Erstellt am: Donnerstag, 5. Dezember 2024 von Sabine
Foto: Christian J. Ahlers
Datum: 05.12.2024
Abgeordnete im Saarland wollen Fußfessel bei häuslicher Gewalt
Die elektronische Fußfessel darf im Saarland voraussichtlich künftig auch zur Verhinderung von häuslicher Gewalt eingesetzt werden. Der saarländische Landtag beschloss nun einen entsprechenden Gesetzesentwurf.
Saarbrücken – Die elektronische Fußfessel darf im Saarland voraussichtlich künftig auch zur Verhinderung von häuslicher Gewalt eingesetzt werden. Der saarländische Landtag beschloss in erster Lesung einen entsprechenden Gesetzentwurf. Damit sollen schwere Verbrechen beispielsweise von Ex-Partnern verhindert werden. Der von der oppositionellen CDU eingebrachte Gesetzentwurf fand auch die Zustimmung der SPD-Regierungsmehrheit.
Die Abgeordnete Anja Wagner-Scheid (CDU) verwies darauf, dass im vergangenen Jahr in Deutschland 155 Frauen von ihren früheren Partnern umgebracht worden seien: „Wir wollen die elektronische Fußfessel dann möglich machen, wenn ein Näherungsverbot oder ein Kontaktverbot nicht eingehalten wird.“
Wenn in besonders schweren Fällen Leib und Leben der Frau oder der Kinder gefährdet seien, soll die Fußfessel auch ohne vorheriges Kontaktverbot angeordnet werden können. Die Abgeordnete Sevim Kaya-Karadag (SPD) sagte: „Es kann nicht sein, dass Frauen Angst haben müssen, ihre Häuser zu verlassen oder die Kinder in den Kindergarten zu bringen.“
Angesichts des Ausmaßes von Gewalt gegen Frauen in Deutschland bekräftigt der WEISSE RING zum heutigen "Orange Day" seine Forderung zur schnellstmöglichen Einführung elektronischer Fußfesseln nach spanischem Vorbild bei häuslicher Gewalt.
Mainz – Angesichts des Ausmaßes von Gewalt gegen Frauen in Deutschland bekräftigt der WEISSE RING zum heutigen „Orange Day“ seine Forderung zur schnellstmöglichen Einführung elektronischer Fußfesseln nach spanischem Vorbild bei häuslicher Gewalt. Die Erfolgsquote bei den geschützten Frauen liege bei 100 Prozent, berichtet Deutschlands größte Opferhilfsorganisation in der kommenden Ausgabe ihres Magazins „Forum Opferhilfe“.
Seit der Einführung der Fußfessel habe sich „in der Tat kein Frauenmord an Nutzerinnen dieses Geräts ereignet“, bestätigt Teresa Peramato, Staatsanwältin bei der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Gewalt an Frauen in Madrid der Redaktion des WEISSEN RINGS. Der Staatsanwaltschaft sei auch kein Fall bekannt, „in dem eine Benutzerin des Systems in irgendeiner Weise körperlich angegriffen worden wäre“, berichtet Peramato. Die Technologie stärke zudem das Sicherheitsgefühl der Frauen. Insgesamt konnte in Spanien die Zahl der getöteten Frauen seit der Einführung der elektronischen Fußfessel im Jahr 2009 um rund ein Viertel gesenkt werden. Beim spanischen Modell trägt nicht nur der potenzielle Täter eine Fußfessel, auch das Opfer ist mit einem elektronischen Empfänger ausgestattet. Das ermöglicht einen Schutz auch außerhalb definierter Bereiche wie Arbeitsstätte der Frau oder Kita des Kindes.
Erst vor wenigen Tagen hatten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt ein Lagebild zu Straftaten gegen Frauen vorgestellt. Die traurige Bilanz für das Jahr 2023: Alle drei Minuten erlebt eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland häusliche Gewalt. 360 Frauen und Mädchen wurden getötet – es gab also fast an jedem Tag ein weibliches Todesopfer. 155 dieser Frauen wurden durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet – 22 Frauen mehr als im Jahr zuvor. Besonders traurig: Viele dieser Frauen haben sich zuvor schutzsuchend an den Staat gewandt und Kontakt- und Näherungsverbote erwirkt. Wie viele genau, wird statistisch nicht erfasst. Eine aufwändige Datenrecherche der Redaktion des WEISSEN RINGS hat jedoch gezeigt, dass in mehr als 100 im Jahr 2023 veröffentlichten Presseberichten über Femizid-Fälle bestehende Kontakt- und Näherungsverbote erwähnt wurden.
Harvard-Expertin bestätigt Wirksamkeit der Fußfessel
Einen weiteren Vorteil der elektronischen Fußfessel benennt Diane Rosenfeld. Sie lehrt an der Harvard School of Law und ist eine der führenden amerikanischen Expertinnen für die GPS-Überwachung von Tätern häuslicher Gewalt. „Schutzanordnungen allein bieten nur begrenzten und unzuverlässigen Schutz vor weiterem Missbrauch des Opfers durch den Täter“, schilderte Rosenfeld der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Die GPS-Überwachung von Tätern setzt die Bedingungen einer Schutzanordnung durch und ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, gefährliche Täter zur Rechenschaft zu ziehen.“ In den Vereinigten Staaten wird die GPS-Überwachung in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten eingesetzt, um Frauen vor ihren gewalttätigen Partnern oder Ex-Partnern zu schützen. Die Harvard-Juristin setzt sich darüber hinaus dafür ein, dass in allen Fällen häuslicher Gewalt eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird, damit Fälle, die auf eine potenzielle Tötungsabsicht hindeuten, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandelt werden können. Die Drohung, den Partner zu töten und eine kürzlich erfolgte Trennung seien Alarmsignale. Rosenfeld sagt: „Morde im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt sind so vorhersehbar, dass sie vermeidbar sind.“
Auch die Bundespolitik erkennt zunehmend, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt: So betonte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Lagebildes zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen: „Neben harten Strafen brauchen wir verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings und elektronische Fußfesseln, damit die Täter ihr Verhalten tatsächlich ändern und sich betroffenen Frauen nicht mehr unbemerkt nähern können.“ Auch der CDU-Vorsitzende und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sprach sich in einer Videobotschaft zum „Orange Day“ auf dem sozialen Netzwerk „LinkedIn“ für den Einsatz der elektronischen Fußfessel aus. „Mit dieser Technologie können wir sicherstellen, dass gewalttätige Männer sich den Opfern nicht mehr nähern können“, sagte Merz. „Das funktioniert in Spanien. Das brauchen wir in Deutschland jetzt auch – zum Schutz von Mädchen und Frauen vor Gewalt.“
Das Team Medien & Recherche des WEISSEN RINGS recherchiert seit mehreren Jahren zum Thema elektronische Fußfessel, Mitarbeitende der Opferschutzorganisation machen sich bundesweit für den Einsatz der Technologie stark. In zwei Brandbriefen an die Politik hatte der WEISSE RING schon in den Jahren 2022 und 2023 „in höchster Dringlichkeit“ gefordert, Frauen besser zu schützen. Eine Antwort aus der Politik blieb jedoch aus. Besonders der inzwischen entlassene Bundesjustizminister Marco Buschmann und seine Partei, die FDP, hatten sich gegen eine bundeseinheitliche Verankerung der Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt im Gewaltschutzgesetz gesperrt.
Die Diskussion über die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Deutschland geht weiter. Das spanische Modell der elektronischen Fußfessel gilt Befürwortern als erfolgreiches Vorbild.
Lesedauer wird berechnet…
Text
Christian J. Ahlers, Christoph Klemp
Text
Christian J. Ahlers, Christoph Klemp
Datum25.11.2024
Petra Paus (links) und Nancy Faeser bei der Vorstellung des Lagebilds häusliche Gewalt. Foto: dpa
„Es geschieht an jedem dritten Tag“ hieß die Titelgeschichte in Ausgabe 04/2021, in der unsere Autoren Christoph Klemp und Karsten Krogmann die bewegende Geschichte von Anne und ihrem Sohn Noah erzählten, die beide wohl noch leben könnten, wenn der Staat sie besser vor Annes Ex-Mann, Noahs Vater, geschützt hätte. Die Redaktion recherchierte weiter zu den Schutzlücken bei häuslicher Gewalt in Deutschland, in Ausgabe 04/2023 fragten wir unter dem Titel „Außer Kontrolle: Ist die Fußfessel die Lösung?“ Seitdem diskutiert Deutschland parteiübergreifend über die Einführung der elektronischen Fußfessel zur Kontrolle von Kontakt- und Annäherungsverboten.
In Spanien sind durch dieses Erfolgsmodell wohl Hunderte Frauen gerettet worden (hier geht es zur Internetseite der spanischen Regierung zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt). Die Technologie ist auch in Deutschland vorhanden, ausgereift und sofort einsatzbereit. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich bereits dafür ausgesprochen, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Warum ist die elektronische Fußfessel zur Überwachung von Kontakt- und Annäherungsverboten noch immer nicht im deutschen Gewaltschutzgesetz verankert?
I. Alarm beim Ortstermin
Wiesbaden im September, Hessische Zentrale für Datenverarbeitung (HZD): Hier wird heute eine Technologie präsentiert, die Leben retten kann. Das dynamische Modell der elektronischen Fußfessel hat in Spanien bereits Hunderte Frauen vor gewalttätigen Partnern und Ex-Partnern geschützt. Das Interesse an den kleinen schwarzen Geräten ist groß. Mehrere Kamerateams und Journalisten sind gekommen und blicken nun auf die große Leinwand in dem holzvertäfelten Raum. Davor steht Johannes Schabel – schwarzes Hemd, graues Jackett – und erklärt, was da zu sehen ist. Schabel ist Leiter des Verfahrens der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in der HZD. Er ist damit so etwas wie der Herr über die Technik aller Fußfesseln in Deutschland.
Johannes Schabel bei der Präsentation der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Wiesbaden. Foto: Christian Ahlers
Das System, so erklärt es Schabel den Journalisten, habe vier verschiedene Sicherheitszonen:
1. Die Warn- oder Pufferzone
Im System geht die Meldung ein, dass Täter und Opfer sich annähern. „Da passiert erst mal nichts“, sagt Schabel, aber: „Die Kolleginnen und Kollegen in der GÜL würden dem Fall dann schon erhöhte Aufmerksamkeit widmen.“ Die GÜL, das ist die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder im hessischen Weiterstadt. Dort werden alle Fußfessel-Träger und die wenigen -Trägerinnen in ganz Deutschland überwacht: Straftäter oder Patienten aus forensisch-psychiatrischen Kliniken, die nach der Haft- oder Klinik-Entlassung weiter begleitet werden müssen.
2. Die Alarmzone
Kommt der Fußfesselträger der zu schützenden Person näher, als es ihm erlaubt ist, „gibt es wirklich einen aktiven Alarm“, so Schabel. Bei der bisherigen Straftäter-Überwachung kontrolliert die Fußfessel per GPS-Tracker den Aufenthaltsort der Träger und meldet Verstöße dann, wenn eine Verbotszone betreten wurde. Mit dem neuen Modell, wie es auch in Spanien zum Einsatz kommt, werden nicht nur vordefinierte Verbotszonen überwacht, sondern: Die elektronische Fußfessel des Täters kommuniziert mit einer weiteren GPS-Einheit, die das Opfer bei sich trägt. Das System löst Alarm aus, wenn sich Straftäter und Opfer zu nahe kommen. Diese Verstöße, aber auch Beschädigungen der Fußfesseln sowie Akkuprobleme, leitet das System sofort an die GÜL weiter.
Hessens Justizminister Christian Heinz ist Befürworter der elektronischen Fußfessel. Foto: Christian Ahlers
3. Die Funkzone
Nähern sich die Geräte auf eine Entfernung von 300 Metern, schlägt auch das Opfergerät Alarm. Das heißt: Jetzt erfährt die Betroffene, dass der Gefährder in der Nähe ist.
4. Der Panikknopf
Mit dem Panikknopf kann das Opfer Alarm auslösen und die Überwachungszentrale über eine Notsituation informieren. Die GÜL kann dann umgehend weitere Schritte zum Schutz der Betroffenen einleiten und zum Beispiel die Polizei rufen.
Beim Ortstermin in Wiesbaden übernimmt zu Demonstrationszwecken ein Mitarbeiter der HZD die Rolle des Angreifers, das potenzielle Opfer ist in diesem Fall der hessische Justizminister Christian Heinz (CDU). Der „Täter“ nähert sich von außerhalb des Gebäudes dem „Opfer“, die Journalisten können das auf einer digitalen Karte verfolgen. Als der Abstand kleiner wird, blinken auf einem Monitor nach und nach immer neue rote Warnungen auf. Der Justizminister drückt den Panikknopf.
„Wir brauchen endlich die elektronische Fußfessel nach dem spanischen Modell“, sagt Heinz. Hessen hat einen Antrag im Bundesrat auf Einführung der elektronischen Fußfessel im Gewaltschutzgesetz gestellt, die CDU/CSU-Fraktion einen entsprechenden Antrag im Bundestag. Der damalige Bundesvorsitzende und heutige Vize-Vorsitzende des WEISSEN RINGS, Dr. Patrick Liesching, ergänzt bei dem gemeinsamen Termin bei der HZD in Wiesbaden: „Durchschnittlich an jedem dritten Tag kommt es in Deutschland zur vollendeten Tötung einer Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner.“ Die bisherigen Schutzmöglichkeiten seien offensichtlich nicht ausreichend.
Dass es hier eine klaffende gesetzliche Schutzlücke gibt, zeigen die aktuellsten Zahlen.
II. Erschütternde Zahlen
Im Jahr 2024 haben Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gleich zweimal erschreckende Zahlen präsentiert – mit den Lagebildern zu häuslicher Gewalt und Straftaten gegen Frauen. Die traurige Bilanz: In allen Bereichen hat die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Deutschland zugenommen. Alle drei Minuten wird eine Frau Opfer häuslicher Gewalt. 360 Frauen und Mädchen wurden 2023 getötet – es gab also fast an jedem Tag einen Femizid.
155 Frauen wurden im Jahr 2023 durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet – 22 Frauen mehr als im Jahr zuvor. Wie viele dieser Frauen sich zuvor hilfesuchend an Behörden gewandt haben, wird statistisch nicht erfasst.
Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers
Diane Rosenfeld hat sich intensiv mit den Bürgerrechten von Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt befasst. Sie lehrt an der Harvard School of Law und ist eine der führenden Expertinnen in den USA für die GPS-Überwachung von Tätern häuslicher Gewalt. In den Vereinigten Staaten wird die GPS-Überwachung in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten eingesetzt, um Frauen vor ihren gewalttätigen Partnern oder Ex-Partnern zu schützen. Rosenfeld sagt: „Schutzanordnungen allein bieten nur begrenzten und unzuverlässigen Schutz vor weiterem Missbrauch des Opfers durch den Täter. Die GPS-Überwachung von Tätern setzt die Bedingungen einer Schutzanordnung durch und ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, gefährliche Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
Und Rosenfeld führt weiter aus: „Obwohl der Staat dem Empfänger einer Schutzanordnung scheinbar Freiheit und Schutz gewährt, zeigt ein kritischer Blick, dass dies in Wirklichkeit nicht viel ist. Stattdessen unterhält der Staat ein System von Ansprüchen, das die Bewegungsfreiheit des Mannes auf Kosten der Frau garantiert. Tatsächlich könnte man sagen, dass die einstweilige Verfügung den perversen Effekt hat, die Freiheit der Frau einzuschränken.“ Die Festlegung von Sicherheitsbereichen für die geschützte Person impliziert, dass sie außerhalb dieser Bereiche nicht geschützt ist. Das Signal: Solange Sie zu Hause bleiben, Ihr Kind in den Kindergarten bringen oder zur Arbeit gehen, sind Sie sicher. Ansonsten kann der Staat Sie leider nicht schützen. Das spanische Modell tut jedoch genau das: Es schützt Frauen, indem es ihren Aufenthaltsort auch außerhalb dieser definierten Bereiche dynamisch überwacht.
Bei der Präsentation der GPS-Fußfessel beim Ortstermin in Wiesbaden benennt Justizminister Christian Heinz die Vorteile des spanischen Modells für den Opferschutz so: „Das Opfer ist also nicht mehr feste Orte gebunden, wie die Wohnung, die Kita oder den Arbeitsplatz, sondern kann sich auch bewegen, in die Stadt gehen oder in einen anderen Ort fahren und wird alarmiert, wenn sich ein Täter nähert. Das war bisher technisch nicht möglich.“
IV. Bund-Länder-Pingpong
Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich Herbst 2024 mehrfach öffentlich für die elektronische Fußfessel ausgesprochen. „Wenn die Täter mit einer elektronischen Fußfessel überwacht werden, kann die Polizei im Ernstfall schneller einschreiten und erneute Gewalt gegen Frauen besser verhindern“, erklärte sie im Oktober. Wer sich stets ablehnend äußerte gegenüber Forderungen nach einer bundesrechtlichen Fußfessel-Lösung im Gewaltschutzgesetz, war der ehemalige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Zuletzt hatte er zwar in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zumindest Gesprächsbereitschaft signalisiert, indem er sagte: „Auch Regelungen im Gewaltschutzgesetz kann ich mir grundsätzlich vorstellen.“ Ende 2023 hatte sein Ministerium noch auf Nachfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS betont, dass die elektronische Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt Ländersache sei und in deren Polizeigesetze gehöre.
Als die Justizministerkonferenz ihn bereits im Mai 2023 aufforderte, die Verankerung der Fußfessel zur Überwachung von Kontakt- und Annäherungsverboten im Gewaltschutzgesetz zu prüfen, da spielte Buschmann den Ball nach einigen Monaten wieder zurück in die Länder. Die Prüfung habe ergeben, teilte sein Ministerium im November 2023 auf Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS mit, dass „die Schaffung einer EAÜ-Anordnung im Gewaltschutzgesetz nicht geeignet wäre, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“. EAÜ bedeutet: elektronische Aufenthaltsüberwachung, besser bekannt als „Fußfessel“.
Der ehemalige Bundesjustizminister Marco Buschmann, hier während einer Sitzung des Deutschen Bundestags an der Seite von Außenministerin Annalena Baerbock, verwies beim Thema Fußfessel stets auf die Länder. Foto: dpa
Die Länder baten ihn bei der Innenministerkonferenz im 2024 Juni abermals, die rechtlichen Voraussetzungen für eine bundesweit einheitliche Möglichkeit des Einsatzes der elektronischen Aufenthaltsüberwachung zu schaffen. Seitdem sei in der Sache „leider wenig passiert, und Herr Buschmann sendet widersprüchliche Signale“, beklagte Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) noch im September im Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Wenn das so bleibt, werden wir auch in Niedersachsen darüber nachdenken müssen, den Einsatz der Fußfessel in solchen Fällen über das Niedersächsische Polizei- und Ordnungsgesetz zu ermöglichen.“ Aus dem Haus von Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) hieß es indes, es bleibe dabei, dass die Ministerin „die Verortung der elektronischen Fußfessel in erster Linie im Gewaltschutzgesetz sieht“ – und damit im Zuständigkeitsbereich des Bundesjustizministers.
Zuletzt zog sich Buschmann darauf zurück, dass das Thema bereits Gegenstand einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe sei. Der Bundesjustizminister blieb also bei diesem Bund-Länder-Ping-pong – bis er am 7. November seine Entlassungsurkunde als Minister vom Bundespräsidenten entgegennahm.
Viele Bundesländer sehen mittlerweile den dringenden Handlungsbedarf: Nachdem in Berlin im August zwei Frauen binnen weniger Tage trotz Annäherungsverbots von ihren Ex-Lebensgefährten getötet worden waren, plädierte Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) für Fußfesseln. „Wir müssen endlich etwas gegen diese brutalen Morde von Männern an Frauen tun“, sagte die CDU-Politikerin und sprach von „purem Frauenhass“. Auch sie appellierte an Buschmann, die Fußfessel in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen, und prüfte gleichzeitig auf Landesebene, ob und wie gesetzliche Änderungen und Präventivmaßnahmen angepasst werden können. Eines stehe fest: „So kann und darf es nicht weitergehen!“
Der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) sagte dem Magazin „buten un binnen“: „Es gibt die Möglichkeit, Partner aus der Wohnung zu verweisen, es gibt Gefährderansprachen – wir haben ein enges Netzwerk, das heißt: Es gibt eine Risikobewertung durch die Polizei und, und, und… Und dennoch müssen wir feststellen, alle diese Maßnahmen reichen nicht.“ Mäurer ist überzeugt vom spanischen Modell, ebenso wie Bremens Frauensenatorin Claudia Bernhard (Linke). Das Polizeigesetz soll in Bremen noch in diesem Jahr entsprechend geändert werden, hieß es. Auch Schleswig-Holsteins Sozialministerin Aminata Touré (Grüne) sagte den „Kieler Nachrichten“, dass man über die elektronische Fußfessel diskutieren müsste.
Die Lösung liegt buchstäblich auf dem Tisch: Präsentation der Fußfessel-Technik in Wiesbaden. Foto: Christian Ahlers
Beim Ortstermin in Wiesbaden vergleicht Hessens Minister Heinz die aktuelle Situation mit den Polizeigesetzen allerdings mit einem „Flickenteppich“. Es könne doch nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, dass vom Wohnort der Frauen abhänge, ob sie geschützt werden. Recherchen des WEISSEN RINGS haben zudem ergeben, dass einer Anordnung nach dem Landespolizeigesetz häufig sehr hohe rechtliche Hürden entgegenstehen und zumeist nur eine kurzzeitig befristete Überwachung möglich ist. So wurde zum Beispiel in Hamburg seit 2019 nur ein einziges Mal das Tragen einer Fußfessel wegen Beziehungsgewalt angeordnet – und der Beschluss anschließend wieder vom Oberlandesgericht Hamburg gekippt. „Das spanische Modell könnte uns helfen, Fälle von häuslicher Gewalt zu vermeiden“, sagt der CDU-Politiker Heinz. „Von der Vorsorge einer möglichen Gefahr bis hin zur Kontrolle nach einer Haftstrafe – alle Schutzlücken wären somit geschlossen.“ Die Erfahrung damit belege es. „Die Bundesregierung sollte jetzt endlich handeln.“
V. Ausblick
Teresa Peramato bekommt häufig Besuch von Delegationen aus anderen Ländern, die sich für das spanische Modell der Fußfessel interessieren. Eine Schweizer Delegation hat es sich bei einem Besuch im Januar 2023 erklären lassen. Die Besucher aus dem Kanton Zürich zeigten sich danach nicht nur nachhaltig beeindruckt, sondern handelten. Der Kanton startete noch im selben Jahr ein Pilotprojekt und ermöglichte den Einsatz des dynamischen Fußfessel-Modells. Das Pilotprojekt war bei Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen.
Aus Deutschland hat sich bislang nur eine Spitzenpolitikerin aus der Bundespolitik für die Arbeit der Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in Madrid interessiert: Am 11. Februar 2022 war Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit einer Delegation zu Besuch. „Die Ministerin interessierte sich sehr für die Entwicklung der spanischen Gesetzgebung im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt und für das Vorgehen der spanischen Staatsanwaltschaft“, berichtete Teresa Peramato.
Und dann geschah nichts mehr. Technisch ist das Modell hier in Deutschland sofort umsetzbar, das zeigt der Termin bei der HZD in Wiesbaden sehr anschaulich. In Spanien hat sich die Zahl getöteter Frauen seit der Fußfessel-Einführung um 25 Prozent reduziert, statistisch könnten in Deutschland demnach jedes Jahr gut 40 Frauen durch die Fußfessel gerettet werden. Politisch wird in Deutschland seit Monaten diskutiert, aber nicht gehandelt. Ein Schlag ins Gesicht der Opfer, die sich in ihrer Not schutzsuchend an den Staat wenden, der den Aggressoren dann doch nur ein Stück Papier zukommen lässt.
Die Harvard-Juristin Diane Rosenfeld setzt sich dafür ein, dass in allen Fällen häuslicher Gewalt eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird, damit Fälle, die auf eine potenzielle Tötungsabsicht hindeuten, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit behandelt werden können. Die Drohung, den Partner zu töten und eine kürzlich erfolgte Trennung sind beispielsweise zwei dieser Faktoren. Rosenfeld sagt: „Morde im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt sind so vorhersehbar, dass sie vermeidbar sind.“
Erstellt am: Donnerstag, 24. Oktober 2024 von Sabine
Bundesinnenministerin Nancy Faeser wünscht sich „viel entschlosseneres Handeln“. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
Datum: 24.10.2024
Auch Innenministerin Faeser spricht sich für die elektronische Fußfessel aus
Immer mehr Frauen und Mädchen werden Opfer von Gewalt. Neben dem WEISSEN RING und Hessens Justizminister Christian Heinz spricht sich jetzt auch Innenministerin Faeser für die elektronische Überwachung von Tätern aus.
Berlin/Mainz – Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nimmt in Deutschland laut Polizeistatistik stark zu. Wie eine Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigt, wurden im vergangenen Jahr 62.404 Mädchen und Frauen Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dazu zählen etwa Vergewaltigung und sexuelle Nötigung.
Im Vorjahr zählten die Polizeibehörden 58.900 weibliche Opfer entsprechender Straftaten. Im Jahr 2015 waren der Polizei, was dieses Delikt betrifft, bei dem von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, 32.460 weibliche Opfer bekanntgeworden.
Eine deutliche Zunahme gab es 2023 den Angaben zufolge auch bei der Zahl der weiblichen Opfer von Straftaten gegen die persönliche Freiheit. Bei diesen Delikten, zu denen unter anderem die Zwangsprostitution gehört, wurden demnach im vergangenen Jahr Fälle mit mehr als 148.000 weiblichen Opfern aktenkundig. Zum Vergleich: Im Vorjahr zählte die Polizei hier bundesweit rund 134.000 weibliche Opfer. Im Jahr 2013 waren rund 106.000 Frauen und Mädchen betroffen.
Faeser wünscht sich „viel entschlosseneres Handeln“
„Die gestiegene Gewalt gegen Frauen ist unerträglich und fordert ein noch viel entschlosseneres Handeln“, kommentiert Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Zahlen. Die SPD-Politikerin sagt: „Wir brauchen harte Strafen, die elektronische Fußfessel und verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings.“ Wer ein solches Training verweigere, müsse dann empfindliche Sanktionen erhalten. Es sei gut, dass das verpflichtende Anti-Gewalt-Training, das sich in Österreich bewährt habe, nun Teil des von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegten Entwurfs zur Reform des Kindschaftsrechts sei.
Über elektronische Fußfessel muss Justizressort entscheiden
Faeser hatte bereits bei der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern im Juni gesagt, Verbote für Täter, die Wohnung zu betreten und sich der von Gewalt betroffenen Frau zu nähern, müssten „konsequent durchgesetzt und engmaschig kontrolliert werden“. Dazu sei sie bereits im Austausch mit Buschmann. Außerdem sollten Täter mit einer elektronischen Fußfessel überwacht werden.
Das Bundesinnenministerium setze sich innerhalb der Bundesregierung dafür ein, dass das Gewaltschutzgesetz um die Möglichkeit der Anordnung von „verpflichtender Täterarbeit“ und elektronischer Aufenthaltsüberwachung ergänzt werde, sagte eine Sprecherin. Zur elektronischen Fußfessel sei man mit dem für das Gesetz zuständigen Justizressort in engem Austausch.
WEISSER RING fordert „spanisches Modell“ in Deutschland
Recherchen der Redaktion des WEISSEN RINGS haben gezeigt, dass Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz Tausendfach ignoriert und kaum verfolgt werden. Allein im Jahr 2023 zählten die Behörden bundesweit 6.483 Verstöße. Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, fordert deshalb schon lange eine Aufnahme der elektronischen Überwachungsmöglichkeit ins Gewaltschutzgesetz, so wie es in Spanien bereits erfolgreich umgesetzt wird. Seit 2009 können spanische Gerichte das Tragen einer elektronischen Fußfessel anordnen, um Annäherungsverbote zu überwachen. Täter und Opfer tragen dabei ein elektronisches GPS-Gerät bei sich. Beim Täter ist es am Körper fixiert, die zu schützende Person trägt es wie ein Smartphone bei sich.
Sobald der Abstand zwischen beiden weniger als 500 Meter beträgt, schlägt das System Alarm, und die Polizei kann schnell reagieren. Die Leitstelle lotst die Polizei zum Einsatzort. Die Polizei wird auch alarmiert, wenn das elektronische Armband entfernt wird oder defekt ist.
„In Spanien ist es gelungen, die Zahl der Femizide um 27 Prozent zu senken“, sagt Dr. Patrick Liesching, stellvertretender Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. „Unter den Teilnehmerinnen des Überwachungsprogramms ist sogar kein einziger Todesfall bekannt. Es ist deshalb höchste Zeit, eine bundesgesetzliche Regelung auch in Deutschland zu schaffen.“ Statistisch hätte eine solche Überwachung im vergangenen Jahr 40 Frauen das Leben retten können, so Liesching weiter.
Der WEISSE RING und Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU) regen ein solches Modell auch für Deutschland an und haben eine entsprechende Initiative in den Bundesrat eingereicht. Ende September hat das Gremium den Vorschlag zur Prüfung an die Ausschüsse weitergeleitet.
Im August dieses Jahres hatte sich Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte erstmals „offen“ gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt.
Der WEISSE RING startet eine Petition für die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gewalttätern zum besseren Schutz von Frauen.
Mainz – Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. An fast jedem zweiten Tag gelingt es einem Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. Im vergangenen Jahr starben so 155 Frauen.
Tut der Staat genug, um diese Frauen zu schützen? Die Meinung des WEISSEN RINGS, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, lautet: Nein, das tut er nicht!
Etliche Frauen, die schwerste Gewalt erlebten, hatten sich zuvor hilfesuchend an die Behörden gewandt und gerichtliche Annäherungs- oder Kontaktverbote gegen ihre (Ex-)Partner erwirkt. Aber niemand kontrolliert, ob diese Verbote nach dem Gewaltschutzgesetz eingehalten werden. Männer ignorieren die Anordnungen tausendfach, sie prügeln weiter, sie töten. Allein im Jahr 2023 registrierten die Behörden 6.483 Verstöße.
Forderung an Bundesjustizminister Marco Buschmann
Um diese Frauen besser zu schützen, hat der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, eine Petition an Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) gestartet und fordert ihn auf, endlich den Weg freizumachen für eine bundesrechtliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel im Gewaltschutzgesetz. Unter dem Motto „Fesseln für die Täter, Freiheit für die Opfer!“ sammelt der WEISSE RING online Unterschriften, um so den Handlungsdruck auf die Politik zu erhöhen.
Vorbild für den Fußfessel-Einsatz ist das sogenannte spanische Modell: Seit 2009 können spanische Gerichte das Tragen einer elektronischen Fußfessel anordnen, um Annäherungsverbote zu überwachen. Täter und Opfer tragen dabei ein elektronisches GPS-Gerät bei sich. Beim Täter ist es am Körper fixiert, die zu schützende Person trägt es wie ein Smartphone bei sich.
Sobald der Abstand zwischen beiden weniger als 500 Meter beträgt, schlägt das System Alarm, und die Polizei kann schnell reagieren. Die Leitstelle lotst die Polizei zum Einsatzort. Die Polizei wird auch alarmiert, wenn das elektronische Armband entfernt wird oder defekt ist.
„In Spanien ist es gelungen, die Zahl der Femizide um 27 Prozent zu senken“, sagt Dr. Patrick Liesching, stellvertretender Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. „Unter den Teilnehmerinnen des Überwachungsprogramms ist sogar kein einziger Todesfall bekannt. Es ist deshalb höchste Zeit, eine bundesgesetzliche Regelung auch in Deutschland zu schaffen.“ Statistisch hätte eine solche Überwachung im vergangenen Jahr 40 Frauen das Leben retten können, so Liesching weiter. „Damit die Bundesregierung handelt, bedarf es Druck von außen. Darum bitte ich Sie im Interesse des Opferschutzes, unsere Petition zu unterschreiben!“
Spanisches Modell funktioniert auch in Deutschland
In zwei Brandbriefen an die Politik hatte der WEISSE RING 2022 und 2023 „in höchster Dringlichkeit“ gefordert, Frauen besser zu schützen. Dabei wies der Verein auf die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gefährdern hin.
„Technisch wäre ein Fußfessel-Einsatz nach dem spanischen Modell auch in Deutschland problemlos möglich“, sagt Liesching. Laut der Gemeinsamen Überwachungsstelle der Länder (GÜL) ließe sich das „zeitnah hier bei uns in der GÜL einrichten“. Bei der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) sind die entsprechenden Geräte bereits getestet worden.
Erstellt am: Donnerstag, 22. August 2024 von Sabine
Foto: Christoph Klemp
Datum: 22.08.2024
Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals "offen" gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt.
Mainz – Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals „offen“ gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt. „Auch Regelungen im Gewaltschutzgesetz kann ich mir grundsätzlich vorstellen”, sagte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit Fußfesseln können die Behörden überwachen, ob sich Gefährder trotz gerichtlicher Kontaktverbote den Betroffenen nähern. Recherchen des WEISSEN RINGS haben gezeigt, dass Gewalttäter in Deutschland jährlich tausendfach gegen solche Anordnungen verstoßen und es dadurch immer wieder zu schweren Verletzungen und sogar Tötungen kommt.
Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, fordert deshalb schon lange eine Aufnahme der elektronischen Überwachungsmöglichkeit ins Gewaltschutzgesetz. Im Dezember 2023 hatte Dr. Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, einen entsprechenden Brandbrief an Minister Buschmann geschickt. Liesching wies darauf hin, dass in Deutschland an jedem dritten Tag ein (Ex-)Partner eine Frau töte, und schrieb: „Was mich besonders erschüttert: Viele dieser Frauen hatten sich vor der Tat hilfesuchend an den Staat gewandt.“ Er sei der Überzeugung, „dass der deutsche Staat Frauen besser schützen kann, als er es derzeit tut“. Erst vor wenigen Tagen stellte Liesching gemeinsam mit Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU) eine Bundesratsinitiative des Landes vor, mit der das Gewaltschutzgesetz erweitert werden kann.
Bislang hatte Bundesjustizminister Buschmann allerdings ablehnend auf derartige Forderungen reagiert. So antwortete sein Haus Ende 2023 auf eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“.
Mit Blick auf die aktuellen Äußerungen Buschmanns im RND-Interview sagte Patrick Liesching am Donnerstag: „Wir freuen uns sehr, dass sich nunmehr auch der Bundesjustizminister für eine bundesrechtliche Regelung beim Fußfessel-Einsatz gegen Gewalttäter öffnet. Jetzt hoffen wir im Interesse der schutzbedürftigen Frauen, dass die hessische Bundesratsinitiative schnell zu der längst überfälligen Gesetzesänderung führt.“
Wie die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gewalttätern bedrohte Frauen schützen kann, zeigt seit Jahren das Beispiel Spanien. Der WEISSE RING und die hessische Bundesratsinitiative regen ein solches Modell auch für Deutschland an.
Karsten Krogmann ist Norddeutscher, kam in der 5. Klasse zur Schülerzeitung „Moin Moin“ und so zum Journalismus. Später arbeitete er als Chefreporter bei der „Nordwest-Zeitung“, schrieb Texte für „Die Zeit“ und andere, veröffentlichte das Buch „Der Todespfleger“. Er wurde ausgezeichnet u. a. mit dem Nannen-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis. Seit 2020 arbeitet er beim WEISSEN RING.
Hessens Justizminister Heinz besucht den WEISSEN RING in Eschborn und stellt Pläne zum besseren Schutz von Frauen gegen Gewalt vor.
Eschborn – Der hessische Justizminister Christian Heinz (CDU) hat am dritten Tag seiner „Rechtsstaats-Tour“ durch Hessen den hessischen Landesverband des WEISSEN RINGS in Eschborn besucht. Im Gespräch Dr. Patrick Liesching, Vorsitzender des WEISSEN RINGS im Bund und in Hessen, und der ehrenamtlichen Opferhelferin Ingeborg Altvater ging es um den besseren Schutz von gewaltbetroffenen Frauen durch den Einsatz von elektronischer Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel). Die hessische Landesregierung hat eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, eine entsprechende Regelung in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann stellt sich dem bislang entgegen.
„Statistisch gesehen findet in Deutschland jeden Tag der Versuch einer Tötung einer Frau statt, jeden dritten Tag kommt es auch zu einer Vollendung einer Tötung. Das ist etwas, das mich persönlich sehr bewegt, weil ich auch als Staatsanwalt solche Fälle hatte. Und wenn man dann in die Details geht, die da ermittelt werden, die Betroffenheit von Angehörigen, von Kindern, von Waisen oder Halbwaisen sieht, dann ist das etwas, das einen nicht kalt lässt und das einen hohen Handlungsdruck erzeugt“, sagte Liesching zu Beginn des Gespräches. „Deswegen begrüße ich die Initiative von Justizminister Heinz außerordentlich.“
Die Bundesratsinitiative sieht unter anderem vor, die elektronische Fußfessel durch eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes bundesrechtlich zu verankern. „Momentan gibt es lediglich nach den Polizeigesetzen der Länder die Möglichkeit, dass Betroffene von häuslicher Gewalt durch die elektronische Fußfessel bei den Tätern nur kurzfristig und vorübergehend geschützt werden, eben bis gerichtliche Maßnahmen greifen. Um eine dauerhafte und nicht nur kurzfristig wirkende Möglichkeit zu haben, gerichtliche Kontakt- oder Näherungsverbote mit einer Fußfessel zu kontrollieren, muss die Fußfessel ins Gewaltschutzgesetz aufgenommen werden“, sagte der Justizminister.
Dr. Patrick Liesching richtet Forderungen an die Bundespolitik. Foto: WEISSER RING
Eine bundeseinheitliche Regelung zur präventiven, elektronischen Aufenthaltsüberwachung fordert der WEISSE RING seit Jahren. „Es ist höchste Zeit, dass der Bundesgesetzgeber endlich wirksame Instrumente schafft, um der Gewalt durch (Ex-)Partner zu begegnen. Die bisherigen Regelungen des Gewaltschutzgesetzes sind nicht ausreichend. Modelle zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Spanien und anderen europäischen Ländern zeigen eindrucksvoll, dass man solche Tötungen erfolgreich und effektiv verhindern kann. Deshalb kann ich die ablehnende Haltung von Bundesjustizminister Buschmann in keiner Weise nachvollziehen“, so Liesching.
Marco Buschmann hat sich in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur im vergangenen Juli gegen eine einheitliche Regelung ausgesprochen, wofür ihn der WEISSE RING scharf kritisierte. Der FDP-Politiker sieht zwar ebenfalls eine Notwendigkeit, den Schutz vor Gewalt durch Partner beziehungsweise Ex-Partner zu verbessern. Länder, die dafür elektronische Fußfesseln nutzen wollten, könnten dies aber selbst regeln, sagte Buschmann im Interview.
In Hessen ist der Einsatz von Fußfesseln zum Schutz vor gewalttätigen (Ex-)Partnern möglich. „Die Praxis hat aber gezeigt, dass das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, was das sogenannte HSOG ist, ein sehr schwaches Schwert ist“, so Justizminister Christian Heinz im Gespräch mit dem WEISSEN RING. Das Tragen einer Fußfessel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr sei nur für zwei bis maximal drei Wochen rechtlich zulässig. Recherchen des WEISSEN RINGS haben außerdem gezeigt, dass der Anordnung einer Fußfessel nach dem Landespolizeigesetz häufig sehr hohe rechtliche Hürden entgegenstehen und dies bislang nur in wenigen Bundesländern überhaupt möglich ist.
Einen kleinen, aber doch sehr bedrückenden Einblick in die Lage von häuslicher Gewalt betroffener Menschen, brachte die Außenstellenleiterin des Main-Taunus-Kreises im WEISSEN RING, Ingeborg Altvater. Sie berichtet: „Wenn Frauen es geschafft haben, sich aus einer gewaltsamen Beziehung zu trennen, dann hört das Leid nicht auf, sondern die Frauen leben unserer Erfahrung nach dann in einer Situation, die voll von Angst, von Bedrohungen, von Unsicherheit ist. Konkret sieht es dann so aus, dass sich die Frauen immer mehr zurückziehen. Sie leben teilweise in abgedunkelten Räumen, sperren sich da ein, verbarrikadieren sich, denn sie müssen immer wieder erleben, dass trotz Annäherungsverboten der gewalttätige Ex-Partner sich ihnen nähert.“ Der Einsatz einer Fußfessel würde die Situation der Frauen dramatisch verbessern, davon ist die Außenstellenleiterin überzeugt. „Wir wollen häusliche Gewalt konsequent bekämpfen. Die Bundesregierung muss jetzt endlich handeln“, so der hessische Justizminister in Eschborn. Laut Christian Heinz hat die aktuelle Bundesregierung noch ein Jahr und damit ausreichend Zeit, ein Bundesgesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zu Ende zu bringen.
Christiane Flemig ist Saarländerin durch Geburt, Mainzerin im Herzen. Sie drehte fast zehn Jahre lang Reportagen und Dokus fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, zuletzt leitete sie die Investigativ-Redaktion einer TV-Produktionsfirma. Seit 2022 beim WEISSEN RING.
Wieder mehr Fälle von häuslicher Gewalt in Deutschland angezeigt
Im Jahr 2023 sind wieder deutlich mehr Fälle von Gewalt im häuslichen Umfeld angezeigt worden. Vor allem Frauen waren von Partnerschaftsgewalt betroffen. Familienministerin Paus verspricht ein neues Gesetz.
Berlin – Die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. Wie aus einem aktuellen Bericht zur polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht, waren insgesamt 256.276 Menschen im Jahr 2023 offiziell von häuslicher Gewalt betroffen – 6,5 Prozent mehr als 2022. Bereits im Jahr davor hatte es einen Anstieg um mehr als acht Prozent gegenüber 2021 gegeben.
Die meisten Opfer waren demnach weiblich (70,5 Prozent). Bei 65,5 Prozent der Betroffenen handelte es sich um Gewalt in der Partnerschaft. Hier gab es insgesamt knapp 168.000 Fälle, 6,4 Prozent mehr als 2022.
Mehr innerfamiliäre Gewalt angezeigt
Die restlichen Opfer von häuslicher Gewalt (34,5 Prozent) waren laut Statistik von innerfamiliärer Gewalt betroffen. Hier handelt es sich um eine Form von Gewalt, die sich beispielsweise auch zwischen Großeltern und Enkelkindern oder anderen nahen Angehörigen abspielen kann. Diese Form von Gewalt betraf 2023 laut Statistik insgesamt 78.341 Menschen. Dies sind 6,7 Prozent mehr als im Vorjahr.
Auch im vergangenen Jahr waren bei häuslicher Gewalt 75,6 Prozent der Tatverdächtigen männlich. Mit 79,2 Prozent waren die Opfer von Partnerschaftsgewalt überwiegend Frauen, 20,8 Prozent der Betroffenen waren männlich. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um vorsätzliche einfache Körperverletzung (59,1 Prozent), Bedrohung, Stalking oder Nötigung (24,6) sowie um gefährliche Körperverletzung (11,4).
Ministerin Paus: „Erschreckendes Ausmaß“
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) äußerte sich erschüttert: „Die erneut deutlich gestiegenen Zahlen zur häuslichen Gewalt zeigen das erschreckende Ausmaß einer traurigen Realität. Gewalt ist ein alltägliches Phänomen – das ist nicht hinnehmbar“, sagte Paus. Gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Vizepräsidentin des Bundeskriminalamts, Martina Link, stellte sie am Freitag das sogenannte Bundeslagebild zur häuslichen Gewalt vor.
Den Betroffenen stellte Paus ein neues Gesetz in Aussicht. „Wir brauchen dringend ein flächendeckendes, niedrigschwelliges Unterstützungsangebot bestehend aus sicheren Zufluchtsorten und kompetenter Beratung. Dafür arbeiten wir an einem Gesetz zur Sicherung des Zugangs zu Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt“, erklärte sie. Dieses sogenannte Gewalthilfegesetz werde „die Grundlage für ein verlässliches und bedarfsgerechtes Hilfesystem bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen.“
Meistens trifft Partnerschaftsgewalt Frauen – aber auch Männer werden Opfer. Was wissen wir über dieses Thema, über das eher selten und nur ungern gesprochen wird? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat in München und Oldenburg, in Dresden und Hannover, in Berlin und Mainz recherchiert.
Lesedauer wird berechnet…
Text
Christian J. Ahlers, Karsten Krogmann, Nina Lenhardt
Text
Christian J. Ahlers, Karsten KrogmannNina Lenhardt
Datum15.03.2024
Illustration: Alexander Lehn
Eisregen prasselt auf die weißgefrorenen Pflastersteine am Mainzer Schillerplatz. Frost klebt auch am Fastnachtsbrunnen und an den 200 Narrenfiguren, die den Bronzeturm bis auf neun Meter Höhe hinaufreichen. René, 39 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit Vollbart und Zopf, blickt aus einem warmen Café hinaus auf das Winterbild und redet erst einmal übers Wetter. Ein bisschen Smalltalk, bevor er über das sprechen mag, über das Mann lieber nicht spricht: Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt.
I. Jeder zweite Mann
"Aber da verschieben sich natürlich auch Wahrnehmungen und Grenzen, ne. Also das ist ganz pervers, was mit einem selber so passiert, wie man in so was so reinrutschen kann, wo man zum Schluss denkt, (…) hättest du mir das vor fünf Jahren gesagt oder vor zehn, (…), hätte ich gesagt, 'garantiert nicht'. Never ever. Das passiert mir nicht."
Benjamin, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
„Gewalt gegen Frauen nimmt zu“
„Vor allem Frauen sind betroffen“
„91,7 Prozent der Täter sind männlich“
So lauten die Schlagzeilen, wenn Politik und Polizei alljährlich die aktuellen Zahlen zur häuslichen Gewalt und zur Partnerschaftsgewalt vorstellen. Und es stimmt ja auch, in den allermeisten Fällen sind Frauen die Opfer. Für das Jahr 2022 zum Beispiel verzeichnet die Statistik des Bundeskriminalamtes 157.818 Betroffene von Partnerschaftsgewalt. 126.349-mal waren Frauen die Leidtragenden, das sind 80,1 Prozent. Männer kommen in der Berichterstattung kaum vor; falls doch, dann zumeist als Täter.
Aber es gibt sie trotzdem, die Männer, die Opfer von Partnerschaftsgewalt wurden. Laut Kriminalstatistik sind 19,9 Prozent der Betroffenen Männer. Männer wie René.
René ist für Geschäftstermine ein paar Tage in Rheinhessen unterwegs, er lebt mittlerweile in Norwegen. „In Norwegen machen sie vieles besser als die Deutschen“, deutet er an. Aber darüber werde man ja sicher später noch reden. Er blättert in der Speisekarte und bestellt sich einen Burger.
Die Zahlen des Bundeskriminalamtes bilden das sogenannte Hellfeld ab, also die Gewaltfälle, von denen die Polizei weiß. Eine neue Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) beleuchtet nun auch das Dunkelfeld. Für das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ haben die Wissenschaftler die Antworten von 1.209 Männern im Alter zwischen 18 und 70 Jahren in einem Onlinefragebogen ausgewertet und kamen so unter anderem zu folgenden repräsentativen Ergebnissen:
• Jeder zweite Mann in Deutschland war im Lauf seines Lebens mindestens einmal von Partnerschaftsgewalt betroffen (54,1 Prozent der Befragten).
• Die meisten betroffenen Männer haben psychische Gewalt erlebt (39,8 Prozent). 29,8 Prozent der Befragten berichteten von körperlicher Gewalt.
• Zwei Drittel der betroffenen Männer gaben an, an den Folgen der erlebten Gewalt zu leiden.
Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden
Von der Scham zur Hilfe
Mehr als jeder zweite Mann, das klingt nach überraschend vielen betroffenen Männern. Die hohe Zahl hat zum einen damit zu tun, dass die Forscher aus Hannover mit einem „sehr weit gefassten Gewaltbegriff“ gearbeitet haben, wie Projektleiter Dr. Jonas Schemmel erklärt. So fragten sie zum Beispiel auch nach Gewaltformen wie aggressivem Anschreien, absichtlichem Zerstören von Gegenständen oder absichtlichem Wegstoßen. „Jeder Mensch stellt sich vielleicht etwas anderes unter Gewalt vor“, sagt Schemmel.
Zum anderen ist die hohe Zahl aber eben auch ein Indiz dafür, dass mehr Männer Gewalt in Partnerschaften erleben und mit deren Folgen umgehen müssen, als bislang angenommen wurde.
II. Renés Geschichte
"(Meine Partnerin) hat mich so verprügelt wie noch nie. Da haben mich hinterher sogar die Nachbarn drauf angesprochen, weil ich überall Kratzwunden im Gesicht hatte. Wir haben dann vorher als Alibi (…) erfunden, dass ich im Wald gefallen bin und da eben an Ästen hängengeblieben bin (…)."
Björn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
„Es fing ganz harmlos an“, sagt René im Café am Schillerplatz.
Vor ein paar Jahren, er wohnte noch in Koblenz, Rheinland-Pfalz, tauschte er mit einer Bekannten Nachrichten auf dem Smartphone aus. Ganz unverfänglich, sagt er. Seiner damaligen Partnerin passte das trotzdem nicht. Auf ihren Druck hin brach er den Kontakt zu der Bekannten ab. Jetzt wird alles wieder gut, dachte er.
Er irrte.
Die Forderung nach dem Kontaktabbruch war nur eine von zahlreichen Grenzüberschreitungen, die René erlebte. Von Wutausbruch zu Wutausbruch eskalierte die Situation immer mehr. Es dauerte Monate, bis er es schaffte, sich von seiner Freundin zu trennen. „Ich glaube, es war meinem damaligen Umfeld schon bewusst, dass diese Beziehung schwierig war“, sagt er.
Ein paar Wochen später sollte es eine Aussprache zwischen ihm und seiner Partnerin geben, ein letztes Mal. Die letzte Aussprache – das ist etwas, wovor Gewaltforscher und Kriminalbeamte Betroffene von Beziehungsgewalt immer wieder warnen. Meistens warnen sie damit Frauen vor ihren gewalttätigen Männern.
Was genau bei diesem letzten Treffen passiert ist, möchte René nicht erzählen. Nur so viel: Es kam zu sexuellen Handlungen gegen seinen Willen, er traute sich aber auch nicht zu widersprechen. Als es vorbei ist, ist René wie gelähmt. Er findet keine Worte für das, was ihm widerfahren ist. „Dissoziiert und völlig verstört“ nennt er seinen damaligen Zustand, „ich konnte nicht reden und keinen Blickkontakt halten.“ Er konnte nur schreiben: Auf einem Zettel notierte er ein paar Worte, ein Freund verstand sie. „Dem war ja auch klar, in was für einer Beziehung ich da war“, sagt René. Der Freund fährt ihn in eine Klinik.
III. Vier Probleme
"Ich hab' mich ja nicht als Opfer gesehen. Wieso sollte ich denn dann Hilfe holen? (…) dass ich eben halt gelernt hab', als Mann kann ich nicht Betroffener von Gewalt sein, das ist einfach nicht möglich. (…) Und solange es nicht möglich ist, bin ich auch kein Betroffener und hole mir auch keine Hilfe. Ist mir erst drei Jahre später aufgefallen, dass da was passiert ist, was über 'ne Grenze gegangen ist, weil ich meine eigenen Grenzen nicht gespürt habe. Deswegen kam ich nicht auf die Idee, die Polizei einzuschalten."
Stefan, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
Wenn Männer Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, stoßen sie häufig auf vier Probleme.
Problem Nummer 1: Männer begreifen oft nicht, was ihnen da passiert ist. War das tatsächlich Gewalt, was sie erlebt haben? Obwohl 66,7 Prozent der betroffenen Männer den Forschern des KFN sagten, dass sie an den Folgen ihrer Gewalterfahrung litten, gaben gleichzeitig 59 Prozent an, dass sie die Gewalt als „nicht so schlimm“ empfunden hätten. Weitere sieben bis acht Prozent sagten, sie hätten sich geschämt. Wer sich aber nicht als Opfer sieht oder sich zu sehr schämt und die Schuld allein bei sich selbst sucht, der holt sich keine Hilfe.
Problem Nummer 2: Wenn Männer erkannt haben, dass sie Hilfe brauchen, wissen sie häufig nicht, wo sie Hilfe finden können. Wer ist in Deutschland zuständig für gewaltbetroffene Männer? Für Männer überhaupt? Es gibt eine Frauenministerin, aber keinen Männerminister. Es gibt ein Hilfetelefon des Bundesfrauenministeriums „Gewalt gegen Frauen“, aber keines „Gewalt gegen Männer“. Es gibt eine App „Gewaltfrei in die Zukunft“ des Bundesjustizministeriums für „erwachsene Frauen und nonbinäre Personen“, aber keine für erwachsene Männer. Es gibt einen internationalen „Orange Day“ der Vereinten Nationen zur „Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“, aber keinen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Männer. An wen wendet Mann sich also?
René, der selbst Gewalt erfahren hat, zeigt sein Gesicht auch bei Kampagnen gegen Gewalt. Foto: Ahlers
„Für Männer gab es schlicht gar nichts“, erinnert sich René.
„Ich habe in einer Beziehung gelebt, in der ich Gewalt erfahren habe. In der ich geschlagen wurde“, sagt er. „Ich wollte nicht zurückschlagen und wusste nicht, was ich tun sollte.“ Nach dem Ende der Beziehung kontaktierte er die Polizei. „Dort wurde mir geraten, erst mal zu einem Hilfeverein zu gehen. Dort wurde mir gesagt, ich sei leider ,zu männlich‘. Überall, wo ich hingegangen bin, wurde mir das Gleiche erzählt.“
René beschreibt damit Problem Nummer 3: Nicht nur Männer verstehen oftmals nicht, was ihnen passiert ist – auch professionelle Helfer tun es mitunter nicht.
Echte Männer weinen nicht. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Happy wife, happy life. Männer sind stark, Männer lassen sich nie unterkriegen, der Mann muss seine Familie beschützen. Haben Polizisten Sätze wie diese im Sinn, wenn ein Mann ihnen berichtet, er sei das Opfer einer gewalttätigen Frau geworden?
In München läuft Christiane Feichtmeier mit ihrem Rucksack durch den einsetzenden Nieselregen zur Landesgeschäftsstelle der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Sie ist mit der Bahn aus dem nahen Tutzing angereist, um über Gewalt gegen Männer zu sprechen; nach dem Gespräch wird sie denselben Weg zurück nehmen, um als SPD-Politikerin über Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Feichtmeier, 51 Jahre alt, trat 1990 als eine der ersten Frauen in die bayerische Polizei ein. Heute sitzt sie im Bundesvorstand der GdP, leitet dort seit elf Jahren die AG „Häusliche Gewalt“ und sagt: „Als Polizistinnen und Polizisten sind wir Teil der Gesellschaft und haben auch viele Stereotype in unseren Köpfen. Und das können wir nicht einfach abschalten, wenn wir im Dienst sind, das nehmen wir mit.“ Weiter sagt sie: „Ich glaube, sobald sich die Tür öffnet und die Frau verheult ist oder vielleicht ein blaues Auge hat oder blutet, dann gehen wir davon aus, dass sie das Opfer ist und der Mann der Täter.“
Wie häufig stoßen gewaltbetroffene Männer auf taube Ohren, wenn sie bei der Polizei nach Hilfe fragen? Die Erkenntnisse der Wissenschaft dazu sind bislang dünn. Unter den gewaltbetroffenen Männern, die den Onlinefragebogen des KFN ausfüllten, hatten nur elf überhaupt Kontakt zur Polizei. Ihre Erfahrungen fielen gemischt aus. Drei Betroffene empfanden die angebotene Unterstützung als passend, vier konnten „teils / teils“ damit etwas anfangen, vier gar nichts. Vier Betroffene fühlten sich nicht ernst genommen von der Polizei, fünf fühlten sich für die Situation mitverantwortlich gemacht. In einem Interview berichtete ein Opfer den Forschern sogar, dass die Polizei ihn (als Täter) der Wohnung verwiesen habe, nachdem seine Partnerin ihn ebenfalls beschuldigt hätte.
Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat an alle 16 Bundesländer und an das Bundeskriminalamt einen Fragenkatalog zu den Erfahrungen der Polizei mit dem Thema Gewalt gegen Männer geschickt. Auf die Frage, welche Rolle Stereotype und der hohe Anteil von männlichen Tätern spielten, reflektiert die Berliner Senatsverwaltung selbstkritisch, dieser Aspekt spiegele sich „auch im polizeilichen Einsatzgeschehen wider, sodass bei männlichen Betroffenen möglicherweise der (…) Eindruck einstehen könnte, dass Männer zunächst eher als Täter eingeordnet werden“. In der Summe aber zeigen sich die Länder überzeugt, „sensibel“ und „geschlechtsneutral“ mit Gewaltbetroffenen umzugehen. Baden-Württemberg etwa beteuert, dass „geschlechtsbezogene Bedürfnisse von Opfern individuell berücksichtigt“ würden.
Vergleichsweise gut fielen die Erfahrungen der gewaltbetroffenen Männer mit Beratungsstellen aus. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben im KFN-Fragebogen an, dass sie die Unterstützung als schnell und unkompliziert empfunden hätten. Allerdings waren es auch hier nur 35 Männer, die überhaupt Kontakt aufgenommen hatten.
92,1 Prozent der betroffenen Männer hatten sich weder an die Polizei noch an eine Beratungsstelle gewandt.
Aber selbst wenn Männer ihre Gewaltbetroffenheit verstanden haben, wenn sie eine zuständige Anlaufstelle gefunden haben, wenn die zuständige Anlaufstelle ebenfalls die Gewaltbetroffenheit verstanden hat und helfen will – dann scheitert die Hilfe oft an Problem Nummer 4: an der fehlenden Hilfsmöglichkeit. Lediglich zwölf Gewaltschutzeinrichtungen für Männer gibt es in Deutschland insgesamt, drei weitere nehmen sowohl Männer als auch Frauen auf. Im Ganzen gibt es nur 46 Schutzplätze bundesweit (Stand: Februar 2024).
IV. Kein Platz für Männer
"Sie stand nachts plötzlich mit 'nem Messer neben dem Bett, kam auf mich zu, die lallte irgendwas und 'Ich muss euch alle töten, ich muss euch alle töten'. Ich habe sie dann weggetreten, hab meine Kinder geschnappt, bin ins andere Zimmer, hab mich da eingesperrt, hab die Polizei gerufen (…)."
Paul, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
In Dresden stapft Frank Scheinert, 63 Jahre alt, über Schneereste durch die Neustadt. Hier hat die Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz (BFKM) ihren Sitz, in einem Altbau mit einem balkonbreiten Spruchband vor dem 1. Stock: „Männerschutzwohnungen bundesweit!“ Wer in Deutschland zum Thema Partnerschaftsgewalt gegen Männer recherchiert, landet früher oder später in Dresden bei der BFKM und ihrem Leiter Frank Scheinert. Meistens früher.
Scheinert sagt: „Gewaltbetroffene Männer brauchen wie alle von Gewalt betroffenen Menschen ein Unterstützungsangebot.“ Die BFKM hat ausgerechnet, dass die Nachfrage von gewaltbetroffenen Männern nach Gewaltschutzplätzen im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um zwei Drittel gestiegen ist: von 251 auf 421 Männer. Nur 99 Männer fanden einen Platz. Es gibt eine Deutschlandkarte der BFKM, auf der kleine blaue Punkte die Orte markieren, an denen es eine Männerschutzwohnung gibt. In zehn Bundesländern findet sich kein einziger Punkt. „Da muss dringend was passieren“, sagt Scheinert.
Das allerdings ist gar nicht so einfach. Im Café am Mainzer Schillerplatz berichtet René: „Ich habe damals gedacht: Naja, es gibt keine Männerschutzwohnungen. Mir erschien das Konzept aber plausibel. Insbesondere, wenn man sich anguckt, dass bei häuslicher Gewalt die Polizei in unklaren Situationen tendenziell eher den Mann der Wohnung verweist und nicht die Frau. Dann steht der Mann da und hat auf einmal gar nichts mehr. Und ich dachte: Na gut, man kann ja eine Wohnung anbieten. Und ich war bereit, das ehrenamtlich zu stellen.“ René berichtet, dass er mit seiner Idee zur Gleichstellungsbeauftragten der Stadt gegangen sei; es habe mehrere Gespräche gegeben, polizeiliche Statistiken seien ausgewertet worden. Dann folgte die Ernüchterung. „Meinen Vorschlag unterstützte sie schon“, sagt René. „Sie wollte aber auch, dass die Einrichtung professionell geleitet wird. Und dafür bräuchte man Geld vom Land. Das gab es damals nicht. Und damit war das Thema dann gegessen.“
Frank Scheinert. Foto: Karsten Krogmann
„Das ist ein dickes Brett, das wir da bohren“, sagt Frank Scheinert in Dresden. In 15 von 16 deutschen Bundesländern böten die Gleichstellungs- und Gewaltschutzförderrichtlinien keine Möglichkeit, Anträge für Männerarbeitsprojekte zu stellen. Ausnahme: Sachsen. Die BFKM hat nicht zufällig ihren Sitz in der sächsischen Hauptstadt. Von hier aus unterstützt sie Vorstöße für Männerprojekte und kümmert sich darum, „dass die Politik möglichst auch Mittel zur Verfügung stellt“, wie Scheinert es vorsichtig formuliert.
Die erste Männerschutzwohnung in Deutschland entstand gut 500 Kilometer nordwestlich von Dresden im niedersächsischen Oldenburg – ehrenamtlich geführt, ohne kommunale oder sonstige staatliche Zuschüsse. Dort hatte sich im Jahr 2000 der Verein Männer-Wohn-Hilfe gegründet mit dem Ziel „Schaffung eines Raumes für Männer, die aus eskalierten Situationen ihren Lebensort für eine gewisse Zeit wechseln wollen oder sollen“. 2002 zog der erste Mann ein. Seither ist die Wohnung durchgehend belegt.
Eine einzige Wohnung für ganz Niedersachsen. Platz für einen einzigen Mann, der maximal drei Monate bleiben darf.
In Sachsen rechnet Frank Scheinert bescheiden vor, dass es drei bis fünf Männerschutzwohnungen pro Bundesland geben sollte, „als nächsten Schritt“: jeweils drei in Berlin, Bremen, Hamburg und im Saarland, jeweils fünf in den anderen Bundesländern.
Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat alle 16 Landesregierungen nach der Zahl der Schutzeinrichtungen für Männer in ihrem Bundesland gefragt und ob ein Ausbau geplant sei. Sechs der Länder, die keine Schutzeinrichtung vorhalten, teilten mit, dass es keine Pläne gebe, dies zu ändern. Andere Länder erklärten, dass zunächst der Bedarf an solchen Wohnungen geprüft werden müsse. „Bisher gibt es keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse darüber, ob ein Netz an ähnlich ausgerichteten Zufluchtsmöglichkeiten, wie es sie für gewaltbetroffene Frauen gibt, erforderlich ist“, antwortete etwa Hessen. „Weder die Polizeiliche Kriminalstatistik noch andere Studien – auch nicht international – weisen bisher auf eine entsprechende Gefährdung von Männern hin.“
Allein Nordrhein-Westfalen ist bislang den von Frank Scheinert erhofften „nächsten Schritt“ gegangen.
V. Stigma und Tabu
"Aber dieser Übergriff, den ich, weil ich mir so dachte, okay, ist das jetzt so schlimm, muss ich da drüber reden, oder ist es doch so schlimm, und ja wie peinlich, mir als Mann passiert das, und ich bin doch der Größere, Stärkere … und eh wie kann mir das halt passieren."
Robert, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
Am Pferdemarkt im Oldenburger Stadtzentrum kann man in einem schmalen Haus Wolfgang Rosenthal treffen, Jahrgang 1958, Vorsitzender des Vereins Männer-Wohn-Hilfe. Er sagt: „Diese 20 Jahre, die waren so was von interessant irgendwie, was wir für neue Blickwinkel auf Männlichkeit bekommen haben in dieser Zeit.“
Der erste Bewohner des Oldenburger Männerhauses: ein wohlsituierter Rentner. „Das hätten wir uns jetzt auch nicht so ausgedacht“, sagt Rosenthal. Am häufigsten erlebe er Akademiker als Bewohner, „42 Jahre alt, zwei Kinder“. Die zweithäufigste Gruppe, „so mit 25 Prozent“, bildeten Männer ohne Ausbildung, in der Regel arbeitslos, mehrere Kinder, keine stabile Beziehung, Ende 20, Anfang 30.
Hier finden Männer Hilfe: Wolfgang Rosenthal von der Beratung „Männersache“. Foto: Christian J. Ahlers
Rückschlüsse auf eine Gruppe mit signifikant hoher Gewaltbetroffenheit lassen sich aus diesen Beobachtungen aber keine ziehen. Das bestätigen auch die KFN-Forscher, indem sie zusammenfassend feststellen, „dass es keine typischen Opfer gibt und Gewalt gegen Männer in Partnerschaften ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist“.
„Menschen, die sich bei mir melden, sagen oft: Schön, dass du drüber redest, weil mir das auch passiert ist“, sagt René in Mainz. Wenn jeder zweite Mann schon mal eine Form von Partnerschaftsgewalt erlebt hat, dann bedeutet das, betroffene Männer gibt es überall und in allen gesellschaftlichen Kreisen.
René tritt deshalb immer mit seinem echten Namen auf, wenn er seine Geschichte in der Öffentlichkeit erzählt: René Pickhardt. „Weil ich gesagt habe, das sollte eigentlich gar kein Tabuthema sein“, sagt er. „Weil es mir wichtig war, das Stigma und das Tabu zu brechen und zu sagen: So war das halt. Das kann dir doch auch passieren!“
VI. Auf der Suche nach Lösungen
"Und das ging dann irgendwann in so 'ne Phase, die ging diverse Jahre, die war dann, da hatte ich so 'ne große Wut, weil ich wusste, das ist, das ist nicht richtig, was hier gerade passiert. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Wut. So, und hab dann angefangen erst die Wände zu schlagen, dann mich zu schlagen und irgendwann durfte ich mal 'nen neuen Kochtopfdeckel kaufen, weil ich den an meinem Kopf zerschlagen habe und das sind dann diese Selbstverletzungen gewesen, weil ich nicht wusste, wohin mit dieser Wut."
Finn, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
Die Forscher aus Niedersachsen haben die Männer nicht nur nach Gewalt gefragt, die sie erlebt haben – sie fragten sie auch nach Gewalt, die sie ausgeübt haben. Das Ergebnis ist ein weiterer überraschender Befund: 39,5 Prozent der von physischer oder psychischer Gewalt betroffenen Teilnehmer der Onlinebefragung waren sowohl schon mal Opfer als auch Täter. Der Fachbegriff dafür lautet „Victim-Offender-Overlap“, Opfer-Täter-Überschneidung.
Was bedeutet dieser Befund für die Unterstützung von gewaltbetroffenen Männern in Partnerschaften?
Björn Süfke leitet das „Hilfetelefon Gewalt an Männern“ bei der Bielefelder Männerberatung „man-o-mann“, er lacht kurz auf und schüttelt den Kopf, dann sagt er: „Es wäre ja geradezu zynisch zu sagen: Wenn beide ein Problem haben, dann helfen wir ihnen nicht!“ Der Befund bedeutet, dass Opferhilfe mitunter eben auch Täterarbeit heißt.
An einem Donnerstag im Februar steht Süfke, Jahrgang 1972, in einem würfelförmigen Bürobau im Hannoveraner Stadtteil List, vor ihm sitzen knapp 50 Menschen: Wissenschaftler, Vertreter von Polizei, BFKM, Hilfsreinrichtungen wie dem WEISSEN RING. Der Bürobau ist der Sitz des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, soeben hat Projektleiter Jonas Schemmel die Ergebnisse der Studie vorgestellt, jetzt schließt sich eine Podiumsdiskussion an, Süfke ist einer der Teilnehmer. Es geht um Fragen wie: Was fängt man mit den Erkenntnissen aus der Studie an? Wie hilft man betroffenen Männern am besten? Wie löst man das Problem „Partnerschaftsgewalt gegen Männer“?
Schemmel berichtet, was passiert sei, als er einer guten Freundin von seinem Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer“ erzählte: „Sie hat gelacht.“ Das sind die dicken Bretter, die es zu bohren gilt.
Transparenzhinweise:
Das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Männer in Partnerschaften“ wurde mit Mitteln der WEISSE RING Stiftung finanziert.
Der WEISSE RING war auch bei der Präsentation der Ergebnisse in Hannover involviert; die stellvertretende Bundesvorsitzende des Vereins, Petra Klein, moderierte die Podiumsdiskussion.
Die im Text zu Beginn jedes Kapitels abgedruckten Betroffenen-Zitate sind dem KFN-Forschungsbericht entnommen.
René Pickhardt, der als Betroffener im Text seine Geschichte erzählt, war auch Protagonist der Radio-Features „Du darfst kein Opfer sein – Wenn Männer unter häuslicher Gewalt leiden“ des Deutschlandfunks. Der Beitrag gewann 2017 den mittlerweile eingestellten Journalistenpreis des WEISSEN RINGS.
Beim WEISSEN RING melden sich größtenteils Frauen auf der Suche nach Unterstützung. Das gilt ganz besonders nach häuslicher Gewalt: 2023 waren 93,8 Prozent der Hilfesuchenden weiblich und nur 6,2 Prozent männlich.
Vielleicht wollten die Forscher aus Niedersachsen deshalb nicht einfach nur nackte Zahlen und Fakten vorlegen. Bei einem Fachtag mit Expertinnen und Experten aus Bereichen wie Opferhilfe, Kriminalprävention und Psychologie erarbeiteten sie acht „Handlungsempfehlungen“, die Eingang in die Studie fanden. Darunter finden sich zum Beispiel Vorschläge wie:
• der Ausbau des Beratungsangebots für Männer,
• die Schaffung von Männerhäusern,
• eine Kampagne, die die Öffentlichkeit für das Thema Partnerschaftsgewalt auch gegen Männer sensibilisiert.
„Ja“, sagt Björn Süfke von „man-o-mann“, „ich habe die Handlungsempfehlungen gelesen. Das ist perfekt!“ Er lächelt, dann sagt er: „Aber sieben der acht Punkte kosten Geld.“
Aktuell stehe Mann noch ganz am Anfang. Süfke nennt ein Beispiel, die Männerberatung in Deutschland. „Wir sind so klein“, sagt er. Wenn die Beratungsstelle eine Pressemitteilung veröffentliche, kämen am nächsten Tag dreimal so viele Anrufe rein. „Die kommen aber nicht durch“, sagte Süfke. Weil es nur eine einzige Leitung mit einem einzigen Berater gebe.
VII. Miteinander, nicht gegeneinander
"Da sagte sie: Ja, ich könnte Ihnen jetzt zehn Frauenberatungsstellen nennen in der Umgebung, wo ich Sie hinschicken könnte, aber für Männer weiß ich gar nichts."
Deniz, Betroffener von Partnerschaftsgewalt
Die achte Empfehlung in der KFN-Studie lautet: „Beim Kampf gegen Partnerschaftsgewalt dürfen nicht beide Geschlechter gegeneinander ausgespielt werden.“
In Berlin, seinem Wohnort, sitzt Studienleiter Jonas Schemmel, 36 Jahre alt, vor seinem Rechner. Wegen des Bahnstreiks ist das Interview ins Internet verlagert, und er sagt in die Kamera: „Gewalt gegen Männer macht Gewalt gegen Frauen nicht ungeschehen und andersherum.“ Er kennt die „sehr kontroversen Diskussionen“ und Vergleiche zwischen Gewalt gegen Frauen und gegen Männer. Zur Frontenbildung wollten die Wissenschaftler mit ihrer Untersuchung keinesfalls beitragen, im Gegenteil. Der Psychologe weist noch einmal ausdrücklich auf die Perspektive der Opfer hin: „Es hilft einem gewaltbetroffenen Mann ja nicht, wenn er hört: Na ja, aber das ist relativ selten und meistens sind ja die Frauen die Opfer.“
Es hilft einem männlichen Opfer auch nicht bei der Suche nach Unterstützung, wenn er Beratungsstellen für Frauen, Hilfetelefone für Frauen oder Gewaltfrei-Apps für Frauen findet. Es hilft ihm nicht, wenn die zuständigen Behörden erst auf Nachfrage sagen, das Thema Gewalt gegen Männer würde bei ihnen „mitbehandelt“ (Innenministerium Sachsen-Anhalt). Oder wenn Frauenministerin Lisa Paus auf Nachfrage erklärt, die Unterstützung von Gewaltbetroffenen schließe „selbstverständlich“ auch männliche Opfer mit ein.
Im Café am Mainzer Schillerplatz sagt René, er wünsche sich für Deutschland ein „geschlechtersensibles“ Hilfesystem wie in Norwegen. Wer dort zum Beispiel als Gewaltbetroffener die Internetseite des Krisenzentrums der Region Gjøvik aufrufe, findet sofort eine Weiterleitung zu einem Bereich für Frauen, für Männer und für Kinder. Über dem Bereich „Männer“ steht: „Männer, die Opfer von Gewalt geworden sind, bezeichnen die psychische Gewalt oft als das Schlimmste. Väter leben oft um der Kinder willen in solchen Beziehungen, oft haben sie Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird oder dass sie die Fürsorge für die Kinder verlieren.“
René machte eine Therapie. Eine Zeitlang schrieb er Blogartikel und Gastbeiträge für Zeitungen, heute gibt er Interviews und zeigt sein Gesicht bei Kampagnen gegen häusliche Gewalt. Einmal, er lebte noch in Deutschland, stand ein Hasskommentar unter einem YouTube-Video, das er aufgenommen hatte. Sinngemäß hieß es darin, alle Männer sollen sterben. „Ich bin ja durchaus für freie Meinungsäußerung, aber das war zu viel“, sagt René. Er ging zur Polizei, stand vor einer Polizistin. „Die Polizistin hat erst mal gegrinst, als sie den Kommentar gelesen hat. Ich musste dann schon sehr lange darauf pochen, dass die Anzeige aufgenommen wird.“
Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa
Datum: 15.03.2024
Wie die Fußfessel Frauen besser schützen könnte
Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend zu den Themen Gewalt gegen Frauen und elektronische Aufenthaltsüberwachung recherchiert und eine Art Lagebild erstellt.
Mainz – Ein Donnerstagabend im Juli 2021. Fast 40-mal sticht ein Mann auf offener Straße auf eine Frau ein, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retten ihr das Leben.
Die Überlebende: Frau S.
Der Täter: ihr Ehemann.
Es war eine Tat mit Ankündigung. Nach der Trennung hatte der Mann Frau S. beleidigt, gestalked und bedroht, „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Auch eine Bewährungsstrafe stoppte ihn nicht. Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon.
Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Männern zu schützen, das ist das Ziel von gerichtlichen Annäherungs- und Kontaktverboten. Aber die werden in Deutschland tausendfach ignoriert – und Frauen deshalb bedroht, verletzt oder sogar getötet. Allein im Jahr 2022 wurden hierzulande 133 Frauen Opfer.
Monatelang hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend zu den Themen Gewalt gegen Frauen und elektronische Aufenthaltsüberwachung recherchiert und eine Art Lagebild erstellt. Wie machen es die Spanier? Wie ist die Situation in Deutschland? Was müssen Betroffene aushalten? Wäre das spanische Modell auch in unserem Land möglich?
Die wichtigsten Erkenntnisse unseres Reporter-Teams:
1) Frauen erleben täglich Gewalt durch (Ex-)Partner. Oft endet diese tödlich.
Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Jeden Tag versucht ein (Ex-)Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem (Ex-)Partner, eine Frau zu töten. 2022 starben 133 Frauen durch ihre (Ex-)Partner.
2) Kontaktverbote sollen die Frauen schützen, aber viele Gewalttäterignorieren dies – immer häufiger.
6.587 Verstöße gegen gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote erfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2022. Im Jahr 2017 waren es 5.932 Verstöße. Das ist ein Anstieg von elf Prozent binnen fünf Jahren.
3) Niemand überwacht die Männer, gegen die ein Annäherungsverbot angeordnet wurde.
Gerichte beschließen Kontakt- und Annäherungsverbote wegen der Dringlichkeit häufig sogar im Eilverfahren. Aber im Anschluss wird den Gewalttätern der Beschluss einfach zugestellt, manchmal nur „durch Einlegen in den Briefkasten“. Eine Überwachung der Gefährder durch den Staat findet nicht statt.
4) Jedes Jahr sterben Dutzende Frauen durch Männer, die sich ihnen nie hätten nähern dürfen.
Offizielle Zahlen zum Zusammenhang von Tötungen und bestehenden Gewaltschutzanordnungen gibt es nicht. Unsere Redaktion hat deshalb mittels einer Datenrecherche im Internet nach Hinweisen gesucht – und sie fand 109 verschiedene, im Jahr 2023 veröffentlichte Presseartikel über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden von Männern, gegen die sie zuvor ein Kontakt- oder Annäherungsverbot erwirkt hatten.
5) Spanien zeigt, wie sich Frauen besser schützen lassen: mittels elektronischer Aufenthaltsüberwachung.
Seit 2009 setzt Spanien die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Das spanische Modell gilt als zu 100 Prozent erfolgreich: Im Rahmen des Schutzprogrammes ist keine einzige Frau getötet worden. Frankreich hat das spanische Modell bereits übernommen, in der Schweiz läuft ein Pilotprojekt.
6) In Deutschland gibt es keine vergleichbare Überwachung.
Die Justizministerkonferenz der Bundesländer hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der Fußfessel bundesweit rechtlich gekoppelt werden können. Im November 2023 befand das Ministerium den Vorschlag als „nicht geeignet“. Buschmann gab das Thema zurück an die Länder und verwies darauf, dass schon jetzt die Polizeigesetze einiger Länder Fußfessel-Anordnungen ermöglichten.
7) Derzeit ist der Fußfessel-Einsatz bei häuslicher Gewalt in nur sieben Bundesländern theoretisch möglich.
Nach der derzeitigen Rechtslage ist eine Fußfessel-Anordnung gegen Gewalttäter nur als kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahme für Opfer von Partnerschaftsgewalt erlaubt – in nur sieben Ländern und zumeist nur für wenige Tage. Annäherungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewaltschutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.
8) Praktisch wird die Möglichkeit kaum genutzt, die rechtlichen Anforderungen sind extrem hoch.
Nordrhein-Westfalen etwa hat noch nie von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Fußfessel gegen Gewalttäter einzusetzen. In Hamburg gab es einen einzigen Versuch. Und obwohl hier ein Mann eine Frau etliche Male gestalkt, bedroht und geschlagen hatte, kippte ein Gericht die Anordnung.
Transparenzhinweis:
In seinen Strafrechtrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen.