Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

 

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Erstellt am: Donnerstag, 3. April 2025 von Selina

„Die Betroffenen haben viele Ängste und Schamgefühle“

Die Empörung ist groß, nachdem vor zwei Wochen bekannt geworden ist, dass der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) auslaufen soll. Ein Papier aus den Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD lässt jetzt auf eine Fortsetzung hoffen. Doch ob und in welcher Form der Fonds tatsächlich bleibt, ist ungewiss. Beratungsstellen und Betroffene mahnen, die niedrigschwelligen Hilfen in vollem Umfang zu erhalten.

Manche Opfer brechen Jahrzehnte nach dem Missbrauch zusammen. Mit Hilfe des Fonds kann ihr Leid gelindert werden. Foto: dpa

Manche Opfer brechen Jahrzehnte nach dem Missbrauch zusammen. Mit Hilfe des Fonds kann ihr Leid gelindert werden. Foto: dpa

Bernd Weiland (Name geändert) wurde jahrelang von seinem Vater missbraucht. Er verlor das Gleichgewicht und bekam als Erwachsener auch Geldsorgen, weil er beruflich nicht richtig Fuß fassen konnte. Um wenigstens etwas Abstand zu der Tat und zu dem Mann zu bekommen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte, wollte er seinen Nachnamen ändern. Später hatte er noch einen kleinen Wunsch: sich einmal elegant einkleiden, von Kopf bis Fuß, um sich „nicht so ärmlich und erbärmlich“ zu fühlen, sagte er. Keine teure Designerkleidung, aber ordentliche Klamotten. Als der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seinen Antrag auf finanzielle Unterstützung für die Namensänderung und die Kleidung bewilligte, war er sprachlos und brach in Tränen aus, vor Freude.

Die Kleidung habe für ihn eine tiefere Bedeutung gehabt, erklärt Ingeborg Altvater, die beim WEISSEN RING mehr als 100 Beratungen zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS) gemacht hat, das hinter dem Fonds steht. „Die Garderobe stärkte sein Selbstbewusstsein. Das ist ganz wichtig, weil er wie andere Opfer mit dem Gefühl kämpfte, minderwertig und hilflos zu sein“, erinnert sich Altvater.

In der Regel ist eine Unterstützung bis 10.000 Euro möglich

Der Fonds kann Hilfen gewähren, die die Kranken- und Pflegekassen oder das soziale Entschädigungsrecht nicht abdecken. In der Regel ist eine Unterstützung in Höhe von 10.000 Euro, für Betroffene mit Behinderung bis zu 15.000 Euro möglich. Kürzlich ist bekannt geworden, dass das Ergänzende Hilfesystem und der FSM Ende 2028 auslaufen sollen. Demnach können Erstanträge von Betroffenen sexualisierter Gewalt noch bis Ende August 2025 eingereicht und Zusagen nur bis Jahresende erteilt werden.

Das noch amtierende Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) rechtfertigte diesen Schritt mit einer Prüfung des Bundesrechnungshofs, der im April 2024 bemängelt hatte, der Fonds verstoße gegen das Haushaltsrecht. Ein Ministeriumssprecher teilte mit, die Ampel-Koalition habe sich nicht darüber einigen können, wie sie das EHS neu aufstellen können. Das sei Aufgabe der neuen Bundesregierung. Der WEISSE RING und fünf Fachorganisationen, darunter die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF), kritisierten die Entscheidung und forderten in einer gemeinsamen Erklärung: „Der Fonds Sexueller Missbrauch muss dauerhaft fortgeführt und strukturell abgesichert werden.“

Derzeit verhandeln CDU und SPD über eine Koalition. Ein dort erarbeitetes Papier macht Hoffnung. Es heißt darin: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenbeirats fort.“ Doch ob der FSM als Teil des EHS tatsächlich bestehen bleibt und in welcher Form, ist noch unklar.

Leistungen können Folgen des Missbrauchs lindern

Beratende wie Ingeborg Altvater mahnen, den Fonds in vollem Umfang zu erhalten. Sie beschreibt das Hilfesystem als „sehr niedrigschwellige Möglichkeit zu helfen – und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, um die Folgen des Missbrauchs zu lindern“.

Das System bietet aus Sicht der Opfer eine Reihe von Vorteilen: Die Verfahren sind nicht so lang und belastend wie beim Entschädigungsrecht, und die Anträge werden viel häufiger genehmigt. Betroffene müssen glaubwürdige Angaben machen, etwa zu ihrer Person und zu den Taten, letztere jedoch nicht detailliert in Worte gefasst schildern. Sie können auch durch Ankreuzen Informationen geben, beispielsweise dazu, ob sie angefasst worden sind. „Das entlastet Opfer. Sie schaffen es dadurch eher, einen Antrag auf Unterstützung zu stellen“, weiß Altvater. Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung in der Beratung sagt Altvater: „Menschen, die in jungen Jahren von ihren Nächsten missbraucht wurden und dadurch einen großen Vertrauensbruch erlitten haben, sind eine besonders belastete Opfergruppe. Sie haben viele Ängste und Schamgefühle.“ Teilweise sind sie beruflich erfolgreich, haben aber privat Probleme. Mitunter verdrängen sie die Tat jahrzehntelang – und brechen dann zusammen.

Der FSM kümmert sich weitgehend um Fälle von sexualisierter Gewalt im familiären Bereich. Zudem übernimmt er Fälle in Institutionen, die sich an ihm beteiligen, etwa der Caritasverband und die Bundeswehr. Laut den jüngsten Zahlen ist der monatliche Schnitt an Erstanträgen im Jahr 2023 gegenüber dem Vorjahr um 21 Prozent gestiegen, auf 412. Das geht aus dem Jahresbericht des Fonds hervor. Der Großteil der Antragstellenden hat sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld angegeben (96,2 Prozent). In etwa 98 Prozent der Fälle wurden Mittel aus dem FSM bewilligt. Im Jahr 2023 flossen Hilfen in Höhe von 27,6 Millionen Euro (plus 17 Prozent), der Bund zahlte in dem Jahr 32 Millionen ein. Nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bekamen seit 2013 rund 27.500 Menschen Hilfen durch den Fonds. Den größten Anteil im vorvergangenen Jahr hatten Leistungen, die der „individuellen Aufarbeitung“ dienen, etwa Hilfen zur sozialen Teilhabe oder Entspannungsverfahren (8 Millionen Euro), gefolgt von therapeutischen Hilfen (7,7 Millionen Euro).

Beratungsstellen warnen vor Aus

Auch in der Fachberatung aktive Einrichtungen kritisieren das drohende Aus bundesweit. Lilo Löffler, geschäftsführender Vorstand beim Sozialdienst Katholischer Frauen und Männer Mettmann, warnt zum Beispiel vor einem „fatalen Schritt“ der Politik. Die individuellen Hilfeleistungen seien eine wichtige Anerkennung für Betroffene und „tragen erheblich zur Linderung des erlebten Leids bei.“

Der Fonds Sexueller Missbrauch kann einspringen, wenn gesetzliche Leistungen nicht reichen, um das Leid der Betroffenen zu lindern. Oder wenn das Fortsetzen gesetzlicher Leistungen abgelehnt oder durch eigentlich vorrangige Leistungsträger erschwert wird. So kann der Fonds beispielsweise eine Behandlung in den sogenannten psychotherapeutischen Richtlinienverfahren über die Stundenobergrenze hinaus ermöglichen. Weitere Beispiele sind Physiotherapie, Ergotherapie, Zahnbehandlungen, Aus- und Fortbildung oder Umzüge, etwa wenn der Tatort auch der Wohnort ist.

Wenn Altvater Betroffene berät, erklärt sie ihnen zu Beginn den Aufbau des Antrags, klärt formale Dinge: „Das verringert die Anspannung.“ Es geht erst um Daten zur Person, später um Tatzeit und Tatort, die Tat, die nicht beschrieben werden muss, dann um seelische und körperliche Folgen sowie die konkreten Leistungen, die das Leid lindern und den Heilungsprozess fördern sollen. Die Sachbearbeiter müssen erkennen, weshalb etwas beantragt wird und inwiefern es helfen kann. „Wir überlegen, was den Opfern guttun, was ihnen eine neue Perspektive eröffnen würde.“ Ein wichtiges Ziel sei, die Selbstwirksamkeit zu erhöhen, da sie sich häufig machtlos fühlen. Auch deshalb habe der Fonds eine große Bedeutung: „Wenn Betroffene aktiv werden, aus der Opferrolle treten können und schließlich lesen, dass der Staat ihr Leid anerkennt und sie unterstützt, brechen sie manchmal in Tränen aus. Manchen hat ihr Umfeld viele Jahre lang nicht geglaubt.“

Unruhe und Sorgen bei Betroffenen

Ein Ende des Fonds wäre verheerend, sagt Altvater. Die Ankündigung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Teil des EHS nicht weiterzuführen, hat bereits negative Folgen gehabt. Betroffene fühlen sich im Stich gelassen, nicht wahrgenommen. Aufgrund der aktuell geltenden Fristen müssen sie schnell handeln – was für schwer traumatisierte Menschen eine große Herausforderung ist. Ein weiteres Problem: Es gibt keine Vorauszahlungen mehr. Wenn also jemand zum Beispiel das Geld für ein Fahrrad nicht vorstrecken kann und der Händler nicht mit sich reden lässt, muss er aufgrund der aktuellen Antragsflut auf die bewilligte Leistung verzichten. „Das ist alles belastend, sorgt für Unruhe“, so Altvater.

Sie, ihre beratenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer hoffen, dass der Fonds bestehen bleibt, gestärkt wird, und dass bald Klarheit herrscht. Was das Ergänzende Hilfesystem leisten kann, zeigt ein weiterer Fall, der Altvater besonders gut im Gedächtnis geblieben ist: Annette Weber (Name geändert) hatte der Missbrauch so aus der Bahn geworfen, dass sie kaum in der Lage war, ihre Wohnung zu verlassen und unter Leute zu gehen. Die Rollläden in ihrer Zweizimmerwohnung ließ sie zumeist unten. In der EHS-Beratung nannte sie zwei Anliegen: ein Rudergerät, gegen ihre Rückenschmerzen und ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer, wo sie schlief statt im Schlafzimmer. Beim zweiten Wunsch war Altvater der Grund zunächst nicht klar, für den Antrag musste sie ihn aber kennen. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fragte Altvater: „Hat der Missbrauch in einem Schlafzimmer stattgefunden?“

Weber nickte, erleichtert darüber, dass die Beraterin es ausgesprochen hatte. Altvater ergänzte den Antrag und er wurde bewilligt. Weber war „einfach nur glücklich“. Sowohl über den Ersatz für die alte, durchgelegene Couch als auch über das Rudergerät. Es half ihrem Rücken, und sie mochte die gleichmäßige, beruhigende Bewegung, die sich so anfühlte, als wäre sie auf dem Wasser.

„Gewalt gegen Männer ist ein Tabuthema“

Erstellt am: Freitag, 31. Mai 2024 von Sabine

„Gewalt gegen Männer ist ein Tabuthema“

Im Interview spricht Steffen Schroeder, Botschafter des WEISSEN RINGS, über Gewalt gegen Männer in Partnerschaften und seine Arbeit mit Tätern und Opfern.

Steffen Schroeder ist Botschafter des WEISSEN RINGS.

Sie engagieren sich auf sehr vielfältige Weise in der Zivilgesellschaft. Wie kommt das?

Ich bin mit ehrenamtlicher Arbeit aufgewachsen. Als Jugendlicher habe ich mich erst in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen engagiert, dann im Naturschutz. Dabei habe ich immer tolle Erfahrungen gemacht und früh gelernt, dass man einerseits viel gibt, aber andererseits auch viel bekommt. Nicht in Form von Geld, sondern in Form von Dankbarkeit.

Ehrenamtliche Arbeit hat mich immer zutiefst erfreut, so dass ich das eigentlich immer beibehalten habe.

Auf Ihrem Instagram-Kanal haben Sie auf das Thema häusliche Gewalt aufmerksam gemacht und geschrieben, dass betroffene Männer noch seltener Hilfe suchen als Frauen. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Mit diesem Thema habe ich schon länger zu tun. Ich bin viel in der Straffälligenhilfe unterwegs und habe viele Gespräche mit Tätern geführt. Bei einigen von ihnen gab es sexuelle Gewalt, in manchen Fällen sogar vonseiten der Mutter. In der Regel ist es für männliche Betroffene noch schambehafteter als für weibliche, darüber zu sprechen. Das gilt umso mehr, wenn es eine Täterin gibt. Natürlich gibt es mehr Gewalt gegen Frauen, da gibt es ganz andere Zahlen. Aber es müsste auch medial mehr von männlichen Opfern erzählt werden, weil mit Gewalt gegen Männer nach wie vor ein Tabu verbunden ist.

Wie passt Ihr Ehrenamt im Strafvollzug mit dem im Opferschutz zusammen?

Die beiden Bereiche passen sogar sehr gut zusammen, sie ergänzen sich. Meiner Erfahrung nach verläuft Gewalt immer in Kreisläufen, und es gehört zum Präventionsgedanken, sich dessen bewusst zu werden. Wenn Kinder zum Beispiel zu Hause Alkoholismus und Gewalt erleben, besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrem Leben selbst zu Alkoholikern oder gewalttätig werden, trotz all der vorgelebten negativen Seiten. Ich denke, um solche Kreisläufe zu durchbrechen, müssen wir als Gesellschaft auf beiden Seiten daran arbeiten, mit Opfern und mit Tätern. Letztere sollen sich ja bis zu ihrer Entlassung aus dem Gefängnis zum Guten verändern.

Meiner Erfahrung nach gibt es im Vollzug allerdings nur wenige Angebote, die das fördern.

Sie haben sich auch mit dem Ansatz der „Restorative Justice“ beschäftigt, bei dem Opfer und Täter in einen Dialog treten.

Ja, aber ob man diesen Weg gehen möchte, muss man ganz allein dem Opfer überlassen. Wenn jemand das nicht möchte, muss man das unbedingt anerkennen und darf ihn nicht überreden. Aber wenn jemand dazu bereit ist, kann ein Austausch, bei dem Fragenstellen und ein Aussprechen einer Entschuldigung möglich sind, für beide Seiten unheimlich hilfreich sein. Und natürlich braucht es dabei eine sensible Begleitung.

,,Ehrenamtliche Arbeit hat mich immer zutiefst erfreut."

Steffen Schroeder
Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Ich habe als Vollzugshelfer sieben Jahre lang einen Gefangenen betreut, der einen Mord begangen hat, und über die Begegnungen und seine Entwicklung auch ein Buch geschrieben. Anfangs war deutlich, dass er versuchte, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, wie unfassbar groß diese Schuld ist, die man nie auch nur ansatzweise wiedergutmachen kann. Es ist die Aufgabe des Täters, diese Schuld zu tragen, wie einen schweren Rucksack.

Wir als Gesellschaft können ihm helfen, diesen Rucksack auf die Schultern zu hieven. Bei jenem Gefangenen war es so, dass die Bereitschaft und das Bedürfnis, sich der Schuld zu stellen, mit der Zeit wuchsen. Irgendwann sagte er, er würde gerne eine Entschuldigung aussprechen. Das war leider nicht mehr möglich, weil die Angehörigen des Opfers bereits verstorben waren. Aber ich glaube, der Prozess hat beim Täter zu einer Form von Heilung geführt. Und genau das kann uns als Gesellschaft helfen: dass Täter zu Menschen werden, die anderen Menschen keinen Schaden mehr antun.

Transparenzhinweis:
Steffen Schroeder hat eine Schauspielausbildung absolviert, wirkt in Kino- und Theaterproduktionen mit und war bisher unter anderem zu sehen in TV-Serien wie Tatort, Polizeiruf 110, Soko Leipzig und In aller Freundschaft. Seit 2015 ist er Botschafter des WEISSEN RINGS. Er engagiert sich außerdem ehrenamtlich als Mitglied des Medienrats des Landes Berlin-Brandenburg und ist Botschafter der „Exit“-Initiative für Aussteiger aus der rechtsextremen Szene. Sein Debüt als Autor hatte er mit dem Buch „Was alles in einem Menschen sein kann“, das von seinen Begegnungen mit einem Mörder handelt, den er als ehrenamtlicher Vollzugshelfer in einem Gefängnis kennenlernte. Zuletzt hat Schroeder zwei Romane verfasst. Der 49-Jährige lebt in Potsdam und hat drei Kinder.

Länder lassen Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt im Stich

Erstellt am: Mittwoch, 15. Mai 2024 von Sabine

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 15.05.2024

Länder lassen Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt im Stich

In zehn Bundesländern gibt es derzeit keine einzige Schutzeinrichtung für Männer, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind – und absehbar wollen die betreffenden Länder diese Lücke auch nicht schließen.

In zehn Bundesländern gibt es derzeit keine einzige Schutzeinrichtung für Männer, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind – und absehbar wollen die betreffenden Länder diese Lücke auch nicht schließen. Das ist das Ergebnis einer Recherche aus der Redaktion des WEISSEN RINGS, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.

Häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt treffen zwar häufiger und oft mit schlimmeren Verletzungsfolgen Frauen als Männer, darauf weist der WEISSE RING seit Jahren hin. Aber ein Fünftel der in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Opfer von Partnerschaftsgewalt sind eben auch Männer – in Zahlen: 31.469 Betroffene im Jahr 2022. Hinzu kommt ein sehr großes Dunkelfeld.

Einer neuen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zufolge, die mit Mitteln der WEISSER RING Stiftung finanziert wurde, hat sogar jeder zweite Mann in Deutschland mindestens einmal in seinem Leben Gewalt in einer Beziehung erlebt. Männer erfahren dabei häufiger psychische Gewalt (39,8 Prozent) als körperliche Gewalt (29,8 Prozent). „Auch für Männer braucht es mehr Orte, an denen sie bei Bedarf spontan Unterkunft finden, gegebenenfalls auch mit Kindern (Männerhäuser)“, heißt es im Ergebnis in der Studie.

Bundesweit nur 46 Schutzplätze für Männer

Aktuell halten diese zehn Bundesländer keine Männer-Schutzwohnung vor: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es eine Schutzwohnung auf der Insel Rügen, die „unabhängig vom Geschlecht und damit selbstverständlich auch von männlichen Betroffenen in Anspruch genommen werden kann und im letzten Jahr auch entsprechend genutzt wurde“, wie das Ministerium auf Nachfrage des WEISSEN RINGS mitteilt.
Insgesamt gibt es der Umfrage zufolge in Deutschland nur zwölf Einrichtungen, die von Partnerschaftsgewalt betroffenen Männern offenstehen: eine in Baden-Württemberg, zwei in Bayern, eine in Niedersachsen, fünf in Nordrhein-Westfalen und drei in Sachsen. In Sachsen findet sich zudem eine von drei geschlechtsneutralen Schutzwohnungen in Deutschland. Bundesweit gibt es somit nur 46 Schutzplätze für Männer. Nordrhein-Westfalen und Sachsen folgen mit der Anzahl der Einrichtungen als einzige Länder der Empfehlung der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM).

Während betroffene Männer und Männerberatungsstellen dringenden Bedarf an solchen „Männerhäusern“ anmelden, beurteilen die Länder das häufig anders. So wird im Saarland schlicht „kein Bedarf gesehen“, und Hessen teilt mit: „Bisher gibt es keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber, ob ein Netz an ähnlich ausgerichteten Zufluchtsmöglichkeiten wie es sie für gewaltbetroffene Frauen gibt, erforderlich ist.“

 

„Aktuell (…) keine konkreten Pläne“

Hessen verweist dementsprechend allgemein auf „eine Vielzahl an Hilfsangeboten“ im Land, und das Saarland erklärt: „Aktuell gibt es keine konkreten Pläne zur Schaffung einer entsprechenden Einrichtung.“ Auch Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt geben an, dass es aktuell keine entsprechenden Vorhaben gebe. Thüringen verweist darauf, dass ein aktueller Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen „(zumindest) eine Schutzeinrichtung für Männer“ vorsehe. Zurzeit sei die Schaffung solcher Schutzeinrichtungen im Land Angelegenheit der Kommunen, laut dem Gesetzentwurf solle die Zuständigkeit aufs Land übertragen werden.

Immerhin vier Länder (Bayern, Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz) kündigen eine Bedarfsprüfung an. Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben die Fragen des WEISSEN RINGS nicht beantwortet.

Dass es an Angeboten für gewaltbetroffene Männer fehlt, könnte auch daran liegen, dass es ihnen an Fürsprechern in den Ländern fehlt. „In Bremen gibt es dazu tatsächlich keinen Ansprechpartner“, räumt Deutschlands kleinstes Bundesland ein. Und die Landesregierung in Potsdam teilt mit: „Für Männergewaltschutz ist bislang in Brandenburg keine Ressortzuständigkeit, einhergehend mit Personal- und Haushaltsmitteln vorhanden.“

WEISSER RING fordert Nachbesserung

Die Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, Bianca Biwer, fordert Bund und Länder auf, im Bereich der Männerschutzeinrichtungen dringend nachzubessern. „Wie alle von Gewalt betroffenen Menschen brauchen Männer, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind, ein professionelles Unterstützungsangebot.“

Update vom 23. Mai 2024:
Als Reaktion auf die Berichterstattung des WEISSEN RINGS hat Staatssekretärin Dr. Christine Arbogast vom niedersächsischen Sozialministerium der Redaktion folgende Nachricht geschrieben:
„[…] Für männliche Opfer existieren insgesamt bisher nur wenig geschlechtsspezifische Versorgungsstrukturen. In Niedersachen prüfen wir daher aktuell die Möglichkeit der Einrichtung einer Männerschutzwohnung. Seien Sie versichert, dass sich die Niedersächsische Landesregierung der Bedeutung des Themas „Gewalt gegen Männer bewusst ist und sich diesem verstärkt annehmen wird.“

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Erstellt am: Freitag, 15. März 2024 von Torben

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Meistens trifft Partnerschaftsgewalt Frauen – aber auch Männer werden Opfer. Was wissen wir über dieses Thema, über das eher selten und nur ungern gesprochen wird? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat in München und Oldenburg, in Dresden und Hannover, in Berlin und Mainz recherchiert.

Die Illustration zeigt sehr vereinfacht einen Mann mit einer Träne unter einem Auge.

Illustration: Alexander Lehn

Eisregen prasselt auf die weißgefrorenen Pflastersteine am Mainzer Schillerplatz. Frost klebt auch am Fastnachtsbrunnen und an den 200 Narrenfiguren, die den Bronzeturm bis auf neun Meter Höhe hinaufreichen. René, 39 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit Vollbart und Zopf, blickt aus einem warmen Café hinaus auf das Winterbild und redet erst einmal übers Wetter. Ein bisschen Smalltalk, bevor er über das sprechen mag, über das Mann lieber nicht spricht: Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt.

I. Jeder zweite Mann

"Aber da verschieben sich natürlich auch Wahrnehmungen und Grenzen, ne. Also das ist ganz pervers, was mit einem selber so passiert, wie man in so was so reinrutschen kann, wo man zum Schluss denkt, (…) hättest du mir das vor fünf Jahren gesagt oder vor zehn, (…), hätte ich gesagt, 'garantiert nicht'. Never ever. Das passiert mir nicht."

Benjamin, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

„Gewalt gegen Frauen nimmt zu“

„Vor allem Frauen sind betroffen“

„91,7 Prozent der Täter sind männlich“

So lauten die Schlagzeilen, wenn Politik und Polizei alljährlich die aktuellen Zahlen zur häuslichen Gewalt und zur Partnerschaftsgewalt vorstellen. Und es stimmt ja auch, in den allermeisten Fällen sind Frauen die Opfer. Für das Jahr 2022 zum Beispiel verzeichnet die Statistik des Bundeskriminalamtes 157.818 Betroffene von Partner­schaftsgewalt. 126.349-mal waren Frauen die Leid­tragenden, das sind 80,1 Prozent. Männer kommen in der Berichterstattung kaum vor; falls doch, dann zumeist als Täter.

Aber es gibt sie trotzdem, die Männer, die Opfer von Partner­schaftsgewalt wurden. Laut Kriminalstatistik sind 19,9 Prozent der Betroffenen Männer. Männer wie René.

René ist für Geschäftstermine ein paar Tage in Rheinhessen unterwegs, er lebt mittlerweile in Norwegen. „In Norwegen machen sie vieles besser als die Deutschen“, deutet er an. Aber darüber werde man ja sicher später noch reden. Er blättert in der Speisekarte und bestellt sich einen Burger.

Die Zahlen des Bundeskriminalamtes bilden das sogenannte Hellfeld ab, also die Gewaltfälle, von denen die Polizei weiß. Eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) beleuchtet nun auch das Dunkelfeld. Für das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ haben die Wissenschaftler die Antworten von 1.209 Männern im Alter zwischen 18 und 70 Jahren in einem Onlinefragebogen ausgewertet und kamen so unter anderem zu ­folgenden repräsentativen Ergebnissen:

• Jeder zweite Mann in Deutschland war im Lauf ­seines Lebens mindestens einmal von Partnerschaftsgewalt betroffen (54,1 Prozent der Befragten).

• Die meisten betroffenen Männer haben psychische Gewalt erlebt (39,8 Prozent). 29,8 Prozent der Befragten berichteten von körperlicher Gewalt.

• Zwei Drittel der betroffenen Männer gaben an, an den Folgen der erlebten Gewalt zu leiden.

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden

Von der Scham zur Hilfe

Mehr als jeder zweite Mann, das klingt nach über­raschend vielen betroffenen Männern. Die hohe Zahl hat zum einen damit zu tun, dass die Forscher aus ­Hannover mit einem „sehr weit gefassten Gewalt­begriff“ gearbeitet haben, wie Projektleiter Dr. Jonas Schemmel erklärt. So fragten sie zum Beispiel auch nach Gewaltformen wie aggressivem Anschreien, absicht­lichem Zerstören von Gegenständen oder absichtlichem Wegstoßen. „Jeder Mensch stellt sich vielleicht etwas anderes unter Gewalt vor“, sagt Schemmel.

Zum anderen ist die hohe Zahl aber eben auch ein Indiz dafür, dass mehr Männer Gewalt in Partnerschaften erleben und mit deren Folgen umgehen müssen, als ­bislang angenommen wurde.

II. Renés Geschichte

"(Meine Partnerin) hat mich so verprügelt wie noch nie. Da haben mich hinterher sogar die Nachbarn drauf angesprochen, weil ich überall Kratzwunden im Gesicht hatte. Wir haben dann vorher als Alibi (…) erfunden, dass ich im Wald gefallen bin und da eben an Ästen hängengeblieben bin (…)."

Björn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

„Es fing ganz harmlos an“, sagt René im Café am Schiller­platz.

Vor ein paar Jahren, er wohnte noch in Koblenz, Rheinland-Pfalz, tauschte er mit einer Bekannten Nach­richten auf dem Smartphone aus. Ganz unverfänglich, sagt er. Seiner damaligen Partnerin passte das trotzdem nicht. Auf ihren Druck hin brach er den Kontakt zu der Bekannten ab. Jetzt wird alles wieder gut, dachte er.

Er irrte.

Die Forderung nach dem Kontaktabbruch war nur eine von zahlreichen Grenzüberschreitungen, die René erlebte. Von Wutausbruch zu Wutausbruch eskalierte die Situation immer mehr. Es dauerte Monate, bis er es schaffte, sich von seiner Freundin zu trennen. „Ich glaube, es war meinem damaligen Umfeld schon bewusst, dass diese Beziehung schwierig war“, sagt er.

Ein paar Wochen später sollte es eine Aussprache ­zwischen ihm und seiner Partnerin geben, ein letztes Mal. Die letzte Aussprache – das ist etwas, wovor Gewaltforscher und Kriminalbeamte Betroffene von Beziehungs­gewalt immer wieder warnen. Meistens warnen sie damit Frauen vor ihren gewalttätigen Männern.

Was genau bei diesem letzten Treffen passiert ist, möchte René nicht erzählen. Nur so viel: Es kam zu sexuellen Handlungen gegen seinen Willen, er traute sich aber auch nicht zu widersprechen. Als es vorbei ist, ist René wie gelähmt. Er findet keine Worte für das, was ihm widerfahren ist. „Dissoziiert und völlig verstört“ nennt er seinen damaligen Zustand, „ich konnte nicht reden und keinen Blick­kontakt halten.“ Er konnte nur schreiben: Auf einem Zettel notierte er ein paar Worte, ein Freund verstand sie. „Dem war ja auch klar, in was für einer Beziehung ich da war“, sagt René. Der Freund fährt ihn in eine Klinik.

III. Vier Probleme

"Ich hab' mich ja nicht als Opfer gesehen. Wieso sollte ich denn dann Hilfe holen? (…) dass ich eben halt gelernt hab', als Mann kann ich nicht Betroffener von Gewalt sein, das ist einfach nicht möglich. (…) Und solange es nicht möglich ist, bin ich auch kein Betroffener und hole mir auch keine Hilfe. Ist mir erst drei Jahre später aufgefallen, dass da was passiert ist, was über 'ne Grenze gegangen ist, weil ich meine eigenen Grenzen nicht gespürt habe. Deswegen kam ich nicht auf die Idee, die Polizei einzuschalten."

Stefan, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, stoßen sie häufig auf vier Probleme.

Problem Nummer 1: Männer begreifen oft nicht, was ihnen da passiert ist. War das tatsächlich Gewalt, was sie erlebt haben? Obwohl 66,7 Prozent der betroffenen Männer den Forschern des KFN sagten, dass sie an den Folgen ihrer Gewalterfahrung litten, gaben gleichzeitig 59 Prozent an, dass sie die Gewalt als „nicht so schlimm“ empfunden hätten. Weitere sieben bis acht Prozent ­sagten, sie hätten sich geschämt. Wer sich aber nicht als Opfer sieht oder sich zu sehr schämt und die Schuld allein bei sich selbst sucht, der holt sich keine Hilfe.

Problem Nummer 2: Wenn Männer erkannt haben, dass sie Hilfe brauchen, wissen sie häufig nicht, wo sie Hilfe finden können. Wer ist in Deutschland zuständig für gewaltbetroffene Männer? Für Männer überhaupt? Es gibt eine Frauenministerin, aber keinen Männer­minister. Es gibt ein Hilfetelefon des Bundesfrauenministeriums „Gewalt gegen Frauen“, aber keines „Gewalt gegen Männer“. Es gibt eine App „Gewaltfrei in die Zukunft“ des Bundesjustizministeriums für „erwachsene Frauen und nonbinäre Personen“, aber keine für erwachsene Männer. Es gibt einen internationalen „Orange Day“ der Vereinten Nationen zur „Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“, aber keinen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Männer. An wen wendet Mann sich also?

Ein Foto zeigt einen Mann mit Brille, der vor einer blauen Wand steht.

René, der selbst Gewalt erfahren hat, zeigt sein Gesicht auch bei Kampagnen gegen Gewalt. Foto: Ahlers

„Für Männer gab es schlicht gar nichts“, erinnert sich René.

„Ich habe in einer Beziehung gelebt, in der ich Gewalt erfahren habe. In der ich geschlagen wurde“, sagt er. „Ich wollte nicht zurückschlagen und wusste nicht, was ich tun sollte.“ Nach dem Ende der Beziehung ­kontaktierte er die Polizei. „Dort wurde mir geraten, erst mal zu einem Hilfeverein zu gehen. Dort wurde mir gesagt, ich sei ­leider ,zu männlich‘. Überall, wo ich hingegangen bin, wurde mir das Gleiche erzählt.“

René beschreibt damit Problem Nummer 3: Nicht nur Männer verstehen oftmals nicht, was ihnen passiert ist – auch professionelle Helfer tun es mitunter nicht.

Echte Männer weinen nicht. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Happy wife, happy life. Männer sind stark, Männer lassen sich nie unterkriegen, der Mann muss seine Familie beschützen. Haben Polizisten Sätze wie diese im Sinn, wenn ein Mann ihnen berichtet, er sei das Opfer einer gewalttätigen Frau geworden?

In München läuft Christiane Feichtmeier mit ihrem Rucksack durch den einsetzenden Nieselregen zur ­Landesgeschäftsstelle der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Sie ist mit der Bahn aus dem nahen Tutzing angereist, um über Gewalt gegen Männer zu sprechen; nach dem Gespräch wird sie denselben Weg zurück ­nehmen, um als SPD-Politikerin über Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Feichtmeier, 51 Jahre alt, trat 1990 als eine der ersten Frauen in die bayerische Polizei ein. Heute sitzt sie im Bundesvorstand der GdP, leitet dort seit elf Jahren die AG „Häusliche Gewalt“ und sagt: „Als Polizist­innen und Polizisten sind wir Teil der Gesell­schaft und haben auch viele Stereotype in unseren ­Köpfen. Und das können wir nicht einfach abschalten, wenn wir im Dienst sind, das nehmen wir mit.“ Weiter sagt sie: „Ich glaube, sobald sich die Tür öffnet und die Frau verheult ist oder vielleicht ein blaues Auge hat oder blutet, dann gehen wir davon aus, dass sie das Opfer ist und der Mann der Täter.“

Wie häufig stoßen gewaltbetroffene Männer auf taube Ohren, wenn sie bei der Polizei nach Hilfe fragen? Die Erkenntnisse der Wissenschaft dazu sind bislang dünn. Unter den gewaltbetroffenen Männern, die den Onlinefragebogen des KFN ausfüllten, hatten nur elf überhaupt Kontakt zur Polizei. Ihre Erfahrungen fielen gemischt aus. Drei Betroffene empfanden die angebotene Unterstützung als passend, vier konnten „teils / teils“ damit etwas anfangen, vier gar nichts. Vier Betroffene fühlten sich nicht ernst genommen von der Polizei, fünf fühlten sich für die Situation mitverantwortlich gemacht. In einem Interview berichtete ein Opfer den Forschern sogar, dass die Polizei ihn (als Täter) der Wohnung verwiesen habe, nachdem seine Partnerin ihn ebenfalls beschuldigt hätte.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat an alle 16 Bundes­länder und an das Bundeskriminalamt einen Fragen­katalog zu den Erfahrungen der Polizei mit dem Thema Gewalt gegen Männer geschickt. Auf die Frage, welche Rolle Stereotype und der hohe Anteil von männlichen Tätern spielten, reflektiert die Berliner Senatsver­waltung selbstkritisch, dieser Aspekt spiegele sich „auch im ­polizeilichen Einsatzgeschehen wider, sodass bei männlichen Betroffenen möglicherweise der (…) Eindruck einstehen könnte, dass Männer zunächst eher als Täter eingeordnet werden“. In der Summe aber zeigen sich die Länder überzeugt, „sensibel“ und „geschlechtsneutral“ mit Gewaltbetroffenen umzugehen. Baden-Württemberg etwa beteuert, dass „geschlechtsbezogene Bedürfnisse von Opfern individuell berücksichtigt“ ­würden.

Vergleichsweise gut fielen die Erfahrungen der gewaltbetroffenen Männer mit Beratungsstellen aus. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben im KFN-Fragebogen an, dass sie die Unterstützung als schnell und unkompliziert empfunden hätten. Allerdings waren es auch hier nur 35 Männer, die überhaupt Kontakt aufgenommen hatten.

92,1 Prozent der betroffenen Männer hatten sich weder an die Polizei noch an eine Beratungsstelle gewandt.

Aber selbst wenn Männer ihre Gewaltbetroffenheit verstanden haben, wenn sie eine zuständige Anlaufstelle gefunden haben, wenn die zuständige Anlaufstelle ebenfalls die Gewaltbetroffenheit verstanden hat und helfen will – dann scheitert die Hilfe oft an Problem Nummer 4: an der fehlenden Hilfsmöglichkeit. Lediglich zwölf Gewaltschutzeinrichtungen für Männer gibt es in Deutschland insgesamt, drei weitere nehmen sowohl Männer als auch Frauen auf. Im Ganzen gibt es nur 46 Schutzplätze bundesweit (Stand: Februar 2024).

IV. Kein Platz für Männer

"Sie stand nachts plötzlich mit 'nem Messer neben dem Bett, kam auf mich zu, die lallte irgendwas und 'Ich muss euch alle töten, ich muss euch alle töten'. Ich habe sie dann weggetreten, hab meine Kinder geschnappt, bin ins andere Zimmer, hab mich da eingesperrt, hab die Polizei gerufen (…)."

Paul, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

In Dresden stapft Frank Scheinert, 63 Jahre alt, über Schneereste durch die Neustadt. Hier hat die Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM) ihren Sitz, in einem Altbau mit einem balkonbreiten Spruchband vor dem 1. Stock: „Männerschutzwohnungen bundesweit!“ Wer in Deutschland zum Thema Partnerschaftsgewalt gegen Männer recherchiert, landet früher oder später in Dresden bei der BFKM und ihrem Leiter Frank Scheinert. Meistens früher.

Scheinert sagt: „Gewaltbetroffene Männer brauchen wie alle von Gewalt betroffenen Menschen ein Unter­stützungsangebot.“ Die BFKM hat ausgerechnet, dass die Nachfrage von gewaltbetroffenen Männern nach Gewaltschutzplätzen im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um zwei Drittel gestiegen ist: von 251 auf 421 Männer. Nur 99 Männer fanden einen Platz. Es gibt eine Deutschlandkarte der BFKM, auf der kleine blaue Punkte die Orte markieren, an denen es eine Männer­schutzwohnung gibt. In zehn Bundesländern findet sich kein einziger Punkt. „Da muss dringend was passieren“, sagt Scheinert.

Das allerdings ist gar nicht so einfach. Im Café am ­Mainzer Schillerplatz berichtet René: „Ich habe damals gedacht: Naja, es gibt keine Männerschutzwohnungen. Mir erschien das Konzept aber plausibel. Insbesondere, wenn man sich anguckt, dass bei häuslicher Gewalt die Polizei in unklaren Situationen tendenziell eher den Mann der Wohnung verweist und nicht die Frau. Dann steht der Mann da und hat auf einmal gar nichts mehr. Und ich dachte: Na gut, man kann ja eine Wohnung anbieten. Und ich war bereit, das ehrenamtlich zu ­stellen.“ René berichtet, dass er mit seiner Idee zur Gleichstellungsbeauftragten der Stadt gegangen sei; es habe mehrere Gespräche gegeben, polizeiliche ­Statistiken seien ausgewertet worden. Dann folgte die Ernüchterung. „Meinen Vorschlag unterstützte sie schon“, sagt René. „Sie wollte aber auch, dass die Ein­richtung professionell geleitet wird. Und dafür bräuchte man Geld vom Land. Das gab es damals nicht. Und damit war das Thema dann gegessen.“

Frank Scheinert. Foto: Karsten Krogmann

„Das ist ein dickes Brett, das wir da bohren“, sagt Frank Scheinert in Dresden. In 15 von 16 deutschen Bundesländern böten die Gleichstellungs- und Gewaltschutzförderrichtlinien keine Möglichkeit, Anträge für Männer­arbeitsprojekte zu stellen. Ausnahme: Sachsen. Die BFKM hat nicht zufällig ihren Sitz in der ­sächsischen Hauptstadt. Von hier aus unterstützt sie Vorstöße für Männerprojekte und kümmert sich darum, „dass die Politik möglichst auch Mittel zur Verfügung stellt“, wie Scheinert es vorsichtig formuliert.

Die erste Männerschutzwohnung in Deutschland entstand gut 500 Kilometer nordwestlich von Dresden im niedersächsischen Oldenburg – ehrenamtlich geführt, ohne kommunale oder sonstige staatliche Zuschüsse. Dort hatte sich im Jahr 2000 der Verein Männer-­­­­­Wohn-Hilfe gegründet mit dem Ziel „Schaffung eines Raumes für Männer, die aus eskalierten Situationen ihren ­Lebensort für eine gewisse Zeit wechseln wollen oder sollen“. 2002 zog der erste Mann ein. Seither ist die Wohnung durchgehend belegt.

Eine einzige Wohnung für ganz Niedersachsen. Platz für einen einzigen Mann, der maximal drei Monate ­bleiben darf.

In Sachsen rechnet Frank Scheinert bescheiden vor, dass es drei bis fünf Männerschutzwohnungen pro Bundesland geben sollte, „als nächsten Schritt“: jeweils drei in Berlin, Bremen, Hamburg und im Saarland, jeweils fünf in den anderen Bundesländern.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat alle 16 Landesregierungen nach der Zahl der Schutzeinrichtungen für Männer in ihrem Bundesland gefragt und ob ein Ausbau geplant sei. Sechs der Länder, die keine Schutzeinrichtung vorhalten, teilten mit, dass es keine Pläne gebe, dies zu ändern. Andere Länder erklärten, dass zunächst der Bedarf an solchen Wohnungen geprüft werden müsse. „Bisher gibt es keine wissenschaftlich fun­dierten Er­kenntnisse darüber, ob ein Netz an ähnlich ausgerichteten Zufluchtsmöglichkeiten, wie es sie für gewaltbetroffene Frauen gibt, erforderlich ist“, antwortete etwa Hessen. „Weder die Polizeiliche Kriminalstatistik noch andere Studien – auch nicht international – weisen bisher auf eine entsprechende Gefährdung von Männern hin.“

Allein Nordrhein-Westfalen ist bislang den von Frank Scheinert erhofften „nächsten Schritt“ gegangen.

V. Stigma und Tabu

"Aber dieser Übergriff, den ich, weil ich mir so dachte, okay, ist das jetzt so schlimm, muss ich da drüber reden, oder ist es doch so schlimm, und ja wie peinlich, mir als Mann passiert das, und ich bin doch der Größere, Stärkere … und eh wie kann mir das halt passieren."

Robert, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Am Pferdemarkt im Oldenburger Stadtzentrum kann man in einem schmalen Haus Wolfgang Rosenthal treffen, Jahrgang 1958, Vorsitzender des Vereins Männer-Wohn-Hilfe. Er sagt: „Diese 20 Jahre, die waren so was von interessant irgendwie, was wir für neue Blickwinkel auf Männlichkeit bekommen haben in dieser Zeit.“

Der erste Bewohner des Oldenburger Männerhauses: ein wohlsituierter Rentner. „Das hätten wir uns jetzt auch nicht so ausgedacht“, sagt Rosenthal. Am häufigsten erlebe er Akademiker als Bewohner, „42 Jahre alt, zwei Kinder“. Die zweithäufigste Gruppe, „so mit 25 Prozent“, bildeten Männer ohne Ausbildung, in der Regel arbeitslos, mehrere Kinder, keine stabile Beziehung, Ende 20, Anfang 30.

Auf dem Foto lehnt ein Mann an der Zarge einer geöffneten Tür.

Hier finden Männer Hilfe: Wolfgang Rosenthal von der Beratung „Männersache“. Foto: Christian J. Ahlers

Rückschlüsse auf eine Gruppe mit signifikant hoher Gewaltbetroffenheit lassen sich aus diesen Beobachtungen aber keine ziehen. Das bestätigen auch die ­KFN-Forscher, indem sie zusammenfassend feststellen, „dass es keine typischen Opfer gibt und Gewalt gegen ­Männer in Partnerschaften ein gesamtgesellschaftliches ­Phänomen ist“.

„Menschen, die sich bei mir melden, sagen oft: Schön, dass du drüber redest, weil mir das auch passiert ist“, sagt René in Mainz. Wenn jeder zweite Mann schon mal eine Form von Partnerschaftsgewalt erlebt hat, dann bedeutet das, betroffene Männer gibt es überall und in allen gesellschaftlichen Kreisen.

René tritt deshalb immer mit seinem echten Namen auf, wenn er seine Geschichte in der Öffentlichkeit erzählt: René Pickhardt. „Weil ich gesagt habe, das sollte eigentlich gar kein Tabuthema sein“, sagt er. „Weil es mir wichtig war, das Stigma und das Tabu zu brechen und zu sagen: So war das halt. Das kann dir doch auch passieren!“

VI. Auf der Suche nach Lösungen

"Und das ging dann irgendwann in so 'ne Phase, die ging diverse Jahre, die war dann, da hatte ich so 'ne große Wut, weil ich wusste, das ist, das ist nicht richtig, was hier gerade passiert. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Wut. So, und hab dann angefangen erst die Wände zu schlagen, dann mich zu schlagen und irgendwann durfte ich mal 'nen neuen Kochtopfdeckel kaufen, weil ich den an meinem Kopf zerschlagen habe und das sind dann diese Selbstverletzungen gewesen, weil ich nicht wusste, wohin mit dieser Wut."

Finn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Die Forscher aus Niedersachsen haben die Männer nicht nur nach Gewalt gefragt, die sie erlebt haben – sie ­fragten sie auch nach Gewalt, die sie ausgeübt haben. Das Ergebnis ist ein weiterer überraschender Befund: 39,5 Prozent der von physischer oder psychischer Gewalt betroffenen Teilnehmer der Onlinebefragung ­waren sowohl schon mal Opfer als auch Täter. Der ­Fachbegriff dafür lautet „Victim-Offender-Overlap“, Opfer-Täter-Überschneidung.

Was bedeutet dieser Befund für die Unterstützung von gewaltbetroffenen Männern in Partnerschaften?

Björn Süfke leitet das „Hilfetelefon Gewalt an Männern“ bei der Bielefelder Männerberatung „man-o-mann“, er lacht kurz auf und schüttelt den Kopf, dann sagt er: „Es wäre ja geradezu zynisch zu sagen: Wenn beide ein Problem haben, dann helfen wir ihnen nicht!“ Der Befund bedeutet, dass Opferhilfe mitunter eben auch Täter­arbeit heißt.

An einem Donnerstag im Februar steht Süfke, Jahrgang 1972, in einem würfelförmigen Bürobau im Hannoveraner Stadtteil List, vor ihm sitzen knapp 50 Menschen: Wissenschaftler, Vertreter von Polizei, BFKM, Hilfsreinrichtungen wie dem WEISSEN RING. Der Bürobau ist der Sitz des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, soeben hat Projektleiter Jonas ­Schemmel die Ergebnisse der Studie vorgestellt, jetzt schließt sich eine Podiumsdiskussion an, Süfke ist einer der Teilnehmer. Es geht um Fragen wie: Was fängt man mit den Erkenntnissen aus der Studie an? Wie hilft man betroffenen Männern am besten? Wie löst man das Problem „Partnerschaftsgewalt gegen Männer“?

Schemmel berichtet, was passiert sei, als er einer guten Freundin von seinem Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer“ erzählte: „Sie hat gelacht.“ Das sind die dicken Bretter, die es zu bohren gilt.

Transparenzhinweise:

Das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ wurde mit Mitteln der WEISSE RING Stiftung finanziert.

Der WEISSE RING war auch bei der Präsentation der Ergebnisse in Hannover involviert; die stellvertretende Bundesvorsitzende des Vereins, Petra Klein, moderierte die Podiumsdiskussion.

Die im Text zu Beginn jedes Kapitels abgedruckten Betroffenen-Zitate sind dem KFN-Forschungsbericht entnommen.

René Pickhardt, der als Betroffener im Text seine Geschichte erzählt, war auch Protagonist der Radio-Features „Du darfst kein Opfer sein – Wenn Männer unter häuslicher Gewalt leiden“ des Deutschlandfunks. Der Beitrag gewann 2017 den mittlerweile eingestellten Journalistenpreis des WEISSEN RINGS.

Beim WEISSEN RING melden sich größtenteils Frauen auf der Suche nach Unterstützung. Das gilt ganz besonders nach häuslicher Gewalt: 2023 waren 93,8 Prozent der Hilfesuchenden weiblich und nur 6,2 Prozent männlich.

Vielleicht wollten die Forscher aus Niedersachsen ­deshalb nicht einfach nur nackte Zahlen und Fakten vorlegen. Bei einem Fachtag mit Expertinnen und Experten aus Bereichen wie Opferhilfe, Kriminal­prävention und Psycho­logie erarbeiteten sie acht „Handlungs­empfehlungen“, die Eingang in die Studie fanden. Darunter finden sich zum Beispiel Vorschläge wie:

• der Ausbau des Beratungsangebots für Männer,

• die Schaffung von Männerhäusern,

• eine Kampagne, die die Öffentlichkeit für das Thema Partnerschaftsgewalt auch gegen Männer sensibilisiert.

„Ja“, sagt Björn Süfke von „man-o-mann“, „ich habe die Handlungsempfehlungen gelesen. Das ist perfekt!“ Er lächelt, dann sagt er: „Aber sieben der acht Punkte kosten Geld.“

Aktuell stehe Mann noch ganz am Anfang. Süfke nennt ein Beispiel, die Männerberatung in Deutschland. „Wir sind so klein“, sagt er. Wenn die Beratungsstelle eine Pressemitteilung veröffentliche, kämen am nächsten Tag dreimal so viele Anrufe rein. „Die kommen aber nicht durch“, sagte Süfke. Weil es nur eine einzige ­Leitung mit einem einzigen Berater gebe.

VII. Miteinander, nicht gegeneinander

"Da sagte sie: Ja, ich könnte Ihnen jetzt zehn Frauenberatungsstellen nennen in der Umgebung, wo ich Sie hinschicken könnte, aber für Männer weiß ich gar nichts."

Deniz, Betroffener von Partnerschaftsgewalt

Die achte Empfehlung in der KFN-Studie lautet: „Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden.“

In Berlin, seinem Wohnort, sitzt Studienleiter Jonas Schemmel, 36 Jahre alt, vor seinem Rechner. Wegen des Bahnstreiks ist das Interview ins Internet verlagert, und er sagt in die Kamera: „Gewalt gegen Männer macht Gewalt gegen Frauen nicht ungeschehen und andersherum.“ Er kennt die „sehr kontroversen Diskussionen“ und Vergleiche zwischen Gewalt gegen Frauen und gegen Männer. Zur Frontenbildung wollten die ­Wissenschaftler mit ihrer Untersuchung keinesfalls beitragen, im Gegenteil. Der Psychologe weist noch einmal ausdrücklich auf die Perspektive der Opfer hin: „Es hilft einem gewaltbetroffenen Mann ja nicht, wenn er hört: Na ja, aber das ist relativ selten und meistens sind ja die Frauen die Opfer.“

Länder lassen Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt im Stich

In zehn Bundesländern gibt es derzeit keine einzige Schutzeinrichtung für Männer, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind – und absehbar wollen die betreffenden Länder diese Lücke auch nicht schließen.

Es hilft einem männlichen Opfer auch nicht bei der Suche nach Unterstützung, wenn er Beratungsstellen für Frauen, Hilfetelefone für Frauen oder Gewaltfrei-Apps für Frauen findet. Es hilft ihm nicht, wenn die zuständigen Behörden erst auf Nachfrage sagen, das Thema Gewalt gegen Männer würde bei ihnen „mitbehandelt“ (Innenministerium Sachsen-Anhalt). Oder wenn Frauen­ministerin Lisa Paus auf Nachfrage erklärt, die Unterstützung von Gewaltbetroffenen schließe „selbstverständlich“ auch männliche Opfer mit ein.

Im Café am Mainzer Schillerplatz sagt René, er wünsche sich für Deutschland ein „geschlechtersensibles“ Hilfe­system wie in Norwegen. Wer dort zum Beispiel als Gewaltbetroffener die Internetseite des Krisenzentrums der Region Gjøvik aufrufe, findet sofort eine Weiter­leitung zu einem Bereich für Frauen, für Männer und für Kinder. Über dem Bereich „Männer“ steht: ­„Männer, die Opfer von Gewalt geworden sind, bezeichnen die psychische Gewalt oft als das Schlimmste. Väter leben oft um der Kinder willen in solchen Beziehungen, oft haben sie Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird oder dass sie die Fürsorge für die Kinder verlieren.“

René machte eine Therapie. Eine Zeitlang schrieb er Blogartikel und Gastbeiträge für Zeitungen, heute gibt er Interviews und zeigt sein Gesicht bei Kampagnen gegen häusliche Gewalt. Einmal, er lebte noch in Deutschland, stand ein Hasskommentar unter einem YouTube-Video, das er aufgenommen hatte. Sinngemäß hieß es darin, alle Männer sollen sterben. „Ich bin ja durchaus für freie Meinungsäußerung, aber das war zu viel“, sagt René. Er ging zur Polizei, stand vor einer Polizistin. „Die Polizistin hat erst mal gegrinst, als sie den Kommentar gelesen hat. Ich musste dann schon sehr lange darauf pochen, dass die Anzeige aufgenommen wird.“

Er hörte nie wieder von der Polizei.

So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Erstellt am: Freitag, 9. Februar 2024 von Sabine

Neue KFN-Studie erhellt Dunkelfeld. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 09.02.2024

So viele Männer sind Opfer von Partnerschaftsgewalt

Das Kriminalistische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat "Gewalt gegen Männer in Partnerschaften" erforscht. Die repräsentative Studie zeigt: Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon betroffen gewesen.

Mainz – Mehr als jeder zweite Mann in Deutschland ist in seinem Leben schon mal von Gewalt in der Partnerschaft betroffen gewesen. In rund 40 Prozent der Fälle handelte es sich dabei um psychische Gewalt. Zwei Drittel der Betroffenen leiden unter den Folgen der erlebten Gewalt. – Das sind drei der zentralen Erkenntnisse aus einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), die von der WEISSER RING Stiftung finanziell gefördert wurde. An diesem Donnerstag wurden die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ in Hannover vorgestellt.

Die Folgen von Gewalt

In den Räumen des KFN wies Projektleiter Dr. Jonas Schemmel darauf hin, dass die Forscher bei ihrer Studie bewusst mit einem „sehr weit gefassten Gewaltbegriff“ gearbeitet hätten, „so wie er in der deutschen Forschung auch angewandt wird“. Insgesamt legten sie den Studienteilnehmern rund 35 unterschiedliche Gewaltformen vor, darunter auch leichte Formen der verbalen Aggressionen. „Jeder hat unterschiedliche Vorstellungen von Gewalt“, sagte Schemmel. Insgesamt 30 Prozent der Befragten gaben dabei an, körperliche Gewalt erfahren zu haben – dazu zählten zum Beispiel absichtliches Wegstoßen, Beißen, Kratzen, Kneifen und leichte oder harte Ohrfeigen.

Schemmel betonte, dass die Forschenden bei dem Projekt keinesfalls Gewalt gegen Frauen bagatellisieren wollen. Die Teilnehmer der Veranstaltung waren sich einig, dass Frauen weitaus häufiger und auch schwerer von Gewalt betroffen seien als Männer. Es bestehe aber kein Zweifel, dass auch Männer unter den Folgen der erlebten Gewalt litten. Neben zumeist oberflächlichen körperlichen Verletzungen wie blaue Flecken und Prellungen hätten die Studienteilnehmer den Wissenschaftlern von Stress und Anspannung berichtet, dem Gefühl von Erniedrigung und Ohnmacht sowie starken Angstgefühlen.

Warum Betroffene kaum Anzeige erstatten

Dennoch hätten sich nur wenige Betroffene Hilfe bei Polizei oder Beratungsstellen gesucht. Das liegt weniger an fehlendem Vertrauen in die Institutionen, sondern mangelnder Wahrnehmung als Betroffener. Studienteilnehmer Stefan beschreibt es so: „Ich habe mich ja nicht als Opfer gefühlt.

Eine überraschende Erkenntnis: Es sei teils „sehr schwer, auseinanderzuhalten, wer Opfer und Täter sei“. Es gäbe einen großen „Overlap“, sprich: eine große Überschneidung. Viele Männer gaben an, nicht nur Betroffener zu sein, sondern selbst Gewalt ausgeübt zu haben.

Auf Grundlage der Studienergebnisse haben die Forscher bei einer Fachtagung im Mai 2023 acht Handlungsempfehlungen entwickelt:

  1. Das Angebot an Beratungsstellen, die spezialisierte Angebote für gewaltbetroffene Männer vorhalten, sollte deutlich ausgebaut werden.
  2. Im Beratungskontext sollte die Komplexität von Partnerschaftsgewalt berücksichtigt werden: Viele Betroffene haben selbst schon einmal Gewalthandlungen begangen und viele dysfunktionale Beziehungen sind von einer wechselseitigen Gewaltdynamik gekennzeichnet.
  3. Männer benötigen eine proaktive Ansprache, um die Beratungsquote zu erhöhen. Aufgrund der stigmatisierenden Wirkung des Gewaltopfer-Begriffs und wegen der sehr unterschiedlichen Auffassungen von Gewalt könnte erprobt werden, ob ein Verzicht auf den Gewaltbegriff die Ansprache verbessert. Eine solche Ansprache könnte auch verwendet werden, um Männer bereits vor dem eigentlichen Gewaltausbruch für eine Beratung zu motivieren, was im Sinne einer Prävention sehr wünschenswert wäre.
  4. Auch für Männer braucht es mehr Orte, an denen sie bei Bedarf spontan Unterkunft finden, gegebenenfalls auch mit Kindern (Männerhäuser).
  5. Polizeibeamte sollten für unterschiedliche Täter-Opfer-Konstellationen bei häuslicher Gewalt noch stärker sensibilisiert werden.
  6. Partnerschaftsgewalt in all seinen Facetten sollte Gegenstand einer Sensibilisierungskampagne sein, die auch die Betroffenheit von Männern thematisiert, Betroffene auf Hilfe- und Beratungsmöglichkeiten hinweist und die Rolle und Aufgaben der einzelnen Akteur*innen (Beratungsstellen, Polizei, Gerichte) erklärt.
  7. Gerade in pädagogischen Einrichtungen braucht es schon früh einen kritischen Um-gang mit männlichen und weiblichen Stereotypen. Jungen sollten ebenso wie Mädchen ermutigt werden, sich von gesellschaftlichen Vorstellungen zu emanzipieren; Ge-fühle zu zeigen und zu verbalisieren darf nicht als unmännlich gelten.
  8. Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden. Das bedeutet, dass auch die Gewalt von Männern gegenüber Frauen weiterhin angemessen problematisiert und mit Maßnahmen angegangen wer-den muss.

Bei einer Podiumsdiskussion im Anschluss von Schemmels Ausführungen, nannte Björn Süfke von der Männerberatungsstelle man-o-mann aus Bielefeld die Handlungsempfehlungen „perfekt“. Er wies aber darauf hin: „Sieben der acht Punkte kosten Geld.“

Das Schweigen der Gemeinden

Erstellt am: Freitag, 2. April 2021 von Torben

Das Schweigen der Gemeinden

Drei Männer, die in jungen Jahren Missbrauch in Kirchen des Bistums Münster erlebten, erzählen ihre Geschichten. Es geht ums Schweigen, Reden, Kämpfen – und um den Umgang mit den Tätern von damals.

Foto: Hauke-Christian Dittrich

Am Abend lag er im Bett und betete: „Lieber Gott, bitte sei doch auch mal lieb zu mir.“ Aber Gott hörte ihn nicht, vielleicht gab es ihn auch gar nicht. Am nächsten Tag ging es jedenfalls weiter, der Kaplan missbrauchte ihn wieder, „heftiger als je zuvor“, sagt Martin Schmitz viele Jahre später.

Er war zehn, höchstens elf Jahre jung damals. Heute ist er 58 Jahre alt.

Manchmal holte ihn der Pfarrer morgens aus dem Bett, Bernd wohnte ja gleich bei der Kirche. Er wartete im Kinderzimmer, bis der Junge angezogen war, dann nahm er ihn mit ins Pfarrhaus. Dort schloss er alle Fensterläden, verriegelte die beiden Türen zum Pfarrbüro, legte die Hörer seiner zwei Telefone neben die Gabel. „Weißt du, wie man sich unkeusch an­­fasst?“, fragte der Pfarrer das Kind.
„Mann“, sagt Bernd Theilmann viele Jahre später. Er trinkt einen Schluck Wasser, er schüttelt den Kopf. „Was man da erlebt hat, wenn man zu ihm kommen sollte… Ich war doch erst zehn!“ Jetzt ist er 68.

Er saß auf der Orgelbank und übte, als der Pfarrer ihn von hinten umschlang, ach was: als der Pfarrer ihn von hinten anfiel. Hände. Speichel. Geräusche, Marcus Fischer* hatte so etwas noch nie gehört. Er war ein Junge von vielleicht 15 Jahren, er erstarrte vor Schreck und Ekel. „Jedes widerliche Detail von damals hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt“, sagt er viele Jahre später. 54 Jahre alt ist Fischer heute.

*Name geändert

I. Schweigen

Martin Schmitz war Messdiener in Rhede, Westfalen, dort fiel er dem pädokriminellen Kaplan Heinz Pottbäcker zum Opfer. Der Geistliche missbrauchte in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren Dutzende Kinder, allein in Rhede dürften es 20 bis 30 Betroffene sein. Aber Pottbäcker beging seine Verbrechen nicht nur in Rhede; er missbrauchte Kinder in Waltrop, in Bockum-Hövel, in Recklinghausen. Möglicherweise missbrauchte er Kinder auch in anderen Orten, er war eingesetzt in Dinslaken, Bösensell, Marl, Münster, Rheinberg und zuletzt als Krankenhausseelsorger in Neuenkirchen, Niedersachsen.

Dass Pottbäcker sich so viele Jahre lang an so vielen Kindern vergehen konnte, hat damit zu tun, dass ihn die Personalverantwortlichen im Bistum Münster immer wieder versetzten. Sie versetzten ihn, nachdem er 1968 zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden war, wegen „Unzucht mit einem abhängigen Kind“ in Waltrop. Sie versetzten ihn, als 1973 der Missbrauch eines Brüderpaares gemeldet wurde. Sie versetzten ihn, nachdem er 1983 eine Geldstrafe in Höhe von 12.500 Mark zahlen musste; er hatte in Recklinghausen drei kleine Jungen missbraucht. Die Kirche versetzte ihn auch im Anschluss immer wieder, weil er sich nicht an die bischöfliche Auflage hielt, sich von Kindern fernzuhalten.

Das Schweigen der Gemeinden

Missbrauch im Bistum Münster

„Ich konnte darüber nicht reden“

Der Messdiener Martin Schmitz wusste von all dem natürlich nichts.

Herr Schmitz, gab es damals, als Sie ein Kind waren, irgendjemanden, mit dem Sie über den Missbrauch hätten sprechen können? Einen anderen Messdiener vielleicht, der ebenfalls betroffen war?

„Ich weiß, dass ein Junge mir mal etwas gesagt hat. Dass ihm, wie er sagte, der Kaplan ‚in die Hose gefasst‘ habe. Bei mir hat das nur Panik ausgelöst. Ich bin weggerannt, ich konnte darüber nicht reden.“

Der andere Junge fand demnach auch niemanden, mit dem er reden konnte.

Tatort: Kirche St. Ludger in Neuscharrel (Landkreis Cloppenburg). Foto: Martin Remmers / NWZ

„Ja. Mit meinen Eltern habe ich nicht darüber geredet, das wäre gar nicht gegangen. Als der Kaplan dann versetzt wurde, als es aufhörte mit dem Missbrauch, als der Missbrauch nur noch in meinem Kopf weiterging, habe ich versucht, alles mit mir auszumachen.“

Wie alt waren Sie, als der Kaplan versetzt wurde?

„Zwölf.“

Schmitz versuchte, alle Erinnerungen an den Kaplan zu verdrängen. Das funktionierte einigermaßen, auch wenn es „einige Eskapaden“ gab, wie er heute sagt, „als Jugendlicher habe ich zum Beispiel eine Weile fürchterlich gesoffen“. Er ging dann nach Kassel, um Architektur zu studieren und ein normales Leben zu beginnen. Bis zur nächsten buchstäblichen Eskapade.

Sie haben Ihr Studium abgebrochen.

3.677

minderjährige Missbrauchsopfer und 1.670 beschuldigte Geistliche identifizierten die Forscher der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen im Zuge ihrer Studie für die Deutsche Bischofskonferenz.

„Im Studium tauchte jemand auf, der mich so massiv an diesen Kaplan erinnert hat, dass ich Panik bekommen habe. Das weiß ich heute, damals habe ich das nicht begriffen. Ich habe von jetzt auf gleich mein Studium abgebrochen und bin für drei oder vier Jahre mit dem Fahrrad durch die Welt gefahren. Von Kanada nach Feuerland, solche Sachen habe ich gemacht. Als ich von meinen Reisen zurück war, da hatte ich das so weit verdrängt.“

Wann haben Sie zum ersten Mal über den Missbrauch gesprochen?

„Kurz bevor wir geheiratet haben, habe ich meiner Frau davon erzählt. Aber auch nur in einem Nebensatz. Ich hatte zu der Zeit auch wirklich keine konkrete Erinnerung daran. Erst als unsere Kinder geboren wurden, kamen die Erinnerungen zurück. Zuerst stückchenweise, nachts in irgendwelchen Albträumen, dann auch tagsüber. Ich bekam Flashbacks. Ich bekam Krampfanfälle. Ich bekam Depressionen, die fast meinen wirtschaftlichen Ruin bedeutet hätten. 2012 bin ich komplett zusammengebrochen. Ich hatte massive Selbstmordgedanken.“

Hilf(e)los und gottverlassen

Hedwig T. sagt, ein Pfarrer habe sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verjährung nicht. Ein Text über eine monatelange Suche nach Antworten, über hilflose Institutionen und über Frau T, die hilfelos bleibt.

Es gibt Dutzende Opfer des Täters Pottbäcker. Es gibt Tausende Täter wie den Kaplan Pottbäcker: Im Zuge ihrer Studie für die Deutsche Bischofskonferenz identifizierten die Forscher der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen 1.670 beschuldigte Geistliche und 3.677 minderjährige Missbrauchsopfer. Es gibt ein Dunkelfeld, das sehr viel größer ist als das von den Forschern untersuchte Hellfeld mit den in den Kirchenarchiven dokumentierten Missbrauchsfällen: Eine Studie des Ulmer Kinderpsychiaters Jörg Fegert geht von 114.000 Missbrauchsopfern aus.

Das wiederum sind Zahlen, die den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche beziffern. Missbrauch geschah und geschieht aber auch in der evangelischen Kirche, in Internaten und Heimen, in Sportvereinen, in Chören, in der Familie. Vor allem in der Familie.

15.936 Missbrauchsfälle im Jahr 2019

Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet 15.936 Missbrauchsfälle für das Jahr 2019, ein Anstieg von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und das sind nur die Taten, die der Polizei bekannt geworden sind. Würde man die Dunkelfeld-Schätzung des Ulmers Jörg Fegert auf die Kriminalstatistik übertragen, käme man auf fast 500.000 Missbrauchsfälle allein im Jahr 2019.

Täglich melden sich Missbrauchsopfer am Opfer-Telefon, bei der Onlineberatung oder in den Außenstellen des WEISSEN RINGS, manchmal 30, 40 oder sogar 50 Jahre nach den Taten. Ein Großteil von ihnen hat die Taten nie angezeigt.

Martin Schmitz war nicht allein, er ist nicht allein.

Bernd Theilmann: „Was man da erlebt hat, wenn man zu ihm kommen sollte … Ich war doch erst zehn!“ Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Der kleine Bernd Theilmann sprach nicht über das, was er im Pfarrhaus von Neuenkirchen, Niedersachsen, erlebte. Es ging nicht, der Pfarrer hatte ihm gedroht: „Wenn du einem davon erzählst, dann tritt der Satan zwischen uns!“ Vielleicht muss man katholisch erzogen worden sein, um die Wucht dieses Satzes zu verstehen. Theilmann jedenfalls rüttelt es heute noch durch, wenn er daran zurückdenkt: „Wie er das sagte: ,Der Satan‘…“ Theilmann zischt das S, es klingt wie bei einer Schlange.

Der Pfarrer hieß Bernhard Janzen, er starb 1972 als Ehrenbürger. Ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte der Rat der Gemeinde ihn ausgezeichnet: als Dankeschön für seine Verdienste um den Schulausbau, die Klinikgründung, den sozialen Wohnungsbau. In einem halbseitigen Nachruf auf Janzen in der Kirchenzeitung dankt Neuenkirchen Pfarrer Janzen für „33 Jahre eines äußerst segensreichen Schaffens“, „sein priesterliches Wirken und sein Andenken werden fortleben“.

Theilmann weiß heute, dass er nicht das einzige Opfer des Pfarrers war. Damals ahnte er es nur. Es gab halbstarke Sprüche auf dem Bolzplatz, hilflose Warnungen auch: „Zu dem geh’ lieber nicht allein.“ Aber das Erlebte aussprechen? Über Sexualität reden? Den mächtigen Pfarrer beschuldigen? Undenkbar.

Als Theilmann älter wurde und Neuenkirchen verlassen hatte, um zunächst Bäcker zu werden und später Lehrer, sprach er erstmals über den Missbrauch, „mit wenigen Vertrauten“, wie er sagt. Was die Vertrauten mit dem Wissen anstellten, weiß er nicht. „Womöglich nichts“, sagt er.

Als der Pfarrer in der Kirche von Neuscharrel, Niedersachsen, von ihm abließ, sagte er zu Marcus Fischer*, er dürfe niemandem erzählen, dass „wir ein bisschen geschmust“ hätten. Marcus hält sich daran.

Eine mutige Mutter

Er erfährt nicht, dass an einem Frühjahrstag des Jahres 1983 eine Mutter all ihren Mut zusammenrafft und sich beim zuständigen Dechanten meldet. Sie informiert ihn darüber, dass Pfarrer Helmut Behrens ihren neunjährigen Sohn sexuell missbraucht habe. Fischer erfährt auch nicht, dass an diesem Tag im nördlichsten Teil des Bistums Münster zahlreiche Telefone klingeln. Der Dechant ruft den Weihbischof an und fragt ihn, was er denn nun mit dem Pfarrer tun solle. Der Weihbischof bittet ihn, den katholischen Generalstaatsanwalt im Nachbarort um Rat zu fragen. Der katholische Generalstaatsanwalt antwortet: „Bringt ihn da weg, sonst holen wir ihn!“ So erinnert sich der Dechant noch 2018, da ist er weit über 80.

Noch am selben Tag ruft der Dechant den Pfarrer an und teilt ihm mit, dass er ihn gleich abholen werde. Als er eine halbe Stunde später beim Pfarrhaus eintrifft, hat Helmut Behrens seine Koffer bereits gepackt. Über das, was dem Pfarrer vorgeworfen wird, sprechen die Männer nicht; auch während der Autofahrt fällt kaum ein Wort. Der Dechant fährt Behrens in das nahe Benediktinerinnen-Kloster; er tut das, was ihm aufgetragen wurde: „Bringt ihn da weg!“ Nachdem der Pfarrer plötzlich verschwunden ist, hört Marcus Fischer „wilde Gerüchte“ auf dem Schulhof. Der Satz eines Mitschülers brennt sich ihm ins Gedächtnis: „Jetzt ist der schwule Bock endlich weg!“ Fischer studiert, er wird Anwalt, heute ist er Partner einer großen Hamburger Wirtschaftskanzlei. Die Erinnerung an den Nachmittag in der Pfarrkirche St. Ludger vergräbt er tief in seinem Innern.

II. Reden

35 Jahre später liest Fischer in der Zeitung von der Studie zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche, die die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat. Sein Blick bleibt an dieser Zahl hängen: 3.677 Opfer. Wut steigt in ihm auf. Nein, denkt er, so kommt ihr mir nicht davon! Es sind nicht 3.677 Opfer, es sind mehr! Ich bin Opfer Nr. 3.678! Zum ersten Mal spricht Fischer über jenen Nachmittag in der Kirche. Er erzählt seiner Familie davon, Freunden – und er informiert die Kirche, er schreibt einen Brief an den Bischof von Münster. Als die Kirche ihm zu langsam reagiert, ruft er einen Journalisten an. Fischer fängt etwas an, das bis heute nicht aufgehört hat.

Bernd Theilmann lebt schon lange als Lehrer im niedersächsischen Oldenburg, als ihn im Herbst 1994 Nachrichten aus der alten Heimat erreichen: Die Haupt- und Realschule Neuenkirchen soll einen neuen Namen bekommen – „Bernhard-Janzen-Schule“. Bei einer Umfrage unter Schülern, Eltern und Lehrern hat sich der Vorschlag durchgesetzt, vor „Richard-von-Weizsäcker-Schule“ und „Anne-Frank-Schule“.
Theilmann platzt der Kragen.

Hilf(e)los und gottverlassen

Eine Frau auf der Suche nach Antworten

„Das geht ja gar nicht!“, schimpft er. Er hat lange Therapien hinter sich, um den Missbrauch zu verarbeiten und die Scham zu überwinden, die Schuldgefühle, die Selbstzweifel. „Mein ganzes Leben ist durch diese Geschichte in Unordnung geraten“, sagt er.

Erstmals erzählt er seinen Eltern von dem Geschehen im Pfarrbüro, danach geht er zum Bürgermeister. Der Bürgermeister informiert den aktuellen Pfarrer. Es geschieht: nichts. Der Gemeinderat erfährt nicht von Theilmanns Vorwürfen. Mit großer Mehrheit stimmen die Ratsmitglieder dafür, die Schule nach dem toten Pfarrer und Ehrenbürger zu benennen.

Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Aber für Theilmann ist die Zeit des Schweigens und Stillhaltens vorbei. Er nimmt Kontakt zu anderen Opfern auf, bald sind sie zu fünft. Sie schreiben die Schulbehörde an, sie wenden sich an den Weihbischof. Der Weihbischof – es ist derselbe Mann, der elf Jahre zuvor den Abzug von Pfarrer Helmut Behrens aus Neuscharrel organisierte – empfängt Theilmann am Bischofssitz in Vechta zum Gespräch. Als er die doppelwandigen Türen schließen will, sagt Theilmann: „Herr Bischof, lassen Sie bitte die Türen auf… das ist ja schon wieder wie damals in Neuenkirchen!“ Der Weihbischof sagt, in den Personalakten finde sich kein Hinweis auf Verfehlungen von Pfarrer Janzen. „Wir müssen von der Unschuldsvermutung ausgehen.“

Theilmann informiert die Presse. Als die Lokalzeitungen im Sommer 1995 über die Vorwürfe gegen Janzen berichten, beginnt endlich eine öffentliche Diskussion. Sie dreht sich aber nicht um den Missbrauch an sich. Der Rat streitet über Politik. Warum hat der Bürgermeister sein Wissen über die Vorwürfe für sich behalten? Die Opposition stellt einen Misstrauensantrag. Der Bürgermeister erklärt, es habe sich um einen „diffusen und vor allem nicht nachweisbaren Vorwurf“ gehandelt. Er sagt: „Für mich stellt sich die Frage, warum sich die Leute nicht gemeldet haben, als Janzen vor rund 20 Jahren Ehrenbürger der Gemeinde wurde?“

Ein Kirchenbild, aufgenommen in Münster. Alle drei in diesem Text vorkommenden Missbrauchsfälle spielten sich im Bistum Münster ab. Foto: Erik Hinz

Andere Neuenkirchener rechnen in Leserbriefen mit den Opfern ab. „Sind sich die jungen Männer dessen bewusst, was sie ihrer Heimatgemeinde angetan haben?“, fragt ein Ehepaar, das nach eigenen Angaben „im Namen vieler“ spricht. Theilmann ist froh, dass er sich in der Presse nur unter Pseudonym zitieren ließ. Im September 1995 beschließt der Rat, den Namen „Bernhard-Janzen-Schule“ zurückzuziehen. Die CDU betont, dass die Entscheidung nicht als inhaltliche Bewertung der Vorwürfe zu verstehen sei. Eine Klärung der Anschuldigungen sei nach mehr als 30 Jahren „nicht mehr möglich“ und „nicht erstrebenswert“.

Erst 2010, nachdem zuerst der jahrelange sexuelle Missbrauch von Kindern am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde und in der Folge immer neue Missbrauchsvorwürfe gegen Kirchenmitarbeiter laut werden, lässt die Kirche den Fall Janzen offiziell prüfen.

Der Pfarrer ist inzwischen 38 Jahre tot, auch der Weihbischof lebt nicht mehr. Zeugen werden gesucht, gefunden und gehört; auch Bernd Theilmann sagt aus. Im Bericht der Prüfkommission heißt es: „Es kann mit moralischer Gewissheit festgestellt werden, dass Pfr. Bernhard Janzen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sexuell missbraucht hat.“

Das Bistum hat Theilmann ein paar Tausend Euro als Entschädigung gezahlt. Er gab das Geld schnell an eine bedürftige Familie weiter, „ich wollte das nicht haben“. Theilmann sagt: „Mein Ziel war es, dass die Schule nicht nach ihm benannt wird. Das habe ich erreicht.“

Eine Anzeige beim Bistum

Rhede, 2012: Martin Schmitz möchte weiterleben. Er holt sich Hilfe, er begibt sich in Therapie. Und er tut noch etwas: Er zeigt den Missbrauch beim Bistum Münster an.

Wie hat die Kirche auf Ihre Anzeige reagiert, Herr Schmitz?

„Der damalige Missbrauchsbeauftragte des Bistums kam zu mir nach Rhede. Ich habe ihm so viel oder auch so wenig erzählt, wie ich damals erzählen konnte. Er hat mir dann einen Antrag dagelassen auf ‚Anerkennung des Leids‛. Den habe ich tatsächlich irgendwann ausgefüllt. Ich habe zwei Wochen gebraucht, da wieder rauszukommen. Der Antrag ist grauenhaft.“

Ein Mann mit Brille steht in einem Garten und schaut in die Kamera.

Erlebte Missbrauch in seiner Kindheit: Martin Schmitz. Foto: Krogmann

Schmitz will, dass Rhede erfährt, was geschehen ist. Drei Pfarrern muss er seine Geschichte erzählen, „zu einer Zeit, wo ich eigentlich noch nicht darüber reden konnte“, wie er heute sagt.

Der dritte Pfarrer holt sich Unterstützung beim Bistum in Münster, Schmitz muss seine Geschichte ein viertes Mal erzählen.

„Ich wurde dann gefragt, was ich erwarte, und ich habe gesagt: Die Verantwortlichen im Bistum müssen benannt werden. Es hieß dann, ich müsse ein wenig Geduld haben. Da habe ich gesagt: Der Missbrauch ist verdammt lange her! Das Bistum weiß seit 2012 von meinem Fall! Wie lange soll ich denn noch warten? Ich habe gesagt: So, ich fahre jetzt nach Berlin zum öffentlichen Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, da geht es darum, wie die Kirche mit solchen Fällen umgeht. Was soll ich da erzählen? Dass ich seit Jahren verarscht werde?“

Tatort: Kirche St. Bonifatius in Neuenkirchen-Vörden (Landkreis Vechta). Foto: Krogmann/NWZ

Am 27. Juni 2018, 45 Jahre nach dem Missbrauch, sitzt Martin Schmitz in der Berliner Akademie der Künste auf einer kleinen Bühne, hinter ihm steht auf einer blauen Leinwand in schwarzen Lettern: „Geschichten, die zählen“. Schmitz erzählt seine Geschichte. Er spricht über Rhede, über Pottbäcker, über den Missbrauch, über das Versagen der Kirche. Er nennt seinen vollen Namen: Martin Schmitz. Journalisten schreiben über seinen Fall.

III. Kämpfen

Sommer 2020: Martin Schmitz hat viel zu tun, nicht nur in seiner Tischlerei. Er leitet eine Selbsthilfegruppe in Rhede, eine zweite hat er jüngst in Münster gegründet, für viele Missbrauchsopfer im Bistum liegt Rhede zu weit am Rand. Er arbeitet als Betroffener im Beirat der Historikerkommission der Universität Münster mit, die auf Initiative des Bistums, aber unabhängig das Missbrauchsgeschehen im Bistum aufklären soll, darunter den Fall Heinz Pottbäcker.

Er war in der Expertenkommission der Bischofskonferenz dabei, die die Entschädigungszahlungen für Missbrauchsopfer festlegen sollte. Er hat in Mainz demonstriert, er hat im Bistum Limburg am Projekt „Betroffene hören – Missbrauch verhindern“ mitgewirkt, er trat bei der Abschlussveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche auf. In Kürze soll er an der Universität Bonn sprechen. Im Kampf gegen den Missbrauch ist Martin Schmitz innerhalb von zwei Jahren eines der bekanntesten Gesichter Deutschlands geworden.

„Jeder darf meinen Namen wissen“

In der Selbsthilfegruppe in Münster ist auch Bernd Theilmann dabei. Auch er hat mit der Historikerkommission gesprochen, der Fall Bernhard Janzen soll ebenfalls aufgeklärt werden. Eine Podiumsdiskussion in Neuenkirchen, die Theilmann auf den Weg bringen wollte, platzte kurzfristig, aber er konnte ein Gespräch des zuständigen Pfarrers mit seiner über 90-jährigen Mutter arrangieren. „Das war sehr gut“, sagt er. Das Pseudonym, unter dem er damals in der Presse auftrat, hat er inzwischen abgelegt. „Jeder darf meinen Namen wissen“, sagt er heute. „Ich habe nichts falsch gemacht.“ Seither melden sich immer wieder Leute bei ihm, um mit ihm über ihre Erlebnisse mit Pfarrer Janzen zu sprechen.

„Ich würde es genauso wiedermachen.“

Marcus Fischer

Dass die Historikerkommission in Münster überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hat, ist vielleicht auch ein Verdienst von Marcus Fischer. Er, der gewiefte Wirtschaftsanwalt, hat den Bischof mit scharfen Briefen unter Druck gesetzt, den Generalvikar, die Missbrauchsbeauftragten. Er arbeitet nun ebenfalls im Betroffenenbeirat der Historikerkommission mit, denn auch der Fall Helmut Behrens ist Gegenstand der Forschung. Fischer sagt: „Meine Rolle war es, der Kirche, die zunächst so hat nie aufklären wollen, als ziemlich starke Persönlichkeit gegenüberzutreten.“ Es wird kurz still in der Kanzlei in der Hamburger Hafencity. „Es war eine sehr anstrengende Zeit“, sagt er, „und es ist immer noch anstrengend. Aber ich würde es genauso wiedermachen.“ Martin Schmitz, Bernd Theilmann, Marcus Fischer – die Zeit des Schweigens ist für diese drei Männer vorüber.

IV. Epilog

An einem Samstag im Juni 2020 steht Martin Schmitz, 58 Jahre alt, in der Frankfurter Paulskirche. Als Kind konnte er nicht sprechen über den Schrecken, aber er konnte schreiben. Neulich fand er in einem Karton einen Zettel, darin lag ein Papierkügelchen, eng zusammengeknüllt. Es war ein Gedicht, das er als Kind in Rhede geschrieben hat. Lesen sollte es niemand. Jetzt liest er es vor:

„Die Tür fällt dumpf ins Schloss, er ist wieder weg.
Ich spüre nur noch Leere.
Ganz leise fange ich an zu weinen,
so leise, dass es niemand hört.
Man sieht auch keine Tränen,
ich weine in mich hinein,
in meine Leere.
Bis meine kleine Seele darin ertrinkt.“