„Uns ist kein Fall bekannt, indem eine Benutzerin des Systems körperlich angegriffen wurde“

Erstellt am: Montag, 25. November 2024 von Selina

„Uns ist kein Fall bekannt, indem eine Benutzerin des Systems körperlich angegriffen wurde“

Teresa Peramato ist Staatsanwältin bei der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Gewalt an Frauen in der spanischen Hauptstadt Madrid. Im Interview erklärt sie den Erfolg des spanischen Modells für den Opferschutz, die abschreckende Wirkung und das Sicherheitsgefühl der teilnehmenden Frauen.

Elektronische Fußfessel spanisches Modell - Teresa Peramato.

Teresa Peramato, Staatsanwältin bei der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Gewalt an Frauen in Madrid.

Frau Peramato, seit Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Fällen häuslicher Gewalt im Jahr 2009 wurde in Spanien keine Frau getötet, die an dem Modell teilgenommen hat. Was macht es so erfolgreich?

Seit der Einführung des telematischen Näherungsdetektors hat sich in der Tat kein Frauenmord an Nutzerinnen dieses Geräts ereignet. Der Grund dafür liegt in der Wirksamkeit des Geräts, das die Kontrolle der Näherungsverbote in dem im Gerichtsbeschluss festgelegten Abstand gewährleistet und bei Annäherung der Person an diese Ausschlusszonen einen Alarm auslöst. Die „Cometa-Zentrale“, die die Geräte verwaltet, koordiniert dann die weiteren Schritte: mit dem Opfer selbst, damit es seine eigenen Schutzmaßnahmen ergreifen kann, mit den Sicherheitskräften und ­-organen, die sich sofort zum Opfer begeben, um es zu schützen – und zum potenziellen Angreifer, um ihn gegebenenfalls sofort festzunehmen. Dieses Instrument ist aber nicht nur ein wirksames Mittel zur Kontrolle der Einhaltung von einstweiligen Verfügungen, unabhängig davon, ob es sich um Strafen oder Sicherungsmaßnahmen handelt, sondern es hat auch eine wichtige abschreckende Wirkung.

Elektronische Fußfessel nach dem spanischem Modell.

Foto: Christian J. Ahlers

Inwiefern?

Bei Verstößen gegen das in der gerichtlichen Entscheidung festgelegte Näherungsverbot erzeugt das System nicht nur die oben erwähnten Alarme und die Reaktion der Zentrale zum wirksamen Schutz des Opfers, sondern auch eine Dokumentation, die ein unanfechtbarer Beweis für den Verstoß gegen das Näherungsverbot ist. Dieser Verstoß stellt eine Straftat dar, die in unserem Strafgesetzbuch mit einer Strafe von bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet wird. Darüber hinaus begeht der Benutzer, wenn er die Regeln für die Wartung und das ordnungsgemäße Funktionieren des Geräts nicht einhält, eine weitere Straftat, die ebenfalls in unserem Strafgesetzbuch mit einer Geldstrafe geahndet wird.

Spanische Frauen demonstrieren gegen Machismo. Nun soll eine elektronische Fußfessel vor Gewalt schützen.

So funktioniert die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Spanien

Spanien gilt als Vorreiter bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Mit GPS-gestützten Armbändern schützt das Land Opfer vor Gewalttätern. Ist das spanische Modell ein Vorbild für Deutschland?

Fühlen sich die Frauen Ihrer Erfahrung nach sicherer?

Im Allgemeinen fühlen sich Frauen, die dieses Gerät benutzen, viel sicherer und geschützter; das System ist sehr zuverlässig. Damit die Fußfessel ordnungsgemäß funktioniert, ist die Mitarbeit des Opfers gefragt, das sein GPS-Gerät zu jeder Zeit und an jedem Ort tragen muss, um seinen Schutz zu gewährleisten.

Gab es trotz der Fußfessel Verstöße gegen Annäherungs- und Kontaktverbote, und wurden Frauen dadurch verletzt?

Der Staatsanwaltschaft ist kein Fall bekannt, in dem eine Benutzerin des Systems in irgendeiner Weise körperlich angegriffen worden wäre.

Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Erstellt am: Donnerstag, 22. August 2024 von Sabine

Foto: Christoph Klemp

Datum: 22.08.2024

Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals "offen" gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt.

Mainz – Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals „offen“ gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt. „Auch Regelungen im Gewaltschutzgesetz kann ich mir grundsätzlich vorstellen”, sagte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit Fußfesseln können die Behörden überwachen, ob sich Gefährder trotz gerichtlicher Kontaktverbote den Betroffenen nähern. Recherchen des WEISSEN RINGS haben gezeigt, dass Gewalttäter in Deutschland jährlich tausendfach gegen solche Anordnungen verstoßen und es dadurch immer wieder zu schweren Verletzungen und sogar Tötungen kommt.

Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, fordert deshalb schon lange eine Aufnahme der elektronischen Überwachungsmöglichkeit ins Gewaltschutzgesetz. Im Dezember 2023 hatte Dr. Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, einen entsprechenden Brandbrief an Minister Buschmann geschickt. Liesching wies darauf hin, dass in Deutschland an jedem dritten Tag ein (Ex-)Partner eine Frau töte, und schrieb: „Was mich besonders erschüttert: Viele dieser Frauen hatten sich vor der Tat hilfesuchend an den Staat gewandt.“ Er sei der Überzeugung, „dass der deutsche Staat Frauen besser schützen kann, als er es derzeit tut“. Erst vor wenigen Tagen stellte Liesching gemeinsam mit Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU) eine Bundesratsinitiative des Landes vor, mit der das Gewaltschutzgesetz erweitert werden kann.

Bislang hatte Bundesjustizminister Buschmann allerdings ablehnend auf derartige Forderungen reagiert. So antwortete sein Haus Ende 2023 auf eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“.

Mit Blick auf die aktuellen Äußerungen Buschmanns im RND-Interview sagte Patrick Liesching am Donnerstag: „Wir freuen uns sehr, dass sich nunmehr auch der Bundesjustizminister für eine bundesrechtliche Regelung beim Fußfessel-Einsatz gegen Gewalttäter öffnet. Jetzt hoffen wir im Interesse der schutzbedürftigen Frauen, dass die hessische Bundesratsinitiative schnell zu der längst überfälligen Gesetzesänderung führt.“

Wie die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gewalttätern bedrohte Frauen schützen kann, zeigt seit Jahren das Beispiel Spanien. Der WEISSE RING und die hessische Bundesratsinitiative regen ein solches Modell auch für Deutschland an.

“Es wird höchste Zeit“

Erstellt am: Freitag, 16. August 2024 von Sabine

Foto: WEISSER RING e. V.

Datum: 16.08.2024

“Es wird höchste Zeit“

Hessens Justizminister Heinz besucht den WEISSEN RING in Eschborn und stellt Pläne zum besseren Schutz von Frauen gegen Gewalt vor.

Eschborn – Der hessische Justizminister Christian Heinz (CDU) hat am dritten Tag seiner „Rechtsstaats-Tour“ durch Hessen den hessischen Landesverband des WEISSEN RINGS in Eschborn besucht. Im Gespräch Dr. Patrick Liesching, Vorsitzender des WEISSEN RINGS im Bund und in Hessen, und der ehrenamtlichen Opferhelferin Ingeborg Altvater ging es um den besseren Schutz von gewaltbetroffenen Frauen durch den Einsatz von elektronischer Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel). Die hessische Landesregierung hat eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, eine entsprechende Regelung in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann stellt sich dem bislang entgegen.

„Statistisch gesehen findet in Deutschland jeden Tag der Versuch einer Tötung einer Frau statt, jeden dritten Tag kommt es auch zu einer Vollendung einer Tötung. Das ist etwas, das mich persönlich sehr bewegt, weil ich auch als Staatsanwalt solche Fälle hatte. Und wenn man dann in die Details geht, die da ermittelt werden, die Betroffenheit von Angehörigen, von Kindern, von Waisen oder Halbwaisen sieht, dann ist das etwas, das einen nicht kalt lässt und das einen hohen Handlungsdruck erzeugt“, sagte Liesching zu Beginn des Gespräches. „Deswegen begrüße ich die Initiative von Justizminister Heinz außerordentlich.“

Die Bundesratsinitiative sieht unter anderem vor, die elektronische Fußfessel durch eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes bundesrechtlich zu verankern. „Momentan gibt es lediglich nach den Polizeigesetzen der Länder die Möglichkeit, dass Betroffene von häuslicher Gewalt durch die elektronische Fußfessel bei den Tätern nur kurzfristig und vorübergehend geschützt werden, eben bis gerichtliche Maßnahmen greifen. Um eine dauerhafte und nicht nur kurzfristig wirkende Möglichkeit zu haben, gerichtliche Kontakt- oder Näherungsverbote mit einer Fußfessel zu kontrollieren, muss die Fußfessel ins Gewaltschutzgesetz aufgenommen werden“, sagte der Justizminister.

Dr. Patrick Liesching richtet Forderungen an die Bundespolitik. Foto: WEISSER RING

Eine bundeseinheitliche Regelung zur präventiven, elektronischen Aufenthaltsüberwachung fordert der WEISSE RING seit Jahren. „Es ist höchste Zeit, dass der Bundesgesetzgeber endlich wirksame Instrumente schafft, um der Gewalt durch (Ex-)Partner zu begegnen. Die bisherigen Regelungen des Gewaltschutzgesetzes sind nicht ausreichend. Modelle zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Spanien und anderen europäischen Ländern zeigen eindrucksvoll, dass man solche Tötungen erfolgreich und effektiv verhindern kann. Deshalb kann ich die ablehnende Haltung von Bundesjustizminister Buschmann in keiner Weise nachvollziehen“, so Liesching.

Marco Buschmann hat sich in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur im vergangenen Juli gegen eine einheitliche Regelung ausgesprochen, wofür ihn der WEISSE RING scharf kritisierte. Der FDP-Politiker sieht zwar ebenfalls eine Notwendigkeit, den Schutz vor Gewalt durch Partner beziehungsweise Ex-Partner zu verbessern. Länder, die dafür elektronische Fußfesseln nutzen wollten, könnten dies aber selbst regeln, sagte Buschmann im Interview.

In Hessen ist der Einsatz von Fußfesseln zum Schutz vor gewalttätigen (Ex-)Partnern möglich. „Die Praxis hat aber gezeigt, dass das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, was das sogenannte HSOG ist, ein sehr schwaches Schwert ist“, so Justizminister Christian Heinz im Gespräch mit dem WEISSEN RING. Das Tragen einer Fußfessel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr sei nur für zwei bis maximal drei Wochen rechtlich zulässig. Recherchen des WEISSEN RINGS haben außerdem gezeigt, dass der Anordnung einer Fußfessel nach dem Landespolizeigesetz häufig sehr hohe rechtliche Hürden entgegenstehen und dies bislang nur in wenigen Bundesländern überhaupt möglich ist.

Einen kleinen, aber doch sehr bedrückenden Einblick in die Lage von häuslicher Gewalt betroffener Menschen, brachte die Außenstellenleiterin des Main-Taunus-Kreises im WEISSEN RING, Ingeborg Altvater. Sie berichtet: „Wenn Frauen es geschafft haben, sich aus einer gewaltsamen Beziehung zu trennen, dann hört das Leid nicht auf, sondern die Frauen leben unserer Erfahrung nach dann in einer Situation, die voll von Angst, von Bedrohungen, von Unsicherheit ist. Konkret sieht es dann so aus, dass sich die Frauen immer mehr zurückziehen. Sie leben teilweise in abgedunkelten Räumen, sperren sich da ein, verbarrikadieren sich, denn sie müssen immer wieder erleben, dass trotz Annäherungsverboten der gewalttätige Ex-Partner sich ihnen nähert.“ Der Einsatz einer Fußfessel würde die Situation der Frauen dramatisch verbessern, davon ist die Außenstellenleiterin überzeugt. „Wir wollen häusliche Gewalt konsequent bekämpfen. Die Bundesregierung muss jetzt endlich handeln“, so der hessische Justizminister in Eschborn. Laut Christian Heinz hat die aktuelle Bundesregierung noch ein Jahr und damit ausreichend Zeit, ein Bundesgesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zu Ende zu bringen.

Lebensrettende Fußfessel

Erstellt am: Dienstag, 5. Dezember 2023 von Karsten

Lebensrettende Fußfessel

Frauen vor ihren gewalttätigen (Ex-)Männern zu schützen, das ist das Ziel von gerichtlichen Annäherungsverboten. Aber die werden in Deutschland tausendfach ignoriert – und Frauen deshalb bedroht, verletzt, getötet. Dabei könnten diese Frauen geschützt werden. Spanien macht vor, wie es funktionieren kann, während sich in Deutschland Bund und Länder gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Eine Recherche aus der Redaktion des WEISSEN RINGS.

Elektronische Fußfessel nach spanischem Modell: Eine Grafik von zwei Beinen. Eine Frau steht gegenüber einem Mann, der eine Fußfessel trägt.

Wie der Staat Frauen besser vor Gewalt schützen könnte.

I. Die rote Warnlampe

Frau S. reicht zur Begrüßung die linke Hand, ihr rechter Arm ist taub seit dem Messerangriff. Fast 40-mal stach ihr Ehemann auf sie ein, nachdem er ihr an jenem Donnerstagabend im Juli 2021 auf offener Straße aufgelauert hatte. Ihr Körper ist nun narbenübersät, am Arm, auf dem Bauch, im Gesicht, aber die tiefsten Narben trägt Frau S. unter der Haut: Sie schläft schlecht, sie verlässt kaum das Haus, in ihr tobt permanent die Angst. „In meinem Kopf brennt immer eine rote Warnlampe“, sagt sie: „Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr! Außenwelt Gefahr!“

Trotzdem ist Frau S., 49 Jahre alt, heute zum Gespräch ins Germersheimer Stadthaus gekommen. Ihre Tochter hat sie mit dem Auto hergefahren, damit die Mutter nicht allein durch die Außenwelt gehen muss. „Ich will, dass die ganze Welt meine Geschichte hört“, sagt Frau S.

Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Und das sind nur die bekannten Fälle, die der Polizei angezeigt werden; das Dunkelfeld ist Schätzungen zufolge vier- bis fünfmal so groß. Eigentlich muss der Satz lauten: Alle 45 Sekunden wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt.

Für viele Frauen endet diese Gewalt tödlich. Jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau umzubringen. An jedem dritten Tag gelingt es einem Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. Im vergangenen Jahr waren es 133 tote Frauen.

Essen (Nordrhein-Westfalen), Januar 2023

Eine 50-jährige Frau wird von ihrem Schwiegersohn mit dem Küchenmesser erstochen; ihre Tochter hatte sich wenige Tage zuvor von dem Mann getrennt und war zu ihrer Mutter gezogen. Wegen gewaltsamer Übergriffe gab es gegen den Mann ein gerichtliches Annäherungsverbot.

Häufig hatten sich die Frauen vor der Tat hilfesuchend an die Behörden gewandt. Oft sprach ein Gericht ein Kontakt- und Näherungsverbot gegen den prügelnden oder drohenden Mann aus, manchmal per Eilentscheid noch am Tag der Antragstellung. Doch die Gewalttäter ignorieren diese Verbote immer häufiger. Die offizielle Kriminalstatistik notierte im Jahr 2017 für Deutschland 5.932 Fälle, in denen gegen eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz verstoßen wurde. Im Jahr 2022 waren es 6.587 Verstöße, ein Anstieg um elf Prozent binnen fünf Jahren.

Wie oft es trotz eines bestehenden Kontaktverbots zu einer schweren Gewalttat bis zum Mord kam, erfasst die Kriminalstatistik nicht. Auch eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS an die einzelnen Bundesländer brachte kein Ergebnis. Wir haben deshalb versucht, uns mittels einer aufwändigen Google-Recherche einen Eindruck von der Dimension zu verschaffen. Dabei haben wir nach im Jahr 2023 veröffentlichten Presseartikeln gesucht, in denen über schwerste Gewalttaten gegen Frauen im Zusammenhang mit einem bestehenden Kontaktverbot berichtet wird. Zum Zeitpunkt unserer Suche Mitte Oktober 2023 waren 109 verschiedene Texte online über Frauen in ganz Deutschland, die getötet wurden – von Männern, die sich ihnen laut Gerichtsbeschluss nie hätten nähern dürfen.

Sembach (Rheinland-Pfalz), Februar 2023

Eine 48-jährige Frau stirbt, nachdem ihr Mann ihr im Auto auflauerte, ihren Wagen auf einer Hauptstraße rammte und sie mit 15 Schüssen tötete. Das Opfer hatte nach der Trennung ein Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Ex-Partner erwirkt.

II. „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“

Frau S. war 14, als sie ihrem Mann versprochen wurde. Mit 15 heiratete sie, mit 16 bekam sie das erste Kind. Drei weitere Kinder folgten. Die Kinder, sie sind ihr Ein und Alles, Frau S. erzählt viel von ihnen. „Nur ihretwegen habe ich das alles 30 Jahre lang ertragen“, sagt sie. Sie meint die Angst vor ihrem Mann. Den ständigen psychischen Druck. Die Ehe, die sie nie wollte.

Als die Kinder erwachsen waren, wollte Frau S. sich trennen. 2019 erfuhr ihr Mann von ihren Scheidungsplänen, er griff sie körperlich an. Die Situation eskalierte. Frau S. zeigte ihn an, immer wieder. Die Polizei verwies ihn der Wohnung. Nachts um drei brach der Mann wieder ins Haus ein, er hatte eine Schusswaffe dabei. Der Sohn rang den Mann nieder, „Mama, geh weg! Er hat eine Waffe!“, schrie er.

Der Sohn baute ein neues Sicherheitsschloss ein, der Mann versuchte mehrfach, sich bei der Sicherheitsfirma den Zugangscode zu erschleichen. Er bedrohte Frau S., „ich werde dich erschießen, und dann erschieß ich mich“. Er stalkte sie, saß am Straßenrand im Auto und beschimpfte sie: „Hure! Schlampe!“ Er tauchte bei der Arbeit im Markt auf, er bekam Hausverbot. Er ortete ihr Auto mit einem GPS-Gerät. Er verfolgte sie und versuchte sie von der Straße zu drängen. Frau S. erwirkte Annäherungs- und Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz, der Mann hielt sich nicht daran, das Stalking ging weiter. Ein Gericht verurteilte ihn deswegen zu neun Monaten Haft auf Bewährung, er hörte auch danach nicht auf.

Elektronische Fußfessel liegt auf einem Tisch. Davor steht ein Laptop und auf dem Bildschirm sieht man geografische Angaben.

Auf dem Monitor können die Überwacher Verbotszonen sehen, aber auch Details wie die Geschwindigkeit, mit der die Fußfessel bewegt wird. Foto: Christoph Klemp

In Rheinland-Pfalz gibt es ein sogenanntes Hochrisikomanagement für schwere Fälle von häuslicher Gewalt. Der Fall S. galt längst als Hochrisikofall. Bei der letzten Risikokonferenz war auch wieder Heinz Pollini dabei, Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS in Germersheim. Er erinnert sich: „Alle sagten: Da wird etwas passieren.“

Nur wenige Wochen nach der Konferenz stach der Mann Frau S. auf offener Straße nieder, nur eine Notoperation und das beherzte Eingreifen eines Passanten retteten ihr das Leben.

 

„Warum ist so eine Tat nicht zu verhindern?“

Fragt Frau S.

Frau S. ist kein Einzelfall, ihr Überleben schon. In Berlin hatte sich die sechsfache Mutter Zohra Mohammad Gul mehrfach an die Behörden gewandt, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt erstattet und eine Gewaltschutzanordnung für ihren Ex-Mann erwirkt. Trotzdem wurde sie am 29. April 2022 von ihm in Pankow mit 13 Messerstichen und -schnitten ermordet. Die Geschwister der Getöteten schrieben in einem offenen Brief: „Unserer Schwester wurde der Schutz verwehrt, der ihr das Leben hätte retten können und der ihren Kindern die traumatische Erfahrung des Verlusts erspart hätte.“

Ein Kontakt- und Annäherungsverbot gab es auch im Fall des Zahnarztes, der am 19. Mai 2021 in Dänischenhagen bei Kiel seine getrennt lebende Ehefrau mit 50 Schüssen aus einer Maschinenpistole niedermetzelte und zwei weitere Männer tötete – den neuen Lebensgefährten und einen gemeinsamen Bekannten, den er wohl für die Trennung verantwortlich gemacht hatte. Der Täter wurde wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt. Vor den Morden – so wurde es im Gericht vorgetragen – hatte er seiner Ex-Partnerin nachgestellt, ihr Auto mit einem GPS-Sender verfolgt und das Annäherungsverbot einfach ignoriert.

In Freiburg stellte eine Gerichtsvollzieherin im Mai 2017 einem drohenden Mann ein im Eilverfahren beschlossenes Kontakt- und Annäherungsverbot „durch Einlegen in den Briefkasten“ zu. Nur wenige Wochen später rammte der Mann auf offener Straße den Wagen seiner Ex-Partnerin Anne, erstach zunächst sie und anschließend den gemeinsamen vierjährigen Sohn Noah, der auf dem Rücksitz saß.

Frankfurt am Main (Hessen), Juli 2023

Eine dreifache Mutter (40) wird im Stadtteil Frankfurter Berg von ihrem Ehemann getötet. Zwei Monate zuvor hatte das Amtsgericht Frankfurt ein Annäherungs- und Kontaktverbot gegen den gewalttätigen Mann beschlossen.

Die Berliner Opferrechtsanwältin Asha Hedayati schreibt in ihrem Buch „Die stille Gewalt – Wie der Staat Frauen alleinlässt“: „Demonstrierende Klimaaktivist*innen werden in Präventivhaft genommen, und es ist frustrierend zu sehen, dass der Staat sich in manchen Bereichen sehr konsequent zeigen kann. Wenn Mandant*innen nach der Trennung von ihrem Ex-Partner gestalkt und bedroht werden und sich an die Polizei wenden, hören sie fast immer, es müsse ,erst etwas passieren‘, bevor sie aktiv werden könne.“

Christina Clemm ist Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und vertritt seit fast dreißig Jahren Gewaltopfer. In ihrem aktuellen Buch „Gegen Frauenhass“ schreibt sie über Gewaltschutzanordnungen: „Es gibt Täter, die halten sich daran. Meist sind es die, die nicht besonders gefährlich sind. Die anderen verstoßen dagegen, erhalten eine Strafanzeige nach der anderen, ein Ordnungsgeld nach dem anderen. Bezahlen Ordnungsgelder, warten auf Strafverfahren und machen weiter.“ Einmal, schreibt Clemm, habe sie für eine Mandantin 85 Strafanzeigen erstattet. „Es half gar nichts.“

III. Alarm im Hochsicherheitstrakt

Es wäre falsch zu sagen, niemand habe Frau S., ihre Angst und die Drohungen ihres Mannes ernst genommen. Die Polizei kam wieder und wieder. „Er ist gefährlich“, sagte schließlich ein Polizist zu ihr, „Sie müssen hier weg.“ Frau S. kam in ein Schutzprogramm. Sie musste ihr Mobiltelefon abgeben, Polizisten brachten sie an einen unbekannten Ort.

Es gibt zwei Sachen im Leben, die Frau S. wirklich wichtig sind. Die erste Sache ist ihr Job im Markt. Die zweite und noch wichtigere Sache sind ihre Kinder. Im Schutzprogramm durfte Frau S. nicht mehr arbeiten, und sie durfte ihre Kinder nicht mehr sehen. Sie konnte lediglich mit ihnen telefonieren, nicht einmal Videoschaltungen durfte sie nutzen. Jeden Tag rief sie an. „Ich musste ihre Stimmen hören“, sagt sie. „Ich hatte so Angst, dass er ihnen etwas antut, wenn er mich nicht kriegen kann.“ Jeden Tag weinte sie. „Der Preis für den Schutz der unschuldigen Frauen ist viel zu hoch“, sagt sie.

Der WEISSE RING hat 2021 den Freiburger Mordfall Anne und Noah zum Anlass genommen, einen Brandbrief an 70 hochrangige Politiker zu schreiben, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz schützen niemanden, wenn sie nicht kontrolliert werden“, hieß es in dem Schreiben. Der Verein forderte die Politik zum sofortigen Handeln auf und empfahl dringend eine elektronische Aufenthaltsüberwachung für Gewalttäter, landläufig „Fußfessel“ genannt, nach dem Vorbild Spaniens.

Der Einsatz der elektronischen Fußfessel ist in Deutschland seit 2011 im Rahmen der sogenannten Führungsaufsicht erlaubt, um Gewalt- und Sexualstraftäter nach Verbüßung ihrer Haftstrafen oder ihrer Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu überwachen, sofern von ihnen noch eine Gefahr ausgeht. Die bis dahin übliche deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 für rechtswidrig erklärt. Zwei Jahre später bewertete auch das Bundesverfassungsgericht die Regelungen als verfassungswidrig. In Deutschland mussten Dutzende Sexual- und Gewaltstraftäter in die Freiheit entlassen werden, obwohl sie weiter als gefährlich galten. Sie wurden damals rund um die Uhr von der Polizei überwacht. Die elektronische Fußfessel sollte für Entlastung sorgen.

Seit dem Neujahrstag 2012 überwacht die Gemeinsame Überwachungsstelle der Länder (GÜL) alle Personen, die in Deutschland eine Fußfessel tragen. Ursprünglich in Bad Vilbel, Hessen, gegründet, zog die GÜL in ein Hochsicherheitsgefängnis in Weiterstadt um, als sie damit begann, auch islamistische Gefährder zu überwachen. Dieser Umzug auf die grüne Wiese in der Nähe von Darmstadt war aus Sicherheitsgründen notwendig.

Bei der Anfahrt zur GÜL steigt Besuchern der beißendsüßliche Geruch des nahen Kompostwerks in die Nase. An der Pforte müssen sie Ausweis und Autoschlüssel abgeben, Smartphones sind verboten. GÜL-Leiterin Alma Friedrichs muss auf dem Weg in ihr Büro mit einem großen Schlüssel schwere Gittertüren auf- und hinter sich wieder zuschließen. Im Innenhof der JVA erinnern aufgetürmte Mauerreste an einen Anschlag im Jahr 1993. Damals hatten RAF-Terroristen den nahezu fertigen JVA-Bau in die Luft gesprengt.

Bonndorf (Baden-Württemberg), Juni 2023

Eine 35-jährige Frau wird von ihrem Ex-Partner mit mehreren Messerstichen getötet. Erst im Mai 2023 hatte die Frau gegen den Mann ein familiengerichtliches Annäherungsverbot erwirkt.

Die Büros der GÜL befinden sich im ersten Stock des Verwaltungstraktes der JVA. Wären da nicht die Gitter vor den Fenstern, könnte es jedes andere Büro in Deutschland sein. Große Pflanzen auf den Fensterbänken sorgen für eine freundliche Atmosphäre. Ein Mann und eine Frau, die aus Sicherheitsgründen ihren Namen nicht in diesem Text lesen möchten, sitzen in dick gepolsterten Gaming-Stühlen an ihren Schreibtischen. Sie haben jeweils drei Monitore vor sich.

Plötzlich herrscht Hochbetrieb, rote Flecken im Gesicht der Mitarbeiter verraten die Anspannung: Soeben hat eine Fußfessel Alarm geschlagen! Ihr Träger befindet sich an einem Ort, an dem er nicht sein dürfte. Die Mitarbeiterin versucht sofort, ihn über das Handy zu erreichen, das er mit seiner Fußfessel von der GÜL bekommen hat. Doch er geht nicht dran. Also informiert die GÜL die Polizei, gibt die Koordinaten der Fußfessel durch. Dann heißt es: warten.

Der Vorfall lässt sich auf zwei großen Bildschirmen an der Wand neben der Eingangstür beobachten: Zeitstempel des Alarms, Status des Vorfalls, die Fußfesselträger (und nur verschwindend wenige Fußfesselträgerinnen) sind anonymisiert und tragen hier Kürzel wie „BY1234“ oder „NW5432“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen nur das Nötigste über ihre „Probanden“, wie sie die Fußfesselträger nennen. Für den Fall eines Internetausfalls hängen alle notwendigen Akten und Kontaktdaten als Papier-Backup in Hängeregistern im Regal. Die Zentrale ist ganzjährig rund um die Uhr jeweils mit zwei Mitarbeitenden besetzt, zwölf Stunden dauert eine Schicht. „Hier ist sich jeder seiner großen Verantwortung bewusst“, sagt Friedrichs.

Jeder muss in der Lage sein, in wenigen Sekunden von 0 auf 100 zu sein, um bei einem Alarm adäquat reagieren zu können. Bis zu 1.000 Alarme erleben die 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GÜL jeden Monat. Rund 30 davon, schätzt Alma Friedrichs, enden mit einem Polizeieinsatz. Die meisten Alarme gehen auf das Konto schwacher Batterien.

Die elektronische Fußfessel einzusetzen, um Kontakt und Annäherungsverbote nach dem Gewaltschutzgesetz zu überwachen, ist eine politische und rechtliche Frage. „Technisch ist das kein Problem, auch das spanische Modell nicht“, sagt Alma Friedrichs. „Das ließe sich zeitnah hier bei uns in der GÜL einrichten.“ Bei der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) seien die entsprechenden Geräte bereits getestet worden.

Die Polizei meldet sich in der GÜL-Zentrale zurück: Sie hat den vermissten Fußfesselträger angetroffen. Er warte auf den Fahrdienst, der unpünktlich sei. Sein GÜL-Handy habe er in der Einrichtung vergessen, in der er lebe, deshalb habe er den Anruf nicht annehmen können.

Fesseln für mehr Freiheit

Die Diskussion über die elektronische Aufenthaltsüberwachung in Deutschland geht weiter. Das spanische Modell gilt Befürwortern als erfolgreiches Vorbild.

IV. Hunderte gerettete Frauenleben – in Spanien

Frau S. brach das Schutzprogramm nach wenigen Wochen ab. Sie hatte ihren Sohn drei Tage lang nicht erreichen können, sie wurde halb wahnsinnig vor Angst um ihn. Sie fragt: „Warum darf ich meine Kinder nicht mehr sehen? Warum muss ich weg, nicht der Mann? Warum wird er nicht überwacht oder eingesperrt?“

Spanien setzt seit 2009 die GPS-Technologie zur Kontrolle von Gewalttätern ein. Vor allem umfangreiche Studien der spanischen Kriminologin Lorea Arenas García bescheinigen dem Modell großen Erfolg: Es sei im Rahmen des Programms in den ersten zehn Jahren keine Frau getötet worden. Entweder weil die Schutzzone eingehalten worden sei oder weil die Polizei rechtzeitig habe eingreifen können, wenn ein Fußfesselträger die Zone betreten habe. Rund 95 Prozent der zu schützenden Personen hätten zudem angegeben, dass sie sich mit dem Gerät sicher und geschützt gefühlt hätten, beschreibt García. Ihre bislang letzte Studie ist im Jahr 2019 erschienen, dutzendfach zitiert und in Teilen frei im Internet recherchier- und lesbar.

Laut der seriösen spanischen Tageszeitung El País ist das Fußfessel-Programm bis heute zu 100 Prozent erfolgreich. „Die sogenannten Anti-Missbrauchs-Bänder, die die Polizei alarmieren, wenn sich der Täter dem Opfer nähert, wurden bereits in mehr als 12.300 Hochrisikofällen eingesetzt, und keine Frau wurde getötet , während sie es trug“, heißt es dort in einem Artikel vom 25. November 2022. Zum Vergleich schreibt der Autor, dass seit 2006 in Spanien 107 Frauen ermordet worden seien, während eine Schutzanordnung in Kraft war, diese aber nicht mit einer Fußfessel überwacht worden ist.

In Deutschland wird das Instrument der Fußfessel selten genutzt. Seit der Einführung geschah das bis zum 31. Oktober 2023 nur 425-mal, fast ausschließlich im Rahmen der Führungsaufsicht oder bei extremistischen Tätern. Seit 2017 kann die Fußfessel in ganz Deutschland nicht nur verurteilten Straftätern im Zuge der Führungsaufsicht angelegt werden, sondern auch islamistischen Tätern. Weiter darf das Bundeskriminalamt die Fußfessel bei Gefährdern einsetzen, um Terroranschläge zu verhindern.

Wenn es aber um häusliche Gewalt geht wie in Spanien, wird die (Rechts-)Lage unübersichtlich. Bislang kann in solchen Fällen eine elektronische Aufenthaltsüberwachung in sieben Bundesländern angeordnet werden, geregelt ist das rechtlich zumeist über das Polizeigesetz. In einem weiteren Bundesland, in Brandenburg, befindet sich eine solche Regelung aktuell im Gesetzgebungsprozess.

In Hamburg zum Beispiel legt Paragraf 30 des Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei fest, dass zu diesem Mittel gegriffen werden darf, wenn „dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist und die zu verpflichtende Person für die Gefahr verantwortlich ist“. Die Anordnung könne insbesondere mit einem Betretungs-, Aufenthalts-, Kontakt- oder Näherungsverbot verbunden werden.

Aber nur ein einziges Mal ordnete Hamburg seit Ende 2019 das Tragen einer Fußfessel wegen Beziehungsgewalt an. Der vorbestrafte Gewalttäter wehrte sich dagegen vor Gericht – und er bekam recht. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamburg liest sich wie ein Krimi. Das Gericht listet mehr als 20 Gewalttaten, Drohungen und Stalking-Taten des Mannes gegenüber der Frau auf, darunter Faustschläge ins Gesicht und Sätze wie „Ich bring sie um“, außerdem mehr als zehn Anordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz, Haftbefehle und verhängte Bewährungsstrafen. Dennoch kommt das Gericht zu dem Schluss: „Die Voraussetzungen für die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung liegen nicht vor.“

Kiel/Rendsburg (Schleswig-Holstein), September 2023

Die Polizei befreit eine 29-jährige Rendsburgerin in Kiel vom Gelände einer ehemaligen Kaserne. Ihr Entführer hatte zuvor Bilder der gefesselten Frau auf Instagram gepostet. Gegen ihn bestand ein Annäherungs- und Kontaktverbot, weil er die Frau im Frühjahr vergewaltigt und mit einem Cricket-Schläger verletzt haben soll. „Muss das Messer erst stecken, bevor ich keine Angst mehr haben muss?“, hatte die Betroffene im Juli auf Instagram um Hilfe gebeten.

Die Leiterin der Überwachungsstelle, Alma Friedrichs, in ihrem Büro im hessischen Weiterstadt. Im Vordergrund: Fußfesseln. Foto: Christoph Klemp

Vielleicht auch deshalb verweist Jan Hieber, Chef des Landeskriminalamtes Hamburg, im Interview mit dem WEISSEN RING auf die „extrem hohen Hürden“, die mit der elektronischen Fußfessel verbunden sind, und sagt: „In Hamburg treffen wir in der Regel andere Maßnahmen.“

Bayern, Nordrhein-Westfalen und jüngst auch Hessen haben den Einsatz der elektronischen Fußfessel in Fällen häuslicher Gewalt als „gefahrenabwehrrechtliche Maßnahme“ in ihren Landespolizeigesetzen ermöglicht. In Hessen kann seit dem Sommer 2023 nach dem Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen ein polizeilicher Platzverweis mit der Fußfessel verbunden und so konsequenter überwacht werden. Das sind jedoch nur kurzfristige, präventiv-polizeiliche Schutzmaßnahmen für Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerichtliche Kontakt- und Annäherungsverbote nach dem bundesrechtlichen Gewaltschutzgesetz lassen sich damit nicht überwachen.

In Nordrhein-Westfalen hat es in den 47 Kreispolizeibehörden des Bundeslandes seit der Gesetzesnovelle im Jahr 2018 nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem die Polizei die elektronische Fußfessel im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt eingesetzt hat. Dies teilt das Landeskriminalamt auf Nachfrage des WEISSEN RINGS mit.

„Bayern hat nun das schärfste Polizeigesetz in Deutschland“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ im Mai 2018. Tatsächlich nutzt Bayern die elektronische Aufenthaltsüberwachung, im Behördendeutsch kurz EAÜ genannt, von allen Ländern am häufigsten zum Schutz vor Gewalttätern. Seit Einführung gab es in immerhin 24 Fällen „Beschlüsse zur Durchführung einer präventiv-polizeilichen EAÜ“, teilt das Innenministerium in München auf Nachfrage mit. „Insbesondere im Hinblick auf festgelegte Verbotszonen, die der Betroffene nicht betreten darf, stellt sich die Umsetzung der Überwachung der Maßnahme problemlos dar“, heißt es weiter. Die bisherigen Erfahrungen mit der Fußfessel wertet das Ministerium „durchgängig als positiv“.

München (Bayern), November 2023

Bedroht, geschlagen und bestohlen wurde eine Frau im November 2023 durch ihren Ex-Partner, obwohl gegen den Mann seit Juli eine gerichtliche Schutzanordnung bestand. Von August bis Anfang Oktober hatte er wiederholt gegen die Schutzanordnung verstoßen und der Frau das Leben zur Hölle gemacht.

V. Kurz vorm Schreien

Frau S. lebt in Rheinland-Pfalz, in ihrem Fall gab es die Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nicht. Vielleicht wäre sie ein bisschen besser dran gewesen, wenn sie in Bayern gemeldet gewesen wäre. Sehr viel besser wäre sie wohl dran gewesen, wäre sie Spanierin.

Der hessische Justizminister Professor Roman Poseck sagt im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS, er sei offen für das spanische Modell. „Spanien macht gute Erfahrungen mit diesem Modell, und deshalb sollten wir uns damit beschäftigen, weil jede Annäherung auffällt – beispielsweise auch beim Einkaufen oder an anderen Orten“, sagt er. „Warum sollten wir nicht von Spanien lernen und uns die guten Erfahrungen nicht uns zunutze machen?“ Auf Initiative Hessens hat die Justizministerkonferenz den Bundesjustizminister Ende Mai 2023 um Prüfung gebeten, wie Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz mit dem Einsatz der elektronischen Fußfessel bundesweit rechtlich verbunden werden können.

Im November 2023 hat das Haus von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) fertig geprüft. Ergebnis: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre aus Sicht des Ministeriums „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“. Das Ministerium verweist auf die „zeitlichen Verzögerungen“, die die familiengerichtlichen Gewaltschutzanordnungen oft mit sich bringen, und auf die Zuständigkeit der Polizei. „In einigen Polizeigesetzen der Länder ist die Befugnis zur Anordnung einer elektronischen Fußfessel zur Flankierung von Schutzmaßnahmen auch bereits verankert, so in § 34c des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“, schreibt das Ministerium und gibt das Thema damit zurück an die Länder.

Nordrhein-Westfalen. Anzahl der Fußfessel-Anordnungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt: null.

Altena (Nordrhein-Westfalen), August 2023

Eine Polizistin wird durch einen Mann verletzt, der in der Fußgängerzone randaliert. Der Mann war trotz gerichtlichen Annäherungsverbots in einem Geschäft aufgetaucht, in dem seine Ex-Partnerin arbeitet.

Wir haben das Buschmann-Ministerium auch konkret nach dem Vorbild Spanien gefragt. Antwort: „Das von Ihnen angesprochene spanische Modell ist dem Bundesministerium der Justiz bekannt.“

Beim spanischen Modell müssen für die Überwachung beide, Mann und Frau, ein GPS-Gerät tragen: der Mann zwangsweise, die Frau freiwillig. Bei der Frau ist es eine Art Handy. Frau S. sagt: „Aber natürlich hätte ich das gern getragen!“

Der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb) hat sich in einem Positionspapier für den Einsatz der elektronischen Fußfessel ausgesprochen: „Als Straf- wie auch mögliche Präventionsmaßnahme gegen Täter, bei denen der Verdacht auf Gewaltbereitschaft besteht und die bereits gegen eine Gewaltschutzanordnung verstoßen haben, sollte deshalb die elektronische Fußfessel ermöglicht werden. Sie sollte die Behörden alarmieren, sobald der vom Gericht angeordnete Mindestabstand zum (potenziellen) Opfer unterschritten wird.“

Elektronische Fußfessel: Grafik zeigt die Karte von Deutschland und Bundesländer.

Die Anwältin Asha Hedayati schreibt: „Ich bin wütend darüber, dass arme migrantische Frauen noch schlechteren Zugang zu Schutz haben, dass jeden zweiten bis dritten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners stirbt. Der einzige Grund, warum ich nicht regelmäßig in Gerichtsverhandlungen vor Ohnmacht und Wut anfange zu schreien, ist die gut erlernte Fähigkeit, meine Gefühle im Griff zu behalten.“

Der Mann von Frau S. sitzt im Gefängnis, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstraße. Er ist weg, die Angst ist geblieben; das Revisionsverfahren läuft noch. „Er hat gesagt: Du wirst mich niemals los, ich werde immer da sein“, sagt Frau S.

Das Gespräch im Stadthaus ist beendet, Frau S. hat alles gesagt. Sie will nach Hause gehen, „ich schaffe das“, sagt sie. Die Außenwelt ist nur ein paar hundert Meter groß, Germersheim ist eine kleine Stadt, Frau S. hat es nicht weit nach Hause. Auch der Tatort liegt nicht weit entfernt. Eng in ihren dicken Mantel geschnürt, macht sie sich auf den Weg, eine kleine, tapfere Frau mit eingezogenem Kopf. Sie geht eng an den Mauern der Häuser entlang, ihre Schultern berühren fast den Stein.

Transparenzhinweis:
Nachtrag vom März 2024: zukünftig kann die Polizei in Brandenburg einem Täter untersagen, sich dem Opfer zu nähern oder Kontakt mit ihm aufzunehmen. In besonders schwerwiegenden Fällen sollen es außerdem möglich sein, eine elektronische Fußfessel anzuordnen. In seinen Strafrechtspolitischen Forderungen tritt der WEISSE RING seit Jahren dafür ein, die elektronische Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel) bei Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz und bei gewalttätigen Beziehungstätern einzusetzen.

So funktioniert das Schutzprogramm RIGG

Erstellt am: Montag, 29. November 2021 von Torben

So funktioniert das Schutzprogramm RIGG

Als erstes Bundesland in Deutschland installierte Rheinland-Pfalz mit RIGG ein Schutzprogramm für Frauen, die Opfer von Gewalt und Morddrohungen werden. Frauenministerin Katharina Binz sagt: „Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache!“

Foto: Christoph Soeder/ WEISSER RING

Leben Frauen in Rheinland-Pfalz dank RIGG sicherer als in anderen Bundesländern?

Mit dem Rheinland-Pfälzischen Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen (RIGG) verfügen wir bereits über ein gutes Unterstützungssystem für von Gewalt betroffene Frauen. Im Rahmen von RIGG wurden bereits viele Maßnahmen umgesetzt, die auch von der Istanbul-Konvention gefordert werden, wie etwa das wachsende Angebot an Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder sowie die Vernetzung und Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen.

Trotz dieser guten Lage ist uns vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention bewusst, dass es noch einiges zu tun gibt. Zur Erhebung des Umsetzungsstands der Istanbul-Konvention wird derzeit eine Analyse durch ein externes Institut durchgeführt.

Chronik eines angekündigten Todes

#WRstory

https://open.spotify.com/episode/27iIo9u3g9Xnnooilv0BEe?si=tvx78j0VS5m-ne5ZlbDoKQ
Melden sich andere Bundesländer bei Ihnen, um von Ihren Erfahrungen zu profitieren?

RIGG hat nach wie vor bundesweit Vorbildcharakter. Andere Bundesländer interessieren sich immer wieder für unsere Konzepte – so auch für das Hochrisikomanagement.

Das Hochrisikomanagement funktioniert, das hat eine Auswertung durch die Universität Koblenz-Landau ergeben. Wissen Sie, wie viele Frauen Sie in den vergangenen 20 Jahren schützen konnten vor Gewalt oder sogar vor dem Tod?

Katharina Binz, geboren 1983 in Zell an der Mosel, ist seit Mai 2021 Ministerin für Familie, Frauen, Kultur und Integration des Landes Rheinland-Pfalz. Die studierte Politikwissenschaftlerin war ab 2013 zunächst hauptamtliche Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und dann ab 2017 Landtagsabgeordnete. Binz ist verheiratet und Mutter eines Kindes. Foto: MFFKI

Das Hochrisikomanagement war zunächst 2015 in einem Pilotprojekt im Polizeipräsidium Rheinpfalz gestartet und erprobt worden. Ab Mitte 2016 kamen weitere Pilotstandorte im Polizeipräsidium Westpfalz hinzu. Die Fallzahlen aus der Auf- und Ausbauphase waren noch nicht repräsentativ, weil Abläufe und Zählweisen zunächst vereinheitlicht werden mussten. Ab 2018 waren stetig steigende Zahlen an Hochrisikofällen zu verzeichnen: 2018 waren es 354 Fälle, 2019 waren es 448 Fälle und 2020 waren es bereits 521 Fälle. Dieser Trend zeigt, dass sich das Hochrisikomanagement vor Ort bewährt. Es ist inzwischen flächendeckend in Rheinland-Pfalz eingeführt worden. Die Studie der Uni Koblenz-Landau von 2016 hat gezeigt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Fällen, die in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen wurden, bei rund 20 Prozent liegt. Dagegen liegt sie bei Fällen, die nicht in Fallkonferenzen bearbeitet wurden, bei 42 Prozent. Dies zeigt die Wirksamkeit des Ansatzes. Absolute Zahlen zu der Frage, wie viele Frauen definitiv durch das Hochrisikomanagement vor Gewalt oder dem Tod geschützt werden konnten, liegen naturgemäß nicht vor. Dazu wäre nicht zuletzt eine dauerhafte Beobachtung jedes Einzelfalles erforderlich.

Wenn das Hochrisikomanagement Alarm schlägt – wie kann man dann die gefährdete Frau am besten schützen?

Als Schutzmaßnahme kann die Polizei auf der Grundlage des Gewaltschutzgesetzes und des Polizeiordnungsgesetztes Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote sowie Kontakt- und Näherungsverbote aussprechen, die bei Verstoß bußgeldbewährt sind. Alternativ kann sie die betroffene Frau gegebenenfalls mit ihren Kindern in einem Frauenhaus in Sicherheit bringen. Daneben werden in Rheinland-Pfalz – ebenfalls im Rahmen von RIGG – vom Innenministerium neun Täterarbeitseinrichtungen „Contra häusliche Gewalt“ gefördert. In diesen Beratungsstellen wird Männern, die in Ehe, Familie und Partnerschaft Gewalt ausüben oder ausgeübt haben, ein soziales Trainingsprogramm angeboten. Die Teilnahme erfolgt auf freiwilliger Basis, aufgrund behördlicher Empfehlung oder behördlicher Anordnung im Rahmen strafprozessualer oder gerichtlicher Verfahren.

Seit Jahren geht bundesweit die Zahl der Gewaltdelikte in Deutschland zurück. Was gleich hoch bleibt oder sogar steigt, ist die Gewalt von Männern an Frauen. Warum bekommen wir das so schwer in den Griff?

Das Bundeskriminalamt hat kürzlich eine neue Statistik veröffentlicht, nach der jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wird. Andere Untersuchungen zeigen, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt durch ihren Ehe- beziehungsweise Lebenspartner oder Freund wird. Diese Zahlen zeigen, wie groß das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt in engen sozialen Beziehungen ist, von dem Frauen jeden Alters und unabhängig von sozialer Schicht, dem Bildungsstand, dem Einkommen, der Nationalität, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit betroffen sind.

Das Hochrisikomanagement war zunächst 2015 in einem Pilotprojekt im Polizeipräsidium Rheinpfalz gestartet und erprobt worden. Ab Mitte 2016 kamen weitere Pilotstandorte im Polizeipräsidium Westpfalz hinzu. Die Fallzahlen aus der Auf- und Ausbauphase waren noch nicht repräsentativ, weil Abläufe und Zählweisen zunächst vereinheitlicht werden mussten. Ab 2018 waren stetig steigende Zahlen an Hochrisikofällen zu verzeichnen: 2018 waren es 354 Fälle, 2019 waren es 448 Fälle und 2020 waren es bereits 521 Fälle. Dieser Trend zeigt, dass sich das Hochrisikomanagement vor Ort bewährt. Es ist inzwischen flächendeckend in Rheinland-Pfalz eingeführt worden. Die Studie der Uni Koblenz-Landau von 2016 hat gezeigt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Fällen, die in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen wurden, bei rund 20 Prozent liegt. Dagegen liegt sie bei Fällen, die nicht in Fallkonferenzen bearbeitet wurden, bei 42 Prozent. Dies zeigt die Wirksamkeit des Ansatzes. Absolute Zahlen zu der Frage, wie viele Frauen definitiv durch das Hochrisikomanagement vor Gewalt oder dem Tod geschützt werden konnten, liegen naturgemäß nicht vor. Dazu wäre nicht zuletzt eine dauerhafte Beobachtung jedes Einzelfalles erforderlich.

Wenn das Hochrisikomanagement Alarm schlägt – wie kann man dann die gefährdete Frau am besten schützen?

Als Schutzmaßnahme kann die Polizei auf der Grundlage des Gewaltschutzgesetzes und des Polizeiordnungsgesetztes Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote sowie Kontakt- und Näherungsverbote aussprechen, die bei Verstoß bußgeldbewährt sind. Alternativ kann sie die betroffene Frau gegebenenfalls mit ihren Kindern in einem Frauenhaus in Sicherheit bringen. Daneben werden in Rheinland-Pfalz – ebenfalls im Rahmen von RIGG – vom Innenministerium neun Täterarbeitseinrichtungen „Contra häusliche Gewalt“ gefördert. In diesen Beratungsstellen wird Männern, die in Ehe, Familie und Partnerschaft Gewalt ausüben oder ausgeübt haben, ein soziales Trainingsprogramm angeboten. Die Teilnahme erfolgt auf freiwilliger Basis, aufgrund behördlicher Empfehlung oder behördlicher Anordnung im Rahmen strafprozessualer oder gerichtlicher Verfahren.

Seit Jahren geht bundesweit die Zahl der Gewaltdelikte in Deutschland zurück. Was gleich hoch bleibt oder sogar steigt, ist die Gewalt von Männern an Frauen. Warum bekommen wir das so schwer in den Griff?

Das Bundeskriminalamt hat kürzlich eine neue Statistik veröffentlicht, nach der jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wird. Andere Untersuchungen zeigen, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt durch ihren Ehe- beziehungsweise Lebenspartner oder Freund wird. Diese Zahlen zeigen, wie groß das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt in engen sozialen Beziehungen ist, von dem Frauen jeden Alters und unabhängig von sozialer Schicht, dem Bildungsstand, dem Einkommen, der Nationalität, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit betroffen sind.

ODARA nimmt hauptsächlich das Rückfallrisiko in den Blick. Es werden jeweils Aspekte abgefragt, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen typische Alarmsignale zu drohender Gewalt darstellen – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Kriterien sind zum Beispiel das gewalttätige Verhalten des Partners in der Vergangenheit, gemeinsame Kinder, gemeinsames Wohnen, Suchtverhalten, Waffenbesitz. Diese Aspekte sind mit Wertungspunkten versehen. Werden jeweils spezifische Punktzahlen erreicht, so wird ein Fall in das Hochrisikomanagement aufgenommen.

Grafik: Eingesetzte Instrumente zur Risikoabschätzung der Polizei in den Bundesländern (PDF-Format)

Was lässt sich Rheinland-Pfalz den Schutz von Frauen kosten?

Das Frauenministerium hat die Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen in diesem Jahr mit insgesamt rund 5,2 Millionen Euro gefördert, im kommenden Jahr planen wir sogar mit 5,7 Millionen Euro – vorausgesetzt, der Landtag stimmt dem vorgelegten Haushaltsentwurf zu. Hinzu kommen Maßnahmen der anderen Ressorts, wie z.B. dem Innenministerium für die Förderung der Täterarbeitseinrichtungen, die letztlich ebenfalls den Schutz von Frauen zum Ziel haben.

In Deutschland gibt es eine intensive Diskussion um den passenden Begriff für Morde an Frauen. Was halten Sie vom Begriff „Femizid“? Braucht es einen eigenen Straftatbestand „Femizid“?

Ich vertrete die Auffassung, dass der Begriff „Femizid“ in erster Linie dazu dienen kann, das Phänomen der Tötung von Frauen und den besonderen Hintergrund in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Unser Strafgesetzbuch bietet aber bereits alle erforderlichen Ahndungsmöglichkeiten, wenn es um Tötung aus niedrigen Beweggründen geht. Entscheidend ist hier vielmehr die juristische Einordnung im Strafverfahren – die Tötung einer Frau darf nicht weniger schwer oder anders gewichtet werden, weil sie durch den Partner oder Ex-Partner geschieht. Es ist und bleibt ein Mord. Als solcher muss er auch geahndet werden.

Die Werkzeuge der Risikoanalyse

Seit 20 Jahren gibt es RIGG, das rheinland-pfälzische Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Als erstes Bundesland in Deutschland hat Rheinland-Pfalz ein Hochrisikomanagement geschaffen, zunächst in einigen Modellregionen, mittlerweile im ganzen Land. Immer, wenn die Polizei in einem Fall von häuslicher Gewalt zu einem Einsatz gerufen wird, muss die betroffene Frau einen Fragebogen ausfüllen. Es gibt zwei verschiedene Bögen: ODARA, in Kanada entwickelt, versucht die Rückfallwahrscheinlichkeit des Täters zu ermitteln. DA, das „Danger Assessment“ nach Jacquelyn Campbell, entwickelt in den USA, zielt auf das Tötungsrisiko.

Der Campbell-Fragebogen stellt Fragen wie: „Ist er arbeitslos?“, „Kontrolliert er die meisten oder alle Ihrer täglichen Aktivitäten (z.B. schreibt er Ihnen vor, mit wem Sie befreundet sein können, wann Sie Ihre Familie sehen können, über wie viel Geld Sie verfügen können oder wann sie das Auto benutzen dürfen?)“ oder „Verfolgt er Sie oder spioniert er Ihnen nach, hinterlässt er bedrohliche Nachrichten, beschädigt er Dinge von Ihnen oder ruft Sie an, obwohl Sie das nicht möchten?“ Für jedes „Ja“ gibt es Punkte. Wer 18 Punkte erreicht, gilt als Hochrisikofall. Ein schneller Blick zeigt: Anne hätte vermutlich  20 Punkte oder mehr erreicht.

Polizeioberkommissar Wladimir Karlin arbeitet als „Koordinator für Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ bei der Polizeiinspektion Neustadt an der Weinstraße seit Jahren mit dem Campbell-Bogen. Er sagt, wenn ein Hochrisikofall identifiziert wird, wird die Polizei sofort aktiv: Sie vernimmt die Betroffene, um mehr über den Mann zu erfahren. Und sie nimmt Kontakt zum Mann auf.

Das Herzstück des Hochrisikomanagements sind aber die Fallkonferenzen. Das ist keine feste Runde, berichtet Karlin: Es nimmt teil, wer etwas zum jeweiligen Einzelfall beizutragen hat. Das ist die Polizei. Die Opferschutzbeauftragte. Vielleicht das Frauenhaus. Das Jugendamt. Manchmal die Ausländerbehörde.

Im Fall Anne wäre in einer Fallkonferenz alles auf den Tisch gekommen: die Drohungen, die Kontrolle, das Frauenbild ihres späteren Mörders.

In Baden-Württemberg haben die Akten nach ihrem Umzug von Freiburg ins nahe Teningen aber plötzlich häufig einen anderen Inhalt: „Die Zuständigkeit hat gewechselt“, heißt es nun auf zahlreichen Papieren; ein anderes Jugendamt und ein anderes Familiengericht müssen nun den Fall bearbeiten.

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, eine Gewalttat zu verhindern: Entweder man schützt das Opfer, oder man überwacht den Täter.

Möglichkeit 1, Opferschutz:
Die radikalste und erfolgversprechendste Methode ist es, die gefährdete Frau in ein Zeugenschutzprogramm zu nehmen. Neue Identität, neue Stadt, neue Sicherheit.

„Da wird dann wirklich der Reset-Knopf gedrückt“, sagt ein erfahrener Kripo-Beamter aus Süddeutschland, der solche Zeugenschutzfälle betreut hat. „Das ist von einem Tag auf den anderen ein neues Leben.“

Die Frauen fragten dann oft: Meine Angehörigen darf ich aber noch sehen, oder? Nein. Kontakt zu den alten Schulfreundinnen halten? Nein. Wenigstens das Handy darf ich doch behalten? Nein. „Wir arbeiten dann eine lange Liste ab“, sagt der Kripo-Beamte: Die Steuernummer muss gelöscht werden, die Daten in Melderegister, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Schufa, Vereinsmitgliedschaften, ob Naturschutzbund oder WEISSER RING. „Das wird immer komplexer wegen der vielen Datenverknüpfungen“, sagt der Beamte.

Meistens, sagt er, scheitert diese Möglichkeit aber nicht an der Komplexität, sondern an den betroffenen Frauen. „Wenn sie mit allen brechen sollen, sind die meisten Frauen wieder raus.“

Mitunter hilft aber auch schon  die schnelle temporäre Herausnahme der Frau. Zum Beispiel bei den „typischen Eskalationsereignissen“, wie Karlin sie nennt: bevorstehender Scheidungstermin, Bekanntwerden eines neuen Lebenspartners, Verkauf des Hauses nach der Trennung, Zwangsversteigerung. Man bringt die Frau vorübergehend in einem Frauenhaus unter, vielleicht weit genug entfernt in einem anderen Bundesland – wenn es denn einen Platz für sie gibt, es gibt ja viel zu wenige Frauenhausplätze in Deutschland. Vielleicht kann auch eine Ferienwohnung angemietet werden. Möglich ist das, es gibt ein Zeugenschutzkoordinierungsprogramm zwischen den Bundesländern. „Manchmal glätten sich in dieser Zeit die Wogen“, sagt der Beamte aus Süddeutschland: Die Lebenssituation ändert sich, der Mann lässt sich vielleicht in einer Klinik behandeln, er hat eine neue Freundin.

Möglichkeit 2, Täterüberwachung:
Rechtlich gibt es da enge Grenzen, in Deutschland darf die Polizei aus gutem historischen Grund niemanden einfach so auf Verdacht einsperren.

„Ein vielfach leider noch unterschätztes Mittel ist die Gefährderansprache, eine sehr konfrontative Gefährderansprache. Diese Leute denken nur bis zur Tat und haben oft einen Tunnelblick. Die haben überhaupt keinen Anschlussplan. Ähnlich wie Gefängnisausbrecher, die nur bis zum Gefängnistor denken. Manche rudern nach einer Gefährderansprache total zurück und kommen in die Defensive.“
(Uwe Stürmer)

Polizist Wladimir Karlin hält ebenfalls viel von der Gefährderansprache. Dem Mann wird deutlich klargemacht, welche Konsequenzen sein Tun haben kann – wenn er sich zum Beispiel nicht an ein  Annäherungsverbot hält. „Diese Trennung der beiden  ist wichtig“, sagt Karlin, „sonst zieht die Frau oft unter Druck des Mannes ihre Aussage wieder zurück.“

Er wirbt aber auch dafür, „flexibel“ auf den Mann einzuwirken. So könne es zum Beispiel in manchen Fällen helfen, den Iman hinzuzuziehen, wenn der Mann ein religiöser Moslem sei.

In Spanien gibt es seit vielen Jahren elektronische Armbänder, mit denen gewalttätige Männer überwacht werden können. Nähern sie sich der Frau, geht ein Signal bei der Frau und bei der Polizei ein.

Sarah Rahe ist im Frauenministerium in Mainz die zuständige Referatsleiterin für Gewaltprävention und Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Sie sagt: „Wir machen so viele Fallkonferenzen wie möglich. Aber eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.“

2019 gab es in Rheinland-Pfalz 519 Fallkonferenzen in 448 Fällen. Das Land hat das Projekt durch die Universität Koblenz-Landau evaluieren lassen. Ergebnis: Durch die Fallkonferenzen konnte das Risiko, dass eine Frau erneut Gewalt durch ihren Mann erleidet, knapp halbiert werden.

Opfer dürfen nicht nur „Beweismittel“ sein

Erstellt am: Mittwoch, 27. Januar 2021 von Torben

Opfer dürfen nicht nur „Beweismittel“ sein

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht spricht im Interview mit dem WEISSEN RING über die Strafverschärfungen bei Missbrauchstaten und über den Kampf gegen Hass im Netz.

Foto: Christoph Soeder

Frau Ministerin Lambrecht, sind Sie jemals Opfer einer Straftat geworden?

So wie viele Politikerinnen, die sich gegen rechtsextreme Hetze und Gewalt engagieren, bekomme ich regelmäßig üble Drohungen. Diese sind oft voller Hass auf Frauen oder auf die Demokratie. Solche Drohungen bringe ich konsequent zur Anzeige. Aber als Politikerin kann ich damit leichter umgehen als Menschen, für die Hass-Attacken im Netz und auf der Straße bitterer Alltag geworden sind. Für diese Menschen müssen wir da sein und sehr viel entschiedener als früher gegen Hass und Hetze vorgehen.

Als Justizministerin sind Sie von Amts wegen vor allem für Täter zuständig. Stimmen Sie uns zu?

Nein, und das wäre auch ein völlig falsches Amtsverständnis. Richtig ist, dass die Täter oft die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber unsere Unterstützung und Solidarität gilt den Opfern von Straftaten. Mein Haus ist für die Strafprozessordnung zuständig. Darin haben die Rechte der Verletzten von Straftaten zentrale Bedeutung. Diese Rechte haben wir in den letzten Jahren immer weiter gestärkt. Erst vor wenigen Tagen habe ich einen Gesetzentwurf vorgelegt, um Zeugen besser vor Bedrohungen zu schützen. Genauso wichtig ist: Nur wer seine Rechte kennt, kann sie nutzen. Deshalb haben wir mit hilfe-info.de jetzt eine Online-Plattform mit wichtigen Infos, Ansprechpartnern und Unterstützungsangeboten vor Ort gestartet.

Aber die Strafverfolgung, das Strafrecht und auch die Strafprozessordnung stellen doch nach wie vor die Verursacher von Kriminalität in den Mittelpunkt, nicht die Betroffenen. Ganz konkret: Kommen die Opfer zu kurz im deutschen Recht?

Es ist in der Tat so, dass Verletzte schwerer Straftaten lange Zeit im Strafverfahren vor allem „Beweismittel“ waren. Es dauerte lange, bis man erkannte, dass es hier um Menschen mit traumatischen Erfahrungen, mit Schicksalen und Gefühlen geht, die unsere Unterstützung dringend benötigen. Ein Strafprozess ist eine Ausnahmesituation für die Betroffenen. Dass dieser Perspektivwechsel stattgefunden hat, ist auch dem Engagement des WEISSEN RINGS und vieler weiterer Opferhilfeeinrichtungen zu verdanken. Erst im vergangenen Jahr haben wir im Bundestag das Opferentschädigungsrecht grundlegend reformiert. Betroffene von Gewalttaten haben ab dem nächsten Jahr einen Anspruch auf Hilfe in Trauma-Ambulanzen, die in ganz Deutschland zügige psychologische Hilfen anbieten.

Werden ab dem 1. Januar 2021 tatsächlich flächendeckend Trauma-Ambulanzen eingerichtet sein? Also auch in ländlichen Regionen? Denn das Thema ist ja Ländersache. Was kann denn der Bund dafür tun, wie wollen Sie das sicherstellen?

Nahezu alle Bundesländer verfügen bereits über Trauma-Ambulanzen. Ab 2021 liegt es jedoch nicht mehr im Ermessen der Länder, ob sie Zugang zu den Trauma-Ambulanzen gewähren. Denn der Bund hat mit der Reform des Sozialen Entschädigungsrechts einen einklagbaren Anspruch von Betroffenen auf Leistungen der Trauma-Ambulanz geschaffen. Es besteht auch ein Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Fahrtkosten zur nächstgelegenen Ambulanz. Der Bund wird zudem bundeseinheitliche Qualitätsstandards in einer Verordnung festlegen, da geht es zum Beispiel um die Erreichbarkeit der Trauma-Ambulanzen.

,,Ich hab größte Hochachtung vor Menschen, die sich ehrenamtlich für Betroffene von Straftaten einsetzen. Ein großer Dank an sie alle!"

Christine Lambrecht
Beim WEISSEN RING bewerben sich immer wieder ehemalige Polizisten oder Staatsanwälte als ehrenamtliche Mitarbeiter. Ihre Motivation begründen sie damit, dass sie sich im Berufsleben nicht hinreichend um die Opfer hätten kümmern können. Was sagen Sie denen?

Ich habe größte Hochachtung vor Menschen, die sich ehrenamtlich für Betroffene von Straftaten einsetzen. Ein großer Dank an sie alle! Die tägliche Arbeit der Polizistinnen und Polizisten sowie der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte lässt die Betreuung der Opfer nicht immer so zu, wie es wünschenswert wäre. Das hat auch mit der hohen Arbeitsbelastung zu tun. Oftmals kann man allerdings schon mit geringem Aufwand Betroffene wirksam unterstützen, indem man sie gezielt auf ihre Rechte und Unterstützungsangebote aufmerksam macht. Dazu gehören Opferhilfeeinrichtungen und die Trauma-Ambulanzen.

Ein aktuelles Beispiel: Sie haben den Fonds für die Opfer des rechtsextremistischen Oktoberfest-Attentats als „wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen“ bezeichnet. Warum dauerte es 40 Jahre, bis es dieses Zeichen gab?

Der Generalbundesanwalt hat in diesem Sommer die Ermittlungen abgeschlossen, nachdem sie vor einigen Jahren wiederaufgenommen worden waren. 40 Jahre nach der Tat gibt es nun endlich die klare Feststellung: Das Oktoberfest-Attentat war ein rechtsextremistischer Terroranschlag, der schwerste der deutschen Nachkriegszeit. Bei vielen Betroffenen wirken die Erinnerungen und Verletzungen dieses schrecklichen Anschlags bis heute nach. Der Bund, der Freistaat Bayern und die Stadt München haben sich nun entschlossen, mit dem Fonds in Höhe von 1,2 Millionen Euro ein weiteres Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen zu setzen. Uns ist sehr bewusst, dass diese Hilfe sehr, sehr spät kommt. Umso wichtiger ist es, dass es sie jetzt geben wird.

Im regelmäßigen Austausch: Bundesjustizministerin Lambrecht mit dem Bundesvorsitzenden des WEISSEN RINGS, Jörg Ziercke (rechts), und Bundesvorstandsmitglied Gerhard Müllenbach, bei einem Gesprächstermin in Berlin. Foto: Soeder

Ein anderes aktuelles Thema ist die sexuelle Gewalt gegen Kinder. Nach den Schlagzeilen zu Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach richtete sich auch hier Ihr Blick auf die Täter: Sie brachten Strafverschärfungen auf den Weg. Glauben Sie tatsächlich, Sie können damit Missbrauchstaten verhindern?

Um Kinder vor diesen entsetzlichen Verbrechen zu schützen, haben wir ein umfassendes Paket beschlossen. Dazu gehören deutlich schärfere Strafen und eine effektivere Strafverfolgung. Diese Maßnahmen greifen ineinander. Täter fürchten nichts mehr, als entdeckt zu werden. Den Verfolgungsdruck müssen wir deshalb massiv erhöhen. Dazu dienen auch die Strafschärfungen, die Verfahrenseinstellungen künftig ausschließen. Der Gesetzentwurf enthält aber auch wichtige Maßnahmen im präventiven Bereich. Wir werden besondere Qualifikationsanforderungen für Familienrichterinnen und Familienrichter, Jugendrichterinnen und Jugendrichter, Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte sowie Verfahrensbeistände gesetzlich verankern. Wir werden auch sicherstellen, dass Kinder unter 14 Jahren vom Gericht grundsätzlich persönlich angehört werden und sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Kind verschafft.

Ein Hauptproblem bleibt doch: Ein Kind muss sich im Durchschnitt sieben Mal an einen Erwachsenen wenden, bis ihm jemand zuhört und glaubt. Was kann eine Bundesjustizministerin dafür tun, dass Kindern mehr Gehör geschenkt wird?

Wir brauchen höchste Wachsamkeit und Sensibilität für Kinder, die gefährdet sind oder bereits Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. Hier ist jeder und jede gefordert. Mein Gesetzespaket ist ein wichtiger Schritt, um Personen, die Umgang mit Kindern haben, wachzurütteln. Jugendämter, Schulen, Kindergärten oder Sportvereine müssen Kinder ernst nehmen und sensibel auf auffällige Wesensänderungen von Kindern reagieren.

Lambrecht gehört dem linken Parteiflügel der SPD an, sie gilt als ehrgeizig und durchsetzungsfähig. Als sie 2019 als Justizministerin auf Katarina Barley folgte, war das dennoch eine Überraschung. Foto: Soeder

Sexuelle Gewalt gegen Kinder soll künftig nicht als Vergehen, sondern als Verbrechen geahndet werden. Das hat Folgen für die kindlichen Opfer, die möglicherweise häufiger vor Gericht als Zeugen aussagen müssen. Wie wollen Sie diese Kinder vor Retraumatisierung schützen?

Wiederholte Vernehmungen machen es Kindern noch schwerer, das Entsetzliche, das sie erleben mussten, zu verarbeiten. Deswegen haben wir es Ende 2019 zur gesetzlichen Regel gemacht, dass die Vernehmung von allen Opfern von Sexualstraftaten und damit auch und gerade von minderjährigen Opfern bereits im Ermittlungsverfahren durch eine Richterin oder einen Richter erfolgt. Diese Vernehmung wird auf Video aufgezeichnet. Die Aussage kann später in der Hauptverhandlung verwertet werden. So können Mehrfachvernehmungen vermieden werden.

Laut Koalitionsvertrag sollten die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Mit einem Passus, demzufolge das Wohl des Kindes „bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen“ ist. 2019 sagten Sie, das könne bis Ende 2020 geschehen sein. Inzwischen liegt das Projekt auf Eis. Schaffen Sie das noch bis zur nächsten Bundestagswahl?

Wer es mit dem Schutz von Kindern ernst meint, muss die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Bei jedem staatlichen Handeln muss das Kindeswohl im Blick sein. Jedem Kind muss zugehört werden. Das würden die Kinderrechte im Grundgesetz verdeutlichen. Über die Grundzüge haben wir uns in der Bundesregierung geeinigt. Jetzt muss die Union endlich den Weg dafür freimachen, dass Bundestag und Bundesrat über die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz beraten können.

Halle, Hanau, der Fall Lübcke, zuletzt ein antisemitischer Angriff in Hamburg: Wir haben es zunehmend mit Gewalttaten zu tun, deren Täter sich zuvor im Internet radikalisiert haben, aufgestachelt durch Hass und Hetze sowie Verschwörungsmythen. Hat der Staat diese Gefahrenquelle zu lange übersehen?

Die Radikalisierung, die wir im Netz erleben, ist schlimmer geworden. Es gibt eine Spirale von Drohungen, die bis hin zu dem rechtsextremistischen Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke geführt haben. Auch die Corona-Krise spült einmal mehr Wellen von Hass und kruden Verschwörungserzählungen ins Netz, ein großer Teil davon ist rassistisch oder antisemitisch. Damit beschäftigen wir uns sehr intensiv. 2017 gehörten wir zu den Ersten in Europa, die strikte Zeitvorgaben für soziale Netzwerke gesetzlich verankert haben. Offensichtlich strafbare Postings müssen innerhalb von 24 Stunden nach einem Hinweis gelöscht werden. Mit unserem Gesetzespaket gegen Hass und Hetze gehen wir noch deutlich weiter. Schwere Fälle von Hasskriminalität müssen künftig dem Bundeskriminalamt gemeldet werden. Diese Fälle müssen endlich konsequent vor Gericht landen.

Lambrecht: „Schwere Fälle von Hasskriminalität müssen endlich konsequent vor Gericht landen.“ Foto: Soeder

Ihr Gesetz gegen Hasskriminalität haben Sie selbst „von zentraler Bedeutung für die Verteidigung unserer Demokratie“ genannt. Aktuell steht es aus verfassungsrechtlichen Gründen auf wackligen Füßen, der Bundespräsident hat noch nicht unterschrieben. Was machen Sie, wenn die Unterschrift weiter ausbleibt?

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Monat nach dem Beschluss des Gesetzes im Bundestag eine Entscheidung veröffentlicht, die einzelne Bestimmungen des Gesetzes berührt. Die Bundesregierung arbeitet deshalb jetzt mit Hochdruck daran, die jüngsten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unter anderem zu den Befugnissen des Bundeskriminalamts umzusetzen.

Also haben Sie keinen Zweifel, dass das Gesetz zeitnah kommen wird?

Das hat höchste Priorität. Das weiß auch mein Kollege Horst Seehofer, dessen Ministerium die wesentlichen Änderungen auf den Weg bringen muss.

Mit diesem Gesetz gegen Hasskriminalität nehmen Sie vor allem die Betreiber der Internetseiten in die Pflicht, die Hass und Hetze zulassen. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass ausgerechnet diejenigen, die seit Jahren keinerlei Verantwortungsbewusstsein zeigen, dem Treiben ein Ende setzen werden?

YouTube, Facebook und Co sind in der Verantwortung, sich nicht als Hetz-Plattformen missbrauchen zu lassen. Die Plattformen haben eine Verantwortung, der sie endlich gerecht werden müssen. Wenn sich immer mehr Menschen aus den Diskussionen in sozialen Netzwerken zurückziehen, weil sie keine Lust mehr haben auf Hass und Hetze, dann schadet das auch dem Geschäft der Plattformen. Daher passiert dort auch endlich etwas. Doch das reicht noch nicht. Auf europäischer Ebene beraten wir weitere Schritte. Die Betreiber müssen endlich ganz klar gegen Rassismus, Frauenhass, Muslim- oder Judenfeindlichkeit auf ihren Plattformen vorgehen. Genauso wie gegen Verschwörungsmythen, die gerade in der Corona- Zeit Leben und Gesundheit von Menschen gefährden können.

Verlagern Sie nicht einfach Verantwortung? Wäre es nicht Aufgabe des Staates, mit eigenen Ermittlungsgruppen das Netz zu durchforsten, um Straftaten aufzudecken und anzuklagen?

Durch die Meldepflicht der sozialen Netzwerke bei Volksverhetzungen oder Morddrohungen wird es zu sehr viel mehr Ermittlungsverfahren kommen. Das BKA gibt die Fälle an die zuständigen Staatsanwaltschaften ab, die können konsequent ermitteln und anklagen.

,,Recht und Gesetz gelten im Internet genauso wie im analogen Leben. Wir müssen das Recht aber viel stärker als früher auch im Netz durchsetzen."

Christine Lambrecht
Das Internet entpuppt sich immer wieder als ein weitgehend verfolgungsfreier Raum. Sehen Sie überhaupt eine Chance, dessen Herr zu werden?

Recht und Gesetz gelten im Internet genauso wie im analogen Leben. Wir müssen das Recht aber viel stärker als früher auch im Netz durchsetzen. Dafür hat die Justiz zahlreiche Ermittlungsinstrumente wie etwa Onlinedurchsuchungen, die wir ermöglicht haben. Ich werde in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, der auch das Problem illegaler Plattformen im Internet, auf denen etwa Kinderpornografie, Drogen oder Waffen gehandelt werden, angeht.

Beispiel Kinderpornografie und Kindesmissbrauch: Im Ermittlungskomplex Bergisch Gladbach gibt es Tausende Verdächtige, bislang aber nur vereinzelte Anklagen. Ist die Justiz chancenlos gegen die digitale Kriminalität?

Die intensiven Ermittlungen zeigen, dass die Justiz diese schrecklichen Taten aufklären und die Täter überführen kann. Die Anwendbarkeit der Ermittlungsinstrumente weiten wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder weiter aus. Gleichzeitig erleichtern wir die Verhängung von U-Haft in diesen Fällen. Wir verdoppeln die Fristen, in denen Taten in das Führungszeugnis aufgenommen werden – auf 20 Jahre nach Verbüßung der Freiheitsstrafe. Zugleich schaffen wir ein besonderes Beschleunigungsgebot: Im Interesse der Kinder müssen die Strafverfahren mit besonderer Priorität geführt werden.

Besteht überhaupt so etwas wie Waffengleichheit? Gerade hat sich der EuGH abermals gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen, die Ermittler für ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch halten. Wie sehen Sie das?

Wenn der Europäische Gerichtshof die deutschen Regelungen bestätigt, können wir die Vorratsdatenspeicherung in diesem Bereich einsetzen. Die Vorratsdatenspeicherung ist eines, aber nicht das einzige Mittel zur Bekämpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und der Kinderpornografie. Die Ermittlungserfolge der letzten Zeit zeigen, dass effektiv und konsequent ermittelt wird.

Auf der einen Seite steht der Datenschutz gegen diese Möglichkeit der Verbrechensbekämpfung. Auf der anderen Seite teilen Menschen freiwillig Millionen persönliche Daten in den sozialen Netzwerken, sammeln Internetkonzerne und andere Unternehmen alles an Daten, werden wir mit personalisierter Werbung zugespamt. Passen unsere Datenschutzgesetze noch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Der Datenschutz hindert nicht die Verfolgung schwerer Straftaten. Hierfür enthält die Strafprozessordnung scharfe Eingriffs- und Überwachungsbefugnisse, die Gerichte anordnen können. Für alle anderen Bereiche gilt: Der Schutz der Privatsphäre ist in der digitalen Welt besonders wichtig. Wir wollen keine gläsernen Menschen, die mit jedem Klick noch mehr über sich preisgeben. Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden können, welche persönlichen Daten von ihnen verwendet werden dürfen. Datenschutz ist ein Grundrecht – und Voraussetzung für Vertrauen in digitale Dienste. Hier bleibt bei vielen Anbietern viel zu tun. Wie es geht, haben wir mit der Corona-Warn-App gezeigt. Die App hilft, Infektionsketten zu durchbrechen, wird inzwischen von über 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern genutzt und schützt dabei strikt die Privatsphäre.

Transparenzhinweis:
Christine Lambrecht, 1965 in Mannheim geboren, ist seit 1982 Mitglied der SPD. Seit dem 27. Juni 2019 ist sie Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. Im Interview mit dem WEISSEN RING spricht sie unter anderem über sexuelle Gewalt gegen Kinder, die mögliche Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz und zunehmende Hasskriminalität im Netz. Lambrecht war 1998 zum ersten Mal für den Wahlkreis Bergstraße als Abgeordnete in den Bundestag gewählt worden. Im September 2020 teilte ihr Wahlkreis mit, dass sie bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr antreten werde. In einem Schreiben an die SPD-Mitglieder der Region habe Lambrecht deutlich gemacht, „dass Politik als Beruf nur auf Zeit ausgeübt werden sollte“, hieß es damals.