füßen. Auf ihr rechtes Bein ist ein Notenschlüssel tätowiert, der sich jetzt im Takt des Wippens auf und ab bewegt. Ihre Liebe zur Musik geht unter die Haut. Die 24-Jährige spielt Klavier, Gitarre, Saxophon, am liebsten aber Klarinette im Orchester. Doch jetzt ist jeder Ton eine Tortur für sie. Die Finger gehorchen ihr noch nicht wieder richtig, das Greifen der Töne fällt ihr schwer. Immerhin hat sie mittlerweile wieder genug Luft zum Spielen der Blasinstrumente. Sie hat hart dafür gearbeitet.

Diana sitzt als Nebenklägerin im Prozess gegen den Mann, der sich für ihr Leiden verantworten muss. Der Diana als eine der ersten frontal erfasst hat, als er durch die Fußgruppen und Zuschauer des Rosenmontagszuges gerast ist. „Ich wüsste schon gern, warum er das gemacht hat“, sagt Diana. Diana schwebte in Lebensgefahr, lag drei Wochen lang im Koma und kämpft bis heute mit den Folgen. An diesem Tag Ende Juni 2021 sagt sie als Zeugin vor Gericht aus.

I. Amokfahrt

Es ist bitterkalt am 24. Februar 2020. Eine Clique junger Frauen bereitet sich im Pfarrhaus der evangelischen Kirchengemeinde in Volkmarsen auf den Rosenmontagszug vor. Sie sind Teil der Gruppe „Wilde 13“, die in diesem Jahr die Sesamstraße als Motto auserkoren hat. Zum Karneval sind sie aus ihren Studien-, Ausbildungs- oder Arbeitsorten zurückgekommen in ihre kleine Heimatstadt in Nordhessen. Wie jedes Jahr. „Die Mädels haben sich so gefreut, die hatten so einen schönen Motivwagen.“ So erzählt es Britta Holk, die evangelische Gemeindepfarrerin. Ihre 22-jährige Tochter Debora gehört ebenfalls zur „Wilden 13“.

Nur wenige Straßen weiter parkt an diesem Morgen vis-à-vis zur Umzugsstrecke ein Mann seinen Mercedes-Kombi in einer Parkbucht vor dem Bahnübergang. Tags zuvor hatte er, so werden es später die Ermittlungen ergeben, eine Videokamera auf dem Armaturenbrett installiert, eine sogenannte Dashcam. Der Staatsanwalt vermutet, er habe damit seine Tat filmen wollen.

Volkmarsen – vom Tatort zum Ort der Tat

Opfer der Amokfahrt

Gegen halb drei setzt sich der Festzug am Volkmarser Marktplatz in Bewegung. Tausende Zuschauer säumen die Straßen. Die „Wilde 13“ schiebt eine überdimensionale Sesamstraßen-Torte vor sich her. In der Mitte laufen Ernie, Bert & Co. Es gibt einen Oskar, der in einer großen blauen Papiertonne geschoben wird. Eine junge Frau im Krümelmonster-Kostüm zieht einen Bollerwagen mit Keksen, die Kinder an der Strecke greifen gern zu. In Sichtweite des Bahnübergangs gerät der Umzug etwas ins Stocken.

Auf der Kreuzung am Bahnübergang stehen V-förmig zwei Sprinter-Transporter der Stadt, um die Zugstrecke zu markieren. Auf der einen Seite geht es stadtauswärts, der Zug macht am Bahnhof kehrt und führt dann auf der anderen Seite der Sprinter wieder in die Stadt hinein. Zwischen diesen beiden Sprintern stehen an diesem Tag vier Pylonen.

Aufstellung zum Rosenmontagszug 2020 in Volkmarsen. Foto: Elmar Schulten

Diese Pylonen, so werden es Zeugen später vor Gericht schildern, nutzt der Amokfahrer als eine Art Startlinie für seine zerstörerische Fahrt. Nachdem sich die Schranken an diesem Tag gegen 14.40 Uhr geöffnet haben, fährt er über den Bahnübergang. Doch statt rechts abzubiegen, wie an diesem Tag vorgeschrieben, fährt er auf die beiden Sprinter zu. Dann geht alles sehr schnell, es dauert nur wenige Sekunden: Der Mercedes fährt zwischen den Transportern über die Pylonen und beschleunigt dann mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen.

„Ich habe noch gedacht, was will der hier?“, so schildert Bankkauffrau Lea (25) diesen Moment vor Gericht. So wie Lea sehen viele den Wagen auf sich zurasen, flüchten können sie nicht mehr. Auf Höhe der „Wilden 13“ lenkt er den 1.800 Kilogramm schweren Kombi in die Fußgruppe. „Da waren plötzlich die Scheinwerfer. Wir konnten nicht mehr weg“, so schildert es Debora, die in der Gruppe neben Diana steht.

Erst 42 Meter später kommt der Wagen zum Stehen

Diana ist eine der ersten, die der Fahrer frontal erwischt. „Oskar in der Tonne“, ein junger Garten- und Landschaftsbauer, wird durch die Wucht des Aufpralls aus der Tonne geschleudert. Die Folgen: Schädel-Hirn-Trauma, Mittelhandbruch, Platzwunde und Prellungen. Eine weitere Frau wird lebensgefährlich verletzt, als sie von Teilen der Tonne im Gesicht und am Kopf getroffen wird.

Debora erwischt der Amokfahrer seitlich. Wieder andere berichten von einer Druckwelle, die sie auf den Asphalt schleudert. Viele berichten, der Mann habe immer wieder Gas gegeben. Ein Gutachter wird später feststellen, dass der Kombi zwischen 50 und 60 Stundenkilometer fährt, als er die ersten Menschen erfasst.

Diana kämpft bis heute mit den Folgen der Amokfahrt in Volkmarsen. Foto: Christoph Klemp

Erst 42 Meter später kommt der Wagen zum Stehen.

Drei Männer und eine 16-Jährige hindern den Fahrer mutig daran, seine Amokfahrt fortzusetzen. Die Männer halten ihn fest, einer von ihnen prügelt auf den Fahrer ein. Die 16-Jährige versucht, den Schlüssel abzuziehen. Am Ende gelingt es ihnen mit vereinten Kräften. Zu hören ist all das auf der Aufnahme der Kamera, die der Mann tags zuvor installiert hat. Die ist jedoch erst angesprungen, als der Wagen bereits steht. Zwei Polizisten nehmen den Fahrer schließlich fest und bringen ihn zügig weg, um ihn vor Selbstjustiz zu schützen.

Rund um den Wagen spielen sich dramatische Szenen ab. Auf und unter dem Kombi liegen weitere Verletzte. Unter der Frontschürze ist ein dreijähriges Mädchen eingeklemmt, das bitterlich weint. Die Kleine hat sich nach Bonbons gebückt, als der Wagen sie mitreißt. Mehrere Männer heben den Wagen des Amokfahrers an, um das Mädchen zu befreien.

Der Mann überfährt an diesem Tag Dutzende Zugteilnehmer und Zuschauer, darunter viele Kinder.

Petra Jäger, selbst als Mutter und Oma betroffen, wird ein Jahr später im Gedenkgottesdienst sagen: „Ich kann mich noch gut an die paar Sekunden der Stille erinnern, bevor man nur noch Hilferufe hörte. Es war einfach schrecklich.“

II. Der Schock

Pfarrerin Holk sieht sich den Zug bei einer Bekannten am Markt an. In Volkmarsen schaut man sich den Zug mehrmals an verschiedenen Stellen in der Stadt an. Gegen 14.45 Uhr macht sie sich auf den Weg. Sie nimmt eine Parallelstraße, um nicht durchs Menschengewühl zu müssen. Dutzende kommen ihr entgegen: „Frau Holk, es ist was passiert, da vorne ist ein Auto reingefahren.“ Holk beginnt intuitiv zu laufen, sie denkt an einen Unfall und dass sie als Notfallseelsorgerin gefragt sein könnte.

Tunnelblick am Tatort

Am Ort des Geschehens entwickelt sie einen Tunnelblick. Sie sieht, so erzählt sie es, wie zwei Polizisten schnellen Schrittes einen Mann wegführen. Sie denkt, was ist denn hier los? Und dann sieht sie es, ihre Gedanken überschlagen sich: Da liegt ein verletzter Mensch auf dem Boden. Ein Kind. Kenne ich aus dem Kindergarten. Da liegt jemand. Dort liegt jemand. Wieder ein Kind. Ein Stück weiter sieht sie die beste Freundin ihrer Tochter in Embryonalhaltung auf der Straße liegen. „Da habe ich Panik bekommen“, sagt sie. Freundinnen ihrer Tochter sagen ihr, wo Debora sitzt. Holk denkt: „Wenn sie sitzt, ist ja alles gut. Wo bin ich sonst gefragt?“

Pfarrerin Britta Holk war schnell am Tatort. Sie führte viele Einzelgespräche mit Betroffenen. Foto: Christoph Klemp

Bis dahin, schildert Holk, habe sie gut funktioniert, sie hätte als Seelsorgerin am Tatort fungieren können. Beim Anblick ihrer Tochter habe sich das geändert. Debora lässt sich zur Notfallsanitäterin ausbilden, sie hat viel gesehen und kann viel ertragen. Jetzt hyperventiliert sie, kurz darauf kollabiert sie. Britta Holk ist schlagartig keine Helferin mehr, sondern eine Mutter, voller Sorge um ihre Tochter. Debora wird später als Zeugin vor Gericht aussagen: „Körperlich ist alles wieder gut, aber ich habe immer noch die Bilder im Kopf.“

Als Britta Holk am Rettungswagen auf ihre Tochter gewartet habe, sei ihr bewusst geworden, was an der Strecke los ist. Wie viele Menschen dort wuseln. Wie viele Verletzte dort liegen. Wie viele Eltern ihre Kinder suchen. „Es war heftig.“ Sie alarmiert die Notfallseelsorge, schreit ins Telefon: „Schickt ganz viele, schickt am besten alle!“

Wie versteinert, aber unverletzt

Ein dreifacher Familienvater schildert vor Gericht, wie er am Rosenmontag nach seinen beiden Töchtern und seinem Sohn gesucht hatte. Er fand seine beiden Töchter: Wie versteinert, aber unverletzt. „Wo ist euer Bruder?“ Der lehnte einige Meter weiter an einem Umzugswagen – mit blutüberströmtem Gesicht, auch sein Kostüm war mit Blut befleckt.

„Papa, ich werde so müde.“

„Schlaf bloß nicht ein!“

Viele Opfer werden an diesem Tag zu Ersthelfern, zählen Verletzte, besorgen Verbandskästen und leisten Hilfe.

Doch dann wischt sich der Sohn das Blut aus dem Gesicht und eilt seinen Feuerwehrkameraden zu Hilfe. Wie alle Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr hat auch er im Umzug seinen Pieper dabei. „Freundschaft, Kameradschaft, Teamgeist“ – so steht es in Großbuchstaben auf einer großen Werbetafel für die Freiwillige Feuerwehr am Ortseingang des kleinen Städtchens. Das ist in Volkmarsen mehr als ein Werbespruch. Und jeder geht anders mit den traumatischen Erlebnissen um.

Viele Opfer werden an diesem Tag zu Ersthelfern, zählen Verletzte, besorgen Verbandskästen und leisten Hilfe. Am Ort des Geschehens ist eine Apotheke: Der Besitzer bringt Verbandsmaterial und öffnet sein Geschäft, damit Verletzte dort behandelt werden können. Das katholische Pfarrzentrum St. Hedwig direkt ums Eck wird zu einer Anlaufstelle. Dort gibt es Kaffee, Verpflegung und auch gemeinsame Gebete.

Alle packen mit an

An dem Tag gibt es, so berichten es viele, die dabei gewesen sind, großes Einfühlungsvermögen und Disziplin der Menschen. Britta Holk erlebt es so: Es gibt keine Schaulustigen, keine Smartphone-Gaffer, viele packen mit an. Aus einem Tatort wird ein Ort der Tat. Schon bald machen die Zuschauer den Rettungskräften und Ermittlern Platz, damit die ihre Arbeit machen können.

Ein Hubschrauber bringt Diana in eine Spezialklinik nach Bielefeld. Drei Wochen lang liegt sie im Koma. Ein Rotationsbett sorgt dafür, dass ihre Lungen arbeiten können. Sie schwebt lange in Lebensgefahr. Vier Fixateure halten über mehrere Monate ihren linken Arm zusammen. Die Narbe ist deutlich sichtbar. Dianas Brillengläser tönen sich automatisch im Sonnenlicht, weil ihre Augen sehr lichtempfindlich geworden sind. Der Richter wird im Prozess fast eine Stunde brauchen, um Dianas Krankenakte zu verlesen. Diana selbst sagt: „Ich weiß das alles ja nicht mehr. Es ist ein bisschen so, als hätte ich ein Buch darüber gelesen.“

Insgesamt gibt es an diesem Tag mindestens 154 an Leib und Seele verletzte Menschen. Darunter viele Kinder. „Es ist ein Wunder, dass in Volkmarsen niemand ums Leben gekommen ist“, sagt Rechtsanwalt Klemens Wirth, der Diana als Nebenklägerin vertritt.

III. Von Helfern und Hilfen

Zugteilnehmer, Zuschauer, Helfer und Kinder – der Anschlag auf den Karneval in Volkmarsen traumatisiert sehr viele Menschen. Jeder und jede in Volkmarsen kennt einen direkt Betroffenen. In einigen Familien sind mehrere Menschen Opfer geworden.

Für die Opfer gibt es einen festen Anlaufpunkt. Das Rathaus wird zur Zentrale der Zeugenbefragung. Keine zwei Wochen nach dem schwarzen Rosenmontag tagt dort am 6. März 2020 ein Runder Tisch. Das Ziel: Hilfen bündeln und zielgerichtet einsetzen. „Diese Kooperation hat schnell Gutes bewegt und dafür gesorgt, dass die Betroffenen Hilfsangebote bekommen haben“, sagt Professor Dr. Helmut Fünfsinn, Opferbeauftragter des Landes Hessen.

Für Diana kümmert sich ihre Mutter um die Anträge. Schwierig sei es am Anfang gewesen, die Zuständigkeiten zu klären. Denn Diana wohnt in Nordrhein-Westfalen. Die hessischen Behörden hätten sich auf dem kurzen Dienstweg mit den Behörden in Nordrhein-Westfalen abgestimmt. „Vom Opferschutz her war das super, die haben das gut untereinander geregelt“, sagt Dianas Mutter. Helmut Fünfsinn habe das sehr gut zusammengehalten.

Solidaritätsgottesdienst in der Volkmarser Marienkirche für die Opfer der Amokfahrt am Rosenmontag in Volkmarsen. Mit dabei sind Ministerpräsident Volker Bouffier, Innenminister Peter Beuth, die evangelische Landesbischöfin Beate Hofmann und der katholische Bischof von Fulda, Michael Gerber. Foto: Elmar Schulten

Das Netz ist engmaschig, aber für Laien kompliziert. Das jüngst reformierte Opferentschädigungsgesetz (OEG) sieht künftig jeweils einen Fallmanager vor, der dann für eine Person oder Familie zuständig ist. Auch wenn ein Auto als Tatwaffe eingesetzt wird, greifen jetzt die Regelungen des OEG. Das war lange nicht so. Bis Juni 2021 war dafür allein die Verkehrsopferhilfe zuständig.

Mehr als 180 Menschen haben nach der Volkmarser Amokfahrt Anträge auf Entschädigungszahlungen bei der Verkehrsopferhilfe gestellt. Der Großteil der Anträge konnte bislang nach Angaben eines Sprechers allerdings noch nicht abgeschlossen werden. Das liege insbesondere daran, so der Sprecher weiter, dass das Land Hessen zwar angekündigt habe, das Opferentschädigungsgesetz an-zuwenden, aber das zuständige Landesamt bisher keine Entscheidungen über die tatsächlichen Entschädigungen getroffen habe.

„Das ist für die Opfer sehr schwer zu ertragen, aber die juristisch sichere Variante ist es, das Urteil im Strafprozess abzuwarten“, sagt Fünfsinn.

Petra Kern strahlt eine angenehme Ruhe aus. Die Rentnerin ist ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS und mit dem Volkmarser Karneval aufgewachsen. Sie wohnt in Korbach, keine 30 Kilometer von Volkmarsen entfernt, und ist selbst als Jugendliche oft mit Freundinnen zum Feiern dort gewesen. „Rosenmontag in Volkmarsen gehörte für uns einfach dazu“, sagt sie.

Am Rosenmontag 2020 saß sie vor dem Fernseher und schaute sich die Übertragung der Umzüge aus dem Rheinland an, als die Meldung aus Volkmarsen kam. „Ich war schockiert. Ich wusste, dass eine Freundin von mir dort ist, und habe ihr eine SMS geschickt und sofort in unserer Außenstelle Waldeck-Frankenberg angerufen.“

Petra Kern ist ehrenamtliche Mitarbeiterin beim WEISSEN RING. Foto: Christoph Klemp

Elf Opfer melden sich beim WEISSEN RING. Der Verein leistet finanzielle Ersthilfe, damit die Menschen neue Kleidung kaufen können, die bei dem Anschlag ruiniert wurde. Oder damit sie sich mit der Familie für ein Wochenende einfach mal einen Tapetenwechsel leisten können. „Die Menschen konnten das nicht glauben, als ich mit dem Geld vor der Tür stand“, sagt Petra Kern. „Sie möchten gern damit abschließen, aber es gibt Momente, in denen alles wieder präsent ist: Wenn Reifen quietschen oder ein Motor aufheult, bekommen sie Panik und Schweißausbrüche.“ So haben sie es Petra Kern erzählt. Die ehemalige Chefin der Korbacher Kreishaus-Kantine verspricht den Menschen: „Solange Sie mich brauchen, bin ich für Sie da.“

Es ist kompliziert, aber Hilfe kommt von allen Seiten. Doch reicht diese Hilfe?

Was Ersthelfer sind, ist klar definiert: Personen, die bei Unglücksfällen, allgemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder jemanden aus einer akuten Gesundheitsgefahr retten oder zu retten versuchen. Das kann auch eine Mutter sein, die ihr Kind vor einer Gefahr schützt und sich dabei verletzt. 48 Menschen melden sich bis Juli 2021 bei der Unfallkasse Hessen. Bei dieser sind Ersthelfer gesetzlich versichert, sie sorgt für psychologische Betreuung, allgemeine Beratung und psychologische Erstversorgung.

Eine wichtige Rolle spielt die Kasseler Hilfe, eine regionale Beratungsstelle für Opfer und Zeugen von Straftaten. Rund 30 bis 40 Anfragen und Kontakte aus Volkmarsen habe es in dieser Zeit gegeben, sagt Ute Ochs von der Kasseler Hilfe. Die Mitarbeiterinnen klappern alle Therapeuten und Kliniken ab, fragen nach: Was könnt ihr anbieten, damit die Menschen nicht so lange Wartezeiten haben?

Die Kasseler Hilfe ist es auch, die eine Kinderpsychotherapeutin aus Kassel einlädt. Diese erklärt den Eltern betroffener Kinder, wie die Kleinen mit den traumatischen Erlebnissen umgehen und wie Eltern und Erwachsene sie unterstützen können, damit die Kinder ihr Sicherheitsgefühl und das Vertrauen in ihre Umgebung wieder aufbauen.

Öffentliche Treffen sind schon bald nicht mehr möglich: In diese Zeit, in der Nähe und gemeinsame Aufarbeitung so wichtig sind, fällt der erste Corona-Shutdown.

IV. Gemeinschaft in Corona-Zeiten

Diesen Angriff auf die Menschlichkeit könne man nur gemeinsam verkraften, sagt der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier bei einem ökumenischen Gottesdienst in Volkmarsen am Tag danach. Da weiß er noch nicht, dass das ganze Land drei Wochen später im Corona-Shutdown sein wird. In einer Zeit, in der Gemeinschaft und Nähe wichtig sind, gelten Abstandsgebote und Kontaktbeschränkungen.

„Wir haben in der Familie sehr viel darüber geredet. Das war bei jeder Mahlzeit ein Thema. Jeden Tag, jeden Abend. Da sind auch Tränen geflossen“, sagt Joachim, dreifacher Familienvater, vor Gericht über die Zeit der Aufarbeitung. Sehr geholfen habe in dieser Zeit vor allem die Freiwillige Feuerwehr in Volkmarsen.

Verdrängen und vermeiden

In den Volkmarser Vereinen treffen sich kleine Grüppchen: bei der Freiwilligen Feuerwehr, bei der Katholischen jungen Gemeinde (KjG), beim Musikverein und beim Karnevalsverein. „Trotz allen Ungemachs ist es gut, dass es in Volkmarsen diese Strukturen gibt. Da wird schon viel aufgefangen“, sagt Helmut Fünfsinn. Viele stellen sich auch da schon die Frage, ob Volkmarsen jemals wieder unbeschwert Karneval feiern wird. Der Umzug mit dem Karnevalsgruß „Schurri“ bedeutet für viele im Ort ein gewachsenes Stück Tradition und Heimat.

Der katholische Pfarrer Martin Fischer sitzt im Pfarrzentrum St. Hedwig und erzählt mit leiser Stimme von Einzelgesprächen und vielen Tränen bei der seelsorgerischen Aufarbeitung. Viele berichten ihm von schlaflosen Nächten und Albträumen. „Hier in Volkmarsen kennt fast jeder jeden. Wir haben an die Verletzten gedacht, wollten wissen: Wie geht ihnen?“

Viele berichten Pfarrer Martin Fischer von schlaflosen Nächten und Albträumen. Foto: Christoph Klemp

Auch Pfarrerin Holk hat viele Einzelgespräche geführt. „Und das auch im Supermarkt, auf der Straße bis in die Amtshandlungen hinein bei Beerdigungen oder Taufen.“ Ein Stichwort oder ein Blick genüge, um zu wissen: Ich weiß, was du meinst. Ich weiß, wie es dir geht. Jeder in Volkmarsen kann sagen, wo er oder sie am 24. Februar 2020 war. „Wie geht’s dir?“ ist keine Floskel mehr, und wenn jemand den Rosenmontag erwähnt, dann wird es erstmal still. In Volkmarsen sei ein markanter Grad der Verbundenheit entstanden.

Aber bedeutet Verbundenheit auch Verarbeitung? Oder hat Corona doch vieles verschüttet, was eigentlich gemeinsam aufgearbeitet werden müsste?

„Viele wollen das Ereignis verdrängen und sich nicht mehr damit beschäftigen“, sagt Britta Holk. „Sie können alle weiterarbeiten, -studieren und weiterleben, aber verkraftet haben sie es noch lange nicht.“ Neben dem Verdrängen ist das Vermeiden eine zweite Strategie. „Ich kenne Leute, die bis heute sagen, an dieser Stelle wird mir ganz anders“, sagt Britta Holk. Sie selbst hat sich nie als Opfer gemeldet. „Ich habe ja nur miterlebt und ausgehalten“, sagt sie. Aber in diesem Fall trifft es die eigene Familie. Das führe sie immer wieder an ihre menschlichen Grenzen – auch nach 30 Jahren im Pfarramt und vielen miterlebten Schicksalen.

Wie hält sie selbst das aus?

„Ich habe Kolleginnen die ziemlich gut sind, ich habe einen Mann, der wirklich klasse ist, bei uns bleibt viel in der Familie“, sagt die Pfarrerin.

Auch Diana sagt, ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Freund und ihre Freundinnen seien die besten Stützen gewesen.

Obwohl alle das gleiche Ereignis erlebt haben, wirkt sich das auf die Einzelnen unterschiedlich aus. „Wenn ich mit jemandem unter einem Dach wohne, der sehr betroffen und sehr elektrisiert ist, dann kann mich das auch triggern. Das kann auch zu viel sein“, sagt Ute Ochs von der Kasseler Hilfe.

172

Seiten umfasst die Anklageschrift

Und noch etwas beschäftigt die Menschen in dieser Zeit: die juristische Aufarbeitung. Warum dauert das gefühlt so lange, bis der Täter vor Gericht kommt? Die Behörden ermitteln, Gutachter machen ihre Arbeit, aber die Menschen bekommen davon nichts mit. „Das Wissen um die Abläufe und ihre Rechte kann Menschen helfen, diese Unruhe auszuhalten“, sagt Ute Ochs.

„Es gibt in diesem Verfahren mehr als 400 Zeugen“, sagt Staatsanwalt Dr. Tobias Wipplinger. „Wir schulden es jedem einzelnen Opfer, die Geschehnisse am Rosenmontag 2020 strafrechtlich minutiös aufzuarbeiten.“

Kurz vor Weihnachten erhebt die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Anklage: Auf 172 Seiten wirft sie dem Angeschuldigten unter anderem 91-fachen versuchten Mord und 90-fache schwere Körperverletzung vor.

Vor dem Prozess soll es eigentlich eine große Veranstaltung in Volkmarsen geben, bei der der Ablauf eines solchen Strafverfahrens erklärt werden sollte. Doch eine weitere Corona-Welle verhindert das.

V. Die Konfrontation

Im Mai 2021 beginnt vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Kassel der Prozess. Wegen des erwarteten Besucherandrangs und der Corona-Auflagen mietet das Gericht eine Messehalle mit Platz für 360 Zuschauer an. Es kommen rund 20.

Liegt es an der Verdrängung? Oder vielleicht daran, dass die Hilfen greifen und in vielen Fällen doch so etwas wie eine Verarbeitung stattgefunden hat? Oder ist es einfach so, dass die Menschen in Volkmarsen der Justiz und deren Aufarbeitung des Geschehens schlicht vertrauen?

Im Prozess schweigt der Angeklagte. Foto: Elmar Schulten

Möglicherweise ist das auch ein Grund dafür, dass es in einem Verfahren dieser Größenordnung nur drei Nebenkläger gibt.

Staatsanwalt Dr. Tobias Wipplinger nennt zum Prozessauftakt alle Verletzten einzeln beim Namen, zählt die Verletzungen auf, darunter Schädel-Hirn-Traumata, offene Brüche, Hirnblutungen, Lungenquetschungen, Milzrisse, Amnesien und Posttraumatische Belastungssyndrome.

Nach vier Verhandlungstagen zieht das Gericht in einen großen Saal im Kulturbahnhof Kassel um. Ein Stück zurück zur Normalität, aber wohl auch eine Frage der Kosten. Das Parkett und die dunklen Säulen bieten einen passenden Rahmen für einen Strafprozess. Polizisten bewachen die Eingänge. Zwei Justizbeamte sitzen mit im Saal, links und rechts vom Angeklagten und seinen Pflichtverteidigern.

Der Strafprozess ist für viele Opfer und Zeugen Neuland. Sie sind bei der juristischen Aufarbeitung Zeugen, juristisch gesprochen: Beweismittel. Im Strafprozess versucht der Staat den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen und fragt nur: Wer ist strafrechtlich dafür verantwortlich? Die Menschen in Volkmarsen stellen sich aber ganz andere, quälende Fragen:

Warum hat er das gemacht?

Was für ein Mensch tut so etwas?

Wie kann man Kinder töten wollen?

Beantworten kann das nur der Angeklagte. Doch der nutzt seinen rechtlichen Schutzraum voll aus und schweigt. „Ob er sich im Laufe des Prozesses äußern wird, ist noch offen“, sagt Bernd Pfläging, einer der beiden Pflichtverteidiger des Angeklagten. Täterrechte scheinen Opferrechten oft entgegenzustehen, aus Sicht von Opfern: über ihnen zu stehen.„Wenn sich jemand gar nicht kooperativ zeigt, dann ist das nochmal ein Schlag ins Gesicht der Opfer“, sagt Ute Ochs von der Kasseler Hilfe. „Es würde allen helfen, wenn er sich mal zu seinem Motiv äußern würde.“

Angaben werden im Prozess Menschen aus dem ehemaligen Arbeitsumfeld des Angeklagten sowie der Agentur für Arbeit machen müssen. Angehörige sind ebenfalls als Zeugen geladen, doch auch sie haben als Verwandte ein Auskunftsverweigerungsrecht. Eine psychiatrische Gutachterin sitzt mit im Gericht.

Anders als der Angeklagte dürfen die Opfer nicht schweigen. Sie müssen die Fragen im Gericht beantworten und sich dem starren Blick des Mannes aussetzen, der so viel Leid über sie gebracht hat. Der 30-Jährige fixiert jeden, der auf dem Zeugenstuhl sitzt. Er beugt seinen massigen Oberkörper nach vorn. Die mit einer Kette gefesselten Füße stehen fest auf dem Boden. Der Mann wirkt kalt.

Viel Wärme hingegen bringt die Kasseler Hilfe mit in den Prozess. Als eine junge Zeugin bei ihrer Aussage in Tränen ausbricht, nimmt sich Silke Emde einen Stuhl und setzt sich neben sie. Die Diplomsozialpädagogin legt ihre Hand beruhigend auf den Rücken der Zeugin. Die fängt sich wieder und kann weiter aussagen. Es sind viele, die weinen, als sie sich erinnern müssen. Silke Emde und ihre Kolleginnen sind immer zur Stelle.

Auch der Vorsitzende Richter Volker Mütze geht sehr einfühlsam mit den Zeuginnen und Zeugen um, befragt sie umsichtig. Der erfahrene Jurist hat schon einiges gesehen und erlebt, unter anderen hat er den „Kannibalen von Rotenburg“ verurteilt. Bis zum 16. Dezember 2021 hat Mütze den Prozess terminiert.

Diana verfolgt das Verfahren als Nebenklägerin, wann immer sie kann. Nur als am ersten Verhandlungstag das Video der Tat gezeigt wird, welches ein Polizist aufgenommen hat, der den Umzug jedes Jahr filmt, verlässt sie den Saal. Sie wird noch oft hören, was ihr passiert ist. Sehen möchte sie es nicht. „Ich bin sehr froh, dass ich mich an nichts erinnern kann. Und ich bin froh, dass ich nicht in Volkmarsen wohne“, sagt sie.

"Natürlich hasse ich den Typen. Aber ich lasse mir nicht meine Fröhlichkeit nehmen. Ich war vorher ein fröhlicher Mensch und ich bin heute ein fröhlicher Mensch."

Diana (24), Auszubildende

Diana sagt, der Anschlag habe sie verändert. Beim Bungee-Jumping oder Paragliding wäre sie früher ganz vorne mit dabei gewesen. „Heute würde ich das nicht mehr machen.“ Sie ist sich der eigenen Endlichkeit bewusst geworden. Mit 24. Egal, was die Verarbeitung bringt oder der Prozess: Opfer bleibt man. „Natürlich hasse ich den Typen. Aber ich lasse mir nicht meine Fröhlichkeit nehmen. Ich war vorher ein fröhlicher Mensch und ich bin heute ein fröhlicher Mensch.“ Und dann fügt sie noch hinzu: „Ich möchte endlich mal einen richtigen Karnevalsumzug in Volkmarsen mitmachen.“ Diana zählt auf:

2019 stoppte ein Unwetter den Rosenmontag, 2020 ein Amokfahrer, 2021 Corona.

2022 möchte Diana richtig Karneval feiern.

Mit Freunden, Familien und Vereinen.

So wie es früher war.

Update, 16. Dezember 2021:

Knapp zwei Jahre nach der Autoattacke auf den Rosenmontagszug im nordhessischen Volkmarsen ist der Täter zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Landgericht Kassel stellte dabei auch die besondere Schwere der Schuld fest.

Update, 17. Februar 2022:

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kassel ganz überwiegend verworfen. Mehr dazu findet sich in einer Pressemitteilung.

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Erstellt am: Dienstag, 1. Februar 2022 von Torben

„Übernehmt endlich Verantwortung!“

Christina Feist hat den antisemitischen Anschlag in Halle überlebt. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Foto: Tobias Großekemper

Dieser Text richtet sich an diejenigen, die mich immer wieder fragen, warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen kann.

Im März 2019, sieben Monate vor dem Attentat auf die Synagoge in Halle, zog ich im Rahmen meiner Promotion für einen ursprünglich einjährigen Auslandsaufenthalt von Berlin nach Paris. Ein Jahr später und fünf Monate nach dem Attentat in Halle kämpfte ich in Paris nach wie vor mit Symptomen des erlebten Traumas.

Ich hatte Alb- und Angstträume, erschrak bei jedem plötzlichen, lauten Geräusch und hatte Schwierigkeiten, durch den Tag zu kommen. Das Attentat begleitete mich auf Schritt und Tritt. Ein Umzug – ganz egal wohin – war unvorstellbar.

Auch jetzt, anderthalb Jahre später, wird mir beim Gedanken, nach Deutschland zurückziehen zu müssen, immer noch schlecht. Und das sorgt für Irritationen.

Warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen könne, fragt Ihr mich bestürzt. In Deutschland bewege ich mich in der Angst, antisemitisch angegriffen zu werden. Und gleichzeitig in der Gewissheit, damit gegebenenfalls alleine dazustehen: Werde ich
auf der Straße angegriffen, wie es Freunden und Freundinnen von mir in Deutschland regelmäßig passiert, ist darauf Verlass, dass von den Umstehenden niemand eingreift. Falls überhaupt jemand stehen bleibt.

Eine Tafel an der Mauer der Synagoge erinnert an den Anschlag eines Rechtsradikalen in Halle. Der Mann versuchte, mit selbst gefertigten Waffen die Synagoge zu stürmen und ein Blutbad anzurichten. Als ihm das misslang, erschoss er in der nahegelegenen Innenstadt zwei Menschen und verletzte weitere. Foto: Tobias Großekemper

Das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall

Von der Polizei ist statt Hilfe im besten Fall noch Gleichgültigkeit zu erwarten. Im schlimmsten Fall begegnet Betroffenen dort erneut Antisemitismus, Rassismus, Trans- oder Homofeindlichkeit.

Die Politik bedient derweil beharrlich das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall. Lasst mich Euch also eine Gegenfrage stellen: Wie entbehrlich sind Euer Sicherheitsgefühl und Vertrauen in den Staat, in dem Ihr lebt?

Diese Antwort gefällt vielen von Euch nicht. Trotzdem begegnet Ihr mir ungläubig, ungeduldig und wütend. Das könne ja alles gar nicht sein, Deutschland habe schließlich aus seiner Geschichte gelernt. Ein Problem mit gesellschaftlich tief verankertem Antisemitismus und Rassismus könne es also gar nicht geben. Ich frage Euch: Wo ist diese angeblich solidarische Mehrheit, die Zivilcourage und Menschlichkeit beweist? Wo ist sie, wenn Freunde an Yom Kippur auf der Straße antisemitisch beschimpft werden? Wenn Mitstipendiaten die Kippa vom Kopf gerissen wird und sie körperlich angegriffen werden?

Der Antisemitismus marschiert in Form der Querdenker ungehindert durch Deutschlands Straßen. Während diese die Shoah verharmlosen und antisemitische Parolen skandieren, ist diese angeblich solidarische Mehrheit, als Teil derer Ihr Euch begreift, damit beschäftigt, die Perspektive der Betroffenen infrage zu stellen. Ihr relativiert und bagatellisiert unsere Erfahrungen mit antisemitischen und rassistischen Angriffen. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und an Veränderung zu arbeiten, stellt Ihr infrage, was wir, die Überlebenden und Hinterbliebenen, schon lange wissen: Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem.

Warum wir gegen Hass und Hetze vorgehen müssen

Hass und Hetze im Internet sind zum Alltag geworden. Wir dürfen menschenverachtende Worte einfach nicht ignorieren, sondern müssen ihnen entgegentreten, sagt Hasnain Kazim.

Ohrenbetäubendes Schweigen einer Mehrheit

Antisemitische und rassistische Anfeindungen – online wie offline – sind schon lange Teil unseres Alltags. Gehört werden wir, die Betroffenen, aber erst, wenn es zu Terrorakten wie 2019 in Halle oder 2020 in Hanau kommt. Dann ruft Ihr reflexartig „Nie wieder“ und „Einzeltäter“. Und verliert bald wieder das Interesse. Aber antisemitische und rassistische Angriffe sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines tief verwurzelten Netzwerks rechtsextremer Ideologie.

Auch ich, als Betroffene eines rechtsextrem und neonazistisch motivierten Terroranschlags, bin keine Einzelerscheinung. Ich bin Teil einer ganzen Reihe von Menschen, die allesamt Opfer und Betroffene rechter Gewalt- und Terrorakte sind und deren Zahl stetig und mit erschreckender Geschwindigkeit wächst. Die Menge derer, die auch nach dem ersten „Nie wieder“-Hype noch neben uns, den Betroffenen, stehen, ist hingegen überschaubar gering. Einige davon durfte ich während des Prozesses gegen den Täter von Halle kennenlernen. Jeden Prozesstag standen sie im und vor dem Gerichtsgebäude, gaben mir Kraft und Halt. Diese Menschen sind Teil einer couragierten, solidarischen Minderheit in einer überwiegend schweigenden Mehrheit.

Dieses ohrenbetäubende Schweigen einer Mehrheit, die von sich behauptet, weder antisemitisch noch rassistisch zu sein, übertönt oft die vereinzelten solidarischen Zwischenrufe. Zu einsam und leise sind auch die Stimmen der Betroffenen, die sich nicht abspeisen lassen, sondern unentwegt mahnen, warnen und fordern. Sie versanden in der Gleichgültigkeit ebendieser schweigenden Mehrheit.

„Wenn wir um Hilfe rufen, hört ihr weg“

Was sich denn ändern muss, fragt Ihr mich. Fangen wir damit an, was sich seit Oktober 2019 für mich geändert hat: Ich lebe nach wie vor in Paris. Meine Berufsaussichten mit einer deutschsprachigen Dissertation im nicht deutschsprachigen Ausland sind begrenzt. Und trotzdem werde ich nicht nach Deutschland zurückkehren.

Getrieben von der Angst vor Eurem eigenen schlechten Gewissen, hakt Ihr nach. Ich schaue Euch in die Augen und antworte: Ihr stellt Euch nicht neben uns, wenn Juden und Jüdinnen auf Deutschlands Straßen beschimpft werden. Wenn wir um Hilfe rufen, hört Ihr weg. Stattdessen winkt Ihr mit Israel-Flaggen, weil Ihr jüdische Menschen nicht von Israel unterscheiden könnt, setzt Euch eine Kippa auf und ruft empört „Nie wieder“. Dann suhlt Ihr Euch in Selbstzufriedenheit und nennt das „Solidarität“.

Eure Empathie reicht genau bis zum Ende Eurer Komfortzone. Und Ihr gebt Bestürzung vor und fragt mich, warum ich nicht in Deutschland leben will?

Dieser Text ist ein Abdruck aus dem Buch „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“, das zu der gleichnamigen Ausstellung des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv erschienen ist. Der WEISSE RING unterstützt die Ausstellung.

Hilfe nach dem Horror

Erstellt am: Mittwoch, 8. Dezember 2021 von Sabine

Hilfe nach dem Horror

Ein Mann ermordet in Würzburg drei Frauen mit einem Messer. Die Tat bestürzt das ganze Land: Hätte sie verhindert werden können? In unserem Portrait stellen wir zwei Helfer vor, die viel für die Opfer und die Angehörigen getan haben.

Nach der Tat: Würzburg trauert. Foto: Nicolas Armer/dpa

Die Küchenmesser im Kaufhaus „Woolworth“ in der Würzburger Innenstadt liegen nicht mehr in der Auslage. Das ist zumindest eine beruhigende Veränderung. Denn an dieser Stelle hatte sich im Sommer 2021 ein wohl 24 Jahre alter Geflüchteter aus Somalia von der Verkäuferin die Ware zeigen lassen, um dann mit einem Messer mit langer Klinge wild um sich zu stechen. Drei Frauen kamen ums Leben, ein zwölfjähriges Mädchen und vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Das beherzte Eingreifen von Passanten verhinderte, dass noch mehr Menschen zu Schaden kamen.

Der Amoklauf sorgte deutschlandweit für Bestürzung, die Anteilnahme für die Opfer war enorm: Die Spenden erreichten sechsstellige Summen. Alois Henn vom WEISSEN RING in Würzburg bekam die Nachricht von der Tat noch am Abend mitgeteilt, die folgenden drei Wochen verbrachte er am Schreibtisch. Es ging um schnelle Hilfe, um Koordination und Kooperation zwischen den beteiligten Stellen – zum Schutz der Opfer und Angehörigen. Es wurde eine Herkulesaufgabe, doch Henn und Außenstellenleiter Martin Koch sind seit Jahrzehnten an Ausnahmefälle gewöhnt.

Nicht über Pensionierung gefreut

Bei einem Treffen in diesem Herbst trägt Henn einen schwarzen Hut, Koch eine helle Cap und beide kariertes Hemd unter ihren Pullovern. Sie erzählen ausführlich und pointenreich von ihrem Leben – aber auch von den dunklen Tagen nach der Würzburger Tat. Wenn man die beiden agilen Ehrenamtler so beobachtet, kommt man gar nicht auf den Gedanken, in welch hohem Alter sie sich noch derart engagieren: Henn zählt 79 Jahre, Koch sogar 85.

Sie mussten lernen, die Perspektive zu wechseln: die ehemaligen Polizisten und heutigen Opferhelfer Martin Koch (links) und Alois Henn. Foto: Ron Ullrich

Neben dem augenscheinlichen Faible für Kopfbedeckungen eint sie noch die gemeinsame Biografie als ehemalige Polizisten: Koch war Leiter der Mordkommission in Würzburg. Er wurde mit 60 Jahren pensioniert und war einer der wenigen Arbeitnehmer in Deutschland, die sich über die Rente nicht gefreut haben. Er wollte weiter aktiv sein,  und so schloss er sich 1997 dem Team des WEISSEN RINGS an. Dabei wurde er auch zu einer Art Botschafter: Er allein soll 300 Personen als Mitglieder zum WEISSEN RING gebracht haben. Koch, der in diversen Klubs vom Radfahren bis zum Wandern unterwegs ist, leistete Überzeugungsarbeit. Sein Kollege Henn scherzt: „Wenn er mit einer Gruppe im Bus unterwegs war, ist er nie ohne neue Mitglieder zurückgekommen.“

Auch Alois Henn kam zum WEISSEN RING, weil ihn Koch nach dessen Pensionierung 2003 anwarb. Von 1962 an hatte er zuvor bei der Polizei gearbeitet, aus eigenem Antrieb sogar die Stationen gewechselt, um überall Neues zu entdecken: So war er bei der Einsatzleitung, der Autobahnpolizei, dem Unfallkommando, als „Operator“ im Einsatz und später im Rechnungswesen. „Ich habe alle Sparten kennengelernt.“ Heute, nach seiner offiziellen Dienstzeit, bekleidet Henn so viele Ehrenämter, dass er sie gar nicht alle aufzählen kann. So ist er unter anderem Ehrenvorsitzender des Polizeichors und des Sängerkreises Würzburg. Im September wurde er für sein Engagement mit dem Ehrenzeichen des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.

Täter mit Opfer-Perspektive konfrontiert

Die beiden Mitarbeiter vom WEISSEN RING haben also jahrelange Erfahrung gesammelt, zeichnen sich durch ihr Engagement und ihre Begeisterungsfähigkeit aus – und wer an Astrologie interessiert ist, mag diesen Zufall als weitere Erklärung für ihre Gemeinsamkeiten anführen: Beide wurden am 9. Juni geboren – Koch im Jahr 1936, Henn 1942.

Beim WEISSEN RING mussten sie erst einmal lernen, die Perspektive zu wechseln. Die Polizei sieht Opfer zunächst einmal als Zeugen einer Straftat an, in ihrer heutigen Tätigkeit rückt die Opferperspektive in den Mittelpunkt. „Ich wäre zu meiner Zeit bei der Polizei froh gewesen, wenn ich vom WEISSEN RING gewusst hätte“, sagt Koch. Für Henn ist eine Wechselwirkung entscheidend: In den Gesprächen zeigt er Empathie, muss gleichzeitig die Sympathie seines Gegenübers erlangen, damit das Gespräch vertrauensvoll und tiefergehend ablaufen kann. „Ich stelle mir die Fragen: Was ist passiert? Wo liegt der Schaden? Und wie kann ich helfen?“ Nicht alles in diesem Lernprozess laufe autodidaktisch ab, neben den langjährigen Erfahrungen helfen den beiden die Aufbauseminare der WEISSER RING Akademie.

Außerdem hat Henn eine besondere Initiative gestartet: Er hält Vorträge vor der Bereitschaftspolizei – und in der JVA. Hier konfrontiert er Täter meistens zum ersten Mal mit der Perspektive ihrer Opfer. „Die Reaktionen sind frappierend“, so Henn. Einmal habe ein Sexualstraftäter den Raum verlassen, weil er es nicht mehr ausgehalten habe. Zehn Minuten später sei er zurückgekehrt. „In diesen Sitzungen wird Tacheles geredet, psychologisch lerne ich da unglaublich viel.“ Die Hälfte der Täter bitte nach den Vorträgen sogar noch um Einzelgespräche. Die Begegnungen sind wohl einmalig in Deutschland und könnten ein Vorbildprojekt werden, glauben die beiden. Die Rückfallquote liege bei den Tätern, die die Vorträge besuchten, bei nur fünf Prozent – während sie im Schnitt wohl um das Sechsfache höher ausfalle.

Der Horror von Würzburg

Für Henn geht es beim WEISSEN RING um zwei Ansätze: die organisatorische und die psychologische Hilfe. „Wichtig ist aber vor allem, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Und: Zuhören! Zuhören! Zuhören!“ Genau diese Tugenden waren gefragt nach dem 25. Juni 2021 – nach der Messerattacke von Würzburg.

Als Henn den Fall abends auf seinen Schreibtisch bekam, kabelte er gleich der Betreuungsstelle der Polizei durch: Wir stehen bereit, um zu helfen! „Wichtig ist, so einer Situation mit Bedacht zu begegnen und nicht überstürzt Entscheidungen zu treffen. Wir müssen intensiv mit der Polizei zusammenarbeiten.“ Der WEISSE RING habe die große Stärke, sofort und unbürokratisch zu helfen. Bei dem Attentat starb eine junge Mutter, ihre zwölfjährige Tochter überlebte. Der Lebenspartner und der Bruder des Mädchens waren da aber noch in Brasilien, also organisierte die Opferhilfe einen Flug der beiden, um die Familie in der Stunde dieser Trauer zusammenzubringen.

Die Anteilnahme in Würzburg ist groß. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Insgesamt sieben Opfer des Attentats meldeten sich beim WEISSEN RING, die finanziellen Hilfen beliefen sich auf rund 15.000 Euro. Eine 42 Jahre alte Frau war nach dem Angriff querschnittsgelähmt, ein 16-Jähriger hatte Messerstiche im Rücken erlitten. Eine andere Frau schlug den Angreifer mit der Einkaufstasche und konnte sich auf diese Weise retten – aber sie war daraufhin traumatisiert.

Die Spendenaktion „Würzburg zeigt Herz“ erbrachte insgesamt 200.000 Euro.  Henn zeichnete für einen Spendenaufruf übers Radio verantwortlich und gab in der Presse Interviews. „Ich saß drei Wochen lang ununterbrochen am Schreibtisch – die Informationen liefen kreuz und quer und mussten zusammengeführt werden.“

Immer wieder Messer-Attacken

Die Stadt, das ganze Land sprach über die Tat. Der Horror von Würzburg rief in ganz Deutschland Fragen auf: Wie konnte es zu dieser Tat kommen – und hätte sie verhindert werden können? Nur drei Tage später attackierte ein 32-Jähriger in Erfurt zwei Männer mit einem Messer. Auch im November 2021 schockieren Bluttaten das Land: Ein Geflüchteter aus Syrien stach in einem ICE in der Oberpfalz wahllos auf Passagiere ein, am gleichen Abend richtete ein Mann in einem Bekleidungsgeschäft in München das Messer gegen einen Jungen. Dem Täter im ICE attestierte ein Sachverständiger eine „paranoide Schizophrenie“. Der Angreifer von Würzburg wurde in diesem Jahr von einem Gericht als „nicht schuldfähig“ angesehen.

Zwei Messerangreifer, zwei Geflüchtete, zwei Mal mit psychischen Problemen – nur ein Zufall? Gegenüber der „Welt am Sonntag“ sagte Lukas Welz, der Geschäftsführer der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: „Uns fehlen einfach die Mittel.“ 30 Prozent der Geflüchteten litten demnach unter einer psychischen Erkrankung, doch nur fünf Prozent würden betreut. Tatsächlich hat ein Großteil der Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind, traumatische Erfahrungen wie Krieg, Folter oder Vertreibung in der Heimat machen müssen. Für die Aufarbeitung und medizinische Betreuung fehlten in Deutschland nicht nur die Mittel, sondern auch das Bewusstsein für diese besondere gesellschaftliche Herausforderung.

Jedoch wurden nicht alle Geflüchteten im Umkehrschluss zu potenziellen Gewalttätern. Einer der mutigen Passanten, die sich in Würzburg dem Täter entgegenstellten, war ein geflüchteter Kurde, der erst einige Monate zuvor nach Deutschland eingereist war. Mit seinem neu erworbenen Rucksack und lauten Schreien stellte er sich dem Täter entgegen, bis die Polizei eintraf. So konnte ein noch schlimmeres Blutbad verhindert werden.

Die Opfer: Frauen

Ob die Tat insgesamt hätte verhindert werden können, darüber stritt die Öffentlichkeit. Der Täter aus Somalia soll laut Zeugen „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) gerufen haben – seine Opfer waren Frauen. Diese Indizien führten zum Verdacht einer islamistischen Tat, doch eindeutige Beweise für diese Verbindung blieben aus. Der Terrorismusforscher Peter Neumann erklärte gegenüber der „Zeit“, dass islamistische Organisationen nun vermehrt den Einzeltätertypus bewerben. Gleichzeitig warnte er, dass sich der Fall in Würzburg gar nicht so leicht beurteilen lasse: „Ist das überhaupt noch Terrorismus, ist das was ganz anderes, hängt sich da jemand mit seiner psychischen Krankheit nur an solche Slogans ran?“ Was war zuerst da: die psychischen Probleme oder die extremistische Einstellung?

Ein Meer an Kerzen und Blumen in der Würzburger Innenstadt. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Aus Opfersicht ist aber wichtig, dass gerade hier eine Früherkennung und Präventionsarbeit stattfindet. Ein Gutachten zur psychischen Störung nach der Tat erzürnt die Opfer, weil der Täter formell keine Haftstrafe antreten muss, sondern womöglich in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Täter von Würzburg war bereits vor dem Amoklauf zwangsweise in psychiatrischer Behandlung gewesen. Einmal hatte er in Würzburg ein Auto angehalten, sich hineingesetzt und sich geweigert, den Wagen zu verlassen. Bewohner der Innenstadt erzählen, dass der Somalier stadtbekannt gewesen war, weil er immer barfuß durch die Straßen lief. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wiegelte in Interviews in der Folge jedoch ab: Diese Aktionen hätten nicht ausgereicht, um den Mann einzusperren. Auch die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, Alois Henn und Martin Koch, teilen diese Ansicht. „Ich halte es auch für ausgeschlossen – du kannst jemanden nicht dafür wegsperren“, so Koch. Und Henn sagt: „Solche Dinge kann man nicht verhindern.“

Ein bisschen Normalität

Henn und Koch haben im Nachgang der Tat viel für die Opfer und die Angehörigen getan – mitunter sind es die kleinen Hilfen, die große Wirkung entfalten. Die Zwölfjährige, die in Würzburg ihre Mutter verlor, lebt nun mit Vater und Bruder zusammen, die erst durch die finanzielle Unterstützung aus Brasilien anreisen konnten. Sie wohnten nun bei ihr, erzählt Henn, und besuchten Deutschkurse. „Sie können sich schon sehr gut verständigen.“

Als eine private Spende in Höhe von 250 Euro für das Mädchen einging, stockte der WEISSE RING auf 400 Euro auf und kaufte ihr ein neues Kinderfahrrad. Es ist nicht viel, aber ein kleines Stück Normalität, nach all den dunklen Stunden.

Vom Blick in den Abgrund

Erstellt am: Mittwoch, 1. Dezember 2021 von Sabine

Vom Blick in den Abgrund

Eine Ausbildung als Altenpflegerin bricht Waltraud Krämer mit 18 ab. Damals fühlt sie sich nicht bereit, um mit dem Tod umzugehen. 2002 landet sie dann beim WEISSEN RING – und entscheidet, die Abgründe in ihr Leben zu lassen.

„Es ist immer ein Kratzer auf der Seele“, sagt Waltraud Krämer über Opfer, die sie betreut.

Als Waltraud Krämer zum ersten Mal in den Abgrund sah, stellte sie fest, dass sie dafür noch nicht bereit war. Altenpflegerin wollte sie werden. Die Theorie war kein Problem, die Praxis schon. „Ich konnte damals nicht mit dem Tod umgehen“, sagt sie. Mit 18 brach sie die Ausbildung ab.

Nichts ist leichter, als mit den ersten Informationen ein falsches Bild von Waltraud Krämer, 58, zu zeichnen, Leiterin der Außenstelle Trier-Saarburg vom WEISSEN RING. Ein Mensch, dessen Herzlichkeit sich ihr Gegenüber nicht erst verdienen muss. Seit 40 Jahren verheiratet. Für den finanziellen Lebensunterhalt sorgte überwiegend ihr Mann, weil sie genug damit zu tun hatte, Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu sein. Ihren Whatsapp-Status aktualisiert sie täglich mit aufmunternden Bildergrüßen. Dazu spricht sie ein wenig wie Hilde Becker, die menschgewordene Kittelschürze aus der im Saarland spielenden Comedyserie „Familie Heinz Becker“. Krämer ist an der Grenze zum Saarland aufgewachsen. So eine ist das also, denkt man kurz. Aber so eine ist sie eben nicht.

Krämer sucht – und findet den WEISSEN RING

Vielleicht hat sogar Krämer selbst sich lange unterschätzt – jedenfalls: Es war das Jahr 2002. Sohn Rüdiger ging nun bis nachmittags ins Gymnasium, was also tun mit der Zeit, die plötzlich da war? Einen Job wollte sie nicht, dann hätte sie ihren Mann, der häufig nachts arbeitete, kaum noch gesehen. Außerdem sollte es Erfüllung bringen. „Ich hab irgendwie was gesucht.“ Also ein Ehrenamt. Auf einer großen Verbrauchermesse in Trier kommt sie am Stand des WEISSEN RINGS vorbei. Die Außenstelle leitet damals Claus Bermes, ein ehemaliger Polizist. „Er ist mir so in die Füße gelaufen“, sagt Krämer. Sie führen ein langes Gespräch. Danach ist sie überzeugt: „Hier kann ich Wege aufzeigen, die ein Opfer nicht kennt.“ Noch am selben Tag hilft sie am Stand mit.

Wenn man so will, beschließt Krämer an diesem Tag, die Abgründe in ihr Leben zu lassen. Das ist nicht mehr die 18-Jährige, die ihre Ausbildung als Altenpflegerin abgebrochen hat. Auch in ihrer Familie sind Leute gestorben. Bermes führt sie langsam heran, nimmt sie mit zu seinen Fällen, Einbruch, Körperverletzung, nicht gleich mit den ganz harten Geschichten einsteigen. An ihre Gedanken beim ersten Opfer erinnert sie sich so: „Oh… aber passt.“ Nach ein paar Jahren sagt Bermes zu ihr, und Krämer zitiert es so, dass er es einfach so gesagt haben muss: „Mädchen, du bist so weit.“ Für eigene Fälle. 2009 wird sie seine Nachfolgerin. Kontakt zu Bermes, 83, hält sie bis heute.

„Wir sind alle auch ein bisschen Telefonseelsorger“

Seitdem nimmt sie die Anrufe entgegen, verteilt die Fälle oder übernimmt sie selbst. Da war der Rentner, der nach dem Einkauf noch mal zurückging, weil er was vergessen hatte, während seine Frau schon mal die Sachen ins Auto packte. Ein Mann setzte sich in den Wagen, um damit wegzufahren, und verletzte die Frau so schwer, dass sie kurz darauf im Krankenhaus starb. „Er kam in mein Büro. Er war ganz gefasst. Wir haben Tee getrunken. Er hat viel vom Urlaub erzählt. Wie sie es sich hätten schön machen können. Und das war halt vorbei. Er ist ein herzensguter Mensch. Warum musste es ausgerechnet ihm passieren?“ Sie haben bis heute Kontakt, telefonieren. „Hallo, wie geht’s? Mehr muss ja nicht“, sagt Krämer. 2015 wurde ein 16-jähriges Mädchen nach einer versuchten Vergewaltigung erstochen und verbrannt. Vater und Schwester der Toten kamen zu ihr. Die beiden Mädchen hatten im selben Zimmer geschlafen, das brachte die Schwester nun nicht mehr fertig. Krämer half mit Geld beim Umzug.

„Wir sind alle auch ein bisschen Telefonseelsorger“, sagt sie. „Bei dem einen geht’s schnell, der andere braucht zwei Stunden.“ Krämer hat ein Büro bei der Staatsanwaltschaft. Wenn sie merkt, ein Opfer könnte für sich oder sie zur Gefahr werden, lässt sie die Tür offen, ganz unauffällig. „Es ist ja so stickige Luft hier“, erklärt sie dann. Der Schreibtisch sorgt während des Gesprächs für Distanz. Das ist Krämer wichtig. „Es hilft nicht, wenn ich mit dem Opfer mitweine. Wir sind keine Freunde, sondern Helfer.“ Aber Frau Krämer wäre nicht Frau Krämer, wenn sie nicht auch für Nähe sorgte. Indem sie ein Taschentuch hinüberreicht oder Gummibärchen.

Wenn das Tagewerk vollbracht ist, schließt sie die Bürotür. „Dann ist die zu. Meine Burg zu Hause erhalte ich mir konsequent. Das ist wie bei Polizeibeamten. Wenn die ihre Arbeit mit nach Hause nehmen, können sie ihre Arbeit nicht lange machen.“ Sie hat Möglichkeiten, um die Mauern dieser Burg zu verstärken. Sie macht autogenes Training, etwas, das sie so erklärt: „Säße ich hier und mir wäre langweilig, würde ich mich wegbeamen. Das ist, als ob man schläft.“ Außerdem strickt sie. Dann liegt ihr Kater Whiskey neben ihr, dazu trinkt sie eine Tasse Tee. Sie kann auch mit ihrem Mann über die Arbeit reden. Der engagiert sich selbst für den WEISSEN RING. Sie war kaum dabei, da tat er es ihr gleich.

Nach der Amokfahrt in Trier macht ihr die Arbeit schwer zu schaffen

„Es ist immer ein Kratzer auf der Seele“, sagt Krämer über die Opfer, die sie betreut. Selbst wenn einem nur der Geldbeutel gestohlen wurde. „Warum passiert mir das?“ Wenn nicht alles täuscht, hat das, was sich am 1. Dezember 2020 in Trier zutrug, auch bei ihr einen Kratzer hinterlassen. An diesem Tag ruft ihr Sohn gegen 14 Uhr an und sagt, sie solle bloß nicht in die Stadt kommen. „Hier ist die Hölle los.“ Ein Mann hatte sich in seinen Land-Rover gesetzt und war damit vorsätzlich durch die Trierer Fußgängerzone gerast. Drei Frauen, ein Vater und sein Baby sterben, Dutzende Passanten werden verletzt. Seit August läuft der Prozess gegen den Fahrer wegen fünffachen Mordes und versuchten 18-fachen Mordes. Krämer kennt ihn vom Sehen, er kommt aus dem Nachbarort.

Die ersten Opfer, die ihre Hilfe wollten, waren Hinterbliebene. Vater und Schwester einer Getöteten. „Ganz ehrlich, wir haben erst mal alle drei geweint“, sagt Krämer. „Ein bildhübsches junges Mädchen, einfach nicht mehr da.“ Weitere Opfer folgten. Sie half mit Geld für die Trauerkleider aus, vermittelte Anwälte, machte auf die Trauma-Ambulanz aufmerksam oder das Opferentschädigungsgesetz. Ob sie das Gefühl hatte, allen weitergeholfen zu haben? „Das Gefühl habe ich nie. Ich habe das Gefühl, man müsste eigentlich noch mehr tun können.“ So hält sie das Opferentschädigungsgesetz für zu eng gesteckt. „Wenn die Pistole an den Kopf gesetzt wird, sind Sie anspruchsberechtigt. Wenn die Pistole einen Zentimeter weg ist, nicht mehr.“

Nun braucht auch sie Hilfe

Krämer brauchte einige Wochen, um wieder in die Fußgängerzone zu gehen. Die Tatorte hat sie sich zusammen mit ihrem Mann angeschaut. Eine Weile ging sie nicht in der Straßenmitte, sondern nur am Rand. An der Porta Nigra, dem berühmten Wahrzeichen der Stadt, stellte sie eine Kerze auf. „Für mich persönlich. Es hilft niemandem, wenn man ein Kerzchen anmacht, aber das Bedürfnis war da. Es war meine Stadt. Ich habe das sehr persönlich genommen.“ Aber auch dieser Blick in den Abgrund hat ihr Menschenbild nicht zum Schlechten verändert. „Weil kein Mensch böse geboren wird.“

Die Arbeit mit den Opfern der Amokfahrt hat ihr zu schaffen gemacht. Sie wird wohl bald eine Supervision in Anspruch nehmen. Die Gespräche mit einer Psychologin sollen sie wieder aufbauen. Sonst könne sie einfach keine weiteren Fälle übernehmen. „Man hat mit Leuten zu tun, die schwerstverletzt sind. Larifari pillepallemäßig kann man es nicht machen.“

Lotsen aus dem Tal

Erstellt am: Mittwoch, 14. Juli 2021 von Sabine

Lotsen aus dem Tal

Heinz Habermann und Gudrun Midding sind seit einigen Jahren für den WEISSEN RING im Main-Kinzig-Kreis tätig. Beide haben viel Erfahrung im Umgang mit Opfern. Nach der schrecklichen Tat in Hanau waren sie zur Stelle.

Beim Namen Hanau fällt den meisten direkt der rechtsextreme Terror im Februar 2020 ein. Foto: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Wenn zwei Menschen lange und eng miteinander arbeiten, genügt manchmal ein kurzer Blick. Heinz Habermann und Gudrun Midding engagieren sich ehrenamtlich für den WEISSEN RING und betreuen Kriminalitätsopfer im Main-Kinzig-Kreis. Ende März sitzen sie in einem Raum des Trauerzentrums in Hanau; das Fenster zum sonnigen Garten ist weit geöffnet. Habermann, 69 Jahre alt, blaues Hemd und graue Haare, hat vor sich auf dem Tisch einige Mappen mit Informationen ausgebreitet. Als die Frage aufkommt, welche Art von Fällen sie bisher betreut haben, schaut er kurz zu Midding herüber. Die 58-Jährige sitzt ihm schräg gegenüber und wird daraufhin gleich eine Geschichte erzählen, die eigentlich Thema für einen Horror-Thriller wäre. Doch genau dieser Horror für die Opfer bedeutet mitunter für diese beiden die harte Realität.

„Wir haben Opferfälle vom Handtaschendiebstahl bis zu Sexual- und Tötungsdelikten“, sagt Habermann. Beim Namen Hanau fällt den meisten direkt der rechtsextreme Terror im Februar 2020 ein. Habermann und Midding haben auch die Opfer dieses Tages und deren Angehörige betreut. Aber beide bekommen hautnah mit, dass Mord und Totschlag auch fernab der breiten öffentlichen Wahrnehmung geschehen. Die Opfer werden oft dermaßen aus der Bahn geworfen, dass die Arbeit der Ehrenamtler schon in den kleinsten Details eine große Unterstützung sein kann – und sei es ein Glas Wasser.

Mordanschlag nur knapp überlebt

Midding erzählt nun den Fall einer Spanierin, deren Partner in Drogengeschäfte verwickelt war. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen – und streng genommen gilt das auch für sie, obwohl sie überlebte. Die Frau wusste nichts von den „Geschäften“ ihres Partners. Das Paar wurde von sieben Tätern, Mitgliedern eines Drogenclans, im eigenen Haus überfallen und über mehrere Stunden dort festgehalten. Der Lebensgefährte wurde ermordet, die Frau konnte gerade noch entkommen, bevor das gemeinsame Haus in Flammen aufging. „Sie hatte nichts mehr – nur noch das, was sie am Leib trug“, erzählt Gudrun Midding.

Die Frau überlebte also knapp einen Mordanschlag, sah ihren Lebensgefährten sterben und stand vollkommen mittellos da. Der Schock in so einer Situation ist nur schwer zu ermessen – doch noch gravierender war die Einsamkeit des Opfers nach dem Schock. „Da war es wichtig, dass einfach jemand da ist“, so Midding. „Ich habe sie zum Prozess begleitet und den ganzen Tag im Gericht gesessen. Sonst wäre sie auf sich allein gestellt gewesen.“ Es sei auf Kleinigkeiten angekommen: mal ein Glas Wasser reichen oder ein Taschentuch, mal dem Richter signalisieren, dass das Opfer eine Pause benötige. Kleine Hilfen mit großer Wirkung.

Über mehrere Jahre begleitete Midding die Frau, die auch um finanzielle Hilfen kämpfte. Die Opferentschädigung wurde ihr jedoch vorenthalten, da das Versorgungsamt anzweifelte, dass sie vom Doppelleben ihres Partners nichts gewusst habe. „Die Frau war komplett verzweifelt. Da ist man kurz davor, aus eigener Tasche zu helfen“, so Midding. Diese Gefahr besteht häufig: dass das Engagement der Ehrenamtler in ihren privaten Bereich hineinreicht. Midding sagt deshalb: „Da muss man schon einen Cut machen.“

Über Ehrenamtsbörse zum WEISSEN RING

Neben dem harten Fall der Spanierin hat Midding auch mit Opfern von sexuellem Missbrauch zu tun – auch bei Übergriffen innerhalb einer Familie und bei kleinen Kindern. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen teilen sich die Schwerpunkte auf. Insgesamt sieben Ehrenamtler helfen den Opfern im Main-Kinzig-Kreis, vor Corona trafen sie sich alle vier Wochen. Nun sprechen sie sich telefonisch ab oder begegnen sich in zur Verfügung gestellten Räumen wie hier im Hanauer Trauerzentrum. Betroffene können sich über das Opfer-Telefon melden oder übers Internet Kontakt aufnehmen.

Gudrun Midding wurde im Jahr 2010 durch eine Ehrenamtsbörse auf den WEISSEN RING aufmerksam. Zuvor hatte sie mit ihrem Mann eine Firma für Abfallentsorgung geleitet. Zunächst hospitierte sie, seither ist sie als feste Mitarbeiterin dabei. In einem Grundseminar zur Begleitung und in Aufbauseminaren zu Psychologie, Strafrecht, Prävention oder Mobbing hat sie sich seither fortgebildet. Das ist ein enormer Aufwand für ein Ehrenamt und brachte den einen oder anderen Bekannten natürlich zu der Frage: Warum tust du dir das alles an? Midding sagt: „Die Opfer haben keine Lobby, sie brauchen Hilfe.“ Viele Betroffene hätten einen Tunnelblick entwickelt; da helfe es ungemein, neue Perspektiven aufzuzeigen.

Genau darum ging es auch Heinz Habermann. Er sagt: „Die Polizei schaut meistens auf den Täter, die Opfer werden alleingelassen.“ Damit spricht er aus Erfahrung: 32 Jahre lang arbeitete er als Kriminalbeamter, zehn Jahre als hauptamtlicher Bürgermeister. Seit 2014 befindet er sich im Ruhestand. Langeweile kommt bei ihm aber nicht auf, Habermann besitzt von jeher eine soziale Ader. So engagiert er sich auch im Vorstand einer regionalen Wohnungsbaugenossenschaft; durch diese Funktion konnte er bereits mehreren Opfern zu einer dringend benötigten Wohnung verhelfen. Darüber hinaus ist er noch als ehrenamtlicher Ortsgerichtsschöffe in seiner Heimatgemeinde tätig.

Heinz Habermann und Gudrun Midding engagieren sich ehrenamtlich für den WEISSEN RING und betreuen Kriminalitätsopfer im Main-Kinzig-Kreis. Hidding sagt: „Man merkt in unserer Arbeit relativ schnell, dass man wirklich etwas bewirken kann.“ Und Habermann nickt wissend. Foto: Ron Ulrich

Schon während seiner Zeit als Polizist kümmerte er sich um Jugendliche und Menschen mit Migrationshintergrund. Nach seinem Ausscheiden wies ihn ein ehemaliger Kollege darauf hin, dass es Vakanzen beim WEISSEN RING gebe. Seither betreut Habermann auch Fälle, die ihn später nicht loslassen – so wie bei einem weiblichen Opfer, dem in den Kopf geschossen wurde. Glücklicherweise nutzte der Täter eine umgebaute Schreckschusswaffe, anderenfalls hätte das Opfer den Angriff sicherlich nicht überlebt. Manchmal kommt die „déformation professionelle“ als Polizist noch durch: Zwar ermittelt Habermann natürlich nicht mehr selbst, aber er hat ein besonderes Augenmerk darauf, wie die Polizei vorgeht.

Durch Berufe viel über Umgang mit Opfern gelernt

Eine seiner Betreuungen erstreckte sich über zweieinhalb Jahre. Das Opfer war offenbar psychisch erkrankt und rief ihn ständig an. „Ich konnte auch nicht ,nein’ sagen, aber in diesem Fall bin ich an meine Grenzen gestoßen.“ Generell haben die Ehrenamtler vom WEISSEN RING auch eine „Lotsenfunktion“, so Habermann. Sie können in solchen Fällen Kontakte herstellen zu anderen Anlaufstellen, zu juristischer Beratung oder therapeutischer Hilfe. Nicht jeder und jede im Ehrenamt hat schließlich ein Jura- oder Medizin-Studium abgeschlossen, doch das Leben und ihre Arbeit waren für die meisten von ihnen „Universität“ genug. So würden Habermann und Midding sich zwar wünschen, dass noch mehr Personen beim WEISSEN RING helfen, schränken aber auch ein, dass das Engagement eine gewisse Lebenserfahrung voraussetze.

Beide haben durch ihre vorherigen Berufe bei der Polizei und in der Firmenleitung viel für den Umgang mit Opfern gelernt: Sie zeichnet ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft, Menschenkenntnis und Empathie aus. Das ist nicht unwichtig, wenn sie abwägen müssen, welche Reaktionen und Hilfen individuell zu ihrem jeweiligen Gegenüber passen. Dazu gehört auch, die Opfer darauf vorzubereiten, welche emotionalen Auswirkungen ein Gerichtsprozess haben kann. Manche Opfer unterschätzen oder überschätzen sich auf dem Weg, der vor ihnen liegt. Habermann und Midding können hier durch ihre Erfahrung helfen, doch ebenso wichtig: Sie agieren vor allem uneigennützig und unprätentiös. Auch bei den Geschichten, die sie erzählen, drängen sie sich nicht in den Vordergrund.

Nach der schrecklichen Tat in Hanau sofort zur Stelle

Diese Qualitäten und ihre Erfahrung waren besonders im vergangenen Jahr gefordert – nach dem rechtsextremen Terror in Hanau, bei dem ein Attentäter neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordete, danach seine Mutter und sich selbst erschoss. Von der schrecklichen Tat erfuhren Habermann und Midding am gleichen Abend durch die Medien. Die Bundesgeschäftsstelle in Mainz und das Landesbüro Hessen informierten sie über dieses sogenannte Großschadensereignis, nur wenige Tage nach der Tat saß Habermann bei Angehörigen daheim. Der WEISSE RING half neben der Sofortunterstützung beim Umzug von Angehörigen, die weiterhin in der Nähe des Tätervaters lebten, und bei Erholungsmaßnahmen. Selbst „mittelbar Geschädigten“ wie einem Mann, der auf der Flucht seinen Laptop fallen ließ, griff die Organisation unter die Arme. Die Tatortreinigung in einem Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz in Höhe von 6.000 Euro übernahm die Opferhilfe ebenso. Insgesamt zahlte der Verein finanzielle Hilfen in Höhe von über 63.000 Euro.

Dennoch konnten nicht alle Wünsche der Opfer erfüllt werden, wenn beispielsweise ein traditionelles Beerdigungsessen für mehrere hundert Personen geplant wurde. In solchen Fällen müssen die Mitarbeiter die Verhältnismäßigkeit prüfen. „Bei den 1.000 Euro Soforthilfe ging es erst einmal darum, die größte Not zu lindern. Der WEISSE RING und auch die Stadt Hanau waren insgesamt sehr großzügig“, sagt Habermann. Trotz der Pandemiemaßnahmen besteht auch weiterhin Kontakt zu den Opfern und Angehörigen, obwohl diese sich auch in einer eigenen Initiative zusammengeschlossen haben und die Stadt Hanau einen speziellen Opferbeauftragten eingesetzt hat.

Dem WEISSEN RING war es wichtig, sofort und schnell da zu sein – auch über die Soforthilfe hinaus. So bieten Hilfen bei Erholungsurlauben nicht nur bei den Angehörigen von Hanau eine wichtige Möglichkeit, zumindest zeitweise Abstand zu gewinnen. Und: Die Arbeit der Ehrenamtler geht auch dann weiter, wenn die Opfer nicht mehr im öffentlichen Fokus stehen und sich dann alleingelassen fühlen.

Die Betreuung von Kriminalitätsopfern kann viele Jahre der Hilfe beanspruchen. Dafür setzen sich Habermann und Midding in ihrer Freizeit ein und haben auf diese Art etliche Opfer aus dem dunklen Tal gelotst. Midding sagt über ihr Engagement: „Man merkt in unserer Arbeit relativ schnell, dass man wirklich etwas bewirken kann.“
Und Habermann nickt wissend.