Die vergessenen Opfer

Erstellt am: Mittwoch, 18. Juni 2025 von Sabine

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer … die Liste ist lang. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters Rassismus erleiden.

Saeed Majed in Magdeburg: nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed in Magdeburg: Er erfährt verstärkt Rassismus seit des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt.

Es wird gelacht, gemeinsam gegessen und gesprochen. Saeed Majed verbringt einen ganz normalen Freitagabend mit seinen Freunden. Bald wird die Stimmung aber kippen. Denn in ihrer Heimatstadt Magdeburg wird ein Mann mit seinem Auto auf den Weihnachtsmarkt rasen. Menschen sterben, werden schwerst verletzt und traumatisiert. Und auf Majed und seine Freunde wird eine Zeit voller rassistischem Hass und körperlicher Angriffe zukommen.

Der Anschlag hat nicht nur Magdeburg, sondern das ganze Land erschüttert. Sechs Menschen sind tot, 86 schwer verletzt. Dazu kommen 1200 weitere Betroffene wie Zeugen und Angehörige von Opfern. Es gibt aber noch eine Gruppe von Betroffenen, die in der öffentlichen Diskussion zumeist übersehen wird: Menschen, die wie der Täter einen Migrationshintergrund haben und deshalb angefeindet werden.

„Als wir die Nachricht hörten, wollten wir sofort die Nationalität des Täters wissen“, sagt Informatikstudent Saeed Majed (25). Aus Angst vor den möglichen Reaktionen, falls es kein Deutscher war. „Magdeburg ist unsere zweite Heimat – doch neben der Trauer mussten wir uns auf rassistische Anfeindungen vorbereiten, als bekannt wurde, dass der Täter aus Saudi-Arabien kam“, erklärt der gebürtige Syrer.

Schon am Tatabend wurde in der Stadt ein 18-jähriger Student mit Migrationsgeschichte verfolgt und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde in einem Fahrstuhl rassistisch beleidigt und gewürgt. Im Februar traf es erneut ein Kind: Ein 12-jähriges syrisches Mädchen wurde attackiert. Monate nach dem Anschlag bleibt die Stimmung angespannt – Ende April wurde ein Mann mit Migrationshintergrund vor seiner Haustür verprügelt.

Auch Saeed Majed wurde Opfer von rassistischer Gewalt. „Ich war in der Straßenbahn, als ein älterer deutscher Mann anfing, migrantisch aussehende Menschen zu beleidigen und zu bedrohen“, sagt er. Majed ging dazwischen. „Daraufhin beleidigte er mich rassistisch und wollte mich körperlich angreifen.“ Andere Fahrgäste,darunter auch Deutsche, wie Majed betont, gingen aber dazwischen. Der Student zeigte den Täter an. „Das Verfahren ist eingestellt worden, weil es nicht möglich war, einen Täter zu ermitteln“, stand in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft an Majed, das dem WEISSEN RING Magazin vorliegt. „Dabei begrüßte die gerufene Polizei damals den Mann mit seinem Nachnamen“, sagt
Majed. Eine Erklärung von der Magdeburger Staatsanwaltschaft blieb auf Anfrage unserer Redaktion aus.

Die vergessenen Opfer

Der Anschlag in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden, hatte über 1.200 Betroffene zur Folge: Augenzeugen, Angehörige, Ersthelfer. Doch eine Opfergruppe gerät dabei oft in Vergessenheit: migrantische Menschen, die aufgrund der Abstammung des Täters nun Rassismus erleben.

Rassistische Gewalt

Seit dem Anschlag stieg die Zahl rassistischer Übergriffe in Magdeburg stark an. Vor dem Attentat wurden dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e. V. ein bis zwei Übergriffe pro Woche gemeldet; seitdem registrierte man bis zum 10. Januar bereits 20 rassistische Vorfälle, darunter Körperverletzungen, Beleidigungen und Drohbriefe. Saeed Majed, Mitglied des Syrisch-Deutschen Kulturvereins, berichtet im April von über 40 Fällen – von Diskriminierung bis Körperverletzung. Ein Verein, der eigentlich zwei Kulturen miteinander vereinen soll, war plötzlich für Opfer von rechter Gewalt zuständig. Der Verein arbeitet nun mit Beratungsstellen
wie „Entknoten“ und der Mobilen Opferhilfe zusammen. „Fast täglich gibt es Angriffe“, sagt Majed. Er schätzt die Dunkelziffer hoch ein, da viele Betroffene mit unsicherem Aufenthaltsstatus die Taten aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht melden.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Der Magdeburger Dom ist bis heute eine evangelische Bischofskirche. Eine kleine Gemeinde hält dort regelmäßig Gottesdienste ab.

Für Majed steht fest: „Die Medien sind mit dafür verantwortlich, dass es zu immer mehr rassistischen Übergriffen im Alltag kommt.“ In den Wochen nach dem Anschlag gab es Dutzende Schlagzeilen und Artikel, die die Herkunft des mutmaßlichen Täters betonten. Wovon kaum geschrieben wurde: Der Tatverdächtige hasst den Islam, ist ein Fan der nach Ansicht des Verfassungsschutzes gesichert rechtsextremistischen Partei AfD und hat rechtsradikale Inhalte im Internet veröffentlicht. Der Thüringer Verfassungsschutz sprach von „Extremismusbezügen nach rechts“, die Medien sprachen weiter von dem „saudiarabischen Mann“.

Eine Analyse zeigt, dass Medien verstärkt über Anschläge berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte hat:

1035

Beiträge über den Anschlag in Magdeburg.

951

Beiträge über den Anschlag in München.

486

Beiträge über den Anschlag in Mannheim.

Der Wahlkampf im Februar löste laut Saeed Majed eine neue Welle an Hass aus: „Es war extrem belastend.“ In Talkshows dominierte das Thema Migration, rechte Gewalt hingegen blieb weitgehend unbeachtet. Von Januar bis April hatte die ZDF-Politik-Talkshow „Markus Lanz“ 16 Sendungen zu Migration, aber nur zwei Sendungen thematisierten Rechtspopulismus. Auch in anderen politischen Talkshows wie „Hart aber fair“, „Caren Miosga“ und „Maybrit Illner“ liefen Sendungen zum Thema Migration, aber keine zur rechten Gewalt in Deutschland. Majed
warnt: „Die Menschen sitzen daheim, sehen das und denken: Die Ausländer sind schuld.“ Parallel nimmt rechte Gewalt stark zu. 2024 wurden laut Innenministerium 42.788 rechte Straftaten registriert, ein neuer Höchststand. In Brandenburg meldet die Polizei täglich zehn solcher Taten.

Dass Medien verstärkt berichten, wenn der Täter eine Migrationsgeschichte aufweist, verdeutlicht eine kürzlich durchgeführte Analyse des Kommunikations-Unternehmens Ippen Media. Demnach wurde über die Anschläge in Magdeburg und München mehr als doppelt so oft berichtet wie über die Tat in Mannheim, bei der der Tatverdächtige ein Deutscher ist. Leitmedien veröffentlichten über Magdeburg 1.035 Beiträge, über München 951 und über Mannheim nur 486. Online waren es laut Newswhip jeweils über 4.300 Artikel zu Magdeburg und München, aber nur 2.479 zu Mannheim.

Die Rolle der Medien

Elena Kountidou ist die Geschäftsführerin der Organisation „Neue deutsche Medienmacher*innen“, die sich kritisch mit der Berichterstattung auseinandersetzt. „Dass Medien überproportional häufig über Verbrechen von nicht deutschen Tatverdächtigen berichten, ist gefährlich für unsere Gesellschaft“, warnt sie. Der Grund: Dadurch entstehe ein verzerrtes Bild. Der Mensch erfahre Kriminalität kaum aus der eigenen Erfahrung, sondern durch die Berichterstattung. „Und dann wird es natürlich auch gefährlich für migrantisch wahrgenommene Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Kountidou. Es werde eine Polarisierung aufgebaut und ein Bild gezeichnet von den „guten Deutschen“ gegen die „bösen, nicht integrierten Ausländer“. Ein Narrativ, das sich in der Geschichte immer wieder finden lasse. „Die Folgen medialer Zerrbilder bekommen die betroffenen Menschen im realen Leben zu spüren, und das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, sagt Kountidou.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Menschen spazieren an der Elbe in Magdeburg entlang. Über der Elbe erstreckt sich die ehemalige Eisenbahnbrücke „Hubbrücke“.

Die mediale Stigmatisierung führe zu mehr Rassismus in der Bevölkerung. Nach aktuellen Angaben des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors macht Rassismus krank. „Betroffene erleben mehr Stress, haben ein schlechteres allgemeines Wohlbefinden und sind generell anfälliger für (psychische) Erkrankungen“, heißt es in dem Bericht.

So sollten Medien über Anschläge berichten

Die Medienexpertin beobachtet auch immer eine anlassbezogene Berichterstattung; so, als sei Migration ein Krisenthema. Dazu verwendeten Medien immer die gleichen stereotypischen Bilder: eine Frau mit einem Hijab und Plastiktüten in der Hand oder migrantisch aussehende Männer in einer großen Gruppe. „Es ist genauso möglich, die Menschen in einer positiven Lebenssituation darzustellen wie während der Arbeit oder mit der Familie auf einem Spielplatz“, sagt Kountidou.

Auch der Magdeburger Saeed Majed kritisiert die Darstellung und sagt: „Es fehlt an positiver Berichterstattung.“ In der Klinik
der Anschlagsopfer arbeiten Menschen aus über 20 Nationen; viele mit Migrationsgeschichte betrieben Stände auf dem Weihnachtsmarkt. „40.000 Menschen sind Teil dieser Gesellschaft – sie waren Zeugen, leisteten Erste Hilfe. Doch darüber spricht kaum jemand“, so Majed enttäuscht.

Viel mehr rechtsextreme Straftaten

Die Zahl politisch motivierter Straftaten in Deutschland ist 2024 gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent gestiegen, auf 84.000. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist der größte Teil davon – fast die Hälfte – dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen. Dort gab es auch den stärksten Anstieg, um 50 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Bei 31 Prozent der Delikte waren „ausländische Ideologien“ der Hintergrund, bei zwölf Prozent Linksextremismus. Als Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Statistik Ende Mai vorstellte, sagte er: „Die größte Gefährdung für die Demokratie geht vom Rechtsextremismus aus.“ Die Gewaltdelikte in dem Bereich haben ebenfalls deutlich zugenommen, um gut 17 Prozent auf 1.488. Rechtsextreme begehen außerdem die mit Abstand meisten Gewaltstraftaten, bei denen Kinder und Jugendliche gesundheitlich geschädigt werden.

Medienschaffende sollten Verantwortung übernehmen und die Art der Berichterstattung beispielsweise über Anschläge ändern, findet auch Elena Kountidou. „Der Pressekodex verlangt einen verantwortungsvollen Umgang bei der Herkunftsnennung, damit es nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt“, sagt sie. Daher sollte ihrer Meinung nach die Herkunft nur genannt werden, wenn sie direkt in Verbindung zur Tat steht. In Magdeburg war dies nicht der Fall – der Tatverdächtige hatte ein rechtes Motiv und ist kein Islamist. Sie fordert, dass Journalisten bei Anschlägen gründlich recherchieren, faktenbasiert berichten, einordnen und ihre Aussagen mit Zahlen untermauern sollten – besonders in polarisierten Debatten.

Saaed Majed in Magdeburg am Dom. Nach dem Anschlag in Magdeburg wurde er Opfer von rassistischer Gewalt.

Saeed Majed mag Magdeburg, doch denkt jetzt ans Wegziehen. „Mehrere Freunde sind schon gegangen. Nach zehn Jahren Studium, Arbeit und Ehrenamt“, sagt er. Sie fühlten sich nicht mehr willkommen, wurden beleidigt und angespuckt. Der Hass zerstöre die Vielfalt der Stadt. Noch hofft Majed auf eine Verbesserung. „Im April hatten wir unser Zuckerfest und haben alle dazu eingeladen. Es kamen 500 Menschen: Deutsche, Syrer, Ukrainer, alle waren zusammen. Dadurch haben wir noch Hoffnung.“

Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 7. Mai 2025 von Selina
Anschlag in Magdeburg. Cover von Podcast "NSU Watch": Es geht um Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg.

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Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

NSU Watch und VBRG e.V.

Angst, Einschränkungen und soziale Isolation. So geht es Menschen mit Migrationsgeschichte nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden und über 1.200 Betroffene. Der Täter: ein 50-jähriger Psychiater, saudi-arabischer Herkunft. In Magdeburg stieg die Zahl der rassistischen Angriffe nach dem Anschlag erheblich. In der 55. Folge der Podcast-Serie von der bundesweiten Initiative „NSU Watch“ und dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), berichten Betroffene und Opferberater von der Zeit nach dem Anschlag. Sie berichten über Menschen, die migrantisch wahrgenommen werden und deshalb Angst haben und überlegen, die Stadt zu verlassen.

Bereits am Abend des Anschlages wurde ein 18-jähriger Student von einer Männergruppe bedroht und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde im Fahrstuhl seines Wohnhauses von Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt. Der Podcast zeigt eindrücklich: Rassistische Gewalt eskaliert weiter und Kinder werden nun auch häufiger zu Opfern, weil migrantische Menschen in Sippenhaft genommen werden.

verband-brg.de/folge-55-eskalation-rassistischer-gewalt-in-magdeburg/

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

“Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Ein Besuch in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 19. Februar 2025 von Selina

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet solch ein Großereignis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Gemeinsam betreuen sie Opfer des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt (v.l.): Uta Wilkmann, Friederike Bessel und Uwe Rösler vom weissen ring in Magdeburg

Es ist Freitag. Nur noch vier Tage bis Heiligabend. Die einen denken über die letzten fehlenden Geschenke nach, andere planen das Weihnachtsessen. Plötzlich leuchtet eine Eilmeldung auf dem Handy auf und vertreibt jeden Gedanken an Besinnlichkeit. Ein Mann ist mit seinem Auto 400 Meter über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Es gab zwei Tote und 70 Verletzte, heißt es in den ersten Nachrichten. In den nächsten Stunden und Tagen steigen die Zahlen immer weiter bis auf sechs Tote und 600 Betroffene.

„Der Anschlag geschah um 19 Uhr, ich hatte davon um 19.30 Uhr durch die Nachrichten im Fernseher erfahren“, erinnert sich Cornelia Stietzel. Sie ist die Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Magdeburg und damit die erste Anlaufstelle für Opfer vor Ort. Die Außenstellenleiterin und ihr Team treffen sich monatlich im Magdeburger Rathaus, um über Erlebtes, aber auch Organisatorisches zu sprechen. Nur wenige Meter entfernt befindet sich nun eine Gedenkstelle mit Blumen und Bildern der Opfer.

Im Rathaus von Magdeburg trifft sich die Außenstelle des WEISSEN RINGS monatlich, um über Organisatorisches sowie Soziales zu sprechen.

In der Außenstelle arbeiten zehn Ehrenamtliche, darunter Uwe Rösler. Zum Tatzeitpunkt war er im Skiurlaub. „Meine Frau schickte mir eine Nachricht, und ich wollte es erst nicht glauben“, sagt Rösler. Als plötzlich seine Freunde ebenfalls Nachrichten bekamen, wurde ihm klar: Das ist wirklich passiert. „Während wir uns vergnügt haben und Bierchen tranken, starben in Magdeburg Menschen – das war heftig für mich“, sagt er.

„Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Yvonne Reinicke

350 Kilometer südwestlich von Magdeburg, in Mainz, stufen noch am Abend der Gewalttat Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer, Verena Richterich, die Leiterin der „Opferhilfe“, und die Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Kerstin Godenrath, den Anschlag als „Großereignis“ ein. Schnell müssen eine Reihe von Fragen beantwortet werden, wie es die Leitlinien des Vereins für solche Ausnahmesituationen vorgeben: Kann die Außenstelle vor Ort die Betreuung übernehmen? Welche Telefonnummer sollen Betroffene wählen, um schnell Hilfe zu bekommen? Können wir die finanzielle Soforthilfe für Betroffene erhöhen? Richten wir ein Spendenkonto ein? Verschicken wir eine Pressemitteilung? Wer beantwortet Medienanfragen? Am Wochenende telefonieren Bundesgeschäftsführung, Opferhilfe, Landesvorstand, Außenstelle und Pressestelle immer wieder miteinander. „Bereits am 23. Dezember fanden in Magdeburg erste Beratungsgespräche mit Betroffenen statt“, sagt Cornelia Stietzel.

Es hätte jeden treffen können

Das Großereignis ist für die Ehrenamtlichen von Anfang an eine große Herausforderung, aus verschiedenen Gründen. „Da ist die Nähe zum Geschehen. Magdeburg ist meine Heimat – es hätte jeden treffen können“, sagt Friederike Bessel sichtlich angefasst. Ihre Kollegin Yvonne Reinicke fügt hinzu: „Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Ein Herz aus Steinen soll an die Opfer erinnern. In Magdeburg lassen sich viele solcher kleinen Gedenkstätten finden. Vor der Johanniskirche liegen beispielsweise Dutzende Blumen.

Hinzu komme die Anzahl der Betroffenen, die die Außenstelle betreut. „Wir haben bis jetzt über 100 Fälle betreut – und das als kleines Team“, sagt Cornelia Stietzel. Die oberste Priorität des WEISSEN RINGS ist es, die Opfer zu schützen. „Wir können daher keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, und das darf nicht passieren“, erklärt sie.

Wohl aber können die Ehrenamtlichen berichten, wie es ihnen mit der Beratung so vieler Betroffener geht. „Einzelberatungen habe ich gut im Griff, aber wenn ich größere Gruppen habe, mit den unterschiedlichen Emotionen, unterschiedlichen Verletzungen, da bin ich am Ende einer Beratung einfach platt“, sagt Ingrid Männl. Das Team unterstütze sich gegenseitig und lenke sich durch Gespräche für einen Moment ab. „Einmal traf ich Friederike zwischen zwei Beratungen, und wir kamen ins Gespräch. Ich erfuhr, dass sie Deutsche Meisterin ist – die Anekdote hat mich zwischenzeitlich runtergeholt“, sagt Cornelia Stietzel. Deutsche Meisterin? „Ich habe zwei Hunde und trainiere mit ihnen die Zielobjektsuche, und 2024 lief das ganz gut“, erklärt Friederike Bessel. Alle im Raum können für einen kleinen Augenblick lachen.

„Wir können keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, das darf nicht passieren.“

Cornelia Stietzel

Cornelia Stietzel lobt den Zusammenhalt der Menschen in der Stadt. Ein Beispiel: „Ganz große Unterstützung erhalten wir von der Kontakt- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen der Caritas mit der unkomplizierten Bereitstellung von Räumlichkeiten“, erzählt sie. Hier können sich die Opferhelferinnen und Opferhelfer mit Betroffenen treffen.

Unterstützung erfahre das Team von Tag eins an auch vom Landesbüro Sachsen-Anhalt und aus der Bundesgeschäftsstelle des WEISSEN RINGS in Mainz, vor allem durch Jana Friedrich. Sie arbeitet im Referat „Opferhilfe“ und ist als Sachbearbeiterin für sogenannte Großereignisse zuständig. Als Friedrich am Tattag die Eilmeldung las, war ihr erster Gedanke ein Schimpfwort, das sie nicht wiederholen möchte. „Danach habe ich das ganze Wochenende den Live-Ticker verfolgt“, sagt sie. Ihr war klar: Diese Tat wird vom Verein als Großereignis eingestuft werden.

Uta Wilkmann erzählt, dass sie am Abend der Gewalttat im Kino war. Als sie es verließ, war alles voller Blaulicht. Im Radio erfuhr sie, was passiert ist, und dachte sofort an die ganzen Opfer sowie ihre Arbeit als Ehrenamtliche.

Jana Friedrich ist genau für solch einen Fall ausgebildet. „Ich habe die Akte angelegt, E-Mails an die Außenstelle Magdeburg und das Landesbüro Sachsen-Anhalt vorbereitet, mit allen wichtigen Informationen und Unterlagen“, sagt sie. Wichtige Informationen sind zum Beispiel, dass der Soforthilferahmen hochgesetzt und die Bedürftigkeitsprüfung ausgesetzt wird. Friedrich gab dazu eine Liste der verantwortlichen Leistungsträger weiter und das Spendenkonto mit dem dazugehörigen Stichwort. „Ich helfe den Außenstellen, die Opfer zu unterstützen“, beschreibt sie ihre Arbeit als hauptamtliche Mitarbeiterin in der Bundesgeschäftsstelle.

Ein Rückblick

Die Einstufung von Taten als „Großereignis“ gab es nicht von Beginn an. Der Auslöser, Kategorien mit passenden Leitlinien zu entwickeln, war das Großereignis 2016 – als in Berlin auf dem Breitscheidplatz ein Mann mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt fuhr. 13 Tote. Dutzende weitere Opfer. Sabine Hartwig war damals die Berliner Landesvorsitzende beim WEISSEN RING, und als ehemalige Kriminalbeamtin wusste sie sofort, was bei solch einer Dimension zu tun war. In jenem Jahr schuf der Verein Maßnahmen und Strukturen, die noch heute gelten:

„Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen.“

Cornelia Stietzel

Etablierung einer Krisenstruktur: Jährlich bietet die WEISSER RING Akademie ein zweitägiges Großereignis-Seminar an, das Ehrenamtliche auf Taten wie in Magdeburg vorbereitet. Jeder der 18 Landesverbände hat einen sogenannten Koordinator für Großereignisse, der als Ansprechpartner fungiert und zum Beispiel kontrolliert, ob die zuständige Außenstelle überlastet ist. Und der gegebenenfalls nach Unterstützung in anderen Außenstellen Ausschau hält. Dazu gibt es Supervision für die hilfeleistenden Ehrenamtlichen.

Dokumentation und Kommunikation: In Krisensituationen ist eine gründliche Dokumentation aller Vorgänge wichtig, um die Übersicht zu behalten. Die Ehrenamtlichen in den Außenstellen sowie die Hauptamtlichen in der Bundesgeschäftsstelle dokumentieren alle Opferfälle, jede Presseanfrage und die Spendeneingänge.

Medienmanagement: Damit sich die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort auf die Opferarbeit fokussieren können, wird festgelegt, wer Auskünfte an die Presse gibt. Alle Medienanfragen gehen an das Team Medien & Recherche der Bundesgeschäftsstelle in Mainz.

Finanzielle Soforthilfen: Soforthilfen bis zu 1.000 Euro können durch einen Opferhilfe-Fonds unbürokratisch und schnell ausgezahlt werden, um unmittelbare Bedürfnisse der Opfer und Angehörigen zu decken, etwa für Reisekosten, Einkommensausfall oder medizinische Behandlungen.

Die aktuelle Situation in Magdeburg

„Ich habe zwar die Schicksale in schriftlicher Form auf dem Tisch liegen, ich spreche aber nicht direkt mit Opfern“, sagt Jana Friedrich aus der Bundesgeschäftsstelle. Ansprechpartner für die Betroffenen vor Ort sind die an der WEISSER RING Akademie ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem in der Außenstelle Magdeburg, aber auch in anderen Außenstellen des WEISSEN RINGS. Besucher des Weihnachtsmarktes waren beispielsweise aus Niedersachsen oder Bayern angereist. Auch wenn die Opferhelferinnen und -helfer teilweise bereits jahrelange Erfahrung in der Opferarbeit haben, ist es für sie kein Alltag, dass Angehörige am Telefon weinend zusammenbrechen. Friedrich hat daher mehrmals in der Woche mit der Außenstellenleiterin Cornelia Stietzel Kontakt. „Ich frage immer als Erstes, wie es ihr geht“, sagt sie. Aktuell liegen mehr als hundert Fälle auf dem Schreibtisch von Friedrich. Die Zahl der einlaufenden Fälle steigt kontinuierlich.

An einem Baum in der Innenstadt von Magdeburg liegen Blumen, Kerzen und Engel, um an die Opfer der Gewalttat zu erinnern.

In den kommenden Wochen wird Magdeburg weniger in der Medienlandschaft auftauchen. Die Opfer aber bleiben. „Denn viele Betroffene kommen erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat auf uns zu. Vielfach versuchen sie, ihr Leben zunächst weiterzuleben, und merken erst mit der Zeit, dass Unterstützung benötigt wird“, erklärt Verena Richterich, Leiterin der Opferhilfe. „Der WEISSE RING steht den Betroffenen zu jedem Zeitpunkt zur Seite.“

Die Erfahrung von 2016, vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz, zeigt, dass der WEISSE RING noch viele Jahre mit Opfern in Kontakt steht. Cornelia Stietzel möchte in Zukunft die Betroffenen aus Magdeburg zusammenführen. „Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen“, sagt die Außenstellenleiterin. Ein gemeinsames Treffen in einem geschützten Raum soll Abhilfe schaffen.

Der WEISSE RING ist von Montag bis Freitag im Einsatz, die Ehrenamtlichen sind in Notfällen auch am Wochenende ansprechbar.

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Erstellt am: Freitag, 14. Februar 2025 von Sabine

München trauert um die Opfer des Anschlags. Foto: dpa

Datum: 14.02.2025

WEISSER RING hilft Opfern nach mutmaßlichem Anschlag in München

Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an.

München/Mainz – Nach dem mutmaßlichen Anschlag mit einem Auto in München bietet der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite. Ich möchte alle Menschen, die Unterstützung brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden“, sagt Dr. Helgard van Hüllen, eine der amtierenden Landesvorsitzenden des WEISSEN RINGS Bayern Süd. „Diese Tat ist schrecklich und abscheulich, ich habe dafür keine Worte.“

Hilfesuchende können sich über die Rufnummer des Landesbüros Bayern Süd unter 09078/89494 an den WEISSEN RING wenden.

„Unser Angebot gilt nicht nur für Verletzte, sondern auch für Angehörige, für Zeuginnen und Zeugen, für Helferinnen und Helfer sowie für Einsatzkräfte vor Ort“, sagt Helgard van Hüllen. „So wichtig die politischen Diskussionen über den Fahrer und seine möglichen Motive auch sind: Zuerst müssen wir an die Opfer denken. Sie müssen wissen, wohin sie sich mit ihren Bedürfnissen und Fragen hinwenden können.“ Die amtierende Landesvorsitzende fügt außerdem hinzu: „Manche Betroffene merken vielleicht auch erst später, dass sie im Alltag das Erlebte nicht vergessen können. Auch diese Menschen möchte ich bestärken, sich Hilfe zu holen.“

"Wir sind jetzt für die Opfer da und stehen an ihrer Seite."

Dr. Helgard van Hüllen

Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, ihnen Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Am Donnerstagmorgen gegen 10.30 Uhr ist ein 24-jähriger Mann mit dem Auto in eine Menschenmenge in der Münchner Innenstadt gefahren. Es handelte sich dabei um eine Verdi-Demonstration. Laut Polizei sind dabei mehr als 30 Menschen verletzt worden, zwei davon schwerverletzt, darunter ein Kind. (Stand 14.02.2025, 12 Uhr)

Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Erstellt am: Montag, 23. Dezember 2024 von Sabine

Magdeburg trauert: Ein Meer aus Blumen und Kerzen erinnert an die Opfer der Amokfahrt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Datum: 23.12.2024

Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Nach der schrecklichen Gewalttat auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg am Freitagabend hilft der WEISSE RING allen Betroffenen und hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Magdeburg/Mainz – Der WEISSE RING bietet nach den furchtbaren Ereignissen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Menschen sind schwer verletzt worden, Menschen haben Angehörige verloren, Menschen haben Schreckliches gesehen – so etwas sollte niemand mit sich allein ausmachen müssen“, sagt Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Sachsen-Anhalt. Sie sei fassungslos, bestürzt und vor allem auch wütend über die Tat, so Godenrath. „Aber jetzt ist es Zeit, an die Opfer zu denken.“

Hilfesuchende können den WEISSEN RING bundesweit täglich von 7-22 Uhr unter der Rufnummer 116 006 erreichen.

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden.“ Foto: Moritz Bott

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden. Wir sind für die Opfer da und können versuchen, gemeinsam die Probleme und Herausforderungen zu lösen, vor denen jetzt sicherlich viele Betroffene stehen“, sagt Kerstin Godenrath. Das Angebot richte sich an Verletzte ebenso wie an Angehörige, Augenzeuginnen und -zeugen oder Ersthelferinnen und -helfer.

„Unsere professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für alle Betroffenen da“, so Godenrath. „Sie begleiten sie, lotsen sie durch das Hilfesystem und versuchen, ihnen Halt zu geben.“ Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Der WEISSE RING hat unter dem Stichwort „Opferhilfe Magdeburg“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00) eingerichtet.

Mindestens fünf Tote und 200 Verletzte

Am Freitagabend ist um kurz nach 19 Uhr ein 50-jähriger Mann aus Saudi-Arabien mit einem Geländewagen über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Mindestens fünf Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt, Dutzende davon schwer. Medienberichten zufolge soll der Mann fast 400 Meter weit mit hoher Geschwindigkeit durch den gut besuchten Markt gefahren sein.

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Schnelle Hilfe für Opfer nach Gewalttat in Essen

Erstellt am: Montag, 30. September 2024 von Sabine

Foto: Thomas Banneyer/dpa

Datum: 30.09.2024

Schnelle Hilfe für Opfer nach Gewalttat in Essen

Nach der schrecklichen Gewalttat in Essen mit mehreren Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen.

Essen/Mainz – Nach der schrecklichen Gewalttat in Essen mit mehreren Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen. „Die Ereignisse am Samstagabend in Essen haben mich erschüttert. Wir erleben es immer wieder, dass Männer mit einer Gewalteskalation auf Trennungen reagieren. Aber dieses Ausmaß an Gewalt hat selbst mich überrascht und tief getroffen“, sagt Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS Nordrhein-Westfalen/Rheinland. Nach Bekanntwerden der Brandstiftungen in Nordrhein-Westfalen hat Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer umgehend alle notwendigen Schritte eingeleitet, um Betroffenen schnell und unbürokratisch Hilfe anbieten zu können.

Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS in NRW/Rheinland
(Foto: Recknagel)

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden. Wir sind für die Opfer da und können versuchen, gemeinsam die Probleme und Herausforderungen zu lösen, vor denen jetzt sicherlich viele Betroffene stehen“, so Bernd König. „Unser Angebot gilt auch Angehörigen, Zeuginnen und Zeugen, Helferinnen und Helfern sowie Einsatzkräften vor Ort. Menschen sind in ihrem Zuhause von einem Brand überrascht und dadurch verletzt worden, Kinder schweben in Lebensgefahr. Das sind Ausnahmesituationen, die jede und jeden schwer belasten können. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen und über das Erlebte zu sprechen.“

Rufnummer für Betroffene / Spendenkonto eingerichtet

Der WEISSE RING ist über die Außenstelle Essen unter der Rufnummer 0151/55164689 zu erreichen. Ansprechpartnerin ist Alice Scaglione.

Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Der Verein hat zudem unter dem Stichwort „Opferhilfe für Essen“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank eingerichtet (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00).

Mehrere Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt

Am Samstag, 28. September, kam es in Essen-Altenessen zu Bränden in zwei Mehrfamilienhäusern. Außerdem fuhr in Essen-Katernberg ein Lieferwagen in zwei Geschäfte. Die Polizei nahm einen Verdächtigen in Tatortnähe fest. Es wurden zahlreiche Personen verletzt, darunter auch Kinder. Ersten Ermittlungen zufolge soll der mutmaßliche Täter mit Gewalt auf die Trennung von seiner Ehefrau reagiert haben. Für die Taten hatte er sich demnach mit Brandbeschleuniger sowie Stichwaffen bewaffnet und fuhr gezielt zu Wohnungen und Ladenlokalen in Essen, in denen Personen wohnten, die seine Ehefrau unterstützten. Laut Polizei drang er gewaltsam in die Mehrfamilienhäuser und Geschäfte ein und legte mittels Brandbeschleuniger vorsätzlich Feuer, um die Bewohner zu töten und die Häuser zu zerstören.

WEISSER RING steht an der Seite der Opfer

Erstellt am: Montag, 26. August 2024 von Sabine

Foto: Gianni Gattus/dpa

Datum: 26.08.2024

WEISSER RING steht an der Seite der Opfer

Der WEISSE RING steht nach dem Terroranschlag in Solingen an der Seite der Opfer und hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Solingen/Mainz – Nach dem furchtbaren Anschlag in Solingen mit mehreren Toten und Verletzten steht der WEISSE RING an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen. „Wir sind zutiefst bestürzt über diese Tat. Hier wurden Menschen hinterhältig in einem Moment der Fröhlichkeit angegriffen, verletzt, getötet. Das ist ein entsetzliches Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung geben kann“, sagt Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS Nordrhein-Westfalen/Rheinland. „Bei all den berechtigten Diskussionen um den mutmaßlichen Täter und mögliche Motive müssen wir jetzt zuerst an die Opfer denken und für sie da sein.“

Nach Bekanntwerden des Anschlags hat Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer umgehend alle notwendigen Schritte eingeleitet, um Betroffenen schnell und unbürokratisch Hilfe anbieten zu können.

Unterstützung für Betroffene

Bernd König, Landesvorsitzender des WEISSEN RINGS in NRW/Rheinland
(Foto: Recknagel)

„Der WEISSE RING ist für alle Menschen da, die jetzt Unterstützung brauchen. Unser Angebot gilt für Verletzte, Angehörige, Zeuginnen und Zeugen, Helferinnen und Helfern sowie für die Einsatzkräfte vor Ort“, sagt König. „Wir möchten Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Mit solch einem zufälligen, grausamen Ereignis wird man alleine nur schwer fertig.“

Der WEISSE RING ist über das Landesbüro unter der Rufnummer 02421/16622 zu erreichen oder per E-Mail an NRW-Rheinland@weisser-ring.de. Die professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für die Betroffenen da, begleiten sie und versuchen, Halt zu geben. Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Spendenkonto eingerichtet

Der Verein hat zudem unter dem Stichwort „Opferhilfe Solingen“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00) eingerichtet.

Am Freitagabend hat ein Mann auf dem Solinger Stadtfest mehrere Menschen mit einem Messer attackiert. Drei Menschen starben, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Nach Angaben der Klinik befindet sich inzwischen keiner der Verletzten mehr in Lebensgefahr. Die Tat wird von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ für sich reklamiert. Die Bundesanwaltschaft hat am 25. August 2024 beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Täter erwirkt.

“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Erstellt am: Sonntag, 25. August 2024 von Sabine

“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Oliver L. hat 2020 schwer verletzt den Messerangriff eines islamistischen Attentäters in der Dresdner Altstadt überlebt. Sein Partner Thomas L. starb. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Oliver L. erstmals aus Opfersicht über die Tat, wie ihm ein Hund namens Bart bei der Verarbeitung half und worüber er sich in Politik und Medien ärgerte.

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Ein Gründerzeithaus im Kölner Süden, vor den Fenstern leuchtet herbstroter Ahorn. Hinter den Fenstern steht Oliver L., ein drahtiger 57-Jähriger, in seiner Altbauküche und schenkt Kaffee ein, gekocht mit einer in die Jahre gekommenen Kaffeemaschine.

Herr L., das ist ein richtig guter Kaffee!

Ja, oder? Das war die Maschine meiner Lieblingstante, einer Ordensschwester. Sie lebt leider nicht mehr, sie starb auch 2020. Da an der Wand hängt ihr Foto.

L. zeigt auf das Schwarzweißporträt einer Frau in Schwesterntracht. An der Küchenwand hängen auch Fotos von Thomas, Olivers Partner. Am 4. Oktober 2020, Oliver und Thomas hatten Urlaub und besichtigten die Dresdner Altstadt, griff ein Islamist die beiden Männer von hinten an und stach mit dem Messer auf sie ein. Thomas starb, Oliver überlebte schwer verletzt.

Drei Jahre sind jetzt seit dem Angriff vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es gut. Die schweren körperlichen Verletzungen sind verheilt. Neben der tiefen Stichwunde im Rücken hatte mir der Täter das rechte Bein verletzt, ab der Schnittwunde bis hinunter in den Fuß ist es seitdem taub. Aber das beeinträchtigt mich kaum. Ich kann laufen, ich habe keine Schmerzen. Der Tod von Thomas hat mich viel mehr beschäftigt. Ich hatte eine schlimme Zeit. Aber ich würde sagen, dass ich mittlerweile damit zurechtkomme.

Wer oder was hat Ihnen geholfen, zurechtzukommen?

In erster Linie mein Hund.

Vor den Küchenfenstern liegt ein Kissen, und auf dem Kissen liegt Bart. Bart kommt aus Spanien und ist ein Mischlingshund.

Im Krankenhaus wurde ich zuerst von der Polizei vernommen. Ich habe immer wieder gefragt: Wo ist ­Thomas? Was ist mit Thomas? Die hatten mir nur gesagt, Thomas liegt in einem anderen Krankenhaus, und sie hätten keine Infos. Und ich habe immer wieder gesagt, ­Dresden kann doch nicht so groß sein, dass die nicht wüssten, wie es Thomas geht! Die Befragung durch die Polizei ging schnell, ich konnte ja leider nicht viel sagen: Der Täter hat uns von hinten angegriffen, wir haben beide nichts mitbekommen. Nach der Vernehmung kamen dann bestimmt zehn Ärzte ins Zimmer, haben sich nebeneinander aufgereiht und mir mitgeteilt, dass ­Thomas nicht überlebt hat. Und ich wusste instinktiv: Ich schaffe das nur mit Hund.

Aber Sie hatten keinen Hund.

Nein, ich hatte noch nie einen Hund. Thomas hatte einen Hund, aber der war schon vor Jahren gestorben.

Woher kommt dann die Erkenntnis: Ich schaffe das nur mit Hund?

Ich hatte Angst vor der Einsamkeit. Nicht vor dem Alleinsein, ich habe viele Freunde. Alle meine Freunde haben getan, was sie konnten. Eine Freundin hat mir einfach nur Blumen vorbeigebracht. Ein Freund hat mich mit Essen versorgt. Eine andere Freundin hat so sehr mit mir mitgelitten und um Thomas getrauert – das hat mir am besten getan in den ersten Wochen danach. Meine besten Freunde sind nach Dresden ins Krankenhaus gekommen. Ich war nicht allein. Aber ich hatte Angst vor den Wochenenden, vor Ferien, vor dem Sommer. Ich wusste: All das, was ich vorher hatte, war weg und würde mir besonders in diesen Zeiten und in Zukunft fehlen. Und mit dem Hund kann ich das aushalten.

Ein gutes Freunde-Netzwerk funktioniert so: Ein Freund von Oliver L. kannte einen Freund, der wiederum eine Freundin kannte, die eine spanische Vermittlungsagentur kannte. Irgendwann stand L. mit anderen Menschen an einer Autobahnraststätte nach Frechen, ein Bus aus Spanien hielt, Katzen wurden herausgereicht, schließlich drückte jemand Oliver L. Bart in den Arm. Der Bus fuhr wieder ab. „Ich hätte gar keine Chance gehabt zu sagen, er gefällt mir nicht“, sagt Oliver L., „aber er gefiel mir sofort. Sogar sehr.“ Er lacht. „Das war Liebe auf den ersten Blick.“

Möchten Sie uns von Thomas erzählen? Was war er für ein Mensch?

Oliver L. schweigt lange, er kämpft mit den Tränen. Dann schüttelt er den Kopf.

Haben Sie verfolgt, wie Medien über den Angriff auf Sie und Thomas berichtet haben?

Ja, ich habe das verfolgt. Und ich habe mich von der ersten Sekunde an aufgeregt, weil es immer hieß, das sei ein Attentat auf Schwule gewesen. Das stimmte einfach nicht! Danach erfolgte unmittelbar eine Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbandes, der versuchte, die Opferrolle für sich zu vereinnahmen. Das hat mich maßlos gestört.

„Ich hätte einen gesellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei rumlaufen?“

Oliver L.
Was hat Sie daran gestört?

Erstens beeinflusst die sexuelle Orientierung eines Opfers weder positiv noch negativ die Schwere eines Mordes. Zweitens hatte dieser Täter einfach Hass auf unsere westliche Gesellschaft, und er wollte an diesem Tag morden. Wir waren Zufallsopfer! Wir waren die Dritten, die er im Visier hatte. Andere hatten einfach Glück gehabt, weil sie vorher in einem Hauseingang verschwunden oder in ein Hotel gegangen waren. Drittens wurde die Berichterstattung durch das Statement des Lesben- und Schwulenverbandes so beeinflusst, dass sich Bundeskanzlerin Merkel die Hände reiben konnte.

Das mit dem Händereiben müssen Sie erklären.

Das war der zweite Anschlag durch einen als hoch­gradig gefährlich eingestuften Islamisten in Deutschland. Es ist skandalös, dass so ein Mann hier frei herumlaufen durfte. Aber dann hieß es plötzlich, das war ein Anschlag auf Schwule. Und alle Leute, die nicht schwul sind, haben uns sicherlich bedauert und gesagt: Schlimm – aber ich bin ja nicht schwul, mir kann das nicht passieren. Kann es doch!

Fühlten Sie sich und Thomas durch die Debatte um Ihre sexuelle Orientierung als Opfer nicht hinreichend gesehen?

Nein, wir wurden ja gesehen. Aber wir wurden als Opfer auf unsere sexuelle Orientierung reduziert. Und die Gefahr, die von diesem Täter ausging, die von islamistischen Schläfern im Land ausgeht, wurde dadurch nicht gesehen. Der Täter war jahrelang wegen seiner Gefährlichkeit in Haft, er war gerade erst fünf Tage frei – und dann begeht er einen Mord! Nach dem Anschlag von Anis Amri 2016 auf den Weihnachtsmarkt in Berlin haben sie Betonblöcke vor sämtliche Weihnachtsmärkte gestellt. Und was ist nach Dresden passiert? Gar nichts! Weil es ja zwei Schwule waren. Es betrifft uns aber alle! Es hätte jeden treffen können!

Welche Konsequenzen hätten Sie sich konkret gewünscht?

Ich erinnere mich an ein Interview der „Bild“-Zeitung mit einem Politiker, in dem er sinngemäß sagte, Politik und Behörden hätten alles richtig gemacht in Hinsicht auf den Täter und seine Überwachung. Und dann hat die „Bild“ eine richtig gute Frage gestellt: Wie hätte es denn ausgesehen, wenn Sie Fehler gemacht hätten? Ich meine, ein Mensch ist tot! Wie kann da alles richtig gewesen sein? Ich hätte mir alles in allem eine mutigere Berichterstattung gewünscht. Und dann hätte ich einen ge­­sellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei herumlaufen? Aber die Schwulen-Debatte hat den Blick darauf komplett verstellt.

Heute, in diesem Gespräch mit dem WEISSEN RING, äußern Sie sich erstmals öffentlich. Mit einer Ausnahme: Sie haben sich in die Diskussion um ein Mahnmal in Dresden eingeschaltet und in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Stadtrats ein Statement verlesen lassen, mit dem Sie die Mahnmal-Pläne ablehnen. Was haben Sie gegen ein Mahnmal?

Ich bin gegen den Plan, mit einem Mahnmal in Dresden an die „Opfer homophob und transphob motivierter Gewalt“ zu erinnern, weil das an der Sache vorbeigeht. Ich bin dafür, dass es ein Mahnmal gegen islamistischen Terror gibt. Aber das traut sich anscheinend niemand. Außerdem gibt es leider genug Menschen, die zum ­Beispiel jüdische Grabmäler oder Gedenkstätten schänden. Ich glaube, wenn so ein – wie ich finde – falsches Mahnmal in Dresden stünde, dann könnte das auch oft beschmiert oder verunstaltet werden. Und wenn ich dann gleichzeitig daran denken muss, dass Thomas an genau dieser Stelle gestorben ist, fände ich das un­­erträglich.

Sie sagten, dass die Tat kaum körperliche Folgen für Sie hatte. Hat die Tat Auswirkungen auf Ihr Alltagsleben? Zum Beispiel auf Ihr Verhalten in der Öffentlichkeit?

Nein. Ich gehe überall hin, ich schaue mich nicht ständig um. Ich bewege und verhalte mich ganz normal in der Öffentlichkeit. Mit einer Ausnahme: Ich fahre nie wieder nach Dresden. Dresden ist für mich die Stadt des Horrors.

Und doch sollten Sie gezwungen werden, bereits wenige Monate nach der Tat wieder nach Dresden zu fahren: Dort fand der Prozess gegen den Täter statt, und Sie sollten als Zeuge gehört werden. Wie haben Sie das empfunden?

Mir hat sich der Magen umgedreht, mir war schlecht. Der Sozialarbeiterin, die mich begleiten sollte, habe ich immer wieder gesagt: Ich kann da nicht hinfahren, ich kann nicht in Dresden übernachten! Es gibt vielleicht Betroffene, die haben das Bedürfnis, den Mörder zu sehen oder ihm etwas zu sagen. Ich habe das nicht, ich wollte nichts davon, ich wollte am liebsten nichts mit dem Prozess zu tun haben. Dann fand die Verhandlung auch noch im Hochsicherheitssaal in der Justizvollzugsanstalt statt, weil der Täter so gefährlich ist. Ich hatte Angst, dass der mich sieht. Ich hatte Angst, dass er vielleicht ein Netzwerk von islamistischen Attentätern hat. Ich habe gesagt: Wie kann es sein im deutschen Recht, dass ich in meiner Situation vor Ort aussagen muss? Aber der Angeklagte hat nun mal das Recht, alle Zeugen zu sehen und zu hören.

„Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.“

Oliver L.
Sie haben dann aber doch nicht vor Ort ausgesagt, sondern wurden live zugeschaltet in die Verhandlung.

Es hieß dann, ich könne vielleicht audiovisuell aus­sagen. Das ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Ich hätte dann nicht mit dem Täter in einen Raum sein ­müssen, aber ich sollte trotzdem nach Dresden kommen. Am Ende hatte ich das Glück, dass ich in Bonn aussagen konnte. Im Landgericht, in einem separaten Raum mit Bildschirm. Die Sozialarbeiterin, die mich unterstützt hat, eine empathische Frau, saß während der Aussage neben mir. Bevor die Verhandlung anfing, hat sich der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats mit mir unterhalten. Er hat mir die Angst genommen, weil er sagte, ich könne nichts Falsches sagen. Ich habe dann während der Aussage auch nur ihn und die Beisitzer gesehen. Mein Anwalt hat hinterher zu mir gesagt, er habe noch nie einen so empathischen Richter erlebt.

Sie loben den Richter, die Sozialarbeiterin – haben Sie weitere Hilfe von staatlicher Seite erlebt?

Ja, es gab Hilfe. Moment.

Oliver L. steht auf und geht in einen Nebenraum, zurück kommt er mit einer Pappschachtel voller Briefe. Er zieht einzelne Briefe aus der Schachtel: zuerst ein Schreiben einer Journalistin, das er nie beantwortet hat, dann das erste Kondolenzschreiben.

Hier, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen hat mir geschrieben, Herr Kretschmer. Der Minister­präsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet. Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, Herr Kuper. Das war das persönlichste Schreiben, fand ich. Er hat mir geschrieben, wenn es Ihre Gesundheit und die Corona-bedingte Lage zulässt, würde ich Sie gern einmal persönlich kennenlernen, ich solle ihm doch ein Signal geben.

Haben Sie sein Gesprächsangebot wahrgenommen?

Oliver L. schüttelt den Kopf. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Schachtel.

Der Bundespräsident hat mir geschrieben, Herr Steinmeier. Die Reaktion aus der Politik war da, und ich habe das als sehr positiv wahrgenommen.

Illustration: 3st kommunikation GmbH
Haben Sie auch Post von der Bundeskanzlerin bekommen, von Frau Merkel?

Nein. Und das fand ich unverschämt, ehrlich gesagt.

Der Staat unterstützt Verbrechensopfer bei Bedarf auch materiell, zum Beispiel mit Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. War Ihnen das vor der Tat bekannt?

Ich hätte nichts gewusst davon, wenn mir das keiner gesagt hätte. Warum sollst du dich auch damit beschäftigen, wenn du nicht betroffen bist? Ich hatte Hilfen, mein erster Kontakt damals war der WEISSE RING. Mein Anwalt hat mir auch sehr geholfen. Ich habe das gemacht, was mir von anderen empfohlen wurde. Ich selbst war komplett überfordert, ich fand alles so verwirrend. Ich habe die Unterschiede zwischen den verschiedenen Behörden nicht verstanden, ich wusste nicht, wo ich meine Anträge überhaupt stellen sollte. Von der Unfallkasse Sachsen habe ich dann sehr schnell Geld bekommen. Den Antrag beim LVR (Anm. der Redaktion: Landschaftsverband Rheinland, zuständig für Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz) hätte ich mir sparen können, da bin ich gegen eine Wand gelaufen. Ganz im Gegensatz zum Bundesamt für Justiz, von dem ich unbürokratisch sofort Hilfe bekommen habe und sehr gut betreut wurde. Der Opferschutzbeauftragte Pascal Kober hat sich sogar persönlich mit mir in Verbindung gesetzt.

Betroffene klagen immer wieder über belastende Verfahren und unsensible Behördenkommunikation. Wie haben Sie das empfunden?

Beim LVR als Katastrophe. Und ich bin da wirklich nicht empfindlich. Allein diese Kommunikationswege: Der LVR fragte mich etwas per Brief, ich antworte sofort per E-Mail, etliche Wochen später kommt dann wieder ein Brief, auf Umweltschutzpapier und vermutlich per Postkutsche zugestellt. Irgendwann bekam ich einen fröhlichen Anruf von der Sachbearbeiterin: „Herr L., Sie bekommen in Kürze Post von uns.“ Dann kam die Post: Alles wurde abgelehnt. Es geht mir nicht darum, dass ich kein Geld bekommen habe. Ich habe keine bleibenden Schäden davongetragen, da finde ich es gerechtfertigt, keine Rente zu bekommen. Aber beim LVR ­wissen sie nicht, wie man mit Opfern vernünftig kommuniziert. Mir tun die Menschen leid, die es psychisch und finanziell schwerer als ich haben.

Würden Sie Betroffenen davon abraten, einen Antrag auf Opferentschädigung zu stellen und sich dem damit verbundenen Verfahren auszusetzen?

Nein, auf keinen Fall. Wenn sie bleibende Schäden davongetragen haben, sind sie womöglich auf die Entschädigung angewiesen. Aber sie sollten sich Unterstützung suchen, allein kommen sie da nicht durch. Nein, gar nicht. Das ist meine Geschichte, das muss nicht immer wieder in die Öffentlichkeit. Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.

Hass von allen Seiten

Erstellt am: Dienstag, 7. November 2023 von Torben

Hass von allen Seiten

Offener Judenhass gilt in Deutschland seit dem Ende der NS-Terrorherrschaft eigentlich als geächtet. Trotzdem ist Antisemitismus alltäglich. Seit der Nahostkonflikt infolge des Terrorangriffs auf Israel eskaliert, wird jüdisches Leben so bedroht wie lange nicht. Ein Antisemitismus-Report von Michael Kraske.

Dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel mit unvorstellbaren Gräueltaten und Massakern folgten tödliche militärische Gegenschläge Israels auf Gaza sowie weitere Raketenangriffe auf israelische Städte. Weltweit wächst seither die Furcht vor einem großen Krieg im Nahen Osten und einer humanitären Dauerkatastrophe im Gazastreifen. In Deutschland folgte auf den Terror gegen Israel eine antisemitische Hasswelle. Der 7. Oktober wird Israel als Tag des Grauens und der Erschütterung in kollektiver Erinnerung bleiben – so wie der 11. September den USA.

Rund 1.400 Menschen, darunter Kinder, Familien und Alte, waren von den aus Gaza eingedrungenen Terroristen ermordet worden. Die Terroristen vergewaltigten Frauen, schändeten und verstümmelten Leichen und stellten ihre Opfer öffentlich zur Schau. Mehr als 200 Personen wurden bei dem Angriff verschleppt und fortan als Geiseln gehalten. Zwar gab es daraufhin auch in deutschen Städten Solidaritätskundgebungen für Israel. Aber wie so oft, wenn der Nahost-Konflikt eskaliert, brach sich hierzulande rund um pro-palästinensische, israelfeindliche Demonstrationen und Krawalle offener Antisemitismus Bahn.

1) Mitten unter uns

In Hamburg wurden zwei Frauen mit einer Israel-Flagge nach einer Demo von zwei jungen Männern angegriffen und an Schulter, Arm und Kopf verletzt. In mehreren deutschen Städten wurden Israel-Fahnen angezündet. In den Münchner Stachus-Passagen nahm die Polizei einen Mann fest, der zuvor antisemitische Beleidigungen gebrüllt hatte. In Dortmund und Berlin schmierten Unbekannte Davidsterne auf Wohnhäuser, um Bewohnerinnen und Bewohner zu markieren und an den Pranger zu stellen. Aus der jüdischen Community wird über antisemitische Anfeindungen durch nichtjüdische Nachbarn berichtet. Die Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte informierte über einen versuchten Brandanschlag mit Molotowcocktails.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verurteilte unterdessen antisemitische Ausschreitungen und Anschläge gegen jüdische Einrichtungen. In Israel werden Jüdinnen und Juden abgeschlachtet – und in Deutschland, dem Land der Shoah, explodiert der Hass. Max Privorozki, der als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale vor vier Jahren den rechtsextremen Terroranschlag auf die dortige Synagoge überlebt hat, sieht jüdisches Leben seither so in Gefahr, wie er es sich nicht hätte vorstellen können.

Ein Mann betritt hinter Polizeiabsperrband die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin-Mitte. Auf das Haus in Berlin wurde Mitte Oktober 2023 ein Brandanschlag verübt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) registrierten binnen einer einzigen Woche nach dem Terror-Angriff 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland, ein Anstieg um fast 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die auf Antisemitismus spezialisierte Opferberatung OFEK (hebräisch für neue Horizonte) in Berlin musste aufgrund des großen Bedarfs kurzfristig ihr Angebot für Betroffene erweitern. Das Bundeskriminalamt (BKA) zählte infolge des Hamas-Terrors binnen weniger Wochen über 2.000 Straftaten, darunter Körperverletzungen, Volksverhetzung, Landfriedensbruch sowie Widerstand gegen die Polizei bei pro-palästinensischen Demos in Berlin.

Grünen-Politikerin Lamya Kaddor warnte vor islamistischen Gewalt-Videos, die in den sozialen Netzwerken kursieren: „Diese schrecklichen Gewaltdarstellungen von Folter und Mord werden ungefiltert und unkommentiert auf Schulhöfen geteilt.“ Es ist kein Zufall, dass sich der Hass auf Juden einmal mehr an einer Eskalation in Israel entzündet. Während der sogenannte klassische Antisemitismus hierzulande nach den NS-Menschheitsverbrechen weitgehend tabuisiert ist, wird israelbezogene Judenfeindschaft nicht nur von pro-palästinensischer Seite, Islamisten und in islamischen Milieus mit judenfeindlicher Sozialisation geteilt, sondern auch politisch von links bis rechts sowie in der bürgerlichen Mitte. Der Hass schlägt Jüdinnen und Juden derzeit bedrohlich von allen Seiten entgegen.

In der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ haben Jüdinnen und Juden beschrieben, wie es ihnen in Deutschland seit dem 7. Oktober ergangen ist: Die 25-jährige Deborah Feinstein erzählt dort etwa, wie ihr eine auf Hebräisch gesprühte Hassparole auf der Straße solche Angst eingejagt habe, dass sie fortan öfter zu Hause blieb. Eskaliere der Nahost-Konflikt, dann sei das in Berlin immer spürbar, aber noch nie so heftig wie jetzt. Michael Movchin (26) aus München berichtet, dass ihn derzeit sehr viele Hasskommentare auf Social Media erreichen. Neu sei, dass im Internet vor gefährlichen Orten gewarnt werde. Der junge Mann gibt an, seither vorsichtiger zu sein und nicht mehr in der Öffentlichkeit zu telefonieren.

Rabbinerin Yael Deusel (63) informiert darüber, dass jemand ein Hakenkreuz in ihr Arztpraxisschild in Bamberg gekratzt habe. Sie sorgt sich vor allem um die Sicherheit ihrer Patienten, Mitarbeiter und Gemeindemitglieder. Max Breslauer (38) schreckt in Süddeutschland jedes Mal hoch, wenn es an der Tür klingelt. Einige Nachbarn haben aufgehört, ihn zu grüßen. Das Stimmungsbild, das die Zeitung in der jüdischen Gemeinschaft eingeholt hat, ist alarmierend. Zwar äußern viele, sich nicht einschüchtern zu lassen. Doch die Angst ist allgegenwärtig.

2) Die Ächtung des Antisemitismus bröckelt

Die neuerliche Hochkonjunktur der Judenfeindschaft hat einen wenig beachteten Vorlauf. Diese Gewöhnungseffekte verschärfen die Lage zusätzlich. Es ist noch nicht lange her, dass bei Corona-Protesten mit sogenannten „Judensternen“ und der Aufschrift „Ungeimpft“ der Holocaust relativiert wurde, indem sich Demonstrierende mit NS-Opfern auf eine Stufe stellten. Seither kursieren auch wieder verstärkt antisemitische Verschwörungserzählungen über eine angeblich strippenziehende Elite. Wie so oft in Krisenzeiten werden Jüdinnen und Juden wieder zu Sündenböcken gemacht. Dieser Hass mündet immer häufiger in Taten. So erreichten antisemitische Delikte vor zwei Jahren laut der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes mit über 3000 Fällen ein Rekordniveau. Obwohl es seither vorübergehend weniger Demos und damit auch seltener Anlässe für Täter gab, gingen die Fallzahlen nur leicht zurück.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, stellt klar, „dass der Antisemitismus aus Deutschland nie weg war“. Doch während dieser phasenweise eher im Verborgenen geäußert worden sei, trete er nunmehr wieder zunehmend unverhohlen zutage: „Verschwörungserzählungen, Verharmlosung der Shoah und als Kritik an Israel getarnter Antisemitismus verbreiten sich längst nicht mehr nur am politischen Rand, sondern reichen in die Mitte der Gesellschaft hinein und sind auch in intellektuellen, akademischen Milieus zu finden.“

Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Foto: Bernd von Jutrczenka

Die Forschung unterscheidet einerseits zwischen einem klassischen Antisemitismus uralter Stereotype und Weltbilder über vermeintlich verschlagene Juden und ihren angeblich übergroßen und schädlichen Einfluss sowie modernen Ausdrucksformen andererseits: Beim Sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus wird der Holocaust entweder geleugnet oder relativiert. Neuerdings eben auch dadurch, dass man auf Demos behauptet, aktuell einer Verfolgung wie seinerzeit die NS-Opfer ausgesetzt zu sein. Der Begriff Schuldabwehr beschreibt, dass diese Relativierungen dazu dienen, die deutsche Schuld am Holocaust herunterzuspielen. Nicht selten kommt es dabei zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Der israelbezogene Antisemitismus benutzt den Staat Israel als Projektionsfläche und Aufhänger für Judenfeindschaft.

Die Forschung registriert seit einigen Jahren, dass in Deutschland die eindeutige Ächtung des Antisemitismus bröckelt. Vor drei Jahren stimmten laut Leipziger Autoritarismus-Studie (LAS) 41,1 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Reparationsforderungen nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten.“ Ein weiteres Drittel stimmte dieser zynischen Unterstellung, wonach Reparationszahlungen dem Profit dienen, immerhin teilweise zu. Der beunruhigende Befund lautet: Wenn Antisemitismus nicht offen, sondern über einen Umweg wie etwa die unterstellte Instrumentalisierung der Shoah durch vermeintlich geldgierige Profiteure geäußert wird, ist er in großen Teilen der deutschen Gesellschaft anschlussfähig.

Polizeischutz für die Minderheiten

Was genau sind eigentlich Hassverbrechen? Wie lassen sie sich bekämpfen? Und was empfinden die Betroffenen? Eine Antwortsuche in München und Nürnberg.

Wenn der Staat Israel dämonisiert wird

Häufig tritt diese Form der Judenfeindschaft zusammen mit israelbezogenem Antisemitismus auf. In der besagten Studie der Uni Leipzig befürworteten 30,3 Prozent der Befragten: „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg.“ Hier wird die kritikwürdige israelische Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten mit der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden durch das NS-Terrorregime gleichgesetzt. Der Staat Israel wird damit dämonisiert. Das ist übrigens ein Kriterium zur Unterscheidung. Denn natürlich ist auch harte Kritik an israelischer Politik legitim. Die Grenze zum Antisemitismus gilt etwa da als überschritten, wo der Staat Israel dämonisiert oder ihm das Existenzrecht abgesprochen wird und wenn Juden per se für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden.

Traditionell gehört Judenfeindschaft zum festen Repertoire der radikalen Rechten. Seit Jahren werden die meisten antisemitischen Straftaten laut der Polizeilichen Kriminalstatistik von rechten Tätern verübt. Linker Antisemitismus gegen das vermeintlich imperiale und postkolonialistische Israel ist hingegen weniger bekannt. Sogar im Angesicht des barbarischen Terrors der Hamas wurde der Massenmord auch von Teilen der radikalen Linken relativiert oder gar als palästinensischer Freiheitskampf glorifiziert. Bei einer Demo vor dem Auswärtigen Amt in Berlin skandierten Teilnehmende: „Free Palestine from german guilt“, befreit Palästina von deutscher Schuld. Die deutsche Verpflichtung, für Israel einzustehen, die sich aus der Verantwortung für den Holocaust ergibt, soll demnach beseitigt werden.

3) Antisemitischer Alltag vor dem 7. Oktober

In Berlin hat Maria Kireenko schon lange vor dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel immer wieder Antisemitismus zu spüren bekommen. Kireenko hat in Göttingen Geschichte und Soziologie studiert und macht derzeit ihren Master-Abschluss in Osteuropastudien in Berlin. Neben ihrem Studium engagiert sie sich im Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und organisiert politische Bildungsangebote. Vor zwei Jahren, als es nach einer Eskalation im Nahen Osten ähnlich wie in diesem Herbst zahlreiche pro-palästinensische und israelfeindliche Demos gab, hat sie öffentlich gemacht, wie zwei ihrer Freundinnen in Berlin von mutmaßlich muslimischen Tätern auf der Straße angegriffen wurden, weil sie Halsketten mit einem Davidstern trugen. Andere Freunde seien mitten in Berlin beleidigt, bespuckt und bedroht worden, weil einer von ihnen ein Israel-Fähnchen bei sich trug.

Die Studentin bekannte damals, dass sie zuweilen Angst habe, die sozialen Medien im Internet zu nutzen, weil sie etwa beim Messenger-Dienst Telegram regelmäßig auf „antisemitischen Müll“ und „üble Relativierungen des islamistischen Terrors“ treffe. Diese stillen Rückzüge aus den digitalen Diskursräumen bleiben zumeist unbemerkt, tragen aber zur politischen Klimaverschärfung bei, weil nach und nach leise, besonnene Stimmen verstummen.

Maria Kireenko hängt bei einer Plakataktion des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Plakate zu den Ermordeten und Geiseln der Hamas in Berlin-Friedrichshain auf. Foto: Christoph Soeder/dpa

Maria Kireenko leistet freiberuflich politische Bildungsarbeit in Berlin-Neukölln, wo auch viele Muslime wohnen. Neulich, noch vor dem 7. Oktober, hatte sie eine Informationsveranstaltung über die Gründung des israelischen Staates mitorganisiert. „Schon im Vorfeld gab es viele Anfeindungen“, berichtet sie. „Wir mussten eine jüdische Sicherheitsfirma engagieren.“ Bei der Podiumsdiskussion habe es dann organisierte Störungen aus dem Umfeld der BDS-Bewegung gegeben, die sich als Sprachrohr der palästinensischen Zivilgesellschaft versteht und weltweit zum Boykott Israels und aller Personen aufruft, die mit dem israelischen Staat zusammenarbeiten; darunter Künstlerinnen, Sportler und Wissenschaftlerinnen. Die Störer traten Kireenko zufolge bei der Veranstaltung in Neukölln überaus aggressiv auf: „Zwei Personen sind richtig ausgeflippt.“ Immer wieder bekomme sie bei solchen Gelegenheiten zu hören, man dürfe Israel ja nicht kritisieren – von Personen, die das dann umso lauter und aggressiver täten.

„Juden werden für Israel verantwortlich gemacht“, beklagt Kireenko. Der Hass sei für sie nur schwer auszuhalten. Sie versuche mittlerweile, auf eigene Belastungsgrenzen zu achten. „Ich habe mich zu schützen gelernt“, sagt die Studentin. „Man entscheidet sich bewusst, wo man sich als jüdisch zu erkennen gibt.“ Dazu gehört auch, sichtbare Symbole wie den Davidstern bisweilen zu verbergen. „Verwalten von Sichtbarkeit“ nennt sie das: „In manchen Situationen entscheide ich mich dafür, ihn wegzustecken.“ Sie habe auch schon zu hören bekommen, in Neukölln offen jüdisch aufzutreten sei „eine Provokation“. Die engagierte Studentin formuliert eine Einschätzung, die aufhorchen lässt: „In Deutschland verändert sich etwas.“ Dieses Gefühl wachsender Bedrohung unter Jüdinnen und Juden deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Strafverfolgung und von Sozialforschenden. Antisemitismus wird im Land der Shoah wieder lauter, aggressiver und gefährlich normal – nicht erst seit dem Terror der Hamas.

Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen.

Die Erfahrungen der Berliner Studentin sind weder Einzelfall noch Ausnahme. Antisemitismus prägt den Alltag vieler Jüdinnen und Juden, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft davon kaum Notiz nimmt. Der rechtsextremistische Terroranschlag im Herbst 2019 mit zwei Mordopfern, als ein hasserfüllter Attentäter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte, ein Massaker an betenden Jüdinnen und Juden in der Synagoge in Halle/Saale zu verüben, hat daran nichts geändert. Die Sicherheitsvorkehrungen in jüdischen Einrichtungen wie Gemeindezentren und Kindergärten wurden danach nicht nur in Halle, sondern bundesweit verstärkt, beispielsweise auch an der Synagoge in Dresden.

Betroffene müssen sich seither noch stärker zwischen der Sichtbarkeit ihrer jüdischen Identität und der eigenen Sicherheit entscheiden. Die Kippa tragen viele Gläubige nur in der Synagoge, auf deutschen Straßen ist es zu gefährlich. Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf erkennbar jüdische Menschen. Allen jüdischen Kulturwochen und Gedenktagen zum Trotz ist Antisemitismus in der gesellschaftlichen Praxis nicht nur alltäglich, sondern auch so schmerzhaft spürbar, dass Betroffene gezwungen sind, sich in ihrer Lebensführung massiv einzuschränken.

4) „Eigentlich gehört ihr nicht hierher“

Nora Goldenbogen hat der Antisemitismus ein Leben lang beschäftigt. Wie sehr, das habe sie sich seinerzeit als junge Frau gar nicht vorstellen können, sagt sie. Goldenbogen ist Lehrerin, Historikerin und Autorin. Viele Jahre hat sie die Jüdische Gemeinde in Dresden geleitet. Mittlerweile ist sie im Landesverband für die drei sächsischen Gemeinden in Dresden, Leipzig und Chemnitz zuständig. Mit dem Verein Hatikva hat sie sich für politische Bildung und Aufklärung engagiert. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Synagoge in Dresden zu einem Ort der Begegnung zu machen, mit Podiumsdiskussionen und einer offenen Gesprächskultur. Kürzlich hat Nora Goldenbogen ein berührendes Buch über die Geschichte ihrer Eltern veröffentlicht, in dem sie von der jüdischen Mutter und dem kommunistischen Vater und Widerstandskämpfer erzählt, die nur knapp der nationalsozialistischen Vernichtung entkamen und nach dem Ende des NS-Terrors nach Dresden zurückkehrten, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Für ihr kritisches Engagement wurde die Autorin mit der Ehrenmedaille der Stadt Dresden ausgezeichnet.

Antisemitismus begegnet Nora Goldenbogen immer wieder, in ganz unterschiedlichen Formen. „Bis heute werde ich für die Politik von Israel verantwortlich gemacht, auch wenn ich in Dresden geboren bin“, erzählt sie. Als deutsche Jüdin bekommt sie des Öfteren zu hören: „Was macht denn Ihre Regierung da?“ Gemeint ist dann wohlgemerkt nicht die deutsche, sondern die israelische Regierung. Eine gängige Zuschreibung sei, ihr aufgrund ihrer jüdischen Identität die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft abzusprechen, nach dem Motto: „Eigentlich gehört ihr nicht hierher.“ Nicht selten würden auch Relativierungen des Nationalsozialismus wie diese geäußert: „Die (Anm. der Redaktion: Israel) sind ja auch nicht besser als die Nazis.“ In der Öffentlichkeit entstand zuletzt wieder der Eindruck, dass Antisemitismus vor allem ein Problem zugewanderter Muslime sei, eine Art Import also.

„Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren.“

Nora Goldenbogen

Nora Goldenbogen erlebt das in Dresden und Sachsen ganz anders: Wenn etwa deutsche Besucher in die Synagoge kommen und fragen, ob es denn für den Bau der Synagoge nicht genug jüdisches Geld gegeben habe. Juden und Geld. Juden als Strippenzieher. Solche Stereotype verfolgen sie seit Jahrzehnten. In den vergangenen Jahren ist es nach ihrer Überzeugung schlimmer geworden.

„Antisemitische Klischees gab es damals auch in den Köpfen der DDR-Bürger“, erinnert sie sich. Diese Klischees würden in den Familien weitergegeben. Im Osten ebenso wie im Westen. Sie hat gelernt, damit zu leben. Dennoch beunruhigt es sie, wie viele in der Pandemie bereit waren, sich mit einem gelben Ungeimpft-Stern mit NS-Opfern gleichzusetzen: „Das ist erschreckend.“ Krisen seien immer mit starker Verunsicherung verbunden. „Es ist eine historische Tatsache, dass Antisemitismus in Krisenzeiten immer eine Möglichkeit war, Schuld zuzuweisen, Schuldige zu suchen oder sich zum Opfer zu stilisieren“, sagt Goldenbogen. Und die Krisen nehmen anscheinend kein Ende: Corona, Klima, Krieg.

„Du Jude“ als Schimpfwort

Aus vielen Gesprächen in den sächsischen Gemeinden weiß sie, dass Judenfeindschaft längst nicht nur ein Problem von Ewiggestrigen aus der älteren Generation ist. „Wir haben in den vergangenen Jahren sehr oft darüber gesprochen, dass Antisemitismus in den Schulen normal geworden ist“, berichtet Goldenbogen. Auf Schulhöfen ist die Phrase „Du Jude“ vielerorts eine gängige Schmähung geworden. Viele Lehrer seien nicht in der Lage, mit ihren Schülern darüber zu reden, geschweige denn das Klima in Klassen und Schulen zu verändern, kritisiert Goldenbogen. Seit Langem gibt es Pläne der Kultusministerkonferenz, Antisemitismus stärker als bisher in den Lehrplänen zu verankern. Doch umgesetzt wurden diese bislang nicht.

Vorurteile und Anfeindungen im Alltag kennen auch ihre sächsischen Gemeindemitglieder, berichtet Nora Goldenbogen: „Ein großer Teil lebt sein Judentum ziemlich zurückgezogen.“ Sie weiß aus Gesprächen, dass private Konflikte zwischen Nachbarn mitunter eskalieren, wenn jemand plötzlich äußert: typisch Jude. Dann werden in einem bis dahin alltäglichen Streit um Banalitäten auf einmal antisemitische Klischees verwendet. „Das ist ziemlich schwer auszuhalten“, sagt sie.

5) Spucken, drohen, schlagen

Bianca Loy arbeitet als Referentin für die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Berlin, die mit ihrem Monitoring maßgeblich dazu beitragen, ein genaues Bild vom Ausmaß antisemitischer Anfeindungen und Übergriffe zu gewinnen. Sie weist darauf hin, dass es im vergangenen Jahr durchschnittlich fast sieben antisemitische Vorfälle pro Tag gab. Darunter auch mit neun Fällen einen neuen Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt: „Das ist eine neue qualitative Dimension antisemitischer Vorfälle.“ Wobei von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, weil viele Betroffene antisemitische Erlebnisse erfahrungsgemäß selten melden oder gar anzeigen. Loy betont den alltagsprägenden Charakter der Übergriffe. Sie ereigneten sich „beim Einkaufen oder im eigenen Wohnumfeld“. Das macht es für Betroffene so gefährlich und traumatisierend. Denn man kann Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt nicht aus dem Weg gehen, wenn sie sich in der Nachbarschaft, der Schule oder im Supermarkt um die Ecke ereignen.

Neuer Höchststand bei extremer antisemitischer Gewalt

Loy berichtet von einem jüdischen Mann, der mit einem Freund ein Café in Hamburg besucht hat und eine Kippa trug, woraufhin er von der Bedienung zu hören bekam: „Ja, dass er Geld hat, sieht man schon an der Mütze. Die haben immer genug Geld.“ In einem anderen Fall wurde ein erkennbar jüdisches Paar im Auto bis auf einen Parkplatz verfolgt und von einem anderen Fahrzeug ausgebremst. Dort schlugen dann drei Männer gegen das Auto, bespuckten die Fenster, beleidigten ihre Opfer antisemitisch und drohten ihnen Gewalt an. Das Spektrum von alltäglichem Antisemitismus reicht von Vorurteilen über das Absprechen der Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft (sog. „Othering“) und Drohungen bis zu offener Gewalt.

Nach den Angriffen der Hamas auf Israel haben in Deutschland deutlich mehr Betroffene Unterstützung bei OFEK gesucht. (Spiegel, Artikel vom 7. November 2023)

Immer wieder beklagen Betroffene, von den Sicherheitsbehörden nicht ernstgenommen zu werden. Insbesondere wird Antisemitismus im Rahmen einer Strafverfolgung nicht immer als Tatmotiv anerkannt. Bianca Loy bemerkt zwar durchaus Fortschritte. So sei es ein erster wichtiger Schritt, dass einzelne Beamtinnen und Beamte in den zuständigen Staatsschutzabteilungen der Polizei inzwischen im Umgang mit Antisemitismus geschult seien. Darüber hinaus brauche es aber „eine Sensibilisierung in der Breite der Polizeibehörden“. RIAS sehe weiterhin großen Bedarf, „die Betroffenenperspektive ernstzunehmen und einzubeziehen; das gilt im Besonderen für die Strafverfolgungsbehörden.

Dafür ist zentral, dass ein Verständnis für Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen vorhanden ist und den Betroffenen Sensibilität entgegengebracht wird.“ So müsse auf Seiten der Staatsanwaltschaften die Würdigung einer antisemitischen Motivlage in Strafverfahren zu einem zentralen Thema werden. Antisemitismus wird oft nur dann eindeutig erkannt und geahndet, wenn es bei einer Tat einen direkten Bezug zu NS-Symbolen oder Parolen gibt. Die Erfahrungen aus der Praxis sprechen dafür, den Umgang mit modernem Antisemitismus sehr viel stärker und systematischer in Aus- und Fortbildungen zu verankern. Viele Institutionen stehen da erst am Anfang, wie Fachleute aus der Praxis politischer Bildungsarbeit übereinstimmend berichten.

6) Antisemitismus in der politischen Kultur

Politisch leistet die AfD dem Antisemitismus systematisch Vorschub. Nicht nur, indem deren Personal mit antisemitischen Codes über „globalistische Eliten“ raunt. Der Begriff „Globalisten“ gilt als ein Synonym für Juden, die in Verschwörungserzählungen als vermeintlich wurzellose, über die Welt verteilte Zerstörer gewachsener Völker und Kulturen angesehen werden. Darüber hinaus greift die AfD offen die deutsche Erinnerungskultur an. Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke hat das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ genannt und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert. AfD-Politiker verhöhnen das rituelle Gedenken an die Opfer der Shoah als „Schuldkult“. Auschwitz soll als zentraler Fixpunkt deutscher Erinnerungskultur beseitigt werden, um wieder ungestört von deutscher Schuld völkische Ideologie propagieren zu können.

Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, warnt vor einem „erinnerungspolitischen Klimawandel“ im Land. Der politische Geschichtsrevisionismus bleibt derweil nicht folgenlos. Seit einiger Zeit registrieren NS-Gedenkstätten eine Zunahme rechtsextremer Vorfälle. Gedenkorte für Nazi-Opfer werden mit Propaganda-Parolen und Hakenkreuzen geschändet.

Hubert Aiwanger. Foto: Lennart Preiss/dpa

Der Fall Aiwanger

Auftrieb erhalten rechte Täter auch durch öffentliche Debatten wie im Fall des Freie-Wähler-Politikers Hubert Aiwanger, bei dem zu dessen Schulzeiten eine antisemitische Hetzschrift gefunden worden war. Bianca Loy von RIAS kritisiert, dass in der Debatte um den bayerischen Politiker eine „Abwehr der Erinnerung an die Shoah“ erfolgt sei und „jegliche Verantwortung zurückgewiesen wurde“. Im Gegenteil stilisierte sich der Chef der Freien Wähler in Bayern in Bierzelten lautstark als Opfer einer medialen und politischen „Schmutzkampagne“. Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, sagt: „Aus meiner Sicht hat diese Angelegenheit dem Kampf gegen Antisemitismus in diesem Land geschadet.“ Er appelliert, nicht zuzulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus lediglich als Teil des politischen Geschäfts wahrgenommen werde. Die politische Kultur entscheidet maßgeblich darüber, wie wirkmächtig Judenfeindschaft in der Gesellschaft werden kann. Ob diese Menschenverachtung stillschweigend geduldet oder im Gegenteil konsequent tabuisiert und ausgegrenzt wird.

Judenwitze im Abendprogramm

Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, Antisemitismus nur als Problem von Jüdinnen und Juden misszuverstehen. Er ist aber vielmehr Ausdruck eines Demokratieproblems, das alle angeht, weil er die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens zerstört. Darum sind Bianca Loy zufolge auch alle in der Gesellschaft gefragt, „jede Form von Antisemitismus zu ächten“. Damit tut sich die deutsche Gesellschaft allerdings regelmäßig schwer. Das war bei antisemitischer Kunst auf der Kunstschau Documenta so und auch, nachdem die Kabarettistin Lisa Eckhart im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Judenwitze erzählt hat.

Zuletzt fiel Fernsehphilosoph Richard David Precht in einem Podcast mit dem Talkmaster Markus Lanz mit antisemitischen Stereotypen über orthodoxe Juden auf, denen die jüdische Religion angeblich zu arbeiten verbiete, mit Ausnahme von „ein paar Sachen wie Diamanthandel“ und „Finanzgeschäfte“. Nach heftiger öffentlicher Kritik ruderten Precht und das ZDF zurück. Precht räumte später seine falsche Aussage ein. Bezeichnenderweise entschuldigte er sich aber lediglich bei jenen, deren „religiöse Gefühle“ er verletzt habe oder „die das an antisemitische Klischees erinnert hat“. Das ZDF sprach auch nur davon, dass Prechts Darstellung „missverständlich interpretiert werden konnte“.

Wo ist die Solidarität, wenn es drauf ankommt?

Dagegen kritisiert Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg, in einem Faktencheck, in dem Podcast seien „reihenweise Falschbehauptungen“ über das Judentum verbreitet worden. So würden gläubige Juden keineswegs wie behauptet „den ganzen Tag beten“, sondern dreimal am Tag. Blume kritisierte auch die Aussage von Lanz über angebliche „Mächte und Kräfte“, die ein großes Interesse daran haben, einen streng gläubigen Menschen „emotional einzukesseln“ und „fast als Geisel zu nehmen“. Blume erkennt in diesen unbedachten Äußerungen „antisemitische Verschwörungsmythen“. In den deutschen Debatten zum Thema ist derartige, auf Sachkenntnis beruhende Kritik selten.

Ebenso die Erkenntnis, dass sich auch ansonsten aufgeklärte Menschen antisemitisch äußern können. In vielen Medien ist oft nur vom Vorwurf des Antisemitismus die Rede, ohne diesen inhaltlich zu prüfen und zu werten. Die vielbeschworene Solidarität mit Jüdinnen und Juden – im Alltag lässt sie gerade dann zu wünschen übrig, wenn es drauf ankommt. Auch weil es in allen gesellschaftlichen Bereichen an Wissen über Antisemitismus fehlt.

„Das war eine zusätzliche Belastung“

Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale und hat den Terroranschlag auf die Synagoge im Oktober 2019 überlebt. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit Journalistinnen und Journalisten nach der Tat.

Der beeindruckende Appell von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) gegen jeden Antisemitismus und für Solidarität mit Israel ist eine seltene Ausnahme im deutschen Diskurs. Dessen Videobotschaft, die lagerübergreifend auf große Resonanz stieß, drückt nicht nur eine unmissverständliche Haltung aus, sondern erklärt auch, dass die mantrahaft beschworene Formel „Nie wieder“, die zur deutschen Staatsräson wurde, mehr sein muss als eine bloße Behauptung: nämlich die konkrete Verpflichtung, im Hier und Jetzt entsprechend zu handeln.

Der Minister blendet dabei nichts aus. Weder das unermessliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung noch die Pflicht von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, auch den gesellschaftlichen Grundkonsens einzuhalten, wonach Antisemitismus unter keinen Umständen geduldet wird. Habeck hat damit an ein deutsches Selbstverständnis erinnert, das an Gedenktagen regelmäßig beschworen wird, bevor das Land dann am nächsten Tag wieder zu einer weit weniger idealen Tagesordnung übergeht.

Am 27. Januar, dem sogenannten Holocaustgedenktag, oder in Reden anlässlich der Reichspogromnacht am 9. November heißt es immer wieder, dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Deutschland gehöre. Aber die Realität sieht vielerorts anders aus. Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen müssen permanent vor Gewalt und Terror geschützt werden. Im Alltag wird Antisemitismus zu oft entweder nicht erkannt, ignoriert oder sogar geduldet. Das darf nicht so bleiben.